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Rezensentin aus BW

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Insgesamt 217 Bewertungen
Bewertung vom 10.03.2021
Das Lied der Arktis
Cournut, Bérengère

Das Lied der Arktis


ausgezeichnet

Bérengère Cournut entführt uns mit ihrem Werk in eine gleichermaßen unwirtliche wie beeindruckende Gegend, in der es nicht um Konsum und Oberflächliches, sondern um Überleben und das Ursprüngliche geht.

Wir begeben uns in die eisige Kälte, Unberechenbarkeit und Schönheit der arktischen Vegetationszone der Tundra.
Hier treffen wir Uqsuralik, ein Mädchen, das von ihrem Vater zur Jägerin ausgebildet wurde.
Nachdem sie von ihrer Familie durch das Auseinanderdriften von Eisschollen getrennt wird, muss sie sich, bewaffnet mit Bärenfell, Schutzamulett, einigen Brocken Fleisch und einer halblebigen Harpune, in der weiten Einöde zwischen all dem Eis einem unerbittlichen Überlebenskampf stellen.
Gefährliche Tiere, trügerisches Packeis, lebensbedrohliche Kälte, nahender Hunger - das sind die Herausforderungen, mit denen Uqsuralik während ihrer Wanderschaft umgehen muss.
Die junge Frau entwickelt sich während sie all diesen Gefahren trotzt. Sie gewinnt an Reife, Stärke und Klugheit... Eigenschaften, die sie dringend brauchen wird, wenn sie wieder in einer Gemeinschaft leben wird.

Nach objektiv wenigen, aber gefühlt endlos vielen Tagen trifft sie auf andere Inuit. Sie bleibt bei ihnen, lebt mit ihnen in deren Iglu, und unterstützt sie als geschickte Harpunistin bei der Robbenjagd.

Wegen dem selbstsüchtigen alten Clanvorsteher zieht sie schließlich weiter und endlich trifft sie auf die Familie ihres Onkels, die sie bereitwillig in ihrer Mitte aufnimmt.
Jetzt ist Uqsuralik zwar Teil einer großen und liebevollen Familie, aber das Leben bliebt hart.

Das Buch, in dem uns die fremde, raue, harte und archaische Lebenswelt der Inuit nahegebracht wird ist eine Wucht!
Wir erfahren von Mythen und Legenden, Traditionen und Bräuchen und lernen völlig fremdartige Lebensbedingungen kennen.

Wir stoßen auf eine Welt, eine Kultur und ein Leben, die gleichzeitig anziehend und reizvoll sowie abschreckend und abstoßend wirken.

Maximale Einsamkeit und Unberechenbarkeit der Natur treffen auf unübertreffliche Schönheit, Einheit, Einklang und Ruhe.

„Das Lied der Arktis“ ist gleichermaßen eindringlich, berührend, poetisch, faszinierend und magisch, wie erschreckend, unerbittlich und grausam.

Die Geschichte wird von der 1979 in Paris geborenen Autorin feinfühlig, zart und gleichzeitig nüchtern, kraftvoll und eindringlich erzählt und regt zum Mit- und Nachdenken an.
Sie kann und sollte meines Erachtens metaphorisch gelesen werden.
Ist die Welt der Inuit tatsächlich eine rückständige Welt oder findet man hier nicht vielmehr das Basale, das in unserer ach so fortschrittlichen Welt oft fehlt?
Gemeinschaft, Verlässlichkeit, Zusammenhalt, Einfachheit und Langsamkeit...?
Einsam und auf sich gestellt kann man auch in einer geschäftigen Großstadt, umgeben von Hektik und Trubel sein... da muss man nicht erst in die Unendlichkeit der Arktis reisen.
Der sogenannte moderne Mensch wird weniger häufig mit äußeren Gefahren konfrontiert.
Die wilden Tiere sind im Zoo, wenn uns kalt ist, drehen wir die Heizung auf und wenn wir Nahrungsmittel brauchen, gehen wir ins Lebensmittelgeschäft.
Er muss aber andere Herausforderungen und innere Gefahren bewältigen.
Und selbst unter diesen sogenannten modernen Menschen gibt es genug, die täglich um Brot und Wärme kämpfen müssen!

Für mich war die Lektüre ein Highlight!
Tiefgründig und nachhallend!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.03.2021
Der gefrorene Himmel
Wagamese, Richard

Der gefrorene Himmel


ausgezeichnet

Nachdem ich letztes Jahr voller Begeisterung „Das weite Herz des Landes“ gelesen habe, freute ich mich mich schon auf diesen weiteren Roman von Richard Wagamese, einem kanadischen Autor, der 2017 mit erst 62 Jahren verstorben ist.

Ich kann an dieser Stelle nicht umhin, mich zu wiederholen:
Der 1955 geborene Richard Wagamese sah sich innerhalb seines Volkes, dem Stamm der Ojibwe, als Geschichtenerzähler und nach der Lektüre dieses Romans weiß man auch warum.
Er ist sogar ein begnadeter Geschichtenerzähler, dem man gebannt lauscht und in dessen Geschichte man sich gern fallen lässt.

Aber nun erst einmal zum Inhalt:

Der ehemalige Hockeystar Saul ist wegen seiner Alkoholerkrankung in einer Entzugsklinik und dort wird ihm geraten, über sein Leben zu sprechen, um all das Erlebte zu verdauen, sich zu befreien und gesund zu werden.
Der eher wortkarge Saul entscheidet sich stattdessen dafür, seine Geschichte aufrichtig und in all ihrer Brutalität niederzuschreiben.

Richard Wagamese erzählt in „Der gefrorene Himmel“ feinfühlig und mitreißend von der schwierigen Gratwanderung zwischen der indigenen Kultur der Ureinwohner Kanadas und dem vom weißen Mann verordneten Katholizismus einschließlich der fremdartigen neuen Lebensweise. Er konfrontiert uns in seinem Werk in aller Offenheit mit Rassismus, Ungerechtigkeit und Grausamkeit.

Es ist auch eine Zerreißprobe für den heranwachsenden Saul.
Einerseits erlebt er innige und liebevolle Momente mit seiner Großmutter, die Geschichten aus der Vergangenheit erzählt und ihm alte Bräuche und Traditionen nahebringt.
Andererseits leidet er unter den Umständen, fühlt er sich im Stich gelassen und muss er letztlich den Tod seiner geliebten Großmutter verkraften.
Als wäre das nicht genug, wird er von der kanadischen Regierung in ein katholisches Heim gesteckt.
Dort wächst er, wie so viele Kinder indigenen Herkunft, in strenger und frostiger Atmosphäre bei disziplinierenden, demütigenden und oft grausamen Nonnen und Priestern auf.
Lichtblicke und Glücksmomente empfindet er beim Eishockey, einem Spiel auf Schlittschuhen, für das er ein herausragendes Talent mitbringt, was eine gewisse Befreiung aus dem tristen Dasein bedeutet.

Die schöne bildhafte Sprache und der ansprechende Schreibstil des Autors haben mich erneut überzeugt und trugen neben der fesselnden Handlung und den kurzen Kapiteln dazu bei, dass ich regelrecht durch die Seiten flog.

Richard Wagamese unterhält prächtig und niveauvoll, regt zum Mit- und Nachdenken an, schreibt flüssig und erweiterte mit seinem Text meinen Horizont.

Wer sich für Kanadas Geschichte mit seinen indigenen Ureinwohnern interessiert und gleichzeitig eine tiefgründige, berührende, fesselnde und literarisch ansprechende Geschichte lesen möchte, der greife zu dem ganz hervorragenden Werk „Der gefrorene Himmel“.

Bewertung vom 08.03.2021
Die Mitternachtsbibliothek
Haig, Matt

Die Mitternachtsbibliothek


ausgezeichnet

Man erschaffe sich eine gedankliche Spielwiese...

Von Matt Haig habe ich bereits mit großem Vergnügen den Roman "Ich und die Menschen" gelesen, so dass ich mich voller Vorfreude an „Die Mitternachtsbibliothek“ herangemacht habe.

Wir lernen die depressive Mittdreißigerin Nora Seed kennen, die sich mit einer Überdosis eines Antidepressivums suizidieren möchte.
Aber sie erwacht wieder und zwar um Schlag Mitternacht in einer Bibliothek.
Ihre ehemalige Schulbibliothekarin Mrs. Elms erwartet sie dort und erklärt ihr, dass sie sich in einer Art Zwischenzustand befindet:
Nicht mehr lebendig, aber auch noch nicht tot.

In der Bibliothek warten ganz besondere Bücher auf Nora.
Es sind Bücher, die, je nach getroffener Entscheidung, unterschiedliche Versionen von Noras Leben beinhalten.
In der Auseinandersetzung mit diesen verschiedenen Fassungen gewinnt Nora Einsichten und Erkenntnisse und letztlich hat sie die Möglichkeit, herauszufinden, welches „das richtige Leben“ für sie gewesen wäre.
Aber was bedeutet „das richtige Leben“?
... ein Leben, in dem sie nicht depressiv ist, sondern Lebensfreude empfindet und Lebenslust verspürt.
Was hätte sie anders machen können, um glücklich zu sein?

Anhand der einzelnen Bücher erkennt Nora, dass jede andere Entscheidung als die getroffene sie auf einen anderen Pfad geführt hätte. Mit dem Aufschlagen der verschiedenen Bücher kann sie einen Blick auf diese Pfade werfen.

Der 1975 in Sheffield, England, geborene Matt Haig hat mit „Die Mitternachtsbibliothek“ einen originellen, bezaubernden und berührenden Roman geschrieben, aus dem melancholische und subdepressive Menschen sicher einiges an Weisheiten, Wahrheiten und Erkenntnissen mitnehmen können.

Wenn man die verschiedenen Bücher rechtzeitig aufschlägt, das Gedankenspiel Noras also schon zu Lebzeiten und frühzeitig durchführt, dann eröffnet man einen gedanklichen Spielraum, stößt auf alternative Wege und kann vielleicht individuell passendere Entscheidungen treffen.

Der Autor erzählt die originelle Geschichte um Nora feinfühlig, wortgewandt, bildhaft, symbolträchtig und packend.
Er beschäftigt sich mit Depressivität und Suizidalität und greift die Frage auf, inwiefern getroffene Entscheidungen dazu führen bzw. Auslöser für Zufriedenheit und Wohlgefühl sind.

Trotz der ernsten und tiefgründigen Thematik mangelt es aber nicht an Witz und Humor.
Der Text zeigt Möglichkeiten auf, regt zum Nachdenken an, gibt Impulse und schafft Hoffnung.

Mir gefällt die Idee hinter der Story außerordentlich gut. Es ist so wichtig, sich gerade in Phasen von Ratlosigkeit und Deprimiertheit zeitnah eine gedankliche Spielwiese mit verschiedenen Möglichkeiten auszumalen. Nur so kann man sich als Wesen begreifen, das Entscheidungsmöglichkeiten und Alternativen hat. Nur so kann man prüfen, was man wirklich möchte und was einem wirklich zusagt.

Matt Haig schreibt gefühlvoll, leicht und flüssig, verweist auf Theorien und Songs, streift Philosophisches, erwähnt das Offensichtliche und gibt einige Weisheiten zum Besten, aber all das, ohne aufdringlich, pathetisch, platt oder gefühlsduselig zu werden.
Er eröffnet ein weites Feld, stellt Themen in den Raum, wirft Fragen auf und regt zum Mit- und Nachdenken an, gibt aber keine vorschnellen und schlauen Antworten.

Ich empfehle den Roman, der durch Einfachheit, Klarheit und Tiefgründigkeit gekennzeichnet ist und dazu ermutigt, öfter mal den Blickwinkel zu verändern und die Ruder seines Lebens selbst in die Hand zu nehmen, sehr gerne weiter!

Bewertung vom 05.03.2021
Hard Land
Wells, Benedict

Hard Land


ausgezeichnet

Freud‘ und Leid liegen so nah beieinander...

Schon mal vorneweg: „Hard Land“ ist eine packende und schicksalshafte amerikanische Sommergeschichte in den 1980-ern und ein berührender Coming-of-Age Roman.

Wir reisen in die konservativ, religiös und rassistisch geprägte Kleinstadt Grady, Missouri, befinden uns im Jahr 1985 und lernen dort den fast 16-jährigen Ich-Erzähler Sam kennen, der ein schüchterner Mathematik-Freak und ein unscheinbarer Außenseiter ist.

Sam ist ein introvertierter Teenager und zieht sich von seinem Umfeld zurück. Er fühlt sich von seinem schweigsamen Vater unverstanden und sorgt sich sehr um seine krebskranke Mutter, die im Ort einen Buchladen führt.

Daheim ist es darüber hinaus auch wegen der Arbeitslosigkeit seines Vaters nicht einfach und um den problematischen Umständen wenigstens zeitweise zu entfliehen und Geld zu verdienen, nimmt er über den Sommer einen Ferienjob im alten städtischen Kino an.
Das ist besser, als die Ferien bei einer Tante in Kanada zu verbringen!

Sam erlebt nun eine besondere und aufwühlende Zeit, in der er sich erstmals zugehörig fühlt.
Kollegen, die zu Freunden werden und die erste Liebe bereichern sein Leben und Abenteuer sowie die Entdeckung von Geheimnissen geben ihm die Würze.
Sam erlebt aber auch Verlust, Trauer und Schmerz.
Er beginnt, zu sich selbst zu finden , seine Bedürfnisse wahrzunehmen und seine Grenzen zu erkennen.

Als etwas einschneidendes passiert, ist es mit Kindheit und Jugend schlagartig vorbei.

Der Autor beschreibt das ambivalente Innenleben seines Protagonisten feinfühlig und differenziert. Es gelingt ihm wunderbar, ein authentisches Bild von einem Jugendlichen zu zeichnen, der erschwerte häusliche Bedingungen hat, durch Veränderungen auflebt, damit rechnen muss, dass sein Glück nicht von Dauer und deshalb brüchig und fragil ist und schließlich schmerzlichen Verlust verkraften muss.

Sprache, Charaktere und die in die 1980-er Jahre eingebettete Handlung wirken äußerst natürlich und authentisch.
Es machte Spaß, an die Hits der 80-er und v. a. an Billy Idol erinnert zu werden :-)

Man hat beim Lesen das Gefühl, mittendrin und dabei zu sein.
Man lächelt, lacht und trauert mit Sam und am Ende schlägt man das Buch zufrieden zu.

Originell finde ich die Wahl des Titels, denn „Hard Land“ ist auch der Titel eines Gedichtbands, den die Schüler der örtlichen Highschool lesen und analysieren müssen. Dieser handelt, ebenso wie der Roman selbst, vom Erwachsenwerden

Der 1984 in München geborene Benedict Wells hat eine mitreißende Lektüre über das Erwachsenwerden eines Teenagers geschrieben.
Sie ist eine regelrechte Hommage an die Jugend und sie bereitete mir äußerst vergnügliche Lesestunden

Ich empfehle „Hard Land“ sehr gerne weiter!

Bewertung vom 01.03.2021
Eine große Zeit
Boyd, William

Eine große Zeit


ausgezeichnet

Der Roman „Eine große Zeit“ spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts und entführt uns von Wien über London nach Genf.
Vorkriegszeit und erster Weltkrieg, das ist die zeitliche Kulisse der Geschichte um Lysander Rief, einem jungen britischen Schauspieler, der sich 1913 nach Wien begibt und sich dort in einer Pension einmietet.
Der frisch verlobte Lysander hat ein heikles Problem und möchte deshalb einen Spezialisten aufsuchen.
Der Spezialist Herr Dr. Bensimon war ein Schüler des Psychiaters und Psychoanalytikers Sigmund Freud und soll Lysander mit professioneller psychotherapeutischer Hilfe von seinem sexuellen Problem, einer sog. Anorgasmie, befreien.
Letztlich ist es aber wohl eher der temperamentvollen und dynamischen Hettie, einer verführerischen Bildhauerin, die er im Wartezimmer des Psychoanalytikers trifft, zu verdanken, dass er seine sexuelle Funktionsstörung überwindet.

Lysander genießt die Affäre mit der attraktiven Hettie. Er verfällt ihrer hemmungslosen Sexualität und taucht in das exzessive Leben der Wiener Künstler ein, zu dem Hettie ihm die Türen geöffnet hat.

Eigentlich könnte der Geheilte nun entlastet und erleichtert nach London zu seiner Verlobten Blanche zurückkehren, aber die ungeplante Schwangerschaft seiner „Heilerin“, ihr dreister Vorwurf der Vergewaltigung und der britische Geheimdienst machen ihm letztlich einen Strich durch die Rechnung.

...und jetzt wendet sich das Blatt: die Geschichte mutiert mit Ausbruch des ersten Weltkriegs zum spannenden, raffinierten und packenden Agententhriller.

Dem Autor gelingt es wunderbar, die Atmosphäre der damaligen Zeit und die Stimmungen seiner Figuren zu vermitteln.
Ich mochte sowohl die Sprache als auch die Handlung und die Themen der Geschichte (Psychoanalyse, erster Weltkrieg, Spionage) und empfehle die Lektüre, die einige unvorhersehbare Überraschungen bereithält, sehr gerne weiter.

Bewertung vom 26.02.2021
Farm der Tiere
Orwell, George

Farm der Tiere


ausgezeichnet

In dem neu übersetzten und im Januar 2021 im Manesse Verlag neu erschienenen Roman „Farm der Tiere“ von George Orwell geht es um eine tierische Revolte gegen Ausbeutung, Vernachlässigung und Gewalt.
Das Buch, eine dystopische Fabel, erschien erstmals 1945.

Der unfähige Bauer Jones, ein Mann mit einem Alkoholproblem, hält auf seiner Farm viele Tiere, die eines Nachts unter der Führung vom alten und preisgekrönten Eber Old Major beschließen, dass es so nicht weitergehen darf.
Sie wollen nicht mehr ausgebeutet, beraubt, unterdrückt und geschlachtet werden.
Sie fordern Respekt und die Gleichheit aller Tiere.
Es kommt zum Aufstand der Vierbeiner.
Sie erstellen 7 Regeln, allen voran die Grundsätze, dass alle Tiere gleich sind und dass alles, was auf zwei Beinen geht, ein Feind ist.

Sie übernehmen die Herrschaft über den Hof, der ab jetzt „Farm der Tiere“ heißt.
Was schließlich und letztlich resultiert, ist ein noch grausameres Terrorregime!

Der Roman ist eine Parabel bzw. Allegorie auf die Geschichte der Sowjetunion.
Auch hier folgte auf Aufstände, die Februar- und Oktoberrevolutionen des Volkes, eine Diktatur, der Stalinismus.

Der Roman ist m. E. ein must read, das erschüttert und nachdenklich stimmt, den Leser dabei aber auch fesselt und gut unterhält.
Selbst wenn man sich nicht für den politischen Hintergrund interessiert oder kaum Ahnung von der Geschichte der Sowjetunion hat, lohnt sich die Lektüre, weil sie universell bzw. allgemeingültig interpretiert werden kann und für äußerst wichtige Themen wie Machtmissbrauch, Manipulation, Gewalt, Unterdrückung, Kontrolle, kritiklose und blinde Loyalität, Gleichheit, Toleranz und Menschlichkeit sensibilisiert.

Das schrille und glitzernde Cover der Hardcoverausgabe des Manesse-Verlages ist natürlich Geschmacksache und mag die Gemüter spalten, aber mir persönlich gefällt es.
Es ist ein echter Hingucker und ermuntert dazu, auch ins Buch hineinzugucken und sich die brisanten Themen der Fabel genauer anzugucken.

Bewertung vom 20.02.2021
Abhängigkeit / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.3
Ditlevsen, Tove

Abhängigkeit / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.3


ausgezeichnet

Mit „Abhängigkeit“ endet die Kopenhagen-Trilogie von Tove Ditlevsen.
Gleich vorneweg: Es lohnt sich, diese drei Bände zu lesen.

Der erste Band endete mit der Konfirmation der 1917 geborenen Tove, die ihre Leidenschaft fürs Gedichte schreiben entdeckt hat und sich mit dem Satz, dass aus Mädchen keine Dichter werden, arrangieren soll.
Im zweiten Band tingelt sie erst auf dem Arbeitsmarkt hin und her, später trifft sie den um 30 Jahre älteren Verleger Viggo Frederik Møller, der Interesse an ihren Gedichten hat und ihr 1939 zur Veröffentlichung eines Gedichtbandes verhilft.
In „Abhängigkeit“, also dem dritten und nicht einmal 180 Seiten umfassenden letzten Band heiratet die Anfang 20-jährige Tove eben diesen Verleger.
Dies bleibt aber nicht die einzige Ehe. Es folgen nich drei weitere, aus denen jeweils ein Kind hervorgeht.

Ich hatte den Eindruck, Tove war eine Frau, die in zwei Welten lebte. In der Welt der Schriftstellerin war sie erfolgreich und wirkte sie souverän und selbstbewusst, in ihrer privaten Welt als Ehefrau und Mutter schien sie unsicher und brüchig.
Sie duldete es, wenn sie nicht ernst genommen wurde und ließ sich abwerten, weil sie sich, wie ich vermute, im Grunde abhängig fühlte.
Diese emotionale Abhängigkeit wurde in ihrer dritten Ehe schließlich zur stoffgebundenen Abhängigkeit.
Zunächst ging es „nur“ um die emotionale Abhängigkeit in toxischen Beziehungen.
Später wurde daraus eine konkrete Abhängigkeit von toxischen Substanzen.
Von da an geht die Spirale abwärts. Abwärts in die Sucht.

Ich würde die Trilogie jederzeit wieder lesen. Sie ist schonungslos offen und ehrlich, berührend und erschütternd.

Ich flog gebannt durch die Seiten der drei psychologisch stimmigen und interessanten Bände und empfehle sie sehr gerne weiter!

Bewertung vom 19.02.2021
Jugend / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.2
Ditlevsen, Tove

Jugend / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.2


ausgezeichnet

Nachdem ich mit großer Freude den ersten Band der Kopenhagen Trilogie „Kindheit“ gelesen habe, habe ich nun auch den zweiten Band „Jugend“ äußerst zufrieden zugeklappt.

Tove Ditlevsen erzählt mit großer Intensität und sprachlicher Schönheit wie es im Leben der jungen Tove im Kopenhagen der 1930-er Jahre weitergeht.
Der erste Band endete mit ihrer Konfirmation, Tove ist jetzt ca. 14 Jahre alt, die Geschichte schließt nahtlos an.

Tove hatte gute Noten, sie schrieb und schreibt Gedichte, aber „ein Mädchen kann nicht Dichter werden“.
Sie soll, wie alle Frauen, heiraten, Mutter sein und den Haushalt führen.
Ihre Eltern sprechen und handeln widersprüchlich und auch Tove weiß nicht so recht, wohin es gehen soll.
Sie kämpft mit Rollentzuschreibungen, Erwartungen und Idealen, versucht sich von ihrer Familie zu emanzipierten und ihren eigenen Weg zu finden.
Sie träumt von einem selbstbestimmten und unabhängigen Leben als Schriftstellerin.
Die Suche nach einer Arbeitsstelle gestaltet sich nicht einfach, denn: was, außer Dichten, interessiert sie?

Tove tingelt unentschlossen, plan- und ziellos umher.
„Job-Hopping“ könnte man es nennen, wenn man davon liest, wie Tove in kürzester Zeit mal als Haushälterin, mal als Hilfskraft in einem Hotel und dann wieder als Schreibkraft oder Bürogehilfin in wechselnden Firmen arbeitet.

Schließlich schafft sie den Absprung vom Elternhaus und zieht in ein möbliertes Zimmer.
Während dieser ganzen Zeit zieht sich das Dichten wie ein roter Faden durch ihren Alltag.

Dann trifft sie den um 30 Jahre älteren Verleger Viggo Fr. Møller, der ihr erstes Gedicht veröffentlicht und sie 1939 auch bei der Veröffentlichung ihrer ersten Gedichtsammlung „Mädchenseele“ unterstützt.
Gehen ihre Träume nun in Erfüllung?

Auch dieser zweite Band, den die Autorin mit ca. 50 Jahren während einer Entgiftungskur rückblickend geschrieben hat, ist absolut lesenswert.
Sie erzählt schonungslos offen und ehrlich, humorvoll, lebendig, berührend, düster und gleichzeitig hoffnungsvoll.
Die Frage ist, ob sich die Hoffnungen der jungen Frau erfüllen werden.

„Jugend“ ist eine nur ca. 150-Seiten kurze Coming-of-Age-Geschichte, aus der dem Leser Lebensfreude, Wagemut und Unsicherheit der Jugend entgegensprudelt.
Es ist aber auch ein kritisches Gesellschaftsportrait von Dänemark vor dem 2. Weltkrieg.

Ich bin gespannt, wie es weitergeht und freue mich schon auf den Abschluss der Trilogie!

Bewertung vom 17.02.2021
Im Fallen lernt die Feder fliegen
Al Shahmani, Usama

Im Fallen lernt die Feder fliegen


ausgezeichnet

Bereits der erste Roman des 1971 geborenen irakisch-schweizerischen Schriftstellers Usama Al Shahmani, „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“, hat mich begeistert und auch sein zweites Werk habe ich nach einigen erfüllenden Lesestunden zufrieden zugeklappt.
Was für eine beeindruckende und berührende Geschichte!

Die junge Irakerin Aida, die Erzählerin dieser Geschichte, arbeitet in einer Bibliothek und hat seit neun Jahren einen festen Freund, mit dem sie inzwischen zusammenlebt.
Aida ist frei und unabhängig. Sie lebt selbstbestimmt und könnte, von außen betrachtet, mit ihrem Leben zufrieden sein.
Aber über ihrem Leben schwebt eine düstere Wolke. Sie spricht nicht über ihre Herkunft. Sie wirkt unnahbar, innerlich ambivalent, suchend und nicht angekommen.
Ihr Freund Daniel, ein Schweizer Ethnologiestudent, interessiert sich für ihre Vergangenheit und stellt viele Fragen, aber der Zeitpunkt, um über das Belastende und Traumatische zu reden muss der Richtige sein.
Immer wieder streiten die beiden wegen ihres Schweigens.
Manchmal ist Schreiben einfacher als Reden und genau deshalb beginnt Aida eines Tages, das Unsagbare niederzuschreiben.
Sie beschließt, sich schreibend mit Schmerz, Trauer und Verlust, auseinanderzusetzen.
Aber nicht streng chronologisch, sondern eher ihren springenden Gedanken und aufblitzenden Assoziationen folgend.

Wir lernen eine irakische Flüchtlingsfamilie kennen.
Die Eltern sind 1991 aus politischen Gründen aus dem Irak in die Schweiz geflohen.
Wehmut und Heimweh haben sie niemals verlassen.
Der Vater, ehemaliger Landwirt und konservativer Theologe, hat Schwierigkeiten, sich einzugliedern und auch die Mutter verweigert letztlich die Anpassung.
Sie überwinden die Sprachbarriere nicht, was Schritt für Schritt in den sozialen Abstieg führt.
Nach dem Sturz Saddams und dem Ende der Diktatur beschließen die, wieder in ihr über die Zeit verklärtes Heimatdorf am Euphrat zurückzukehren.
Es ist ein Entschluss, der ihre beiden halbwüchsigen Töchter Nosche und Aida erschüttert und schockiert, weil die Schweiz ihr Zuhause ist.
Sie gehen dort zur Schule, sie haben dort ihre Freunde.
Sie wollen nicht in einem fremden und männerdominierten Land leben, in dem das Kopftuch unumgänglich und die Religion derart mächtig ist.

Als die ältere der beiden Schwestern in dem irankischen Dorf verheiratet werden soll, wachsen Unmut und Rebellion.
Sie fürchten um ihre Freiheit und um ihre Selbstbestimmung und beschließen, heimlich in ihre Heimat Schweiz zurückzukehren.
Die riskante Flucht gelingt den beiden, aber kaum in der Schweiz angekommen, passiert etwas Schreckliches.
Die jüngere Schwester Aida ist nun, mit nur 16 Jahren, auf sich allein gestellt...

„Im Fallen lernt die Feder fliegen“ ist ein gleichermaßen zarter und feinfühliger wie bild- und wortgewaltiger Roman über Heimatgefühl und Heimatverlust, Zugehörigkeitsgefühl, Herkunft, Integration, Freiheit, Flucht, Ankommen und Beziehungen.
Die Sprache ist, ebenso wie im Vorgängerroman, bildhaft und poetisch.
Ich genoss es, in die Geschichte und in die Sprache einzutauchen

Ich empfehle dieses bereichernde und unterhaltsame, tiefgründige und vielschichtige, gefühlvolle aber zu keinem Zeitpunkt kitschige, klischeehafte oder gefühlsduselige zweite Werk von Usama Al Shamani, der 2002 mit Anfang 30 wegen eines regimekritischen Theaterstücks aus dem Irak flüchten musste, sehr gerne weiter.

Bewertung vom 17.02.2021
Señor Herreras blühende Intuition (eBook, ePUB)
Reichlin, Linus

Señor Herreras blühende Intuition (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ich habe mich aufgrund des Klappentextes auf eine etwas skurrile Geschichte eingestellt und das ist sie auch.
Skurril, witzig, verwirrend, schräg. Aber auch angereichert mit Poesie und Lebensweisheiten.
Letzteres allerdings nicht plump und platt!

Leo Renz ist Schriftsteller.
Aufgrund seiner inneren Unruhe und dem Gefühl von Getriebenheit beschließt er, sich in ein abgelegenes andalusisches Kloster zurückzuziehen, um dort mithilfe von Yoga und Schweigen über Ruhe, Langeweile und Besinnung wieder zu sich und seiner Kreativität zu finden. Eine Auszeit.

Er hofft auf Inspiration und hält es sogar für möglich, dort an seinem Roman zu arbeiten.
Ein weiterer und der vordergründige Grund für diesen Aufenthalt ist, dass er für eben diesen Roman, der in einem Frauenkloster spielt und in dem es um eine Nonne geht, vor Ort recherchieren möchte.

Aber die Nachricht, dass er nicht am Klosterleben teilnehmen kann und der nicht besonders talentierte Koch und fast schon aufdringliche Gästeverwalter Señor Herrera bringen seine Pläne gründlich durcheinander.

Außerdem bemerkt er bereits am Abend seiner Ankunft außergewöhnliche und äußerst sonderbare Dinge, die ihn stutzen lassen.

Was wir nun zu lesen bekommen, ist eine turbulente, verwickelte und abenteuerliche Geschichte, in der man bald nicht mehr recht weiß, was Fantasie oder Realität ist. Absolut durchgeknallt!

Der Autor zeichnet skurrile, aber vielschichtige und für den Roman absolut passende und stimmige Charaktere.

Ich empfehle diese heitere, humorvolle, oft abstruse, zugespitzte und auch ironische Lektüre sehr gerne weiter. Ich musste wegen der Situationskomik oft schmunzeln und auch lachen und war angetan von der Tiefgründigkeit hinter den Kulissen.

„Señor Herreras blühende Intuition“ ist ein Buch, das für etliche Stunden Lesevergnügen und gute Laune sorgt.