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Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 177 Bewertungen
Bewertung vom 15.06.2023
No Limit
Balzer, Jens

No Limit


ausgezeichnet

Es hat etwas von Größenwahn, die Vielschichtigkeit, Gleichzeitigkeit und Energie eines Jahrzehnts mit Anspruch auf Vollständigkeit in 380 Seiten zusammenzuführen, doch Balzer gelingt es effortless zum dritten Mal. Nachdem er schon die Siebziger und die Achtziger ausgehend vom Popkulturellen nahebrachte, reinszeniert er nun die Atmosphäre der Neunziger. Er verblendet die wichtigsten politischen Ereignisse, technische Neuerungen, sich verändernde Bedürfnisse, Codes, Praktiken und popkulturelle Phänomene des Jahrzehnts. Insbesondere die Popkultur beschreibt Balzer hinreißend in einem an die Neunziger anklingenden Habitus, der die Begeisterungen und Überzeugungen des Jahrzehnts mit Abstand in leiser Ironie betrachtet und es vermeidet, sich zu identifizieren. Die technischen Neuerungen, etwa Privatfernsehen, MTV, Internet und immer mobilere Telefonie, arbeitet er findig heraus. Den politischen Diskursen und Ereignissen stehen die Komprimierung und Haltung hingegen nicht immer gut. Sie bekommen zu viel Raum für eine zeitgeschichtliche Rahmung und zu wenig für eine gelungene Einordnung. Aber das ist Kritik auf hohem Niveau, denn »No Limit« gelingt es zu gut, die Stimmungen und Widersprüche der Neunziger aufleben zu lassen und die Fäden ihrer Einflüsse bis heute zu spannen.

Fast waren mir die 380 Seiten zu kurz. Ich wollte noch länger mit
»No Limit« verweilen, fing an Leute darüber vollzuquatschen, mir zu wünschen, Balzer hätte mehr über Indiemusik geschrieben, was er beiläufig über Dinosaur Jr. schrieb, war interessant. Ebenso anregend war es, sich mit Balzer die Ambivalenzen des Jahrzehnts präsent zu machen, Aufbruchstimmung und Enttäuschung, Friedenshoffnung und Kriege, rassistische Gewalt, deren Rechtfertigung und Repräsentation von Anderen Deutschen|BIPoC, der Drang der Massen zu Distinktion und Individualität. Balzer fängt das Jahrzehnt ein, um dann wieder Abstand zu nehmen und die beschriebenen Phänomene aus heutiger Sicht zu bewerten. »No Limit« ist unterhaltsam und überlegt zugleich, es sitzt. Ich empfehle euch die Lektüre sehr, wenn ihr Lust auf Sachbücher, Popkultur und Zeitgeschichte habt.

Bewertung vom 13.06.2023
Die Orte, an denen meine Träume wohnen
Sarr, Felwine

Die Orte, an denen meine Träume wohnen


ausgezeichnet

»Nach der Tradition der Heimat war Fodé zwar mein Zwillings-, aber auch mein großer Bruder. Er hatte mich zuerst zur Welt kommen lassen und war dann selbst hinaus gegangen. Er hatte mir den Vortritt gelassen.« | 93

Bouhel ist ein Suchender. Schon als Kind bereiste er die Welt in Büchern, es war klar, dass er nicht im Senegal bleiben würde und die Weite der Welt sein Leben bestimmen würde. Sein Zwillingsbruder Fodé ist einen ganz anderen Weg eingeschlagen, seine Bestimmung ist die Tiefe der Welt, die Details, die Ahnen und die Traditionen. Fodé wird spiritueller Gelehrter der Serer, den Senegal verlässt er nie.
An der Universität in Frankreich lernt Bouhel seine Liebe Ulga kennen, eine polnische Studentin, die ihn hingebungsvoll liebt, ebenso wie ihre Eltern und ihren Bruder Vladimir, der in seiner psychotischen Welt lebt. Etwas passiert, das ihre Lebenswege schlagartig ändert. Durch Fodés Hilfe und Kraft und einem Bruder im Kloster sucht Bouhel Heilung, Versöhnung und Spiritualität.

Als Ökonom, Autor, Verleger, Musiker und Professor für Romanistik hat sich der Autor Felwine Sarr einen Namen gemacht. Er zählt zur intellektuellen Elite der westafrikanischen Diaspora. Seine in der deutschen Übersetzung bei Matthes & Seitz 2019 erschienenen Sachbücher »Afrotopia« und »Zurückgeben« (mit Bénédicte Savoy) beeinflussten die Debatten zum Postkolonialismus, der Rückgabe afrikanischer Kulturgüter ebenso, wie die von ihm und Anderen in Leben gerufenen »Ateiliers de la Pensée«, die einen Ort für intellektuelle Debatten der afrikanischen Diaspora bereitstellen.

Auch wenn ich sofort zu einer der zum Teil schon stattgefundenen Lesungen und Diskussionen gehen würde, konnte der Roman meine hohen Erwartungen leider nicht ganz erfüllen. Sprachlich holperte es etwas, ob es auch an der Übersetzung der etablierten Übersetzerin Doris Heinemann liegt, vermag ich nicht zu beurteilen. Die Geschwister Ulga und Vladimir waren im Vergleich zu Bouhel und Fodé weniger lebendig und stimmig. Aber überzeugt euch selbst und geht unbedingt zu einer der Veranstaltungen, wenn ihr könnt, denn Sarr ist einer der spannendsten Intellektuellen unserer Zeit.

Bewertung vom 13.06.2023
Soldaten
Schiop, Adrian

Soldaten


sehr gut

Adrian zieht es ins Ferentari, in jenes Viertel von Bukarest, in dem der Zugang zu Strom und Wasser nicht selbstverständlich ist, dafür der Verfall, Kriminalität, Drogen und Prostitution. Wer arm ist, versucht weg zu kommen. Doch das gelingt vielen, darunter oft Roma ohne Papiere, leider nicht. Mit vielen anderen Akademiker:innen und Expats hält sich der Doktorand und Arztsohn am Rande des Viertels auf, mit einem "forschenden Blick". Adrian faszinieren die Kneipen, die Direktheit und besonders die Männer, die er bezahlt, ihn zu befriedigen, wenn er betrunken ist. Zu seinem Schwulsein kann er noch nicht stehen. Als ihn seine Freundin verlässt, verschwimmen Grenzen - so scheint es - und er beginnt eine Beziehung mit Alberto, einem trinkfesten, knasterfahrenen, spielsüchtigen Mann, anscheinend Mitglied einer berüchtigten Roma-Familie.

Wer ist Romeo, wer Julio? Wer ist Bonnie, wer Clyde? Eine romantische amour fou? Niemand ist Romeo, Julio, Bonnie, niemand Clyde und auch von Liebe ist in dieser intimen Beziehung nicht zu sprechen. Alberto erwartet Geld im Gegenzug für Sex, Geschichten und einem Dach über dem Kopf. Adrian zahlt, während sein Umfeld sich abwendet, ihn vor Gewalt und Ärger warnt. Er beginnt zwar Empathie für Alberto zu entwickeln und die Phantasie, Alberto aus dem Kreislauf von Armut, Kriminalität, Prostitution und Sucht retten zu können. Aber Adrian wird auch gewahr, dass seine Doktorarbeit und sein Prekariatstourismus im Ferentari zeitlich begrenzt sind.

Soldaten ist aus Sicht von Adrian geschrieben, eine autofiktionale und ambivalente Figur, die gerade zu Beginn durch einen unempathischen und gefühlskalten Blick Antipathie auslöst. Frauen sind für ihn benutzbar oder aufgebraucht, Schwule weibisch und Heteromänner weisen ihn ab, es sei denn, er bezahlt. Die Sprache ist ebenso kühl, nüchtern, schonungslos, manchmal grob vulgär und explizit. Seine Faszination für den Ferentari und die Manele-Kultur werden im Verlauf des Romans immer mehr in Frage gestellt, ebenso wie scheinbar nebenbei seine meist Weißen rumänischen akademischen feldforschenden Kolleg:innen und Freund:innen.
Es ist nicht notwendig, die rumänische Gesellschaft in all ihren Feinheiten zu kennen, um Setting und Kritik des Autors zu verstehen.
Zwischen den Zeilen besticht sein Blick auf sich und andere priveligierte Menschen, die davon Leben, die Kultur armer prekär lebender Menschen- hier Roma- zu "erforschen und zu erklären", sich als Aktivist:innen zu verstehen, aber nichts an den Verhältnissen zu ändern, sie im Gegenteil für sich zu benutzen. Ob sie nun auf etabliertem und priveligiertem Abstand bedacht bleiben oder wie Adrian den Abstand auf Zeit verringern, macht letztlich keinen großen Unterschied. Soldaten ist eine kluge und herausfordernde Lektüre, die unbequem ist, nachdenklich macht und sich sehr lohnt.

Bewertung vom 13.06.2023
Power Bottom
Tepest, Eva

Power Bottom


ausgezeichnet

Wow, a 10... I mean the book is...

Nein wirklich, der Hype ist berechtigt. »Power Bottom« verführt sprachlich, intellektuell und auch körperlich, soweit dies einem Buch möglich ist. Tempest schreibt voller Energie über Begehren, Sex und durchdringt in ihren Essays viel mehr. Gerade das mehr und die Sprache haben mich eingenommen. Wenn ich nur ein Wort hätte, würde ich vampierisch wählen, um »Power Bottom« zu beschreiben.

Bewertung vom 24.05.2023
Das Baby ist nicht das verdammte Problem
Wetherall-Grujic, Ana

Das Baby ist nicht das verdammte Problem


sehr gut

»Ich bin glücklich, dieses Baby in meinem Leben zu haben. Es ist großartig. Seitdem ich Mutter bin, könnte ich aber zu jeder Tages- und Nachtzeit mindestens zehn Dinge nennen, die mich an meiner Mutterschaft so wütend machen, dass ich schreien möchte.« |96

Braucht es noch mehr Ratgeber in dieser Welt, die Druck auf Mutterschaft ausüben, die Überforderung und Schwierigkeiten von Müttern so darstellen, als müsste sie nur dies oder jenes wissen, dann wird schon alles? Nein, auch sie sind Teil des Problems. Es erstaunt immer wieder, wie viele Meinungen von allen Seiten auf werdende und gewordene Mütter hereinbrechen.

Braucht es noch mehr Bücher, die informieren und stärken, die Mutterschaft in einen gesellschaftlichen Kontext rücken, gesellschaftliche Erfahrungen und Haltungen hinterfragen, nach Lösungen suchen, ohne in eine Normativität, Mothersplaining oder in ein "selbst verantwortlich, selbst schuld" zu verfallen? Ja, unbedingt.

Die eine oder der Andere mag stöhnen, noch ein Buch über Mutterschaft und abwinken, aber auch das gehört in unsere Gesellschaft, diese Ambivalenz. Langweilig Themen wie Schwangerschaft, Geburt und danach, Stillen oder nicht stillen, Kaiserschnitt, Geburtsverletzungen, Hebammen und Kügelchen, Afterbabybody? Jammern das Reden über Einsamkeit, Überforderung, Wut, sich verändernde Beziehungen, den veränderten Blick und neue Barrieren in der Arbeitswelt? Es gäbe keinen Bereich, in dem Menschen mit so wenig Wissen und ihren Problemen allein gelassen werden, so Wetherall-Grujić und das trotz und gerade wegen dem oft ideologisch aufgeladenen Informationsfluss, der einen selbstbestimmten Weg so schwierig macht.

In dem Thema Mutterschaft zeigt sich gesellschaftlich viel. Doch lesen werden dieses Buch wahrscheinlich hauptsächlich Mütter. Daher mein Plädoyer, gerade wenn du dich entschieden hast, keine Kinder zu bekommen, oder nicht entschieden, oder wenn das Thema Mutterschaft in dieser frischen Form schon weiter weg ist, du ein Vater bist, wirst, nie sein möchtest oder nie sein kannst, lohnt sich die Lektüre sehr.

Bewertung vom 24.05.2023
Reine Farbe
Heti, Sheila

Reine Farbe


gut

Vogelmenschen betrachten die Welt von oben, gehen auf in Konzepten, Ästhetik und Logik. Fischmenschen hingegen suchen das Kollektiv, während Bärenmenschen sich für Einzelne entscheiden, ihre Liebsten hegen und pflegen. Mira ist ein Vogelmensch, sie denkt die Welt in Konzepten, liebt Bücher und die Kunst. Menschen fallen ihr schwer. Ihr Papa, ein Bärenmensch, ist ihr zu eng und nahe. In Annie, einen Fischmenschen, verguckt sie sich, doch die flutscht weg. Als ihr Papa stirbt, gerät sie in schwer greifbare Zustände, die wir von außen als Trauer bezeichnen könnten. Sein Geist schlüpft in sie und gemeinsam werden sie zu einem Blatt, bis Annie Mira wieder herauszieht, doch Annie erwidert Miras Avancen nicht.
Die Welt stellt sich in »Reine Farbe« dar als ein erster Entwurf Gottes, der Künstler ist und gerade innehält, und irgendwann einen neuen perfekteren Entwurf wagen wird. Die Würfel sind gefallen, Menschen zeigt Heti als inperfekt, sich verpassend und trotzdem, sie leben und lieben.

Mich hat »Reine Farbe« leider enttäuscht, in weiten Teilen las ich ein philosophisches Märchen, sokratisch fragend ohne ausgearbeitete Philosophie, eine Fabel, halbgar, gewürzt mit Spiritualität, die eine Aura von mystischer Wichtigkeit verströmt und ermöglicht, sich in bedeutvolle Andeutungen zu flüchten. Heti lässt in »Reine Farbe« denken über gelingen und Scheitern der Beziehungen von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Natur und den Dingen, die wir nicht wissen. Kunstkritik, Gesellschaftskritik, Klimaerwärmung werden erwähnt. Ein lebenswichtiger Roman, wird der Guardian im Backcover zitiert. Heti mag Andere überzeugen, mich leider nicht.

Bewertung vom 12.05.2023
Das Fräulein
Andric, Ivo

Das Fräulein


ausgezeichnet

Ich weiß gar nicht, wie viele Jahre »Das Fräulein« von Ivo Andrić genau vergriffen war. Meine stets gehütete 1958 bei Aufbau erschienene Taschenbuchausgabe für 1,85 DM fällt schon fast auseinander, weil ich sie immer mal wieder las. Entsprechend groß war meine Freude, dass Zsolnay nun die Übersetzung von Edmund Schneeweis noch einmal von Katharina Wolf-Grießhaber überarbeiten ließ und »Das Fräulein« mit einem Nachwort von dem Andrić-Biographen Michael Martens versah. Einzig das Nachwort enttäuschte mich etwas, da es eher anekdotenhaft auf Andrić eingeht und wenig auf die Ambivalenz des Literaten und machtnahen Diplomaten, dem neben großer Anerkennung für sein Werk auch Schweigen und Opportunismus vorgeworfen wird.

Rajka Radaković ist noch ein Kind, als ihr Vater stirbt. Der Vater, ein Kaufmann in Sarajevo, der vor dem ersten Weltkrieg bankrott geht und daran zerbricht, sagt ihr am Sterbebett, sie solle hart und konsequent gegenüber sich und anderen sein. So werde sie erfolgreich. Sie solle sich schützen vor dem weich sein, vor dem störenden Mitgefühl, das ihn zugrunde gerichtet hätte. Radaković strebt ihm nach, wird eine skrupellose Geldverleiherin und erwirtschaftet ein Vermögen, schon bevor sie volljährig ist. Sie ist Kriegsgewinnlerin und wird immer mehr eingenommen von der Gier nach mehr Macht, nach mehr Geld und noch mehr von dem Geiz, der Angst, es wieder zu verlieren.
Sie siedelt nach Belgrad über, eine in den Zwischkriegsjahren internationale und pulsierende Stadt, die sie anwidert. Einmal verliebt sie sich trotzdem, in einen Betrüger, danach zieht sie sich vollkommen zurück, macht ihr Herz eng, immer enger. Je älter Radaković wird, desto mehr Raum nimmt das Sparen ein. Wie besessen ist sie davon, was sie alles einsparen kann. Sie denkt immer mehr, dass an der Instandhaltung des Hauses, der Kleidung, dem Essen, der Gesundheit gespart werden kann, bis sie äußerlich und innerlich völlig verarmt. Ihr Herz hört vor Angst auf zu schlagen, als sie die Geräusche des Windes für einen Einbrecher hält. Was bleibt, ist eine kleine Zeitungsnotiz.
.
Diese Zeitungsnotiz soll es wirklich gegeben haben, sie soll Andrić dazu inspiriert haben, dieses großartige Portrait einer unangepassten Frau zu schreiben. Auch heute kennen wir solche beunruhigenden Nachrichten, dass ein alter Mensch vereinsamt und vergessen stirbt. Der Blick von Andrić auf diese spröde Frauenfigur bleibt in »Das Fräulein« voller Sympathie und Liebe, die Umwelt reagiert auf sie mit Irritation, Wut und Ablehnung, da sich Rajka allen Konventionen widersetzt. Aber entgegen der bekanntesten geizigen Figur der westlichen Literaturwelt Ebenezer Scrooge von Charles Dickens, hält sich Andrić mit einer Moral oder Läuterung der geizigen Rajka zurück und liest sich dadurch erstaunlich modern, auch konnte ich nicht wie etwa bei Anna Karenina einen strafenden misogynen Blick auf Rajka Radaković spüren.

Bewertung vom 12.05.2023
Die Erfindung der deutschen Grammatik
Abbas, Rasha

Die Erfindung der deutschen Grammatik


ausgezeichnet

Short Story Queen Rasha Abbas schreibt in »Die Erfindung der deutschen Grammatik« über Berlin, beabsichtigte und unbeabsichtigte Missverständnisse beim Ankommen, die kleinen Fiesitäten und den sportlichen Weltbewerb untereinander, die Vermeidung des Wortes Jobcenter in der U-Bahn, über Superman, Sherlock, über anzügliche und ganz klar weibliche Zitronen, über den Vorschlag von kulturellen Kochaustauschen (immer noch?), über Kunstscheiß, Literaturscheiß und auch immer wieder über das sich reiben an der deutschen Grammatik.

Bewertung vom 12.05.2023
Kochen im falschen Jahrhundert
Präauer, Teresa

Kochen im falschen Jahrhundert


sehr gut

Ottolenghi, Manufaktum, Ittala, einladender dänischer Esstisch, Open House, effortless, Wiesenblumen, Quiche Lorraine, Cremant, IPhone, Instagrampost. Neue Wohnung, Bananenkisten, unausgepackt. Innenstadt, wohl Wien. Zwei Paare, Weiß, österreichisch, eins mit Kind, eins ohne, ein Schweizer, Dozent, der immer etwas zu dozieren hat, seine Freundin kommt nicht mit. Schwarze Musik, kultiviert, leise, wie Easy Listening im Hintergrund, dabei hätte sie etwas zu sagen.
Die Zutaten eines sich als progressiv verstehenden Weißen heterosexuellen Akademikertums in der Großstadt in den 40ern enden nicht, ebensowenig wie die prototypisch bemühten Gedanken und Dialoge, die sich mit einem Lächeln lesen, das ertappt stecken bleibt.

»Auf dem Schemel neben den Füßen der Nachbarin lag ein zerfleddertes Buch mit dem polnischen Titel 𝐷𝑦𝑠𝑡𝑖𝑛𝑐𝑘𝑐𝑦𝑗𝑎 von Pierre Bourdieu.« ( | 129) Wer noch nicht an Bourdieu dachte, möge es tun, die Autorin reiht die Codes der 𝐷𝑖𝑠𝑡𝑖𝑛𝑘𝑡𝑖𝑜𝑛 aneinander und kontrastiert 𝐷𝑖𝑒 𝑓𝑒𝑖𝑛𝑒𝑛 𝑈𝑛𝑡𝑒𝑟𝑠𝑐ℎ𝑖𝑒𝑑𝑒 mit einer 𝐴𝑛𝑑𝑒𝑟𝑒𝑛. Besagte als slawisch bezeichnete Nachbarin schleicht sich immer wieder in die Szenerie, die Codes beherrscht sie nicht. Nur eine beiläufige Irritation, ebenso wie eine internationale Zufallsbekanntschaft, die ins Selbstbild passt, bis das amerikanische Paar sich besorgt gegen Geflüchtete äußert. Zudem stört eine aufkommende Spannung die postbürgerliche Ruhe, die ihre sexuellen Bedürfnisse in Essen zu sublimieren sucht.

Gut durchkomponiert und aufeinander abgestimmt sind Essen, Getränke, Erinnerungen, Playlist, Kleidung, Interieur, Gedanken, Dialoge, Sound und Szenerie, die Präauer in drei Varianten durchspielt, in denen kleine Details den Abend anders verlaufen lassen. Eine erwartbare Eskalation à la "Der Gott des Gemetzels" von Reza liegt in der Luft, doch verhallt sie mit einer distanzschaffenden pseudosoziologischen Erzählstimme. In der Runde selbst ebbt jede Spannung gefällig ab. »Kochen im falschen Jahrhundert« ist wahrlich kluge Unterhaltung, die eine geschickt dosierte Prise Provokation und Unbehagen enthält.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.05.2023
Das Phantom
Stavaric, Michael

Das Phantom


ausgezeichnet

»Das Phantom« ist eine Hommage an Thomas Bernhard, oder ist es eine Parodie? Diese anachronistisch-monologisierende Prosa eines Nahtodes hat von beidem etwas. Doch so oder so, was ist eine Parodie auf eine zur Zeitgeschichte gewordene Person des öffentlichen Lebens anderes als eine Hommage?

Thomas Bernhard umgibt eine Aura von Wichtigkeit und Staub zugleich. Wer am bildungsbürgerlichen Habitus teilhaben möchte, hat ihn gelesen, ist gar im Besitz einer Bücherwand, aus der dieser grantelige Misanthrop, der wütende Provokateur einer vergangenen Literaturszene oder auch das sprachliche Genie hinaus schaut. Die Anderen haben zumindest von ihm gehört oder sind in der Schulzeit mit ihm behelligt worden.

Sprachlich und formal sucht Stavarič in sich über mehrere Seiten ziehenden monologisierenden Satzketten, den Bernhardschen Stil zu imitieren und auf die Spitze zu treiben. Inhaltlich klingt »Das Phantom« an einen gegenwärtigen und mittelmäßigen Bernhard an. Fast 30 Minuten lang erzählt sich die aus dem Leben gleitende bernhardsche Figur Thom ihre Geschichte des Scheiterns an der Welt. Thom bleibt auch im Angesicht des Todes er selbst, eine grübelnde, grantelige, kluge Person mit einem ganz eigenständigen und verschachtelten Humor. Die Mutter traf seine Bedürfnisse ebenso wenig wie der Vater, dessen Suizid eine übergrübelte Episode ist. Auch die Frauen sind schwierig fern. Eine tragisch-heitere Episode ist der Versuch, die Einsamkeit mit einer Mamba zu überwinden.

Es gibt Literatur, die alles gibt, der eine innere Dringlichkeit anzumerken ist, es gibt Geschichten, die erzählt werden müssen. Und es gibt Literatur, der eine andere Dringlichkeit innewohnt, eine Entschlossenheit, ein Streben nach Perfektion, nach Vielfalt in Sprache, Formen und Perspektiven. Es ist fast ungewohnt, mit Stavarič dieser zweiten Dringlichkeit beizuwohnen, sich auf die Freude an der Variation und dem Sprachspiel einzulassen, denn diese Herangehensweise an Literatur scheint neben der sezierenden und gegenwartsbezogenen Gegenwartsliteratur aus der Zeit gefallen, doch sie lohnt sich.