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Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 24.05.2023
Das Baby ist nicht das verdammte Problem
Wetherall-Grujic, Ana

Das Baby ist nicht das verdammte Problem


sehr gut

»Ich bin glücklich, dieses Baby in meinem Leben zu haben. Es ist großartig. Seitdem ich Mutter bin, könnte ich aber zu jeder Tages- und Nachtzeit mindestens zehn Dinge nennen, die mich an meiner Mutterschaft so wütend machen, dass ich schreien möchte.« |96

Braucht es noch mehr Ratgeber in dieser Welt, die Druck auf Mutterschaft ausüben, die Überforderung und Schwierigkeiten von Müttern so darstellen, als müsste sie nur dies oder jenes wissen, dann wird schon alles? Nein, auch sie sind Teil des Problems. Es erstaunt immer wieder, wie viele Meinungen von allen Seiten auf werdende und gewordene Mütter hereinbrechen.

Braucht es noch mehr Bücher, die informieren und stärken, die Mutterschaft in einen gesellschaftlichen Kontext rücken, gesellschaftliche Erfahrungen und Haltungen hinterfragen, nach Lösungen suchen, ohne in eine Normativität, Mothersplaining oder in ein "selbst verantwortlich, selbst schuld" zu verfallen? Ja, unbedingt.

Die eine oder der Andere mag stöhnen, noch ein Buch über Mutterschaft und abwinken, aber auch das gehört in unsere Gesellschaft, diese Ambivalenz. Langweilig Themen wie Schwangerschaft, Geburt und danach, Stillen oder nicht stillen, Kaiserschnitt, Geburtsverletzungen, Hebammen und Kügelchen, Afterbabybody? Jammern das Reden über Einsamkeit, Überforderung, Wut, sich verändernde Beziehungen, den veränderten Blick und neue Barrieren in der Arbeitswelt? Es gäbe keinen Bereich, in dem Menschen mit so wenig Wissen und ihren Problemen allein gelassen werden, so Wetherall-Grujić und das trotz und gerade wegen dem oft ideologisch aufgeladenen Informationsfluss, der einen selbstbestimmten Weg so schwierig macht.

In dem Thema Mutterschaft zeigt sich gesellschaftlich viel. Doch lesen werden dieses Buch wahrscheinlich hauptsächlich Mütter. Daher mein Plädoyer, gerade wenn du dich entschieden hast, keine Kinder zu bekommen, oder nicht entschieden, oder wenn das Thema Mutterschaft in dieser frischen Form schon weiter weg ist, du ein Vater bist, wirst, nie sein möchtest oder nie sein kannst, lohnt sich die Lektüre sehr.

Bewertung vom 24.05.2023
Reine Farbe
Heti, Sheila

Reine Farbe


gut

Vogelmenschen betrachten die Welt von oben, gehen auf in Konzepten, Ästhetik und Logik. Fischmenschen hingegen suchen das Kollektiv, während Bärenmenschen sich für Einzelne entscheiden, ihre Liebsten hegen und pflegen. Mira ist ein Vogelmensch, sie denkt die Welt in Konzepten, liebt Bücher und die Kunst. Menschen fallen ihr schwer. Ihr Papa, ein Bärenmensch, ist ihr zu eng und nahe. In Annie, einen Fischmenschen, verguckt sie sich, doch die flutscht weg. Als ihr Papa stirbt, gerät sie in schwer greifbare Zustände, die wir von außen als Trauer bezeichnen könnten. Sein Geist schlüpft in sie und gemeinsam werden sie zu einem Blatt, bis Annie Mira wieder herauszieht, doch Annie erwidert Miras Avancen nicht.
Die Welt stellt sich in »Reine Farbe« dar als ein erster Entwurf Gottes, der Künstler ist und gerade innehält, und irgendwann einen neuen perfekteren Entwurf wagen wird. Die Würfel sind gefallen, Menschen zeigt Heti als inperfekt, sich verpassend und trotzdem, sie leben und lieben.

Mich hat »Reine Farbe« leider enttäuscht, in weiten Teilen las ich ein philosophisches Märchen, sokratisch fragend ohne ausgearbeitete Philosophie, eine Fabel, halbgar, gewürzt mit Spiritualität, die eine Aura von mystischer Wichtigkeit verströmt und ermöglicht, sich in bedeutvolle Andeutungen zu flüchten. Heti lässt in »Reine Farbe« denken über gelingen und Scheitern der Beziehungen von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Natur und den Dingen, die wir nicht wissen. Kunstkritik, Gesellschaftskritik, Klimaerwärmung werden erwähnt. Ein lebenswichtiger Roman, wird der Guardian im Backcover zitiert. Heti mag Andere überzeugen, mich leider nicht.

Bewertung vom 12.05.2023
Das Fräulein
Andric, Ivo

Das Fräulein


ausgezeichnet

Ich weiß gar nicht, wie viele Jahre »Das Fräulein« von Ivo Andrić genau vergriffen war. Meine stets gehütete 1958 bei Aufbau erschienene Taschenbuchausgabe für 1,85 DM fällt schon fast auseinander, weil ich sie immer mal wieder las. Entsprechend groß war meine Freude, dass Zsolnay nun die Übersetzung von Edmund Schneeweis noch einmal von Katharina Wolf-Grießhaber überarbeiten ließ und »Das Fräulein« mit einem Nachwort von dem Andrić-Biographen Michael Martens versah. Einzig das Nachwort enttäuschte mich etwas, da es eher anekdotenhaft auf Andrić eingeht und wenig auf die Ambivalenz des Literaten und machtnahen Diplomaten, dem neben großer Anerkennung für sein Werk auch Schweigen und Opportunismus vorgeworfen wird.

Rajka Radaković ist noch ein Kind, als ihr Vater stirbt. Der Vater, ein Kaufmann in Sarajevo, der vor dem ersten Weltkrieg bankrott geht und daran zerbricht, sagt ihr am Sterbebett, sie solle hart und konsequent gegenüber sich und anderen sein. So werde sie erfolgreich. Sie solle sich schützen vor dem weich sein, vor dem störenden Mitgefühl, das ihn zugrunde gerichtet hätte. Radaković strebt ihm nach, wird eine skrupellose Geldverleiherin und erwirtschaftet ein Vermögen, schon bevor sie volljährig ist. Sie ist Kriegsgewinnlerin und wird immer mehr eingenommen von der Gier nach mehr Macht, nach mehr Geld und noch mehr von dem Geiz, der Angst, es wieder zu verlieren.
Sie siedelt nach Belgrad über, eine in den Zwischkriegsjahren internationale und pulsierende Stadt, die sie anwidert. Einmal verliebt sie sich trotzdem, in einen Betrüger, danach zieht sie sich vollkommen zurück, macht ihr Herz eng, immer enger. Je älter Radaković wird, desto mehr Raum nimmt das Sparen ein. Wie besessen ist sie davon, was sie alles einsparen kann. Sie denkt immer mehr, dass an der Instandhaltung des Hauses, der Kleidung, dem Essen, der Gesundheit gespart werden kann, bis sie äußerlich und innerlich völlig verarmt. Ihr Herz hört vor Angst auf zu schlagen, als sie die Geräusche des Windes für einen Einbrecher hält. Was bleibt, ist eine kleine Zeitungsnotiz.
.
Diese Zeitungsnotiz soll es wirklich gegeben haben, sie soll Andrić dazu inspiriert haben, dieses großartige Portrait einer unangepassten Frau zu schreiben. Auch heute kennen wir solche beunruhigenden Nachrichten, dass ein alter Mensch vereinsamt und vergessen stirbt. Der Blick von Andrić auf diese spröde Frauenfigur bleibt in »Das Fräulein« voller Sympathie und Liebe, die Umwelt reagiert auf sie mit Irritation, Wut und Ablehnung, da sich Rajka allen Konventionen widersetzt. Aber entgegen der bekanntesten geizigen Figur der westlichen Literaturwelt Ebenezer Scrooge von Charles Dickens, hält sich Andrić mit einer Moral oder Läuterung der geizigen Rajka zurück und liest sich dadurch erstaunlich modern, auch konnte ich nicht wie etwa bei Anna Karenina einen strafenden misogynen Blick auf Rajka Radaković spüren.

Bewertung vom 12.05.2023
Die Erfindung der deutschen Grammatik
Abbas, Rasha

Die Erfindung der deutschen Grammatik


ausgezeichnet

Short Story Queen Rasha Abbas schreibt in »Die Erfindung der deutschen Grammatik« über Berlin, beabsichtigte und unbeabsichtigte Missverständnisse beim Ankommen, die kleinen Fiesitäten und den sportlichen Weltbewerb untereinander, die Vermeidung des Wortes Jobcenter in der U-Bahn, über Superman, Sherlock, über anzügliche und ganz klar weibliche Zitronen, über den Vorschlag von kulturellen Kochaustauschen (immer noch?), über Kunstscheiß, Literaturscheiß und auch immer wieder über das sich reiben an der deutschen Grammatik.

Bewertung vom 12.05.2023
Kochen im falschen Jahrhundert
Präauer, Teresa

Kochen im falschen Jahrhundert


sehr gut

Ottolenghi, Manufaktum, Ittala, einladender dänischer Esstisch, Open House, effortless, Wiesenblumen, Quiche Lorraine, Cremant, IPhone, Instagrampost. Neue Wohnung, Bananenkisten, unausgepackt. Innenstadt, wohl Wien. Zwei Paare, Weiß, österreichisch, eins mit Kind, eins ohne, ein Schweizer, Dozent, der immer etwas zu dozieren hat, seine Freundin kommt nicht mit. Schwarze Musik, kultiviert, leise, wie Easy Listening im Hintergrund, dabei hätte sie etwas zu sagen.
Die Zutaten eines sich als progressiv verstehenden Weißen heterosexuellen Akademikertums in der Großstadt in den 40ern enden nicht, ebensowenig wie die prototypisch bemühten Gedanken und Dialoge, die sich mit einem Lächeln lesen, das ertappt stecken bleibt.

»Auf dem Schemel neben den Füßen der Nachbarin lag ein zerfleddertes Buch mit dem polnischen Titel 𝐷𝑦𝑠𝑡𝑖𝑛𝑐𝑘𝑐𝑦𝑗𝑎 von Pierre Bourdieu.« ( | 129) Wer noch nicht an Bourdieu dachte, möge es tun, die Autorin reiht die Codes der 𝐷𝑖𝑠𝑡𝑖𝑛𝑘𝑡𝑖𝑜𝑛 aneinander und kontrastiert 𝐷𝑖𝑒 𝑓𝑒𝑖𝑛𝑒𝑛 𝑈𝑛𝑡𝑒𝑟𝑠𝑐ℎ𝑖𝑒𝑑𝑒 mit einer 𝐴𝑛𝑑𝑒𝑟𝑒𝑛. Besagte als slawisch bezeichnete Nachbarin schleicht sich immer wieder in die Szenerie, die Codes beherrscht sie nicht. Nur eine beiläufige Irritation, ebenso wie eine internationale Zufallsbekanntschaft, die ins Selbstbild passt, bis das amerikanische Paar sich besorgt gegen Geflüchtete äußert. Zudem stört eine aufkommende Spannung die postbürgerliche Ruhe, die ihre sexuellen Bedürfnisse in Essen zu sublimieren sucht.

Gut durchkomponiert und aufeinander abgestimmt sind Essen, Getränke, Erinnerungen, Playlist, Kleidung, Interieur, Gedanken, Dialoge, Sound und Szenerie, die Präauer in drei Varianten durchspielt, in denen kleine Details den Abend anders verlaufen lassen. Eine erwartbare Eskalation à la "Der Gott des Gemetzels" von Reza liegt in der Luft, doch verhallt sie mit einer distanzschaffenden pseudosoziologischen Erzählstimme. In der Runde selbst ebbt jede Spannung gefällig ab. »Kochen im falschen Jahrhundert« ist wahrlich kluge Unterhaltung, die eine geschickt dosierte Prise Provokation und Unbehagen enthält.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.05.2023
Das Phantom
Stavaric, Michael

Das Phantom


ausgezeichnet

»Das Phantom« ist eine Hommage an Thomas Bernhard, oder ist es eine Parodie? Diese anachronistisch-monologisierende Prosa eines Nahtodes hat von beidem etwas. Doch so oder so, was ist eine Parodie auf eine zur Zeitgeschichte gewordene Person des öffentlichen Lebens anderes als eine Hommage?

Thomas Bernhard umgibt eine Aura von Wichtigkeit und Staub zugleich. Wer am bildungsbürgerlichen Habitus teilhaben möchte, hat ihn gelesen, ist gar im Besitz einer Bücherwand, aus der dieser grantelige Misanthrop, der wütende Provokateur einer vergangenen Literaturszene oder auch das sprachliche Genie hinaus schaut. Die Anderen haben zumindest von ihm gehört oder sind in der Schulzeit mit ihm behelligt worden.

Sprachlich und formal sucht Stavarič in sich über mehrere Seiten ziehenden monologisierenden Satzketten, den Bernhardschen Stil zu imitieren und auf die Spitze zu treiben. Inhaltlich klingt »Das Phantom« an einen gegenwärtigen und mittelmäßigen Bernhard an. Fast 30 Minuten lang erzählt sich die aus dem Leben gleitende bernhardsche Figur Thom ihre Geschichte des Scheiterns an der Welt. Thom bleibt auch im Angesicht des Todes er selbst, eine grübelnde, grantelige, kluge Person mit einem ganz eigenständigen und verschachtelten Humor. Die Mutter traf seine Bedürfnisse ebenso wenig wie der Vater, dessen Suizid eine übergrübelte Episode ist. Auch die Frauen sind schwierig fern. Eine tragisch-heitere Episode ist der Versuch, die Einsamkeit mit einer Mamba zu überwinden.

Es gibt Literatur, die alles gibt, der eine innere Dringlichkeit anzumerken ist, es gibt Geschichten, die erzählt werden müssen. Und es gibt Literatur, der eine andere Dringlichkeit innewohnt, eine Entschlossenheit, ein Streben nach Perfektion, nach Vielfalt in Sprache, Formen und Perspektiven. Es ist fast ungewohnt, mit Stavarič dieser zweiten Dringlichkeit beizuwohnen, sich auf die Freude an der Variation und dem Sprachspiel einzulassen, denn diese Herangehensweise an Literatur scheint neben der sezierenden und gegenwartsbezogenen Gegenwartsliteratur aus der Zeit gefallen, doch sie lohnt sich.

Bewertung vom 02.05.2023
Gewalt
Frank, Jo

Gewalt


ausgezeichnet

»Es gibt eine Gewalt, die sich in ihrem Schweigen erhält.« | |87

Wow, was ist das? Jo Frank hat mit »Gewalt« ein essayistisches Langgedicht geschrieben, einen lyrisch-prosaischen Essay, eine essaistisch-lyrische Prosa über das Suchen und Finden einer Sprache von Gewalt. »Gewalt« zieht hinein in persönlichste, konkrete, sich verkörpende Gewalt, die vergangen war und immer Jetzt bleibt, die Ich ist, die Du ist, aber niemals Wir. Gewalt, die von A in Richtung B, in Richtung C, D, E, F wirkt und wahrscheinlich weiter. C ist kein Kind und redet nicht über Gewalt, pschhht! D hat besonderes Denken, versteht Gewalt vielleicht nicht, versteht Angst. Doch mehr ist nicht zu sagen über Andere als B, für A, C, D, E und F kann und mag B keine Sprache finden.

»Gewalt« wiegt jede Formulierung auf. Wenn ein Wort oder ein Satz andere Formulierungen auslöst, finden sich Fußnoten, lange suchende Fußnoten, auch Fußnoten der Fußnoten. Im Grunde fürchterlich, diese Fußnoterei, die ich sonst nur in wissenschaftlichen Texten erdulde. Doch hier fügen sie sich stilistisch ein, finden eine neue Form, die das Lesen zu einem wiederkehrenden Vor- und Zurückblättern macht, die einen fließenden, rhythmischen Sound erzeugt, der unterstützt wird durch die sich durch »Gewalt« ziehenden Wiederholungen von Worten, Sätzen und Passagen. Die Form prägt den Sound von »Gewalt« und führt hin zu einer immer präzisieren und mit sich selbst ehrlicheren Sprachfindung, die ihre Unzulänglichkeiten zu akzeptieren versucht. Dass sich Frank mit Sprache, Theorien und Diskursen intensiv auseinandersetzt, fließt fast beilaufig in den Text. Er widersteht der Versuchung, darin ein Schutzschild zu finden, es zu benutzen zur Vereineindeutigung seiner Worte und Wahrnehmung.

Klingt abstrakt? Das ist es. Klingt schwer greifbar? Das ist es gar nicht. »Gewalt« ist direkt und pur. Selten habe ich einen so nahen, intimen, um Offenheit ringenden Text gelesen. »Gewalt« hat mich berührt, auch belastet, beim Lesen eine Öffnung in eigene nicht zur Sprache gefundene Anteile provoziert und gestärkt. Ich bin begeistert und mitgenommen.

Bewertung vom 01.05.2023
Paris · Rot
Gien, Anna

Paris · Rot


ausgezeichnet

»Man hat mir gesagt, dass die Welt sterben wird. Ich stehe neben dem Bett und sehe aus dem Fenster. Eben habe auch ich noch dort gelegen, wo sich jetzt sein Körper im Dunkeln bewegt. Ich weiß seinen Namen, aber er bedeutet mir nichts.« | 5

»Dies ist mein Traum. Mein Wald. Meine Stille. Dies ist die Nacht, in der Paris vor den Fenstern dieses Zimmers unterging.« | 6

Das Cover von »Paris Rot« ist in einem perfekten rot gehalten, satt, blutig, edel und schäbig zugleich. Dieses Rot scheint mächtig und schwer sexuell, wie der Inhalt des zweiten Romans von Anna Gien, der erst kürzlich im März Verlag erschien.
Mit »Paris Rot« steigt Gien ab in die Tiefen surrealer sexuell aufgeladener Träume eines abseitigen Mädchens, einer Frau, die viele Namen trägt und die in ihrer Gestalt Variationen von Unterwerfung und Machtergreifung inszeniert. »Paris Rot« erzählt mal ausbordend-schauerhaft über mehrere Seiten, dann knapp-schemenhaft in Miniaturen von der Entdeckung sexuell aufgeladener Macht. Im Hintergrund der jungen Frauenfiguren streifen ältere mächtige Männer in Mänteln ihre Körper. Diese Männer reden nicht, sie ejakuieren und bleiben schemenhaft in switschender Macht.

Im Sound lassen sich Referenzen finden zu Baudelaire, ich dachte an Rimbaud, in leichter Prise an De Sade. In der Aura ist »Paris Rot« p0rnographisch, doch ähnlich einem Groschenroman wird das Explizite voyeristisch gestreift und sich auf die Gefühle und Sehnsüchte der sich oft verkaufenden Figuren gestürzt. Dabei bricht der Text immer wieder elegant mit Klischees, streut zeitgenössische U-Bahn Szenen und halbwache Gedanken ein. »Paris Rot« ist zudem gespiekt mit Zitaten und Andichtungen aus Filmen, Opern, Geschichten, Songs und Figuren. Grell umkreist Gien das zum Konzept erkorene WHOREWOW und schafft mit den vielen Figuren, Geschichten, Zeitebenen und Soundanklängen ein harmonisches soghaftes Ganzes.

Bewertung vom 01.05.2023
Frei
Höftmann Ciobotaru, Katharina

Frei


gut

»Die Kinder hatten sie eingenommen wie ein Land, hatten von ihrem Leben Besitz ergriffen. Alles, was sie hatte, gehörte auf einmal auch ihren Söhnen. Ihr Körper, ihr Geist, ihre Zeit.« | 69

Ist Liebe einnehmend, Freiheit zerstörend, oder ist es umgekehrt?
Billies großer Sohn ist ruhig, genügsam und unsicher, der Kleine hingegen energiegeladen und eigensinnig wie sie selbst. Er soll frei sein, sich nicht wie sie begrenzt, ständig kritisiert und abhängig von Bestätigung fühlen. Billie merkt dabei nicht, wie einnehmend diese Art von Freiheit ist. Billie ist Musikerin. Sie ist intensiv, will viel und mehr Aufmerksamkeit, Liebe, Kinder, Männer. Ihre Eltern sind ihr Zuhause und die Platte in Rostock und die DDR. Doch die Welt dreht sich, für die außenorientierte Billie ist die Wende der Overkill, denn nicht nur Ostkunst befindet sich im freien Fall. Es ist erniedrigend, Mama und Papa um Geld zu bitten und auch sonst richtet die Freiheitssuchende Billie alles auf emotionalen Abhängigkeiten aus. Ihr Mann engt sie ein, mag keine freie Liebe, die Verantwortung für beide Söhne erschöpft und sie verbeißt sich in Enttäuschungen von ihrer angepassten, blassen, hart wirkenden und stichelnden Mutter, die sich wiederum nach ihrer Tochter sehnt, ihre Raumfordernde und einengende Art aber nicht akzeptieren mag.

Sympathie aufbauen mit den Figuren fiel schwer, doch Höftmann Ciobotaru hat schon mit Alef bewiesen, sie kann Atmosphäre schaffen und hat ein Gefühl für Themen. Freiheit und Liebe als Gegenspielpaar aufzubauen und auf die Spitze zu treiben im familiären Nahbereich ist klug. Denn ohne sie direkt zu kommentieren, erzählen diese zwei Pole sehr viel über die beiden Gesellschaftsmodelle, die sozialistische DDR mit ihrer einengenden geregelten Geborgenheit und den freien Kapitalismus der BRD, in dem alles möglich zu sein scheint, auch die Vereinnahmung und der Absturz.

Bewertung vom 01.05.2023
Mutters Stimmbruch
Mevissen, Katharina

Mutters Stimmbruch


ausgezeichnet

»Mutter kann neun Sprachen, aber redet mit niemandem mehr.
Manchmal spricht sie mit der Zentralheizung, den Bäumen und dem Brot, beschimpft ihre Zähne oder das Radio. Ansonsten schweigt Mutter. Sie hat zu wenig Stimme.« |5

Das Haus verfällt, das Dach ist undicht, die Rohre sind schwach wie Mutters Zähne. Mutter schweigt, sie hat das Radio, ihre Pflanzen, ihre Gedanken, den Garten und den Heizungskeller. Als die Heizung nicht mehr geht, die Rohre platzen, zieht sie weg, das Haus ist eh zu groß, sie liebte es nie. Dort wo sie nun ist, hat sie kein Telefon, keine Badewanne, die Telefonzelle und das öffentliche Schwimmbad gehen auch. Mutter treibt durchs Leben, einsam? Es scheint so nicht. Sie macht einfach und schert sich nur um sich.

»Mutters Stimmbruch« hat mir heitere und gehaltvolle Lesestunden beschert. Mit meinem Außenblick sah ich eine verwirrte alte Frau, die Handwerkern ihre Arbeit verunmöglicht, die stürzt, die Telefonstreiche macht, sich im Schwimmbad entblößt, die sich manchmal auch unheimlich und obszön geriert. Luftig und melodiös las sich »Mutters Stimmbruch« und ließ mich lächelnd auf das Thema Altern von Angehörigen und mir selbst blicken, was guttat angesichts des ganzen Dunstes der Schwere, die das Thema Altern und Pflegebedürftigkeit umgibt. Daher leg ich es besonders jenen Menschen ans Herz, die dieses Thema derzeit umgibt, aber auch Menschen, die schräge Figuren, das Absurde und eine klingend-beschwingte Sprache lieben.