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Benutzername: 
leukam
Wohnort: 
Baden-Baden

Bewertungen

Insgesamt 76 Bewertungen
Bewertung vom 19.07.2022
Beifang
Simons, Martin

Beifang


ausgezeichnet

Dreifacher Beifang
„ Beifang“, so heißt nicht nur die Zechensiedlung am Rande des Ruhrgebiets, wo der Ich- Erzähler aufgewachsen ist, „ Beifang“ ist auch ein Begriff aus dem Fischereiwesen. So werden Fische und andere Meerestiere bezeichnet, die zwar im Netz gelandet sind, aber nicht das eigentliche Fangziel waren. Der größte Teil davon wird als Abfall wieder über Bord geworfen - manches überlebt schwer verletzt.
Seelisch verwundete Überlebende sind beinahe alle, von denen Martin Simons schreibt.
Frank Zimmermann, ein Mann Anfang Vierzig, ist der Ich- Erzähler. Obwohl er als erster aus der Sippe der Zimmermanns Abitur gemacht und ein Studium absolviert hatte, wurde nichts aus seinem Plan, ein erfolgreicher Journalist und Drehbuchautor zu werden. Stattdessen schlägt er sich als freier Texter mehr schlecht als recht durchs Leben. Er liebt seinen 12jährigen Sohn, sieht ihn aber nur zweimal im Jahr. Mit Marie, einer verheirateten Frau, verbindet ihn ein sehr loses Verhältnis. „ Wenn lebendig zu sein bedeutete, von Emotionen und Sensationen durchströmt zu werden, dann war ich eher tot.“ So beschreibt er sich selbst.
Sind die Gründe für seine Bindungsunfähigkeit, seine Planlosigkeit in seiner Familiengeschichte zu finden?
Als die Eltern ihr Haus verkaufen, um in eine Anlage für Senioren zu ziehen, reist Frank zurück ins Ruhrgebiet. Vielleicht gibt es ja noch Dinge, die er als Andenken behalten möchte. Über eine alte Holzkiste, die der Vater von seinem Vater geerbt hatte, versucht Frank ins Gespräch zu kommen. Doch der Vater hatte schon immer auf Fragen nach seiner Kindheit sehr einsilbig reagiert, erzählte höchstens einzelne, eher skurrile Begebenheiten .
So beschließt Frank Kontakt aufzunehmen zu einigen der elf Geschwistern des Vaters. Bei den Gesprächen mit Onkeln und Tanten erfährt er manches. Und trotz unterschiedlicher Sichtweisen kristallisiert sich aus den vielen Episoden und Anekdoten das Bild einer Kindheit voll bitterster Armut, voller Gewalt und Perspektivlosigkeit..
Die Großeltern waren kaum in der Lage, ihre zwölf Kinder mit dem Allernotwendigsten zu versorgen. Vom Wirtschaftswunder merkte die Familie nichts. Die Wohnverhältnisse waren äußerst beengt, Hunger war steter Begleiter, Schläge waren an der Tagesordnung. In der Siedlung waren die Zimmermanns als asoziale Außenseiter verrufen.
Als Frank seinem Vater zum Geburtstag das Buch „ Die Asche meiner Mutter“ geschenkt hat, meinte dieser später nur „ Bei uns war es schlimmer.“ Wer Frank McCourts Autobiographie kennt, kann ermessen, was diese Aussage bedeutet.
Obwohl die Geschwister nicht dumm waren, blieb ihnen schulischer Erfolg und beruflicher Aufstieg versagt. Früh mussten sie in ungeliebten Berufen Geld verdienen.
Franks Vater wurde mit 18 Jahren selbst Vater und danach hieß es ein Leben lang hart arbeiten, damit es die eigene Familie mal besser hat.
Martin Simons beschreibt hier eine bundesrepublikanische Familiengeschichte, wie sie nicht oft in der Literatur zu finden war. Erst in letzter Zeit gibt es Autoren, die diesem Milieu Beachtung schenken. Denn in der Realität gibt es diese Geschichten und es ist notwendig, davon zu erzählen.
Der Autor fragt sich, was ein solches Aufwachsen mit einem macht. Wie verarbeitet man die Armut, die Gewalt? Über seinen Vater schreibt er : „Ich wusste ja nicht, was es ihn gekostet hatte, die eigene Vergangenheit zu überleben.“
Erstaunlicherweise findet der Ich- Erzähler bei seinem Vater und dessen Geschwistern kein Selbstmitleid, keine Verbitterung, kein Jammern, eher ein trotziger Stolz, es trotzdem irgendwie geschafft zu haben.
Der Ich- Erzähler hat sein Netz ausgeworfen und vieles eingefangen. Auch wenn nicht alle Fragen beantwortet wurden, so ergibt sein „ Beifang“ ein vielfältiges und faszinierendes Gesamtbild.
Martin Simons schreibt nüchtern, völlig unpathetisch. Gleichwohl hat mich das Schicksal der Figuren berührt. Anschaulich schildert er die Zustände jener Zeit, lässt die einzelnen Protagonist

Bewertung vom 19.07.2022
Eine Feder auf dem Atem Gottes
Nunez, Sigrid

Eine Feder auf dem Atem Gottes


ausgezeichnet

Vater, Mutter, Tochter
Nachdem die amerikanische Autorin Sigrid Nunez mit ihren beiden Büchern „Der Freund“ und „ Was fehlt dir“ auch in Deutschland bekannt und erfolgreich wurde, hat sich der Aufbau- Verlag entschieden, ihren bereits 1995 erschienenen Debut- Roman in einer Neu- Übersetzung von Anette Grube herauszugeben.
Setzt sie sich in den beiden oben erwähnten Büchern v.a. mit dem Tod und mit dem Thema Freundschaft auseinander, so geht sie in „ Wie eine Feder auf dem Atem Gottes“ zurück in ihre Kindheit und Jugend in New York.
Der Roman gliedert sich in vier Teile.
Der erste Teil beschäftigt sich mit dem Vater, einem in Panama geborenen Halbchinesen. Da der Vater ein großer Schweiger war, stammen die wichtigsten Informationen über ihn von ihrer Mutter. Während des Zweiten Weltkriegs kämpfte er in Frankreich und Deutschland und lernte als Besatzungssoldat die 18jährige Christa kennen. Mit Frau und Tochter geht es zurück in die USA. Hier wird er unermüdlich in schlecht verdienenden Jobs arbeiten, um seine Familie durchzubringen. Die Tochter findet keinen Zugang zu dem schweigsamen Mann. Er wird bis an sein Lebensende kaum richtig Englisch sprechen können. Sie liest Pearl S. Bucks Roman „ Die gute Erde“, um so vielleicht mehr über seine chinesische Wurzeln zu erfahren.
Im zweiten Teil geht es um das problematische Verhältnis zur Mutter. Diese war eine schwierige, ewig unzufriedene Frau. Nie hat sie sich in der neuen Heimat wohlgefühlt, träumte immer von einer Rückkehr nach Deutschland, wohl wissend, dass es das Deutschland ihrer Kindheit und Jugend nicht mehr gab. Die Ehe der Eltern, zwei so ungleicher Menschen, war nicht glücklich. Das spürten natürlich auch die beiden Töchter.
Mit zwölf Jahren entflieht die Autorin dem erdrückenden Zuhause in die Welt des Balletts. Sie träumt davon, eine Ballerina zu sein. Davon erzählt der dritte Teil des Romans. Obwohl sie die nötige Disziplin und Härte aufbringt, die das Training erfordert, hat sie zu spät damit begonnen , um wirklich erfolgreich in diesem Metier zu werden. Aber auch das Scheitern ist eine wichtige Etappe auf dem Lebensweg. In diesem Kapitel fällt der Satz, der dem Buch den Titel gab. Jede Ballerina wünscht sich, leicht wie eine Feder zu sein, „ eine Feder auf dem Atem Gottes“, ein Zitat Hildegard von Bingens.
Im letzten Teil schreibt Sigrid Nunez ehrlich und offen über ihre leidenschaftliche Beziehung zu dem russischen Einwanderer Vadim. Er ist Schüler in ihrem Englischkurs für Ausländer und wird bald der Beste in der Klasse . Seine Wildheit und Furchtlosigkeit faszinieren sie, doch er bleibt eine kurze Affäre. Zu unterschiedlich sind das Milieu und die Wertevorstellungen der Beiden; hier die junge, aufstrebende Amerikanerin, da der kleinkriminelle Macho aus Russland.
Sigrid Nunez greift in ihrem Debut verschiedene Themen auf. Es geht um Identität und Zugehörigkeit, um das Leben zwischen den Kulturen, um Sprache und Sprachlosigkeit.
Gerade bei ihren Eltern hat die Autorin erlebt, welche Folgen das Fehlen einer gemeinsamen Sprache hat. Eine Kommunikation und damit ein befriedigendes Zusammenleben ist nicht möglich. Vadim dagegen lernt eifrig Englisch, um seine Lehrerin zu verführen. Und ihre privaten Gespräche sind oft eine Weiterführung des Unterrichts.
In Sigrid Nunez‘ Erstling zeichnet sich schon ab, was in ihren späteren Büchern noch ausgeprägter sein wird. Sie belässt es nicht bei der Schilderung ihrer Erlebnisse, sondern viele Begegnungen und Beobachtungen werden Anlass zur Reflexion. So erlebt sie z.B. ihren Vater bei einem der seltenen Treffen mit anderen Chinesen. Hier zeigt sich der ansonsten stumme Mann als äußerst redselig. Und sie fragt sich später, ob sein Schweigen nicht darin begründet lag, dass ihm niemand zuhören wollte.
Im dritten Kapitel stellt sie z.B. Überlegungen an zum Thema Schmerzen oder zum Zusammenhang zwischen Ballett und Sexualität.
Sigrid Nunez schreibt episodenhaft, ihre Sprache ist klar und präzise, der Ton leicht,

Bewertung vom 18.02.2022
Glücksfisch: Weißt du, was die Tiere machen? Kleine Biene

Glücksfisch: Weißt du, was die Tiere machen? Kleine Biene


ausgezeichnet

Süß und informativ
Dieses Buch aus der Reihe „ glücksfisch“ des Fischer Verlages vermittelt Sachwissen schon für die Kleinsten. Das Cover mit der Biene im Mittelpunkt spricht einen sofort an. Auf neun farbenfrohen Seiten wird das Wesentliche über das Leben dieses Tieres und seine Funktion für das Ökosystem kindgerecht vermittelt. Was sind die Aufgaben von Bienen, wo und wie leben sie, warum summen sie und welchen Zweck hat der Bienentanz? Das alles wird hier erklärt.
Guckloch, Schieber und zahlreiche Klappen sorgen für zusätzlichen Spaß und regen die Entdeckerfreude an. Kleine Bewegungsaufgaben runden das Ganze ab. Das Format ist handlich und ideal für kleine Kinderhände. Das Buch ist aus stabiler, abwaschbarer Pappe und somit beinahe unverwüstlich.
Ein rundum gelungenes, schön gestaltetes und bunt illustriertes Bilderbuch für Kinder ab zwei Jahren.

Bewertung vom 12.02.2022
Mein großes Lichter-Wimmelbuch: Auf dem Bauernhof
Grimm, Sandra

Mein großes Lichter-Wimmelbuch: Auf dem Bauernhof


sehr gut

Auch schon für Kleine
„ Mein Großes Lichter- Wimmelbuch“ widmet sich hier einem Thema, das Kinder immer wieder anspricht. Auf zehn Seiten entfaltet sich das bunte Treiben auf einem Bauernhof; jede Doppelseite widmet sich einem bestimmten Lebensraum, dem Stall, Wiese und Weide, dem Teich und dem Garten. Links findet sich ein kurzer Einführungstext, den Kinder dieser Altersgruppe gut verstehen. Auf den Bildern lassen sich unendlich viele Tiere, Pflanzen, Gegenstände usw. entdecken. So bieten die vielen Details jede Menge Gesprächsstoff. Es geht also nicht nur darum, bestimmte Dinge zu finden, sondern auch Zusammenhänge herzustellen. ( z.B. Was machen die Raupen auf dem Kohlkopf? Welcher Hund passt auf? usw.)
Das Besondere aber sind die bunten Knöpfe, die gedrückt Tiere und Gegenstände, die gefunden werden sollen, aufleuchten lassen. Das Buch wird für die Altersgruppe ab zwei Jahren empfohlen. Da sind Kinder in der Lage, die Knöpfe zu bedienen und die Aufgabenstellung zu bewältigen. Diese Lichter faszinieren aber auch schon Kleinere. Erwachsene mögen die Illustrationen als etwas kitschig empfinden, aber Kinder werden ihre Freude daran haben. So ist meine Enkelin ( 13 Monate) ganz begeistert von dem Buch.

Bewertung vom 12.02.2022
Das Vorkommnis / Biographie einer Frau Bd.1
Schoch, Julia

Das Vorkommnis / Biographie einer Frau Bd.1


sehr gut

Reflexionen und Erinnerungen
Bei einer Lesung kommt auf die Ich- Erzählerin eine fremde Frau zu, mit der Bitte, ein Buch zu signieren und der Bemerkung: „ Wir haben übrigens denselben Vater.“
Dieses titelgebende Vorkommnis steht am Anfang des neuen autofiktionalen Buchs der deutschen Autorin Julia Schoch. Und dieser Zwischenfall ist Auslöser für vielfältige Reflexionen und Erinnerungen.
Mehrfach rekapituliert die Ich- Erzählerin dieses Zusammentreffen , analysiert auch ihr damaliges Verhalten (Sie fiel der fremden Frau um den Hals.)
Hatte sie nicht immer schon geahnt, dass es irgendwann zu einer solchen Begegnung kommen würde? Denn gewusst hatte sie von der Existenz eines Kindes, das ihr Vater vor seiner Ehe gezeugt hatte.
Sie beginnt ihre Kindheit in einem Provinzort an der DDR- Randzone zusammen mit ihren Eltern und einer sechs Jahre älteren Schwester in neuem Licht zu sehen. Die geometrische Form ihrer Familie wurde durch das Auftauchen eines neuen Mitglieds beschädigt. „ Bislang hatte die Familie, aus der ich kam, einem Quadrat geglichen….Einem recht großen Quadrat, die Ecken weit voneinander entfernt, aber noch in Sichtweite….Erst mit ihr, der fremden Frau, verschwand das Bild eines stabilen Quadrates. …wurde aus der sauberen geometrischen Form ein struppiges Gewächs.“
Beim Rekapitulieren der frühen Kinderjahre entsteht so gleichsam ein Bild vom Aufwachsen in der DDR.
Auch bei ihrem Aufenthalt in den USA Wochen später lässt die Ich- Erzählerin die Geschichte nicht los. Hierher ist sie gereist auf Einladung einer Universität, um Vorlesungen zu halten. Mit dabei sind die beiden kleinen Kinder der Autorin und ihre Mutter. Mit der führt sie Gespräche über früher, über das Leben der Mutter als junge Frau, über Kindererziehung damals und heute.
Sogar das Verhältnis zu ihrem Mann leidet unter dem „ Vorkommniss“. Gibt es auch in ihrer Beziehung Geheimnisse, Dinge, die verschwiegen werden? Wen kennt man wirklich und wem kann man vertrauen? Fragen, die Misstrauen und Zweifel wecken. „Auch die Beziehung zu meinem Mann, die mir bis dahin als die größte Liebesgeschichte des späten 20. Jahrhunderts erschienen war, bekam Risse - allein dadurch, dass ich über sie nachdachte.“
Julia Schoch geht in ihrem unglaublich dichten Text assoziativ vor und erzählt in kurzen Kapiteln. Die Sprache ist präzise und klar; dabei findet sie immer wieder beeindruckende Bilder und Vergleiche. Gekonnt verzahnt sie eigene Erlebnisse, Familiengeschichte und Erinnerungen mit Reflexionen und sucht Antworten auf existenzielle Fragen. Mit Themen wie Ehe und Muttersein, Kindheit und Geschwisterbeziehungen, Vertrauen und Liebe setzt sie sich auseinander. Dabei holt sie sich öfter Hilfe in der Literatur.
Gerne bin ich ihren Ausführungen gefolgt, wenn auch nicht jeder Gedankengang gleich nachvollziehbar war; habe manche kluge Sequenz unterstrichen.
Liebhaber anspruchsvoller Literatur werden ihre Freude an diesem zwar handlungsarmen, aber klugen Roman haben. Viele Sätze lassen den Leser innehalten und nachdenken. Sätze wie diese: „Wenn in unserem Rücken etwas Unerwartetes sichtbar wird, ist das beunruhigend. Genauso ist es mit den Dingen, die hinter uns liegen. Wir wollen nicht, dass aus dem Nebel der Vergangenheit etwas auftaucht, das uns dazu zwingt, umzudrehen. Wir wollen nicht rückblickend alles revidieren müssen. Lieber verteidigen wir unsere Vergangenheit.“
„ Das Vorkommnis“ ist, wie uns der Klappentext verrät, der Auftakt einer Trilogie „ Biografie einer Frau“. Man darf gespannt sein auf die nächsten beiden Bände.

Bewertung vom 12.02.2022
Erschütterung
Everett, Percival

Erschütterung


ausgezeichnet

Aus der Spur

Der US- amerikanische Schriftsteller Percival Everett hat schon mehr als zwanzig Bücher veröffentlicht und dafür zahlreiche Preise erhalten. In Deutschland ist er bisher wenig bekannt. Das dürfte sich mit seinem neuen Roman „ Erschütterung“ ändern.
Hauptfigur ist der Ich- Erzähler Zach Wells; er ist von Beruf Paläontologe und arbeitet als Dozent und Wissenschaftler. Der Mittvierziger hat eigentlich alles, um ein glückliches oder wenigstens zufriedenes Leben zu führen: ein gesichertes Einkommen, eine kluge Frau und eine wunderschöne Tochter. Während die Liebe zu seiner Frau mittlerweile erkaltet ist, ist seine 12jährige Tochter Sarah sein Ein und Alles. Mit ihr kann er albern sein, mit ihr liefert er sich regelmäßig Schach- Duelle, bei denen er immer öfter den Kürzeren zieht.
Doch eines Tages wird sein ruhig dahinplätscherndes Leben jäh erschüttert. Es beginnt mit einer leichten Irritation. Sarah übersieht beim Schachspiel eine Figur. So etwas passt garnicht zu ihr. Kurz darauf schneidet sie sich in den Finger. Der Besuch beim Augenarzt bringt keine Ergebnisse. Am Ende einer Ärzte- Odyssee steht eine grauenhafte Diagnose: Sarah leidet am wenig bekannten Batten-Syndrom, einer unheilbaren Nervenkrankheit. Der Alptraum aller Eltern: „ Unsere Tochter war todgeweiht. Meine kleine Sarah würde diesen genetischen Defekt nicht überleben.“ Sie würde dement werden. „ Ich würde sie verlieren, noch ehe sie tot war.“
Wie geht man mit so einem Schicksalsschlag um? Zacks normale Reaktionen als Wissenschaftler versagen hier. Analysieren und nach Lösungen suchen - das war nicht möglich. Es gab keine Lösung.
Zeitgleich hat ein anderes Ereignis Zacks Aufmerksamkeit erregt. In einer bei eBay gekauften Jacke findet sich ein kleiner Zettel mit der Aufschrift „Ayudame“, was übersetzt „ Hilf mir“ bedeutet. Um sich von seinen persönlichen Problemen abzulenken, beginnt Zack nachzuforschen und kommt Verbrechern auf die Spur, die mexikanische Frauen entführten und sie als Arbeitssklaven halten. Er macht sich auf, diese Frauen zu retten. Eine Ausweichhandlung ?!
„ Ich war hier, um jemanden zu retten, irgendwen. Ich brauchte das.“
Was sich hier möglicherweise konstruiert anhört, liest sich keineswegs so, sondern wirkt schlüssig.
Es ist große Kunst, wie Everett sein Thema behandelt. Er macht kein rührseliges Melodram daraus, sondern beschreibt kühl und sachlich und deshalb umso eindringlicher, wie sich das Leben und Denken des Protagonisten angesichts dieser Tragödie verändert. Hat anfangs noch ein leichter und ironischer Erzählton vorgeherrscht, so ändert sich dieser im Verlauf der Geschichte, wird ernster und reflektierter.
Zack Wells ist eine komplexe Figur. Er ist zu sehr Wissenschafter und für das Zwischenmenschliche nicht sensibel genug. Das bekommen oft seine Studenten oder Kolleginnen zu spüren. Da wehrt er jegliche Nähe ab, ist schroff und abweisend und versucht sich aus allem herauszuhalten. Doch seiner Tochter gegenüber ist er zart und voller Gefühl.
Das Verhältnis zwischen ihm und seiner Ehefrau Meg ändert sich zwangsläufig. Er lässt sie zwar einige Zeit allein, als er sich auf die Suche nach den vermissten Frauen begibt. Doch das führt nicht zum Bruch zwischen den beiden .
Es gelingt dem Autor glaubwürdig, Zacks Verzweiflung und Erschütterung angesichts des Sterbens seiner Tochter darzustellen. Und es ist anrührend, wie er trotzdem versucht, Sinnhaftigkeit in sein Leben zu bringen.
Neben den beiden Handlungssträngen, dem familiären Schicksal und der Krimihandlung mit den verschwundenen Frauen, erzählt Everett auch vom beruflichen Umfeld des Protagonisten. Da reiht sich das Buch in die bekannten Campusromane der amerikanischen Literatur ein. Trotzdem erscheint mir die Geschichte nicht überfrachtet.
Immer wieder streut der Autor kleine und kleinste Schnipsel in seinen Text, die die Handlung unterbrechen; mal sind es Beschreibungen von Knochenfunden, Schachzüge, Gemäldetitel mit Anmerkungen aus dem Louvre, Zei