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Zauberberggast
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München

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Insgesamt 168 Bewertungen
Bewertung vom 20.09.2020
Mord in Highgate / Hawthorne ermittelt Bd.2
Horowitz, Anthony

Mord in Highgate / Hawthorne ermittelt Bd.2


ausgezeichnet

Nach “Ein perfider Plan” ist “Mord in Highgate” der zweite Band der Reihe rund um den undurchschaubaren Privatdetektiv Hawthorne und den realen Autor Anthony Horowitz. Diesmal führt die beiden ein Mord an einem Scheidungsanwalt, der mit einer extrem teuren Weinflasche verübt wurde, ins noble Londoner Viertel Highgate.

In seinem Roman liefert uns Horowitz nichts weniger als eine metatextuelle Poetik des Kriminalromans und einen Einblick in seinen eigenen Schaffensprozess, wenn auch verpackt in eine fiktive Geschichte. Hier wimmelt es also nur so vor Metareferenzen sowie inter- und intratextuellen Verweisen. Die "reale" Vorlage, die der Fall ihm liefert, wird dabei in seiner "Ungeeignetheit" für einen guten Krimi oft von ihm kritisiert. Zum Beispiel lässt er sich unverhohlen darüber aus, dass ihm der leitende polizeiliche Ermittler aus dem letzten Hawthorne Krimi, DI Meadows, lieber gewesen wäre als die aktuelle DI Cara Grushaw. Der "schlaue Privatdetektiv" benötige nämlich als Kontrastfigur einen "weniger schlauen Polizeibeamten" (S. 35), wie im Vorbild” Sherlock Holmes” Inspector Lestrade, auf den Horowitz verweist. Also muss sich Horowitz eingestehen, dass die Dramaturgie seiner Hawthorne-Krimis ein anderer vorgibt - nämlich Hawthorne selbst. Er bestimmt, was Horowitz erzählt, welche Szenen ins Buch kommen und was die nächsten Ermittlungsschritte sind. "True Crime" sozusagen, in der Realität des Buches, nur dass der Fall natürlich genauso fiktiv ist, wie Horowitz' andere Stories. Aber: Er tut in diesem Roman so, als wäre alles echt, dabei ist es nur Horowitz selbst (und sein berufliches wie privates Umfeld).

Hawthorne, der in diesem Band nur noch rätselhafter wirkt was seine Person und Vergangenheit betrifft, ist tatsächlich ein geistiger Erbe des legendären fiktiven Detektivs aus dem 19. Jahrhundert. Ähnlich wie dieser kann er ebenfalls aus minutiösen Beobachtungen und vermeintlichen Kleinigkeiten eine ganze Fallgeschichte rekonstruieren. Über einen Holmes-Text von Conan Doyle (“Eine Studie in Scharlachrot”) wird sogar in der “Lesegruppe” des Romans diskutiert und der auf Romanebene “reale” Fall weist außerdem Ähnlichkeiten mit der Detektivgeschichte um Holmes und Watson auf.

Horowitz gibt sich in diesem Buch einmal mehr sehr sympathisch in seiner Unzulänglichkeit als Kriminalist und nimmt sich und seine schriftstellerische Arbeit auch mal augenzwinkernd aufs Korn. Eine Verdächtige im Buch bezeichnet ihn einmal abfällig als "Unterhaltungsschriftsteller" (S. 200) - ein Prädikat, das dem erfolgreichen Bestsellerautor wohl schon so mancher in der echten Welt anhaften wollte. Innovativ ist seine Idee, sich selbst als Erzähler und Figur in die Romanwelt einzuschreiben, allemal. Gekonnt geplottet, mit vielen Wendungen und für Whodunit-Fans wunderbar rätselreich ist “Mord in Highgarte” ebenfalls.

Wie es auch im Roman selbst thematisiert wird ("Drei-Buch-Vertrag") schreibt Anthony Horowitz derzeit tatsächlich an seinem dritten "Hawthorne/Horowitz-Band". Laut einem Interview ist die Reihe sogar auf 10 Bände angelegt. Ich freue mich, denn mittlerweile begeistert mich die skurrile Zweckgemeinschaft zwischen dem grummeligen Detektiv, der kaum etwas über sich preisgibt, und dem erfolgreichen (realen) Schriftsteller sehr.

Bewertung vom 16.09.2020
Der falsche Preuße / Offizier Gryszinski Bd.1
Seeburg, Uta

Der falsche Preuße / Offizier Gryszinski Bd.1


ausgezeichnet

(Preußischer) Adel verpflichtet!

Ein preußischer Polizeibeamter ermittelt in München. Was mitunter Gegenstand von (humoristischen) TV-Krimiserien ist, habe ich in einem historischen Kriminalroman so noch nicht gelesen.
Der preußische Adelige und Reserveoffizier Wilhelm von Gryszinski ist im Herbst des Jahres 1894 gerade einmal ein Jahr mit seiner Frau und dem sieben Monate alten Sohn in München, hat sich aber schon bestens in der bayerischen Metropole eingelebt. Nur die komplexen Mordfälle, wegen derer er nach München als Sonderermittler beordert wurde, lassen noch auf sich warten. Doch prompt geschieht zu Beginn der Handlung ein solcher und die - damals modernen - Ermittlungsmethoden Grsyzinskis sind nun gefragt. Wer ist der Mann, der neben dem Maximilianeum ermordet aufgefunden wurde? Der Federumhang, den er trägt und der Abdruck eines Elefantenfußes neben der Leiche lassen erstmal nicht darauf schließen, aber dieser Mordfall zieht weite Kreise, bis hinein in die Eingeweide der preußischen Diplomatie.

Mehrere Welten treffen in diesem Roman aufeinander. Einerseits die des bayerischen Zeitgeists um 1900: Gemütlichkeit, Wirtshaus, Bierbrauen, Marktfrauen, Katholizismus, um nur einige Schlagworte zu nennen. Dann die kontrastive Haltung der Berliner bzw. Preußen, die ich mit den Worten Netzwerk, Pickelhaube, Pünktlichkeit, Ordentlichkeit und Protestantismus klischeehaft bedienen möchte. Die Topographien der Nebenwelten, die in diesen Krimi hineinspielen, sind folgende: Die Münchner Arbeiterschaft (Armut, Bescheidenheit, Hütte, Handwerk, Glaube) sowie die dekadente Welt der Neureichen (Ästhetizismus, Dandytum, Überfluss, Kuriositätenkabinette, Kunstbeflissenheit).

Uta Seeburg hat einen sehr elaborierten historischen Kriminalroman geschrieben, der vor atmosphärischer Details nur so strotzt und in sich absolut stimmig konstruiert ist. Die Akkuratesse, die sie ihrem preußischen Protagonisten zuschreibt, findet sich auch in ihrem Schreibstil wieder. Gleichzeitig ist dieser Stil aber eben auch sehr bildhaft - manche ihrer Metaphern sind ein regelrechter ästhetischer Genuss.

Es geht im Roman sehr oft um die gesellschaftlichen Gepflogenheiten der damaligen Zeit, zum Beispiel was die Umgangsformen betrifft. Während die Preußen in Berlin gerne zu Abendgesellschaften und Salons einluden, traf der Münchner an sich im späten 19. Jahrhundert (vielleicht ist es bis heute so) seine "Spezl" lieber im Wirtshaus. Auch gebräuchliche Dinge der Alltagsgeschichte der damaligen Zeit sowie kulturgeschichtliches und kulinarisches Wissen bereichern die Handlung und erzeugen eine authentische historische Atmosphäre (Herrlich: Das Philosophieren über die Notwendigkeit einer Flügeltür im Salon bzw. eines zweiten Zugangs zu Räumen, das sich leitmotivisch durch den Roman zieht). Dass diese Fakten zum Großteil “der Wahrheit entsprechen”, sagt die Autorin in einer historischen Notiz am Ende des Romans. Auch geht sie auf die (wenigen) Dinge ein, die nur ihrer Phantasie entsprechen.

“Der falsche” Preuße hat mich als Münchnerin hervorragend unterhalten und ich bin sicher, dass das Buch auch Berlinern gefallen wird. Der augenzwinkernde und mitunter trockene Humor, der die kulturellen Unterschiede - aber auch Gemeinsamkeiten - von Preußen und Bayern betont, hat mir sehr gut gefallen. Umso mehr freut es mich, dass eine Reihe rund um die Hauptfigur Gryszinski geplant ist. Ich harre der Dinge, die da kommen mögen.

Bewertung vom 12.09.2020
Kalmann
Schmidt, Joachim B.

Kalmann


sehr gut

Literarischer Krimi mit “unzuverlässigem Erzähler”

Der Nordosten Islands ist der Schauplatz von Joachim B. Schmidts Roman "Kalmann", genauer gesagt das kleine Dorf Raufarhöfn (609 km entfernt von Reykjavík). Dieser Landstrich der wilden Insel im Atlantik ist geprägt von der Küste und lebt hauptsächlich von der Fischindustrie. Gelegentlich verirren sich auch ein paar wenige abenteuerlustige Touristen hierher. Landschaftlich gesehen ist die Gegend eher karg, hier wächst nicht viel heißt es im Roman, die Winter sind lang und bis weit ins Frühjahr hinein bestimmen Eis und Schnee das Landschaftsbild. In einem kalten März unserer Gegenwart - eine genaue Jahreszahl nennt uns der Erzähler nicht - spielt sich die Handlung des Romans ab.

Der titelgebende Protagonist Kalmann Óðinsson ist 33 Jahre alt und verdient seinen Lebensunterhalt mit dem Jagen und Fermentieren von Grönlandhaien, die er dann als Delikatesse (“Gammelhai”) verkauft. Er wuchs in Raufarhöfn bei seinem Großvater und seiner Mutter auf, der Vater ist ein amerikanischer GI, den er nur einmal gesehen hat. Kalmann ist geistig behindert, weswegen ihm die Mutter auch in seinem fortgeschrittenen Alter noch als Vormund dient.

Kalmann ist ein sogenannter "unzuverlässiger Ich-Erzähler", der in der Literaturgeschichte eine gewisse Tradition hat. Das heißt, der Leser muss die von ihm getätigten Aussagen über die Welt, die ihm hier präsentiert wird, grundsätzlich infrage stellen. Kalmann erzählt ganz klar seine wenig komplexe, eindimensionale Sicht der Dinge. Er hinterfragt vieles nicht, seine Wahrnehmung ist schwarz oder weiß, unklare Situationen oder Ungewohntes bringen ihn völlig aus dem Konzept und kanalisieren sich mitunter in Wut. Es ist beeindruckend wie der Autor es schafft, die scheinbar simplistische Gedankenwelt Kalmanns zu imagnieren, seine "einfachen" Satzgefüge zu erschaffen, ohne dass es jemals künstlich wirkt. Ja, so könnte jemand denken, der eben "anders" denkt. "Kein Grund zur Sorge", dieser Ausdruck spult sich mantraartig in Kalmanns Kopf ab.

Trotz seiner Tätigkeit als Jäger, seiner Unberechenbarkeit und Grobschlächtigkeit hat der Autor mit Kalmann eine Figur erschaffen, die dem Leser sympathisch ist und in sich stimmig. Dennoch lässt der Erzähler den Leser bis zum Schluss im Ungewissen, wie Kalmanns Rolle innerhalb der Krimihandlung zu verorten ist. Er geriert sich - geprägt von der amerikanischen Popkultur, konsumiert durch den TV, denn Kalmann hat nach eigener Aussage noch nie ein Buch gelesen - als "Sherriff von Raufarhöfn". Beim Jagen findet er eine Blutlache, die vom verschwundenen Geschäftsmann und Hotelbesitzer Róbert McKenzie zu stammen scheint. Es ist ein anspruchsvoller literarischer Krimi, der sich hier entfaltet, mit vielen überraschenden Wendungen und einer unbestreitbar philosophischen Komponente.

Dennoch kann ich nicht die volle Punktzahl geben, denn einige Fragen bleiben am Ende leider offen und das erzählte Gerüst - so unverlässig der Erzähler auch sein mag - bröckelt an manchen stellen. Die Tiertötungsszenen sind weniger "schlimm", als ich sie erwartet habe und die erlegten Tiere wurden nicht gequält. Trotzdem gibt es einige explizite Szenen, in denen Tiere getötet werden. Für mich immer und in jedem Buch ein Minuspunkt, da kann “Kalmann” nix dafür.

Alles in allem aber hat mir der Roman aufgrund seiner unbestreitbar literarischen Qualität sehr gut gefallen. Ich möchte gerne noch mehr von diesem Autor lesen und fand es irgendwie schade, am Ende von Kalmann Abschied nehmen zu müssen.

Bewertung vom 11.09.2020
Tagebuch einer furchtbar langweiligen Ehefrau
Lavoie, Marie-Renée

Tagebuch einer furchtbar langweiligen Ehefrau


gut

Trennungstagebuch einer “Jederfrau”

Überspitzt formuliert: Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass Frauen, die zwischen ihrem vierzigsten und fünfzigsten Lebensjahr von ihrem Mann verlassen werden - bevorzugt für eine Jüngere - sowohl im Leben als auch in der Literatur tragische Figuren sind. Jugendliches Aussehen und Fruchtbarkeit haben sich weitestgehend verabschiedet und sie haben die vermeintlich “besten Jahre” dem Mann geschenkt, der sie nun sitzen lässt. Niemand möchte so ein “banales” Schicksal erleiden und darüber zu lesen, ist auch irgendwie unangenehm.

Die Ich-Erzählerin Diane Delaunais aus “Tagebuch einer furchtbar langweiligen Ehefrau” hat genau so ein Schicksal ereilt, denn ihr Mann Jacques hat sie nach 28 gemeinsamen Jahren, kurz vor der Silberhochzeit, für ein 30-jähriges Model verlassen. Sie sei “langweilig” geworden und er habe sich eben neu verliebt. Die 48-jährige berufstätige Mutter von drei erwachsenen Kindern ist wie vor den Kopf gestoßen. Sie erlebt alle Phasen der “Trennungstrauer” von Nicht-Wahrhaben-Wollen über unkontrollierte Emotion, Vergangenheitsverklärung bis hin zur Suche und Findung eines neuen Ichs und dem Abwerfen des alten Ballasts.

Die Geschichte spielt in einem suburbanen Setting, aber nicht etwa, wie man auf den ersten Blick aufgrund der frankophonen Namen meinen könnte, in Frankreich, sondern im französischsprachigen Teil von Kanada. Die Autorin Marie-Renée Lavoie
stammt aus Quebec. Es gibt aber für mich kaum spezifisches Lokalkolorit und landestypische Eigenheiten, also könnte die Handlung in jeder französischsprachigen Vorstadt der westlichen Welt spielen, in der es lautstarke Laubbläser und gärtnernde Nachbarn gibt. Diane Valois ist eine "Jedefrau", denn überall auf der Welt werden Frauen in ihrem Alter von ihren Männern verlassen und müssen den Neuanfang als Single im fortgeschrittenen Alter wagen.

Es wird sehr episodisch erzählt, die Kapitel sind dabei relativ kurz und haben schon durch die Kapitelüberschriften einen anekdotischen Charakter. Es ist kein akkurates Tag-für-Tag-Tagebuch, sondern enthält szenisch erzählt Begebenheiten aus dem Leben der Hauptfigur, die sich im Rahmen der Trennung von ihrem Mann ereignet haben.

Das Buch spielt mit dem Attribut “langweilig” auf augenzwinkernde Weise. Das Cover konterkariert schon mal den Titel, denn es ist mit dem offen schreienden Mund alles andere als “langweilig”. Leider hört es da aber auch schon auf, denn die Hauptfigur Diane bezeichnet sich auch selbst als langweilig und meint, sie habe ein durchschnittliches Leben gelebt. Ab und zu musste ich schmunzeln, aber laut und extrovertiert wie das Cover ist die Handlung auf keinen Fall. Diane gerät in ein paar “tragikomische” Situation, die eigentlich mehr traurig als komisch sind. Manchmal war ich sogar eher berührt von dem, was ich gelesen habe, als dass ich. Das Kapitel mit den Nachbarn zum Beispiel hat mich ergriffen. Die Szene mit dem “Hutzelmännchen” auf dem Land war dann eher eine weniger gelungene Wiederholung dieser Begegnung.

Das Gelesene war keinesfalls schlecht, allerdings weckt dieser Roman durch Marketing und Cover falsche Erwartungen. Es ist für mich am ehesten eine tragikomische Bestandsaufnahme einer verlassenen Ehefrau und nicht etwa das Tagebuch einer Bridget Jones 2.0 in der Menopause. Wer keine Schenkelklopfer und Lachanfälle erwartet, wird nicht enttäuscht werden.

Bewertung vom 08.09.2020
Die Dirigentin
Peters, Maria

Die Dirigentin


gut

Maria Peters, die Autorin des Romans "Die Dirigentin", fungierte bereits als Drehbuchautorin und Regisseurin des gleichnamigen Films über die Protagonistin Antonia Brico (1902-1989). Auch das Coverbild stammt aus diesem 2018 gedrehten Film. Dementsprechend szenisch bzw. wie ein Biopic ist auch der Roman aufgebaut. Wir erleben die Geschichte zum Großteil aus der Ich-Perspektive der Hauptfigur, was der Intimität eines Films nahekommt. Zusätzlich kommen noch die Perspektiven von Frank und Robin hinzu, zwei Männern, die in Antonias Leben eine wichtige Rolle spielen.

Im Roman begleiten wir die junge, in den USA lebende Niederländerin Antonia Brico durch Stationen ihres bewegten Lebens. Wir lernen sie als junge Frau kennen, die viele Jobs machen muss, um ihre Familie (die Adoptiv-Eltern, wie sie erfahren wird, mit denen sie in einer kleinen New Yorker Wohnung zusammenlebt) über Wasser zu halten. Ihre eigentliche Leidenschaft gilt aber der Musik. Sie spielt auf einem zusammengeflickten Klavier und träumt davon, Dirigentin zu werden. Erst als das Geheimnis um ihre Identität und ihre niederländische Mutter aufgeklärt wird, hat sie die Kraft, ihrem alten Leben zu entkommen und den Lebensweg einer Musikerin einzuschlagen.

Eine interessante Geschichte ist es allemal, wie eine Frau als Pionierin ein rein männlich dominiertes Berufsfeld für sich erobert - leider nicht ganz mit dem Erfolg, wie ihn wahrscheinlich ein männlicher Kollege ähnlichen Talents gehabt hätte. Heutzutage gibt es ja zum Glück einige Dirigentinnen von Weltniveau, die aber wohl immer noch um Anerkennung kämpfen müssen.

Die Geschichte von Antonia Brico ist es absolut wert, erzählt zu werden. Meine Kritik gilt der doch etwas oberflächlichen Erzählweise dieses Romans. Diese ist sehr sprunghaft und es wird vieles nur “erzählt” statt erzählerisch ausgearbeitet zu werden. Zum Beispiel: Kaum ist Antonia am Konservatorium in Berlin aufgenommen worden, hat sie auch schon ihren Abschluss gemacht. Auf ihre Erlebnisse, die sie dort während ihrer Studienzeit hat, wird kaum eingegangen. Auf die Perspektive von Frank hätte ich komplett verzichten können, lieber hätte ich noch mehr aus Antonias Sicht erzählt bekommen. Warum braucht man diese männliche Perspektive überhaupt, diese kitschige “Nicht-Lovestory”? Es geht schließlich um eine Frau in einem Männerberuf, ich will etwas über die Frau wissen und nichts über die Kriegserlebnisse eines privilegierten Mannes - nicht in diesem Buch. Das Thema Musik kommt auch etwas zu kurz. Was sie für Antonia bedeutet und wie sie sie wahrnimmt, wird zwar am Anfang angeschnitten, aber für meinen Geschmack zu wenig verfolgt. Es bleibt einfach alles sehr oberfläch und geht nicht in die Tiefe.

Der Roman ist leider von Elementen geprägt, die der Unterhaltungsliteratur zuzuordnen sind. Wäre nicht das Thema Dirigentin, könnte man meinen es handelt sich um einen historischen Liebesroman. Die Themen Emanzipation und Musik kommen für mich einfach zu kurz.

Dennoch ist es ein solider Roman, gefällig geschrieben und als Filmvorlage gut lesbar. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass der Film besser ist als der Roman.

Bewertung vom 06.09.2020
Mein Familienkompass
Imlau, Nora

Mein Familienkompass


ausgezeichnet

Dieses Buch habe ich nicht einfach gelesen, ich habe es mit Bleistift, Lineal und Textmarkern regelrecht "durchgearbeitet" - und das mit großem Vergnügen und einem bereicherten Gefühl nach der Lektüre. Auf fast jeder Seite fand sich mindestens eine Passage, die ich mit einem Ausrufezeichen oder Pfeilen versehen habe, um sie später leichter wiederzufinden.

Da auch ich nichts von "Erziehung" im klassischen Sinne mit "Reiß dich zusammen-Appellen", Bestrafen und in Stein gemeißelten Regeln halte, sind mir die Gedanken von Nora Imlau schon früh in Büchern und einschlägigen journalistischen Publikationen zum Thema Elternschaft und Familie begegnet und ich konnte mich sogleich damit identifizieren. Einen bedürfnisorientierten, begleitenden Weg mit meinem Kind zu gehen war von Anfang an mein Ziel, auch wenn ich Begriffe wie "Attachment Parenting" etc. vor der Geburt meiner jetzt vierjährigen Tochter noch nie gehört habe. Hier kommt Nora Imlau ins Spiel. In ihren Texten nimmt sie uns an die Hand bei unserem Vorsatz, es "anders" machen zu wollen und eine liebevolle Eltern-Kind-Beziehung auf Augenhöhe zu leben. In "Mein Familienkompass" steckt ihr gesammeltes theoretisches Wissen als langjährige Journalistin mit Schwerpunkt Familie und auch die praktische Erfahrung als Mutter von vier Kindern (vom Baby bis zum Teenager).

“Hinterfragen der eigenen Glaubenssätze”, “gemeinsame familiäre Wertebasis schaffen”, “den Nordstern finden”, Frühkindliche Prägung, Co-Regulation, Zugewandtheit, Selbstbestimmung, Selbstwirksamkeit, Selbstoptimierung, künstliche vs. natürliche vs. persönliche Konsequenzen - Das alles sind Begriffe und Formulierungen, mit denen Nora Imlau operiert und anhand derer sie uns erklärt, wie ein “zugewandtes” Familiensystem funktionieren kann. Desweiteren seziert sie Floskeln, die in Bezug auf Erziehung immer wieder fallen wie z.B. der Satz "Kinder brauchen Grenzen" oder das belächelnd-tadelnde Modewort “Helikoptereltern”. Was dieser Satz oder dieses geflügelte Wort eigentlich impliziert, darüber klärt uns Imlau in ihrer sachlichen und verständlichen Art auf.

Nora Imlau will uns mit diesem Buch am Schwarz-Weiß-Denken vorbeiführen: "In Wirklichkeit ist die Sache komplizierter" oder "so einfach ist es nicht" sind häufig verwendete Sätze von ihr wenn es darum geht, uns zu erörtern, dass es mehr als einen Weg zum Ziel gibt und man die Dinge - gerade im Umgang mit unseren Kindern - von mehreren Seiten betrachten und stets hinterfragen muss. Ihre eigene Fehlbarkeit als Mensch und Mutter wirft die Autorin immer mal wieder in den Ring. Damit macht sie sich nicht nur sympathisch und nahbar, sondern sie signalisiert damit: Elternschaft füreinander statt gegeneinander. Imlau ist keine "instamom", die im luftleeren Raum einer perfekt inszenierten Familie schwebt (die hinter den Kulissen vielleicht ganz anders aussieht) - sie holt uns Eltern stattdessen in unserer Unsicherheit und Verletzlichkeit ab und sendet das Signal, dass wir am Ende des Tages alle gleich sind. Gleichzeitig warnt sie aber davor, sie als Vorbild zu sehen, denn jedes "ethische Dilemma" (S. 242) verlange nach einer individuellen Lösung. Auch Nora Imlau ist nicht perfekt in ihrer Unperfektheit und kann uns letztendlich nicht die Entscheidungen abnehmen, die wir - ganz individuell - für unsere eigene Familie treffen sollen und müssen.

Ich lege dieses Buch einfach allen Eltern wärmstens ans Herz - man kann sich durch die Lektüre die meisten anderen "Erziehungsratgeber" getrost sparen!

Bewertung vom 28.08.2020
Die Schauspielerin
Enright, Anne

Die Schauspielerin


sehr gut

Norah erzählt die Geschichte ihrer Mutter, der berühmten irischen Schauspielerin Katherine O'Dell, die eigentlich Engländerin war. Es handelt sich um eine fiktive Schauspielerin, allerdings steht sie stellvertretend für viele europäische Filmdiven, die in den 50er und 60er Jahren zu internationalem Ruhm gelangten und es sogar bis nach Hollywood schafften. Man kann sich also sehr gut vorstellen, dass es den echten Töchtern berühmter Schauspielerinnen tatsächlich ähnlich ergangen ist.

Wir tauchen in diesem Roman ein in das Künstler- und Schauspielermilieu der irischen und britischen Bohème der 1920er bis 1980er Jahre, denn bereits die Großeltern der Erzählerin waren Theaterschauspieler. Norah erzählt die Lebensgeschichte ihrer Mutter - und zunehmend auch ihre eigene - nicht chronologisch. Sie springt zwischen den Ereignissen vor und zurück und erzeugt damit den Eindruck authentischen Erinnerns. Erinnerungen sind Momentaufnahmen des Geistes und erfolgen selten in der richtigen Reihenfolge. Es ist also keine typische (fiktive) Biographie, sondern ein Memoir.

Norah hadert nicht mit ihrer Vergangenheit. Ihr stoischer, fast abgeklärter Tonfall zeigt, dass sie mit sich und ihrem Leben im Reinen ist und auch mit ihrer Mutter. Sie kann sie jetzt von außen betrachten und über sie schreiben, denn Schreiben ist Norahs Beruf. In der Erzählung dann tut sich nicht nur ein tiefer Graben zwischen ihrem eigenen, zurückgenommenen Selbst und dem extrovertierten Charakter ihrer Mutter auf, sondern auch zwischen Schein und Sein des vermeintlich glamourösen Lebens als Schauspielerin.

Obwohl die erzählten Dinge an sich sehr tragisch und dramatisch, manchmal auch absurd und komisch sind, bleibt zwischen Leser und Geschichte eine gewisse Distanz. Diese gefühlte Mauer hat bei mir dafür gesorgt, dass ich emotional nicht involviert war, das Erzählte eher als Zuschauer wahrgenommen habe. So wie es von Bertolt Brecht, der auch in diesem Zusammenhang im Roman genannt wird, im "Epischen Theater" vorgesehen ist. Die Distanz “zum Publikum” wird auch durch die verwendete Du-Anrede deutlich. Norah erzählt die Geschichte nicht etwa einem abstrakten Leser, sondern ihrem langjährigen Ehemann und Partner. Teil an dieser “Intimität” hat der natürliche, echte Leser somit allenfalls als Voyeur dieser Beziehung, bei der die Identität des männlichen Parts erst zum Schluss gelüftet wird. Ein erzählerischer Kniff.

"Die Schauspielerin" ist daher für meine Begriffe eher ein intellektueller Roman, der den Kopf und weniger das Herz des Lesers anspricht. Aber solche Romane haben auch ihre Daseinsberechtigung. Nicht immer möchte man weinen und mitfiebern, manchmal möchte man nur zur Kenntnis nehmen und froh sein, dass man nicht in der Haut der beschriebenen Figuren steckt.

Zur Sprache: Anne Enright ist eine virtuose Autorin, die nicht umsonst 2007 den renommierten Booker-Prize gewonnen hat. Ihre Ausdrücke sind glasklar, sie erzählt die ineinander verwobenen Lebensgeschichten von Mutter und Tochter lebhaft und ohne viel Aufhebens um ihre Sprachkunst zu machen. Was ich aber besonders hervorheben möchte, ist die hervorragende Übersetzung von Eva Bonné ins Deutsche. Das Buch wirkt überhaupt nicht übersetzt und das ist die große Leistung einer außergewöhnlich guten sprachlichen Übertragung.

Bewertung vom 26.08.2020
Jahresringe
Wagner, Andreas

Jahresringe


ausgezeichnet

Der Hambacher Forst, einer der ältesten deutschen Wälder und Heimatort vieler seltener Tier- und Pflanzenarten, ist zum Synonym für die deutsche Umwelt(zerstörungs)politik geworden. Andreas Wagner hat die Rodungsgeschichte dieses Waldes und die damit verbundenen menschlichen Schicksale zum Gegenstand seines Debütromans gemacht. Die Handlung wird bestimmt durch die umstrittene Thematik des Braunkohletagebaus, die mit der Abholzung von Waldgebieten, die an den Lebensraum der Romanfiguren angrenzen sowie der Zerstörung und Umsiedlung ganzer Dörfer einhergeht.

Wir alle kennen den Hambacher Forst und wissen um seine prekäre Situation. Andreas Wagner aber will mit seinem Roman genauer fokussieren: Wer sind neben der Natur die Leidtragenden der Rodung, wer die Opfer, wer die Täter, wer die Aktivisten. Natürlich sind seine Figuren fiktiv, aber so oder so ähnlich hätte es ablaufen können bzw. ist es tatsächlich abgelaufen, nur eben mit anderen (realen) Personen. Die Firma RWE, die den Braunkohleabbau in NRW betreibt, wird sogar explizit genannt und nicht etwa unter fiktivem Namen verklausuliert.

Schauplatz der Handlung von “Jahresringe” ist das kleine “Doppeldorf” Lich-Steinstraß in Nordrhein-Westfalen, das an den Hambacher Wald oder Bürgewald, wie er auch genannt wird, angrenzt. Die “Entwurzelungsgeschichte” dieses Ortes, der tatsächlich im Zuge des Braunkohle-Tagebaus umgesiedelt wurde, wird exemplarisch anhand der Familie Klimkeit erzählt, deren “Gründerin” Leonore Klimkeit ist. 1946 wird die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Heimatvertriebene im äußersten Westen der jungen Republik “angespült”. Ein auf traditionelle rheinische Lebkuchen (“Moppen”) spezialisierter Bäcker und dessen Mutter nehmen sie bei sich auf, sie erlernt das Handwerk und wird zur Ersatztochter der Familie. Ihre Geschichte geht dem Leser (zumindest wenn ich für mich spreche) sehr nahe. Als “das Flüchtlingskind” oder “die Evangelische aus dem Osten” bleibt sie zeitlebens eine Außenseiterin der Dorfgemeinschaft, die sich trotz aller Anstrengungen als “Fremde” nie integrieren kann. Nur im Wald fühlt sie sich frei und geborgen, wie auch später ihr Sohn Paul (“Alles hier war echt. Alles war Geschichte. Alles war Natur." S.114) . Aber der Wald ist in Gefahr.

Von 1946 bis 2018 wird die Geschichte der Familie weiter verfolgt, immer vor dem Hintergrund der Abholzung des Hambacher Waldes. Von 1976-1984 steht Leonores Sohn Paul im Fokus, später dann ihre Enkelkinder.

Andreas Wagner erzählt unaufgeregt, ohne Schnörkel, aber mit großer Intensität. Sein Erzähler ist allwissend, er macht Verweise in die Zukunft. Vor allem arbeitet der Autor mit einer starken Symbolik und Elementen des magischen Realismus. Das titelgebende Maiglöckchen-Motiv zieht sich leitmotivisch durch den Roman.

Gerne hätte ich manche Figuren ausführlicher verfolgt und mehr über sie erfahren. Zum Beispiel über Pauls Vater oder Jan und Sarah. Was ist aus ihnen geworden? Wie haben sich ihre Anschauungen und Pläne angesichts der Ereignisse im Wald verändert? Schade dass das Buch dann doch ein wenig zu kurz war für einen opulenten Familienroman. Dennoch ist das für mich kein Grund, keine 5 Sterne zu geben: Ein beeindruckendes Debüt mit wichtigem Thema!

Bewertung vom 22.08.2020
Wer auf dich wartet / DCI Jonah Sheens Bd.2
Lodge, Gytha

Wer auf dich wartet / DCI Jonah Sheens Bd.2


sehr gut

Dies ist bereits der zweite Fall der Krimireihe um den englischen DCI Jonah Sheens, den ersten Band (“Bis ihr sie findet”) habe ich bereits gelesen.
Wieder geht es um den Mord an einer jungen Frau, diesmal ist es aber kein “Cold case” wie im ersten Band. Das Thema ist erschreckend aktuell, es geht nämlich um einen Mord, der während eines Video-Telefonats über einen Chat-Anbieter verübt wurde. Das Telefonat, das Aidan Poole mit seiner Freundin Zoe Swardadine führen wollte, gerät zum Albtraum: Statt seiner Geliebten sieht er auf dem Bildschirm seines PCs nur ein leeres Zimmer und hört Geräusche im Hintergrund. Wie sich am nächsten Tag herausstellt, ist die junge Kunststudentin ermordet worden. Das Team um DCI Jonah Sheens ermittelt in einem Fall, in dem Liebe und Hass eine große Rolle spielen, aber auch Neid und andere dunkle Seiten des Menschen.
Ein klassischer “Whodunit” ist der Fall in dem Sinne, dass wir einen überschaubaren Kreis von Verdächtigen haben, die es alle mehr oder weniger gewesen sein könnten. Wir lernen den Freundes- und Bekanntenkreis sowie die Familie von Zoe kennen und können uns dann als Leser selbst ein Bild von ihren etwaigen Beweggründen sie ermordet zu haben - oder auch nicht - machen.
Strukturell ist der Krimi ebenfalls sehr modern aufgebaut, indem er Rückblenden nutzt und wir damit das Opfer - also Zoe - zu Lebzeiten kennenlernen. Die Flashbacks, die Episoden aus ihrem Leben erzählen, beginnen über ein Jahr vor ihrem Tod und enden am Todestag von Zoe. Die Vergangenheitshandlung wechselt sich mit der Gegenwartshandlung ab, so dass wir einerseits auf das Ende der Ermittlungen, andererseits auf Zoes Tod zusteuern, der in der Gegenwart ganz klassisch am Anfang des Buches erfolgt ist.
Die Ermittlungsarbeit der britischen Polizei scheint mir sehr realitätsnah wiedergegeben worden zu sein. Diesmal haben wir auch keine privaten Verbindungen der Ermittler zum am Fall beteiligten Personen, was ich sehr begrüßenswert finde. Ich mag es lieber, wenn völlig objektiv auf den Fall geblickt wird von Seiten der Polizei. Auch ist die private Story von Jonah und den anderen Ermittlern hier weniger präsent als noch im ersten Band, wo ihr Privat- und Innenleben wesentlich mehr Raum einnimmt.
Sprachlich ist der Krimi solide. Es wird von Anfang an eine sehr düstere, bedrohliche Atmosphäre erzeugt, was perfekt zu Thema und Titel passt.
Mich hat dieser zweite Krimi von Gytha Lodge überzeugt und ich kann ihn allen empfehlen, die klassische Krimis mit modernem Touch mögen. Ich hoffe, es wird noch weitere Bände in dieser Reihe geben.

Bewertung vom 20.08.2020
Omama
Eckhart, Lisa

Omama


weniger gut

Der theoretisierende Duktus in einer mit Schachtelsätzen und Fremdwörtern gespickten sperrigen Sprache, die anstrengend zu lesen ist, nimmt mit Beginn der eigentlichen “Handlung” auch nur geringfügig ab. Dennoch fliegt man nicht durch die Seiten, im Gegenteil.
Das Geschehen wird auf dem Silbertablett einer extrem selbstverliebten und überakzentuierten Sprache serviert, die sich mit jedem nächsten Satz selbst zu übertrumpfen versucht. Im einen Moment denkt man, man liest ein soziologisches Manifest, im nächsten folgt der harte Stilbruch und man wähnt sich mitten in einem drittklassigen Bauernschwank gelandet zu sein, mit allerlei derber Mundart und pornösen Ausfallerscheinungen. Dann haben Frau Eckharts Sprache und Erzählweise auch etwas von Sophisterei, surrealem Dadaismus oder auch von epischem Theater: Schaut her, ich zeige euch was ihr verstehen sollt, sonst drücke ich euch mit der Nase drauf.

Erst im dritten Teil von “Omama” gibt es endlich so etwas wie eine richtige Handlung. Jetzt geht es - wieder sehr episodisch - um das unkonventionelle Aufwachsen der Autorin bei ihrer Oma und erst dort wird es für meine Begriffe endlich humorvoll. Erst dann kommt die Situationskomik anhand der Eskapaden der Großmutter zum Tragen. Aber auch hier bleibt Eckhart ihrem Stil treu, nur eben gespickt mit witzigen Aussagen und Wortgebilden der Oma Helga, im Schlagabtausch mit der Enkelin und der sonstigen menschlichen Umwelt. Die typischen Exkurse und Betrachtungen behält die Autorin bei, aber die sind lesbarer, zugänglicher, natürlich aber trotzdem absolut überzeichnet. Es geht etwa um Freikörperkultur, den Beruf der Putzfrau, Wesen und Schrecken des Dachbodens, die TV-Sendung "Wetten dass…?", die Oper, das Reisen, das Alter, etc. Die Kochkünste der Omama und das Verhätscheln der Enkelin spielen eine große Rolle. Zwischen ein paar wenigen Zeilen können wir sogar tatsächlich so etwas wie Gefühl ausmachen: Die Liebe der Enkelin für die Großmutter. Aber so flüchtig wie der Moment gekommen, ist er auch sogleich wieder verflogen und die nach wie vor groteske Szenerie fordert wieder ihren Tribut.

Ist das jetzt alles Kunst oder kann das weg? Ich persönlich habe mich durch die ersten zwei Drittel dieses "Romans" regelrecht durchgequält, immer in der Hoffnung, dass es im nächsten Kapitel besser werden würde und die Autorin sich quasi neu erfindet. Ihr ist ja alles zuzutrauen in ihrer Unberechenbarkeit. Der ständige Spagat zwischen hehrer Philosophiererei und absurd-grotesken und teilweise unverständlichen Geschmacklosigkeiten, hat mir nicht gefallen. Man muss Lisa Eckhart dennoch zugutehalten: Sie ist überaus eloquent und intelligent, ihr "Roman" aber ist über die Langstrecke eine Zumutung. Ob man diese Zumutung käuflich erwerben und lesen möchte, bleibt aber natürlich jedem selbst überlassen.