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kaffeeelse

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Insgesamt 564 Bewertungen
Bewertung vom 23.06.2023
Ein Geist in der Kehle
Ní Ghríofa, Doireann

Ein Geist in der Kehle


ausgezeichnet

Dies ist ein weiblicher Text!


Doireann Ní Ghríofa, eine irische Autorin, erzeugt mit ihrem Buch „Ein Geist in der Kehle“ ein absolut außergewöhnliches Leseerlebnis. Da strahlt eine Dunkelheit und Schwere, die aber gleichzeitig in Licht gehüllt erscheint. Da strahlt etwas Altes, das mit dem Jetzt, mit der Neuzeit verbunden erscheint. Da schreibt eine alte Seele, die aber gleichzeitig tief im Jetzt verankert erscheint. In diesem Text, in diesem Buch wohnt ein Zauber, der sich nicht sofort der Leserschaft eröffnet, der erst nach und nach seine immense Kraft freigibt. Man könnte sagen, dass dieses Buch erst etwas plätschert, aber dieses Plätschern meine ich hier nicht negativ, denn mit diesem Plätschern meine ich, dass dieses Buch seine Geheimnisse, seine Botschaft erst nur plätschernd und stückchenweise von sich gibt. Ich habe mich am Anfang gefragt, wo mich diese buchige Reise hintragen wird, habe noch nicht gleich erkennen können, was diese Geschichte soll. Das ist etwas, was mir sonst eigentlich nicht gefällt. Hier aber geschieht dieses verhüllt Geschriebene in einem ganz eigenen Zauber, mit einer ganz eigenen Kraft, die man sofort verspürt, die Macht über mich als Lesende erlangt, die mich fordert und fesselt, die mich an sich bindet, die einen Suchtfaktor erzeugt. Aber nicht dieses hachtige suchtige Verhalten, das mich Bücher verschlingen lässt, sondern eher eine Sucht, die mich verschlingt.



Die irische Dichterin und Essayistin Doireann Ní Ghríofa blickt in ihrem Buch "Ein Geist in der Kehle" auf eine irische Adlige aus dem 18. Jahrhundert, auf Eibhlín Dubh Ní Chonaill und gleichzeitig auch auf sich selbst. Dies geschieht recht einzigartig, ist voller Melancholie, aber auch mächtig und beherrschend, ist nachhallend und nachdenklich machend, ist alt und modern, ist düster, aber auch voller Hoffnung. Doireann Ní Ghríofa berichtet über ihr eigenes Leben, berichtet über die Mutterschaft, über die Liebe, über das Leben, über uns Frauen, über unsere Stellung, über unseren Wert in der Gesellschaft. Sie blickt dabei auf das Heute und auf das Gestern. Sie blickt auf die Unterschiede und die Übereinstimmungen. Und damit macht sie wach. Sie rüttelt an der Leserschaft. Denn dies ist ein weiblicher Text! Ein weiblicher Text, den es braucht in unserer heutigen Zeit. Leider!



Ein weiblicher Text, dem ich eine immense Bedeutung beimesse. Denn in seinem Klang ist es einzigartig, ich kenne bisher nichts Vergleichbares. Wem etwas Vergleichbares einfällt, der sollte mir dies bitte dringend mitteilen, denn dieses Buch hier. Ich habe es geliebt! Sehr! Innig und aus tiefstem Herzen!



Ein bemerkenswertes Buch! Ein Buch, dem ich viele Leser wünsche. Definitiv ein 5-Sterne-Buch. Ein Buch, welches Blicke auf Frauen ermöglicht, ein Buch, das mich wütend gemacht hat, aber auch versöhnlich stimmt. Ein machtvolles Buch, mit einem Geist der Veränderung. Dies ist ein weiblicher Text!



Und ich kann hier nur rufen, unbedingt lesen! Lesen! Lesen! Lesen! Und lieben! Lieben! Lieben! Lieben!

Bewertung vom 23.06.2023
Einzeller
Klemm, Gertraud

Einzeller


ausgezeichnet

Einigkeit


Gertraud Klemm hat mich mit ihrem Buch erreicht, begeistert und in Ovationen ausbrechen lassen. Denn Gertraud Klemm betrachtet hier eine Thematik, die auch mich schon seit Jahren beschäftigt, die mich sehr wütend macht. Und dies hier in einem Buch vereint zu finden, stimmt mich hoffnungsvoll, denn vielleicht zieht ja doch noch der Geist der Veränderung in ein wichtiges Thema ein, vielleicht kratzt der Geist der Einigkeit schlussendlich am Patriarchat. Wichtig wäre es! Und auch notwendig!



In Simone Hebenstreits neuer WG versammeln sich fünf Frauen aus verschiedenen Generationen, mit verschiedenen Ansichten, mit einer unterschiedlichen Sozialisation. Und diese Frauen machen genau das, was wir Frauen untereinander tun. Sie erschnüffeln ihre Unterschiede und machen den Feind unter sich aus, zerfleischen sich gegenseitig. Und wer zieht schlussendlich einen Nutzen aus diesem Verhalten? Das übermächtige Patriarchat. Dies sollte uns endlich klar werden! Denn dieses Patriarchat handelt durchaus klug und mit immenser Kraft. Ein Patriarchat, welches versteckt agiert, über die Medien und über die Politik, ein Patriarchat, welches uns Frauen in seine Ansichten und Vorstellungen einspannt. Ein Patriarchat, welches schon lange gelernt hat, unsere eigenen Fehler für sich effektiv zu nutzen. Und dies sollte uns klar werden. Und die Autorin Gertraud Klemm führt diese Thematik schlau konstruiert der Leserschaft in ihrem neuen Roman „Einzeller“ vor und lässt die Leserschaft nachdenklich werden. Nachdenklich und wütend! Wütend darüber, dass dies so einfach funktioniert und wir dies so einfach geschehen lassen. Denn dieses Patriarchat, welches uns schon seit Jahren eine gewisse Gleichstellung vorgaukelt, agiert klug und hinterhältig. Denn wir sind noch weit von einer völligen Gleichstellung zwischen Männern und Frauen entfernt und die reaktionären Kräfte in unserer patriarchalen Welt werden ihr Möglichstes tun, um uns an dieser vollkommenen Gleichstellung zu hindern. Diese reaktionären Kräfte sprechen von einer gefährlichen Wokeness, welche aber eigentlich nur eine Form von Menschlichkeit ist, welche alte Strukturen einreißt und an diesem alles beherrschenden Patriarchat kratzt. Und genau dieses Kratzen macht diesem Patriarchat Angst und dann wehrt es sich, dann schlägt es zu! Und genau das sollte uns Frauen klar sein! Genau das sollte uns klar machen, dass nur ein völliger Zusammenhalt unter uns Frauen, der Hälfte der Bevölkerung, eine Macht darstellt, die dieses Patriarchat endlich aushöhlt und hoffentlich zum Fallen bringt. Denn dieses die Frauen gegeneinander aufhetzen, macht mich wütend! Und dass wir Frauen dies zulassen, macht mich noch wütender. In dem Roman und auch in der Realität!



Ich wünsche Gertraud Klemms neuem Roman eine riesengroße Leserschaft, ich wünsche dem Roman „Einzeller“ eine dritte, vierte … zehnte Auflage und ich wünsche mir, dass endlich ein Umdenken passiert und wir Frauen endlich geeint auftreten und diesem alles beherrschenden Patriarchat den Kampf ansagen!



Bella Ciao!

Bewertung vom 23.06.2023
Das Gesetz der Natur
Winter, Solomonica de

Das Gesetz der Natur


gut

Dystopie meets Fantasy


Besonders das richtig wunderschöne Buchcover faszinierte mich am Anfang an diesem Buch und zog mich regelrecht in seinen Bann, auch der Klappentext dazu klang interessant, und so wanderte dieses Buch zu mir. Doch nach der Lektüre bin ich doch etwas enttäuscht und ich frage mich doch sehr, ob ich diese Trilogie weiterverfolgen werde.



Es geht um ein fiktives Neuamerika, um die Menschen, die in diesem Neuamerika neue Gesellschaften, neue Staaten gründeten. Dieses Neuamerika ist der Rest von dem ehemaligen Amerika, dieser Rest, der bewohnbar geblieben ist nach dieser besonderen Zuwendung der Menschen. Und dieser dystopische Ansatz gefällt mir ganz gut. Doch dieses mittelalterliche und recht fantasyhafte Miteinander dieser Menschen in Neuamerika wirkt leider etwas verstaubt und auch etwas langatmig bis zu einem doch recht störenden pathetischen Anteil. Die Autorin sendet mit diesem pathetischen Anteil an Anliegen an die Leser, doch ist dies wirklich in diesem pathetischen Ton nötig? Denn wer liest denn genau solche dystopisch anmutenden Bücher? Sind diese Leser denn nicht schon von diesem negativen Tun der Menschen überzeugt und müssen nicht erst auf den rechten Pfad gebracht werden?



Und dieses etwas fantasyhaft Geschriebene klingt vollkommen nach einer anderen Zielgruppe, so dass ich wahrscheinlich zum falschen Buch gegriffen habe. Dennoch hätte es ja sein können, dass dieser dystopische Anteil einen größeren Raum einnimmt, was mir persönlich deutlich besser gefallen hätte.



Dennoch ist das Tun der Mutantin Gaia spannend beschrieben und die Reise dieser Frau durch Neuamerika ist ganz spannend gelungen. Nur das Ende dieses ersten Teils der Trilogie ist dann doch in meinen Augen deutlich zu viel bis auch etwas hanebüchen geraten und vergällt mir den restlichen Genuss an dieser Geschichte. Und dieses hanebüchene Ende von „Das Gesetz der Natur“, des ersten Teils der Trilogie lässt mich auch zweifeln an der restlichen Lektüre der kommenden Teile dieser Trilogie.



Vielleicht reizt dann doch das erscheinende Buch meine Neugier, aber momentan schaut es weniger danach aus. Schade!

Bewertung vom 23.06.2023
Queenie
Carty-Williams, Candice

Queenie


sehr gut

Psychogramm einer gequälten Seele


Diese Queenie hat es mir nicht leicht gemacht, anfangs hat mich diese Figur aus dem Buch von Candice Carty-Williams einfach nur genervt, ich habe ständig meine Augen verdreht und innerlich und auch äußerlich gestöhnt. Ein richtig großes Glück ist, dass ich nur sehr selten ein Buch abbreche, welches mich nervt. Denn sonst wäre mir diese Wendung in diesem Buch entgangen, denn genau dies kann passieren. Ein guter Autor kann einem Buch eine ganz neue Richtung geben, kann erklären und Zusammenhänge zentral stellen, kann einen die Leserschaft bisher nervenden Charakter plötzlich in einem ganz anderen Licht dastehen lassen, kann diese nervige Queenie plötzlich einen Platz in meinem Herzen einnehmen lassen. Ein guter Autor kann eine im Kopf entstehende Bewertung bei der Lektüre plötzlich verändern. Und genau dies schafft Candice Carty-Williams, denn sie lässt in ihrem Buch aus dem etwas tölpelhaften und auch recht naiven Charakter Queenie eine andere Gestalt erwachsen. Denn in dem Buch „Queenie“ von Candice Carty-Williams, in diesem gelungenen Psychogramm von Queenie, werden plötzlich die Ursachen für diese nervende Figur Queenie beleuchtet. Der Leserschaft wird vermittelt, dass man mit manchen Urteilen vielleicht sparsamer umgehen sollte, denn es kann Ursachen geben, von denen man anfänglich nichts ahnt. Ursachen, die Menschen plötzlich anders aussehen lassen, denn manches Erlebte hinterlässt Spuren. Manches Erlebte kann ein Leben zerstören und nur durch besonders günstige Konstellationen, zum Beispiel eine gute psychologische Arbeit, welche einer besonderen Bindung zwischen Psychologie und Patient entspringt und zum Beispiel ein Wunsch zur Veränderung des eigenen Lebens beim Patienten und der notwendigen Kraft dazu, kann an der negativen Ausgangssituation etwas verändern werden.

Denn genau dies wird hier beschrieben, genau dies könnte beispielhaft für Betroffene sein, wenn man denn durch das Leiden der Queenie nicht getriggert wird, was wahrscheinlich schwer möglich ist. Und dies ist richtig gut gelungen, lässt neugierig werden auf alles weitere aus der Feder dieser 1989 geborenen Autorin. Denn hier scheint jemand Talent zum Schreiben zu besitzen, wenn schon ein Debut so einschlägt.

Nur ganz wenig fehlt in meinen Augen hier für den fünften Stern, denn gegen Ende verliert das Buch etwas an Tempo und wirkt dann auch etwas hölzern. Anfänglich war ich durch das Nervende am Charakter der Queenie in der Bewertung bei drei Sternen, erst das Aufdröseln der Ursachen brachte mich auf 5 Sterne, leider nur kurzfristig, denn der weitere Werdegang ernüchterte mich wieder und daher lande ich bei verdienten 4 Sternen und dem Hinweis an die Leserschaft diese Autorin im Auge zu behalten.

Bewertung vom 23.06.2023
Fünfte Sonne
Townsend, Camilla

Fünfte Sonne


ausgezeichnet

Ein Blick voller Wahrheiten auf die Azteken, der fern von einer Sensationslust ist


Camilla Townsend erreicht mich mit ihrem Sachbuch „Fünfte Sonne“ vollkommen, sie erforschte in einem Langzeitprojekt über die Mexica viele verschiedene erreichbare Quellen, reiste von Bibliothek zu Bibliothek durch die Welt, las viele Zeitdokumente und konnte dadurch einen neuen Blick auf die Azteken ermöglichen. Ihr Hauptaugenmerk lag hierbei auch bei der Sichtung schriftlicher Zeugnisse aus den Händen der Azteken höchstselbst und genau dieser Blick zeigt eine gar nicht mehr so blutrünstige Welt. Genau diese blutrünstige Welt hat mich immer gestört und ich wusste eigentlich schon recht früh, dass daran etwas nicht stimmen kann. Mag sein, dass ich die indianischen Welten lange gegenüber unserer Kultur favorisierte. Durchaus denkbar aus meinem heutigen Blick. Aber dennoch erscheint mir diese blutrünstig gezeichnete Welt als ein Erklärungsversuch der blutigen Eroberung durch die Spanier. Denn wenn die ach so schrecklichen Azteken gar so kriegerisch waren, warum haben sie denn dieses Häuflein Spanier nicht einfach aus ihrem schönen Mexiko verjagt. Klarer Fall. Da passt etwas ganz und gar nicht.



Camilla Townsend räumt mit ihrem Buch „Fünfte Sonne“ mit diesen männlich arroganten Blicken auf andere Kulturen auf, lässt die Azteken höchstselbst sprechen. Und in dieser Stimme klingt diese Kultur dann doch anders, menschlicher und authentischer. Klar waren die Azteken keine Unschuldslämmer. Aber wer ist das schon. Waren wir es in unserer Geschichte? Mitnichten. Also kann man auch den Schnabel nicht aufreißen und falsches herumposaunen. Denn unsere europäischen Landen zeichneten sich wohl in keiner Kolonie mit einem besonderen Sanftmut aus, eher wüteten sie in diesen Landen und erzeugten auch durch Angst eine Abschreckung. Wer ist dann besser oder schlimmer, die Azteken oder die Europäer? Eine Frage, die man nicht beantworten kann, denn wir alle sind Menschen, haben schlechtes und auch gutes in uns. Die Azteken und auch wir Europäer.



Aber ebenso räumt Camilla Townsend auch mit dem Glauben auf, dass nach der Eroberung die indianischen Welten/die indianischen Kulturen einfach so verschwanden. Denn genau dies passierte nicht. Sie passten sich an, versuchten in dieser neuen Welt zu überleben, vergaßen aber ihre vergangene Welt nicht. Ein Teil der aztekischen Intelligenz überlebte und sie hinterließen aufschlussreiche Aufzeichnungen, Aufzeichnungen, die Camilla Townsend akribisch sichtete und dadurch ihr Buch verfassen konnte.



Ein 5 Sterne Buch, welches überholte Vorstellungen berichtigt, viele neue Informationen bereithält und sich hervorragend lesen lässt. Ein wundervolles und informatives Buch, welches bei mir bleiben wird und in meiner ethnographischen Bibliothek einen wichtigen Platz einnehmen wird!

Bewertung vom 23.06.2023
Die Tochter des Kommunisten
Durán, Aroa Moreno

Die Tochter des Kommunisten


sehr gut

Vom Regen in die Traufe


Eine spanische Familie flieht vor dem Franko-Regime und wählt dafür die Deutsche Demokratische Republik als ihren Zufluchtsort aus. Der Vater, der titelgebende Kommunist, zieht dafür die notwendigen Strippen, die Familie, die Mutter und die beiden Töchter Katia und Martina, folgen. Sie tun dies notgedrungen, denn in Spanien droht der Tod, dennoch hat ein Dasein in der Fremde natürlich seine Tücken, besonders wenn die Familie von einem Regime ins nächste wechselt. Aber dies kommt erst nach und nach heraus. Aber auch das normale Leben in der Fremde ist neu und anders, ebenso wie die Sprachbarriere natürlich behindert. Die Mutter spricht weiter Spanisch, sie fühlt sich in der Fremde nicht wohl, vermisst ihre Familie, weigert sich Deutsch zu lernen. Der Vater hat Deutsch gelernt und versucht sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Und auch die Töchter lernen Deutsch. Dennoch hat dieses Herausreißen aus dem Bekannten natürlich Folgen, auch für die Bindungen in der Familie. Denn man darf die Zeit nicht vergessen in der dieses Ankommen der Familie in Deutschland handelt, nämlich in diesem Mief der 50er Jahre, in einer patriarchalen Zeit. Ein Patriarchat, welches in der Zeit der Republik in Spanien versucht wurde etwas aufzuweichen, dennoch geschah auch dies leider etwas halbherzig. Und im gutbürgerlichen Mief in Deutschland ist von einer Veränderung natürlich keine Spur, in diesem Reich der Männer passiert alles in einer patriarchalen Denke und auch dies hat natürlich Folgen in der Familie.



Denn auch Katia bricht aus, lernt einen jungen westdeutschen Mann kennen, verliebt sich, ist jung und auch dumm. Sie lässt sich überreden ihm in den Westen zu folgen, verlässt aber irgendwie nur ein Gefängnis und tauscht es durch ein anderes aus. Denn der Glanz des Verliebtseins blättert schnell ab und darunter kommt die hässliche Fratze des Biedermanns zum Vorschein. Und nun ist auch Katia allein, ohne ihre Familie, wie auch schon die Mutter. Ihre Versuche die Eltern zu kontaktieren, gehen irgendwie ins Leere und die sehr naive Katia begreift auch nicht, was sie ihrer Familie durch ihre Flucht angetan hat. Und als sie dies begreift, ist es natürlich zu spät.



Das Buch ist aus der Sicht der Katia verfasst und deren naive Denke geht mir leider auf den Nerv, dennoch ist solch ein Erleben ja real. Denn diese naiven Zeitgenossen gibt es ja. Deswegen gab es dann doch 4 Sterne von mir. Denn spannend ist die Geschichte. Nur dieses kleine Naivchen hat mich etwas aufgeregt, aber gut, der Vater war politisch überzeugt und auch dadurch war ein differenziertes Betrachten der Umgebung leider nicht möglich. Und das Fremdsein in der DDR ermöglicht alles Übrige. Von daher finde ich das Geschilderte stimmig, auch wenn mich die kleine süße und auch sehr egoistische Katia sehr aufgeregt hat durch ihre Dummheit.

Bewertung vom 23.06.2023
Liebes Arschloch
Despentes, Virginie

Liebes Arschloch


ausgezeichnet

Bewusstseinserweiternde Blickwinkel


„Liebes Arschloch“ war mein erster Roman von Virginie Despentes. Und dieses Buch ist sicher nicht mein letztes von dieser französischen Autorin. Denn dieses Buch entzündet mich, triggert mich, fasziniert mich. Diese Wucht in der Sprache, einfach nur fesselnd und inspirierend; dieser Zynismus, ich liebe ihn.



Um was geht es in diesem Roman „Liebes Arschloch“? Dieses Buch von der skandalumwitterten Französin mit ihrer scharfen Zunge beschäftigt sich mit einem wachen Blick auf unsere Gesellschaft, schaut zynisch und boshaft auf gelebtes Heldentum, kratzt dabei aber den schimmernden Lack der Oberfläche ab, die auf hübsch getrimmte und leicht überzuckerte schützende Glasur verschwindet und auf die Bühne dieses Romans tritt dadurch ein wahrer Blick auf uns Menschen, ein wahrer Blick auf dieses Raubtier, auf seine Stärken und auch auf seine Schwächen. Ein inspirierender Blick auf den Egoismus in uns, doch ebenso ein Blick auf eine patriarchale Welt, an deren Beinen die gar garstigen Walküren sägen, die dabei dennoch aufpassen müssen, dass ihnen diese Welt nicht auf den Kopf fällt.



Sehr inspirierend und mich völlig anzündend ist diese Virginie Despentes in ihrem Buch. Denn ihr Blick ist real, ohne irgendwelche Achtungsgebote beschreibt sie unsere Welt und lässt die Leserschaft nachdenklich werden. Denn manches so einfach Gewähntes, manch eine Überzeugung verändert sich in diesem Buch und dies so einfach hinzubekommen ist schon bemerkenswert.



Die sich in ihren 50ern befindende Schauspielerin Rebecca löst bei dem dreiundvierzigjährigen Schriftsteller Oscar eine gewisse Wut aus, die ihn zu einem etwas boshaften Schreiben an Rebecca motiviert. Die dritte im Bunde ist die deutlich jünger Zoé, eine junge Wilde, eine Feministin, ein Opfer, eine Täterin. Sie begegnet Oscar, wird durch ihn falsch behandelt und rächt sich dafür. Über diese Figuren ermöglicht die Despentes einen genauen Blick auf die französische Welt, aber nicht nur auf diese, denn eigentlich ist dieser Roman ebenso als ein Blick auf unsere westliche Welt zu verstehen.



Denn unser manchmal schon recht monströs wirkendes Schwarz-Weiß-Denken kann auch zu einer Falle werden, genauso wie Wut und Hass sehr zerstörerische Kräfte sind und manchmal nur ein aufeinander Zugehen eine mögliche und nützliche Intention sein kann, sein muss, sein wird!



Es ist interessant, wie dieser Briefroman es schafft in mir die Emotionen hochkochen zu lassen. Ein interessantes Buch! Ein gutes Buch! Ein völlig zu Recht hochgelobtes Buch!

Bewertung vom 23.06.2023
Das dritte Land
Sainz Borgo, Karina

Das dritte Land


ausgezeichnet

Frauen im Patriarchat


Auch der zweite Roman der 1982 in Caracas geborenen und nach Spanien ausgewanderten Schriftstellerin Karina Sainz Borgo schlägt bei mir ein wie eine Bombe. Schon mit dem Vorgänger „Nacht in Caracas“ hat mich diese Autorin völlig gefesselt, hatte vollkommen meinen Nerv getroffen. Deswegen vernahm ich mit großer Freude, dass ein weiterer Roman der Autorin veröffentlicht wird.



Die lateinamerikanischen Autoren finden in mir einen großen Fan, denn diese lateinamerikanische Literatur empfinde ich als völlig anders, sie hat in meinen Augen nicht mehr viel mit den spanischen und/oder portugiesischen Ursprüngen zu tun. Denn hier sind Einflüsse der Ureinwohner und der anderen Einwanderer in Lateinamerika zu finden, der gezwungenen und der freiwilligen Einwanderer. So dass eine vollkommen eigene Mischung entsteht, die oft in mein Herz zielt und auch trifft. Gerade diese etwas mythischen/mystischen Elemente finde ich wirklich fantastisch, fesselnd und belebend. Auch wenn diese Elemente nicht immer völlig im Vordergrund zu finden sind, sind sie doch da, erzeugen eine gewisse Stimmung.



Und wenn dazu noch eine gewisse feministische Komponente dazukommt, natürlich bin ich dann Feuer und Flamme, brenne ich lichterloh. Und genau dies gelingt der Autorin Karina Sainz Borgo meisterhaft. So lässt sie in „Nacht in Caracas“ eine Frau gegen die Gewalt aufstehen, nicht vollkommen kämpferisch agierend, aber sie kämpft hintergründig und vordergründig für ihr Überleben. Ein Überleben, welches angesichts der düsteren Zustände in ihrem Land, nicht einfach zu meistern ist. Zustände, die von Menschen aus Eigennutz und politischer Verblendung geschaffen wurden, Zustände, die in den Ländern des Machismo natürlich oft aus patriarchalen Strukturen geboren werden.



Und auch in „Das dritte Land“ steht dieser Kampf des Matriarchats gegen die Machtstrukturen in einem namentlich nicht genannten Land thematisch zentral. Nur die Erwähnung des Indianerstammes der Guajiro lässt dann Kolumbien und Venezuela als mögliche Ziele erscheinen, nur müsste man ja dann wissen, wo diese Indianer leben, wobei für mich natürlich Venezuela als das zutreffende Land erscheint. Denn eine Frau flieht vor einer Seuche, vor der Seuche der politischen Verblendung vielleicht. Auf dieser Flucht mit ihrem Mann und den sieben Monate alten Zwillingen erliegen die kleinen Kinder den Strapazen der Flucht und die liebende Mutter sucht nach einem Ort für ihre toten Kinder, findet diesen Ort schließlich an der Grenze zum Nachbarland. Der Tod der Kinder verändert die Familienstruktur, lässt sie auseinanderbrechen. Die Mutter findet aber nach einigen Wirrungen Unterstützung bei der Totengräberin des dritten Landes. Und beide führen einen weiblichen Kampf gegen die patriarchalen Landesstrukturen, gegen die Todesschwadronen und gegen die Drogenkartelle. Die Frau kämpft wieder gegen den Machismo und findet in mir natürlich eine glühende Fürsprecherin zu ihrem Tun.



Ebenso wie die intensive Schreibe der Karina Sainz Borgo in mir eine flammende Verehrerin findet.

Bewertung vom 23.06.2023
Die Möglichkeit von Glück
Rabe, Anne

Die Möglichkeit von Glück


ausgezeichnet

Verblendung und Folgen


Anne Rabe trifft mich mit ihrem Buch „Die Möglichkeit von Glück“ mitten ins Herz. Ihre Heldin Stine hat nicht wirklich mit mir etwas gemein, im Alter sind wir über zehn Jahre auseinander und auch in der Familienstruktur gibt es keine Übereinstimmungen. Dennoch knipst mich die Geschichte an. Ich frage mich, warum dies so ist? Und kann es mir nur so erklären, dass ich mich von diesem Blick der Mehrheit auf den Osten nicht getroffen/nicht wahrgenommen fühle. Dass mich dieser Blick auf die Zonen-Gabis wütend macht! Dass ich Hoffnungen in genau solche Bücher lege, dass der Osten und seine Bevölkerung endlich wahrheitsgetreuer wahrgenommen werden, dass diese Bücher viele Leser finden, wahrgenommen werden, ein Nachdenken entsteht, Veränderung zugelassen wird.



Denn genau solche Bücher wie „Die Möglichkeit von Glück“ vermitteln sehr anschaulich, was manche Geschehnisse mit den Menschen gemacht haben. Und dazu musste man nicht nur in der Familie mit der Engstirnigkeit und der Verblendung mancher Zeitgenossen konfrontiert werden. Obwohl dies natürlich besonders schlimm ist, denn hier fehlt ja der Rückzugsort für die Betroffenen. Aber dieses Verblendeten gab es ja überall, und die gefährlichen Verblendeten saßen an mächtigen Stellen, konnten in das Leben der Einzelnen eingreifen. Und dies verändert, lässt die Menschen vorsichtiger und obrichkeitshöriger werden. Genauso ist aber auch eine Wut auf ein System entstanden und diese Wütenden hofften auf einen Umbruch, den es zwar gab, aber der schlussendlich anders als gedacht verlief und damit wieder eine Wut erzeugte. Eine Wut und ein Misstrauen, welche heute noch zu spüren sind, aber leider werden von vielen die falschen Schlüsse aus diesen Gefühlen gezogen und damit eine Gefahr beschworen. Und dagegen muss man vorgehen, aber nicht mit Bezeichnungen oder Schubladendenken. Sondern mit Information und Verständnis. Denn alle sollten sich darüber im Klaren sein, dass eine weitere Ignoranz schlimme Folgen für unsere Demokratie und damit Folgen für unser freies Leben und Denken haben wird.



Anne Rabe und auch andere Autoren, ich denke da besonders an Franziska Hauser und Elke Lorenz, klären mit ihren Büchern auf, lassen Blicke in ein geschlossenes System zu. Blicke, die ein sensibles Denken ermöglichen, Blicke, die informieren und erklären, Blicke, in denen die Zonen-Gabi ein anderes Gesicht bekommt. Blicke, die sehr wichtig sind, die eine besondere Aufmerksamkeit bekommen sollten!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.06.2023
Blautöne
Bomann, Anne Cathrine

Blautöne


sehr gut

Verschlimmbesserung


Anne Cathrine Bomann hatte mich damals mit ihrem Buch „Agathe“ vollkommen getroffen und mitgerissen. Ich habe mich riesig gefreut über die Ankündigung zu dem zweiten Buch aus der Feder dieser interessanten Autorin. Nur konnte „Blautöne“ leider meinen Erwartungen nicht gerecht werden. Aber das lag nicht am Buch und/oder an der Autorin. Das lag an mir und meinen Erwartungen. Denn „Agathe“ knipst mich natürlich thematisch sehr an, da ich ja selbst in der Psychiatrie arbeite und so manchen Gedankengang der Hauptfigur schon dadurch anders und viel intensiver wahrnehme. Und meine Erwartungen suggerierten mir sicher etwas ähnliches wie „Agathe“.



Doch dies ist „Blautöne“ einfach nicht. Der Roman „Blautöne“ bedient ein anderes Thema, welches nicht direkt in der Psychiatrie angesiedelt, indirekt aber schon. Denn es geht um die Trauer und die Pille dagegen. In unseren hochwirtschaftlichen Gesellschaften spielen solche Gedanken sicher in vielen Köpfen eine große Rolle, denn der Schaden, der der Wirtschaft durch die vielen Ausfälle durch psychische Erkrankungen entsteht, ist immens. Und eine Pille, die solche Gefühle wie Trauer und ähnliche Gefühle ausschaltet, bietet sicher für manche Menschen gedankliche Anreize. Diese Pille, dieses Medikament existiert hier in dem Roman und hat den reizenden Namen Callocain, ein Name, der sofort Erinnerungen in mir wachrief. Doch alles hat Wirkungen und auch Nebenwirkungen. Und der Preis, der für das Ausschalten der Trauer gezahlt wird, ist hoch.



Ein interessantes Konstrukt ist dieses Buch. Gewiss! Ich habe es gern gelesen und fand diesen Blick auf das Ausschalten von einem tiefen Gefühl aus der Sicht einer Psychologin sehr interessant. Denn so manches Medikament bewirkt auch heute ähnliches. So manche Pille hilft Menschen mit ihrer Umwelt, mit beruflichem Geschehen besser klarzukommen. Die Gesellschaft suggeriert also den empathischen Menschen Medizin zu nehmen um bestimmte Abläufe im Leben besser verkraften zu können. Warum ändert eigentlich die Gesellschaft diese Abläufe nicht um den Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen? Dies wäre doch auch ein Gedanke und ein Weg. Wenn da nicht. Ja, ja, die Kosten. Der schnöde Mammon, unser Gott. Wie weit ist da der Weg zum Kallocain?



Ja, ihr habt richtig gelesen.



Ich habe bewusst Kallocain geschrieben. Dies ist kein Schreibfehler. Denn in dem Buch „Kallocain“ von Karin Boye entwirft diese Autorin eine dystopische Welt, in der ein Wahrheitsserum namens Kallocain dem Staat Macht über die Menschen gibt. Und Anne Cathrine Bomann entwirft eine Welt, in der ein Medikament namens Callocain den Menschen die Trauer nimmt und sie dadurch angeblich besser leben lässt. Und nicht nur dem Patienten wird damit eine Verbesserung vermittelt.