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Benutzername: 
Juma

Bewertungen

Insgesamt 126 Bewertungen
Bewertung vom 24.10.2023
Besser schlafen
Högl, Birgit

Besser schlafen


sehr gut

Der Titel „Besser schlafen“ hat mir gefallen, ich möchte gern besser (durch)-schlafen, da war der Griff zu diesem Buch ein Muss. Die Schlafforscherin Prof. Dr. Birgit Högl widmet sich in fünf Kapiteln allen Aspekten des Schlafs und den Grundlagen der Schlafforschung. Ganz zum Schluss gibt es noch einen wissenschaftlichen Fragebogen, der den Leser herausfinden lässt, zu welchem Chronotyp er gehört. Ich ahnte es schon während des Lesens, ich bin weder Nachteule noch Lerche.
Für mich besonders interessant waren die Informationen zu äußeren Einflüssen, zur inneren Uhr und zum Schlafmangel. Das Buch ist ein wissenschaftlich fundiertes, populärwissenschaftlich geschriebenes Sachbuch, keine „Schlaf-Ratgeber“, den sich vielleicht so mancher Leser wünscht. Aber wenn man dieses Buch genau liest, findet man für sich persönlich einige Ansätze, die es zu überdenken gibt. So zum Beispiel bei mir die Licht-Problematik, ich gehe sehr selten hinaus, weil ich gehbehindert bin. Gerade in der kalten, regnerischen Jahreszeit ist auch der Rollstuhl keine angenehme Option. Aber ich habe herausgelesen, dass ein Mensch täglich mindestens eine Stunde Tageslicht benötig. Was im Umkehrschluss bedeutet, ich muss mehr raus oder mir eine Tageslichtlampe zum Ausgleich anschafften.
Die vielen interessanten Details, die zur Schlafforschung geschrieben wurden, sind aufschlussreich und helfen einem auch zu verstehen, warum manche Beschwerden, die im Zusammenhang mit „schlechtem“ Schlaf auftreten, nicht einfach mit Medikamenten zu beseitigen sind. Aber besonders zu Schlafmedikamenten, egal ob frei verkäuflich oder auf Rezept zu beziehen, hätte ich mir noch ausführlichere Erklärungen gewünscht. Der Griff zur Schlaftablette ist so weit verbreitet und wird aus meiner Sicht von Betroffenen als völlig normal angesehen.
Da ich das gedruckte Exemplar gelesen habe, hätte ich mir vielleicht im Anhang einen Index und ein Glossar gewünscht. Wer das Buch auf dem E-Reader liest, hat ja die Möglichkeit der Suche bzw. kann noch einmal schnell eine Begriffserläuterung anklicken.
Die Buchgestaltung möchte ich hier ausdrücklich loben, das Nachtblau des Schutzumschlages wiederholt sich im Buch bei der Schrift und den Hauptkapitelseiten, die zudem auch noch einen Sternenhimmel imitieren. Die Schrift liest sich hervorragend (auch im Bett) und die Einteilung in nummerierte Überschriften und Unterüberschriften bestärkt den Eindruck einer wissenschaftlichen Arbeit. Das Herausheben von MYTHOS und RICHTIG lockert nicht nur auf, sondern bringt den Leser auch immer wieder in die richtige Spur.
Eigentlich wäre hier schon mein Fazit fällig und die Sternebewertung. Diese fällt mir aber doch sehr schwer, denn das Buch ist von Anfang bis Ende mit Gendersternchen angefüllt. Ich kann beim besten Willen nicht nachvollziehen, warum eine hochintelligente Wissenschaftlerin ihren Text derart verunstaltet. Das folgende Zitat von S. 20 zeigt, dass Lesefluss und Verständlichkeit der Ausführungen erheblich erschwert werden: „Auch Psychiater*innen, Internist*innen, insbesondere Kardiolog*innen, Pulmolog*innen, HNO-Ärzt*innen und Kinderärzt*innen gehören dazu. Selbst Zahnärzt*innen können sich in Schlafmedizin spezialisieren, ebenso Psycholog*innen, naturgemäß Pfleger*innen und Techniker*innen, aber es gibt auch immer mehr Ingenieur*innen, Physiker*innen und Biolog*innen etc., die vor allem in der Forschung arbeiten.“ Besonders abstrus wird es, wenn von „Jäger*innen und Sammler*innen“ die Rede ist. Umgangssprachlich wird man wohl noch in hundert Jahren von „Jägern und Sammlern“ sprechen, man kann aber die sogenannte Geschlechtergerechtigkeit plus Gendern, wie in diesem Buch exemplarisch, wahrlich übertreiben. Mag sein, dass ich altmodisch, konservativ und intolerant bin, aber ich habe Deutsch gelernt, das ist meine Muttersprache und bin nicht bereit, eine Verschlechterung der deutschen Sprache unwidersprochen zu akzeptieren. Für dieses schöne, interessante und hilfreiche Buch tut es mir umso mehr leid. Einen Sterneabzug nehme ich nicht vor, ich werde trotzdem nur den sachbezogenen Inhalt werten.
Fazit: Ich habe viele neue Informationen erhalten, der Input war sehr umfangreich, obwohl ich schon einiges über Schlaf in anderen Publikationen gelesen habe. Die Buchgestaltung hat mir sehr gefallen, das steht gerade bei Sachbüchern nicht unbedingt immer im Vordergrund. Die Gendersternchen haben mir die Freude leider gründlich verdorben.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.10.2023
Wege aus dem Schmerz
Gordon, Alan;Ziv, Alon

Wege aus dem Schmerz


gut

Ein Schmerzgeplagter dreht den Spieß um
Alan Gordon hatte Schmerzen, lange und stark, an einem bestimmten Punkt begann er gegen die Schmerzen zu kämpfen. Mit ungewöhnlichen Mitteln, aber ihm hat es geholfen. Er berichtet gemeinsam mit Alon Ziv über die Strategien, die zur Heilung chronischer Schmerzen eingesetzt werden können. Dass das Gehirn des Menschen Schmerzen verinnerlicht, speichert, immer wieder abruft, sich dagegen stemmt und trotzdem nie aufhört, neue Schmerzen zu erzeugen, das ist keine neue Erkenntnis. Und dass Ärzte aller Richtungen oftmals abwinken und den Patienten wissen lassen, das wäre alles psychisch bedingt, das wäre somatisch, und bestenfalls eine Behandlung in der Psychotherapie empfehlen, das weiß wohl jeder, der dieses Buch liest, weil er seinen chronischen Schmerzen irgendwie entkommen möchte.

Die bevorzugte Strategie der Autoren heißt Empfindungsverfolgung. Mit dieser Methode sollen die Schmerzen beobachtet werden, ich würde es auch Achtsamkeitsübung oder Anti-Schmerz-Meditation nennen. Wie bei allen psychiatrischen Behandlungen kommt es auf den Patienten an, kann er sich eindenken in die Phänomene, die die Autoren beschreiben? Aus meiner Sicht nur mit einem Buch als Anleitung sehr schwer, mit einem Psychotherapeuten und wiederkehrenden Behandlungsterminen kann ich mir das besser vorstellen. Menschen, die im Leben stehen, rund um die Uhr gefordert sind, schwer abschalten können, die werden das so nebenbei kaum schaffen. Neuroplastische Schmerzen sind schwer zu behandeln, insbesondere, wenn sie mit neurologischen Erkrankungen und akuten Schmerzen gemeinsam auftreten.

Das Buch liest sich recht flüssig, aber nach einer Weile hatte ich das Gefühl, ich bin in einem Commercial gelandet oder in einer religiösen Erweckungszeremonie. Die vielen Beispiele und teilweise merkwürdigen Gleichnisse, die Patientenmeinungen, all das wurde mir beim Lesen zu viel, zu übermäßig. Ich verlor die tatsächliche Absicht des Buches, mir einen Weg aus dem Schmerz zu weisen, irgendwie aus den Augen.

Einige Abschnitte haben mir gefallen und einige waren auch tatsächlich neu für mich, z. B. die sog. Alarmbereitschaft, in der sich mein Körper offenbar befindet, die wurde gut erklärt, wie auch der Schmerz-Angst-Teufelskreis. Für mich auch wichtig: ich weiß jetzt zumindest, dass meine "Vermeidungstaktiken" absolut in Ordnung sind.

Bevor man jedoch davon ausgeht, dass man unter neuroplastischen Schmerzen leidet, sollte man unbedingt abklären lassen, ob eine akute Erkrankung vorliegt. Ist nämlich ein Nerv erst einmal so sehr geschädigt, das es nicht mehr reversibel ist, dann hilft einem auch keine Psychotherapie mehr, dann ist man im schlimmsten Fall dauerhaft z. B. gehbehindert. Darauf hätte m. E. das Buch gesondert eingehen müssen, um Fehlselbstbehandlungen zu vermeiden.

Bewertung vom 13.10.2023
Frau Morgenstern und der Abgrund
Huwyler, Marcel

Frau Morgenstern und der Abgrund


sehr gut

Die Hohe Schule der Violetta M. – ein unterhaltsames Vergnügen der Extraklasse

Beim Ergreifen des kleinen blauen Taschenbuchs war ich noch reichlich ahnungslos. Ein Schweizer Krimi, die Hauptperson eine Frau mit dem Familiennamen meiner Großmutter. Das hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Von Marcel Huwyler hatte ich bis dahin nie gehört, geschweige denn gelesen und dass schon vier Bänder der Morgenstern-Krimiserie existieren, war mir auch entgangen. Schade eigentlich, denn was ich so an den folgenden drei Lesetagen erlebte, das schreit gewaltig nach mehr.
Sie kennen die Vorgängerbände schon? Dann müssen Sie meine Rezension ja nicht unbedingt lesen, der Klick auf den Kaufen-Button geht schneller. Wenn Sie aber so unbedarft und unvoreingenommen wie ich ans Werk gehen, dann frage ich Sie jetzt „Haben Sie den Herbstblues? Liegen Ihnen die hässlichen Leichen des letzten Thrillers noch im Magen? Sind Sie immer noch deprimiert ob des gerade gelesenen tragischen Familienromans? Suchen Sie Abwechslung und gute Unterhaltung?“.
Beantworten Sie auch nur eine Frage mit ja, dann müssten Sie sofort zur „Violetta-Morgenstern-Miguel-Schlunegger-Kur“. Die findet in den Schweizer Höhen oberhalb jedweder Wellnessebene statt. Morgendlicher Start ist um sieben mit Gehirn-Jogging und allerfeinstem schwarzen Kaffee, es folgen Gedanken-Akrobatik, Wort-Jonglieren und nicht zuletzt etwas Lach-und-Wein‘-Yoga. Wenn Sie sich dann ausreichend gekringelt haben vor Erstaunen, Entsetzen oder eben Lachen, wird es auch mal ernst im Buch. Aber das sollte sie keinesfalls abhalten, weiterzublättern und sich mit Violetta und Miguel, ihrem Kompagnon, auf die ultimative Verbrechersuche zu machen. Das Ping-Pong-Spiel der beiden ist ein echtes Literaturhighlight, und so herrlich dämlich quatschen mit Hintersinn, das will schon gelernt sein. Dann taucht auch noch ein Herr Gantenbein auf, da musste ich wirklich laut lachen, die Schweizer mit ihren literarischen Ideen sind echt nicht zu verachten. Genau: Sie lesen hier meine Empfehlung, sich die Hohe Schule der Violetta Morgenstern nicht entgehen zu lassen.
Über Inhalt und Verlauf der Mördersuche halte ich mich derweil bedeckt, ich verderbe Ihnen ungern den Spaß und die Spannung schon gar nicht. Wobei der Spannungsbogen nicht so gleichmäßig verläuft wie es die Wortspielereien der Protagonisten von Beginn an erwarten lassen, mitunter wird das tatsächlich Ernste der Geschichte etwas betulich und korrekt erzählt, da fehlte mir „der letzte Pfiff“, wie der Berliner so sagt. Das Ende aber ist überraschend und es sei jedem Leser ausdrücklich verboten, zuerst die letzten Seiten zu lesen.
Was ich aber noch loswerden möchte, ist ein Lob an Verlag und Autor. Mein schon arg gebeutelter Schriftsetzerblick wurde von diesem kleinen Buch um Jahre verjüngt und sehr beglückt. Wann findet man schon Gedankenstriche oder Apostrophe, die auch ihren Namen verdienen. Im ganzen Buch kein falsch gesetzter Buchstabe oder gar Akzent, der ein Apostroph sein möchte, außerdem eine klassisch schöne Typographie: es war mir eine echte Freude. Dass ich von Zeit zu Zeit mal das Internet ganz nett nach der Bedeutung abgefahrener schweizerischer Ausdrücke befragen musste, versteht sich bei Preußen ja von selbst. Da wäre dann ein E-Book praktischer, bräuchte ich das Buch gar nicht aus der Hand legen.
Fazit: Viel Spaß mit Hintersinn. Und ich erwarte sehr gespannt, was Violetta demnächst so unternimmt und ob Miguel, ihr wortgewandter Kompagnon und wahrer Freund, uns erhalten bleibt.

Bewertung vom 26.09.2023
Kajzer
Kaiser, Menachem

Kajzer


gut

Wer gestorben ist, ist noch lange nicht tot
„Es ist der Fluch des Schriftstellers, er muss versuchen, seine Geschichte so wahrhaftig und vollständig wie möglich zu erzählen, während er gleichzeitig jene Details minimieren muss, die andere als überflüssig oder beschämend empfinden könnten. Vielleicht habe ich in diesem Punkt versagt. Falls ja, dann hoffe ich, dass man mir vergibt.“ Dies ist ein Zitat aus dem letzten Abschnitt „Dank“ von Menachem Kaisers Buch, das es mir erspart, dem Autor wie dem Lektorat zu große Vorwürfe ob der Weitschweifigkeit zu machen.
„Kajzer“ ist die minutiöse Berichterstattung einer Ahnenforschung und Spurensuche, der Versuch Erbe und Gerechtigkeit in Polen zu erlangen und gleichzeitig noch die Geschichte des Abraham Kajzer zu erzählen. Alles in allem doch etwas viel und weit ausholend. Der Autor, kanadischer Jude mit jüdisch-polnischen Vorfahren, konzentriert sich auf wortwörtlich alles, findet für sich und seine Suche in Polen immer neue Leute, neue rote Fäden, berichtet vom Nazivorhaben „Riese“ ebenso ausführlich wie von Gerichtsverhandlungen und Anhörungen, den Tod und das Erbe seiner Vorfahren betreffend. Dass er sich mit polnischen Schatzsuchern verbündet, wundert da nicht, das sind die wahren Spurensucher. Das Nazigold haben aber auch sie bis heute nicht gefunden. Schrecklich fand ich den Spitznamen für die polnische Anwältin, die als „Killerin“ durchs Buch geistert.
Mich persönlich, die ich einschließlich meines Großvaters rund 120 Angehörige durch den Holocaust verloren habe, konnte dieses Buch emotional und intellektuell trotzdem kaum berühren. Nur zwei Begebenheiten erscheinen mir würdig, erwähnt zu werden: die Geschichte des Überlebens und Weiterlebens von Abraham und die Suche nach zehn goldenen Eiern, die mit den Kajzers rein gar nichts zu tun haben. Mehr will ich darüber nicht preisgeben.
Im Übrigen hätte ich es passend gefunden, das von Abraham Kajzer verfasste Buch über seine Erlebnisse in deutschen KZs, die es offensichtlich nur auf Polnisch und Hebräisch gibt, als eigenständige, zusammengeführte Übersetzung im Buch zu präsentieren. Die vereinzelt eingefügten Übersetzungen verlieren etwas an Überzeugungskraft, alles im Ganzen zu lesen, stelle ich mir eindringlicher vor.
Ich vermute, dass das Buch Lesern, die sich bisher wenig mit derartigen Texten über den Holocaust und z. B. die erwähnte Aktion „Riese“ beschäftigt haben, eher gefallen wird als mir.
Das Buch ist kein Roman im eigentlichen Sinn, aber auch die Bezeichnung Sachbuch ist trügerisch, ich empfinde das Buch als eine Mischung aus beidem, was ich keinesfalls negativ bewerte. Über so emotionale Ereignisse zu berichten, bewirkt auch, dass Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen. Letzteres ist für den Bericht Abraham Kajzers ebenso zutreffend, wie für das vorliegende Buch von Menachem Kaiser.

Bewertung vom 26.09.2023
Eigentum (eBook, ePUB)
Haas, Wolf

Eigentum (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Liebevoller Nachruf auf eine glühende Anhängerin der rhetorischen Trias

Wolf Haas, mir eher bekannt durch seine niveauvollen Brenner-Krimis, gedenkt mit diesem Roman seiner Mutter, die mit 95 Jahren in einem Altersheim verstorben ist.
Mit ihren Worten formt er ein so plastisches Bild von ihr und ihrem Leben, von den Umständen und Zeitläuften, dass man das Buch, einmal begonnen, kaum noch aus der Hand legen mag.
Marianne Haas, eine Tochter aus einfachsten Verhältnissen, mit vielen Geschwistern und keiner Chance auf höhere Bildung, entwickelt sich trotz aller Widrigkeiten zu einer lebenstüchtigen, schlauen und hartnäckigen Frau und Mutter. Sie übersteht den Krieg und arbeitet acht Jahre lang in der Schweiz, um ihren Eltern Geld für ein im Bau befindliches Haus senden zu können. Als sie in jenem Haus dann selbst wohnen möchte, bekommt sie die kleinste Stube mit Küche für sich und ihre Familie. Kein Dank, nirgends, kein Geld, keine Freude.
Haas erinnert sich in diesem Roman also an alles und jedes, was seine Mutter, mit bemerkenswerter Vehemenz und Energie, von sich gegeben hat und wie er es damals und heute bewertet. Gut kann ich mir vorstellen, wie er und sein Bruder das eine oder andere Mal die Augen verdrehten oder das Weite suchten, wenn die Tiraden der Mutter auf sie niedergingen.
Obwohl man beim Lesen ja weiß, dass die Mutter sterben wird, das sagt Haas gleich zu Beginn, ist es kein trauriges Buch, es macht nachdenklich, aber immer wieder musste ich schmunzeln, laut auflachen und manchen Satz zur Erbauung gleich ein zweites Mal lesen. Genau: Lesen lesen lesen – sparen sparen sparen – schreiben schreiben schreiben… Wolf Haas hat es mit dem Denken denken denken, an einer Stelle im Buch beantragt sein Hirn Sabbatical. Ich kann das verstehen, wenn es immer nur denkt, braucht es auch mal Ruhe, selbst wenn es einem Wolf Haas gehört. Und Niedergeschlagenheit findet keinen Platz, egal wie trüb die Aussichten sind.
Mir hat dieser Roman sehr gefallen, besonders die im österreichisch gefärbten Dialekt geschriebenen Gespräche mit der Mutter, ihre Erinnerungen, zeugen von viel Liebe und Warmherzigkeit.
„Bist bes auf mi, Mutti?“ – „Des hättma, finito, Ende der Diskussion."
Ich kann dieses Buch sehr empfehlen.

Bewertung vom 21.09.2023
Die Freiheit so nah
Kästner, A. A.

Die Freiheit so nah


sehr gut

So viele zerstörte Träume, so viel Hoffnung
Die Literatur, die Schriftsteller, die Sachbuchautoren, viele beschäftigen sich mit der Geschichte, ich lese viele Bücher über den Zweiten Weltkrieg, Flucht, Vertreibung, aber die Thematik, die uns heute zeitlich sehr viel näher liegt, die kommt noch sehr selten vor in Romanen. Die begrenzte Zeit der DDR von 1949 bis 1989 aber ist mit all ihren Merkwürdigkeiten, mit der für die dort lebenden Menschen einengenden und freiheitsfeindlichen Politik noch immer ein recht blinder Fleck. Umso mehr wollte ich dieses Buch unbedingt lesen, denn ich habe meine Kindheit und Jugend bis hin zum 35. Lebensjahr in Ostberlin erlebt. Ich kenne den „real existierenden Sozialismus“ und ich habe die Diktatur der Arbeiterklasse erlebt. Nicht alle Rückblicke erscheinen mir da im goldenen Licht.
Ich dachte, ich würde dieses Buch schnell durchlesen können, aber im Gegenteil, ich blieb immer wieder stecken, nicht weil ich es nicht mochte, sondern weil jede Seite bei mir Gedanken, Erinnerungen, Wehmut, Erschütterung getriggert hat. Immer wieder schweiften meine Gedanken ab, die absonderlichsten Momente fielen mir ein. Und ich dachte an die Menschen, die vielleicht durch meinen Vater, der KGB- und Stasimann war, gelitten haben oder geschädigt wurden. Ich wuchs ohne diesen Vater auf, erst 2011 begann ich, sein Leben zu erforschen, seine Biografie zu schreiben und auch seine Stasiakten einzusehen, aber das macht das Denken darüber nicht leichter.
So durchlitt ich mit Kay all die Jahre, all seine Niederlagen und Hoffnungen, seine Ausreise, seinen Neuanfang. Wie furchtbar die Entdeckung des Verräters in den eigenen Reihen ist, das kann ich nicht wissen, mir ist so etwas nie passiert, aber es ist auch so, dass ich nicht alles weiß und nun auch nicht mehr wissen will. Genau an diesem Punkt beginnt auch das Schwanken, ist es besser, alles zu erfahren oder lässt man manches lieber ruhen? Ich jedenfalls war froh, dass die Mauer fiel, auch wenn die ersten Jahre danach ein großes inneres Chaos auslösten. Alles wurde anders, am Ende kann ich sagen, alles wurde besser. Ich habe das Gefühl, auch Kay könnte diese Gedanken gehabt haben.
Dass dieses Buch überhaupt entstanden ist, empfinde ich als echtes Geschenk. Es gibt so viele Menschen, die über die DDR-Zeit nichts wissen oder nur oberflächlich damit in Berührung kamen. Hier haben sie Gelegenheit, recht nah an die Wirklichkeit heranzukommen. Und damit meine ich nicht nur junge Leute, die in den Achtzigern oder noch später geboren wurden. Nein, auch die Menschen, die im Wirtschaftswunderland BRD großwurden, haben oft nur rudimentäre Vorstellungen vom Leben in der DDR.
Ich wünsche dem Buch Erfolg und danke der Autorin und ihrem Kay für diese mühevolle und sicher auch schmerzliche Erinnerungsarbeit. Die indische Reisegruppe wird mir in Erinnerung bleiben.

Bewertung vom 30.08.2023
Mama Odessa (MP3-Download)
Biller, Maxim

Mama Odessa (MP3-Download)


ausgezeichnet

Was wäre die deutsche Buchwelt ohne Maxim Biller? Da würde mir viel fehlen, über Biller kann ich gleichzeitig lachen und weinen. Genial.
Gelesen wird dieses Hörbuch vom Schauspieler Jens Harzer, dem der Text auf den Leib geschrieben scheint. Jede Szene ist authentisch, leicht ironisch und einfühlsam gespielt. Mehr kann man von einem Hörbuchsprecher nicht verlangen.
Maxim Biller beschreibt eine Jugend in Hamburg, die (s)eine/Mischas Emigrantenfamilie, erlebt. Etwas makaber wird das Ganze, wenn er über die neue Frau seines Vaters als "Nazihure" berichtet, aber das sind offenbar Mischas Eindrücke, unverfälscht und heftig. Die Mutter hingegen ist Mama Odessa in Reinkultur. Später, wenn Mischa erwachsen wird, lauern andere Fallstricke, die enge Bindung an die Mutter aber bleibt ein Leben lang.
Es ist wohl einiges autobiographisch im Buch, aber es ist keine Autobiographie von Biller. Mit dieser hat er wohl vorerst abgeschlossen, aber die Emigrantenthematik und Hamburg bleiben dem Leser erhalten.
Ich bin froh, dass Biller seine Drohung, nach dem Beginn des Ukrainekrieges nun nicht mehr schriftstellerisch tätig zu sein, nicht wahrgemacht hat. Es wäre sehr schade. Wobei der Buchtitel Mama Odessa mit dem jetzigen Geschehen dort nichts gemein hat, aber es geht einem eben nicht aus dem Kopf.
Absolute Hörempfehlung!

Bewertung vom 26.08.2023
Bei euch ist es immer so unheimlich still
Schröder, Alena

Bei euch ist es immer so unheimlich still


ausgezeichnet

Eine glaubhafte Familiengeschichte
Ich hatte mir dieses Buch ausgewählt, weil ich bereits "Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid" gelesen hatte und mir der Schreibstil von Alena Schröder sehr gut gefiel.
Nun also schreibt sie einen Roman mit gänzlich anderen Vorzeichen: Erzählt wird eine glaubhafte, beinahe doch unglaubliche Familiengeschichte, sehr empathisch und mitreißend. Der Leser hat beinahe das Gefühl, selbst im Uraltauto der Protagonistin Silvia zu sitzen, bloß weg aus Berlin, bloß weg von der WG, bloß weg von den Männern. Und das mit der Aussicht, ihr Baby der ahnungslosen Großmutter zu präsentieren und möglichst für sich und das Kind einen Unterschlupf zu finden. Dass da zuerst im provinziellen Heimatort nicht gerade die Empfangsfanfaren geblasen werden, kann man sich gut vorstellen. Die plötzliche Großmutter Evelyn hat auch ihr Päckchen zu tragen und es dauert eine Weile, bis sich Mutter und Tochter einander annähern. Dass das süße Baby Hannah daran auch seinen Anteil hat, kann der Leser live miterleben.
Natürlich geht auch dieser Roman in der Handlung rückwärts und vorwärts, in Berlin fällt die Mauer und es ereignen sich einige unerwartete Dinge, die Silvia an ihrer Entscheidung, zur Mutter zu ziehen doch manchmal zweifeln lassen.
Mir hat dieses Buch ausnehmend gut gefallen und es hat mich gut unterhalten. Das Cover ist wunderschön und verleitet sofort zum Kaufen. Leseempfehlung!

Bewertung vom 26.08.2023
Aenne und ihre Brüder
Beckmann, Reinhold

Aenne und ihre Brüder


ausgezeichnet

Ein „normales“ Schicksal, das einzigartig erzählt wird
Reinhold Beckmann ist ein Journalist und Musiker, der sein angeborenes Talent zum Geschichten- und Geschichte erzählen in diesem Buch auf hervorragende Weise zum Ausdruck bringt.
Er nimmt sich der Lebensgeschichte seiner Mutter und ihrer Brüder und Schwester mit großer Herzenswärme an, um dieses persönliche Schicksal herum gelingt ihm eine komprimierte Abhandlung über das Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zur Nachkriegszeit. Gut lesbarer Geschichtsunterricht, der an viele Ereignisse erinnert, die Geschichtsinteressierten natürlich bekannt sind, die sich aber gut in diesen privaten Rahmen fügen. Gerade auch die regionalen Ereignisse, die mir nicht geläufig waren, sind eine interessante Ergänzung von Aennes Geschichte.
Der kleine katholische Ort Wellingholzhausen wird sehr anschaulich beschrieben, wie auch seine Bewohner und die knorrige Lebensart, die sich auch in einem schwer verständlichen Dialekt ausdrückt. Zum Glück ahnt Beckmann, dass nicht alle Leser den sofort verstehen und schiebt immer wieder Erklärungen oder Übersetzungen nach.
Die Ambivalenz, dass meine Eltern zu den Opfern des Nationalsozialismus gehörten, mein Großvater in Auschwitz ermordet wurde, lässt sich nicht einfach verdrängen. Das Buch von Beckmann ließ mich lange darüber nachdenken, weil es einfach nicht möglich ist, sich aus der heutigen Position in die Lage der Menschen zu versetzen, die Hitler an die Macht kommen, ihn unterstützten und ihn seine Macht bis zum bitteren Ende auskosten ließen. Aber auch diese Menschen haben teuer bezahlt.
Aenne hat das Pech, als Mädchen auf dem Lande aufzuwachsen, ohne jede Hoffnung, dem dort normalen Lebensweg entgehen zu können. Keine höhere Schulbildung, keine Berufsausbildung, dafür aber eine recht herrische Stiefmutter und dann nach der Schulzeit „in Stellung“ bei Bauern. Kein Zuckerschlecken für eine Vierzehnjährige. Aber sie entzieht sich dem Diktat der Stiefeltern und beginnt mit 18 Jahren tatsächlich einen neuen Lebensabschnitt, zumindest einige Kilometer von ihrem Zuhause entfernt. Aber da beginnen auch schon die letzten Kriegsvorbereitungen, der Stiefvater wird eingezogen, die drei älteren Brüder ziehen einer nach dem anderen in den Krieg.
Schon der Klappentext nimmt den Verlauf von Aennes Lebensgeschichte vorweg, die Brüder fallen alle vier. Und doch hat Aenne nicht der Lebensmut verlassen. Dass sie später ihrem Sohn von ihrer Kindheit und Jugend, der Familie, den Geschwistern und Stiefeltern so ausführlich berichtet, ist eine echte Seltenheit. Reinhold Beckmann packt die Gelegenheit beim Schopf, als er von seiner sterbenden Mutter dann die Feldpostbriefe der Brüder erhält. Diese tragischen Zeugnisse des unsinnigen Sterbens einer ganzen Generation sind kaum zu ertragen. Furchtbar sind die Gewissheiten wie die Ungewissheiten.
Beckmann startet mit dem Schreiben zwei Tage vor Beginn der russischen Invasion in die Ukraine. Auf Seite 208 wird in einer Divisionschronik (Alfons‘ 60. Infanteriedivision) von dem Schrecken berichtet, „dass die russische Führung keinerlei Scheu vor den größten Menschenopfern hat. (…) Der Wert eines Menschen spielt nicht die geringste Rolle, …“ Ich sehe beim derzeitigen Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, keinerlei Unterschiede zur stalinistischen Einstellung im Zweiten Weltkrieg. Russland hat eben immer noch ein riesiges Potential an „Menschenmaterial“, wenn die Waffen nicht mehr reichen, schicken sie eben noch mehr Soldaten. Dieses Wissen ist entsetzlich. In seiner Jugend war Beckmann Wehrdienstverweigerer, leider schreibt er nicht, wie er jetzt angesichts dieses nun schon 1 ½ Jahre dauernden brutalen Kriegs zum Pazifismus steht.
Das Buch ist sehr ansprechend und dezent gestaltet, der Bildteil bringt einem Aenne und ihre Familien sehr nah.
Fazit: Beckmann macht aus der Geschichte seiner Mutter und den Briefen ein absolut faszinierendes Buch, es liest sich wunderbar, der Schreibstil hat nichts „Journalistisches“, es ist wie ein Roman, der mit Briefen und historischen Informationen (die überhaupt nicht trocken daherkommen) erweitert wird. Ich empfinde dieses Buch als eine große Bereicherung und als ein absolutes Antikriegsbuch, das gut neben Remarques „Im Westen nichts Neues“ seinen Platz finden kann. Mir hat die Art des Schreibens sehr gefallen. Das Lied für die vier Brüder setzt einen emotionalen Schlusspunkt, man sollte es sich unbedingt anhören. Das schön gestaltete Buch verdient zudem mindestens einen der von mir vergebenen fünf Sterne.
Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 23.08.2023
Geschwister im Gegenlicht (eBook, ePUB)
Bode, Sabine

Geschwister im Gegenlicht (eBook, ePUB)


gut

Endlich das Familienschweigen brechen

Die Autorin Sabine Bode ist mir durch ihre Bücher seit vielen Jahren vertraut, sie hat sich mit der German Angst ebenso intensiv beschäftigt, wie mit den Traumata von Kriegskindern, -enkeln und der Bewältigung der (als Trauma) existierenden Schuld in Familien. Das aus der jahrelangen Beschäftigung mit dieser Problematik und aus den vielen, intensiven Recherchen einmal ein Roman entstehen würde, empfinde ich als logische Entwicklung.
Der Roman wird von der Hauptperson Sonja Sänkel erzählt, der SS-Sonja, wie sie in der Kindheit und Jugend genannt und gehänselt wurde. Sonja, nun Mitte 60, pensionierte und verwitwete Lehrerin, versucht, dem Berliner Alltag zu entkommen und zieht sich in ein kleines Ostseebad zurück. Die Rückzugsruhe endet abrupt, weil ihr Bruder Rolf mit der halbwüchsigen Tochter Nina bei ihr Unterschlupf und Halt suchen. Konflikte brechen auf, der Rückblick in die Kindheit und Jugend der beiden Geschwister und auf ihre übergriffigen Eltern verdunkelt die gemeinsamen Stunden. Die unausgesprochenen Konflikte mit der Nazivergangenheit wie auch mit der unveränderten Nazihaltung der Eltern bilden den Hintergrund der Gedanken und später auch der Gespräche der Geschwister. Nichts war bis dato offen ausgesprochen worden, nun, mit Mitte, Ende 60 kommen beide an ihre Grenzen. Und sie kommen sich endlich näher, als sie es als Kinder je waren. Wie sie das Dilemma lösen, das beschreibt der Roman in teilweise recht verwirrenden Rückblicken, es wird keine chronologische Geschichte erzählt, der Roman entsteht aus vielen, ineinander verschachtelten Versatzstücken. Erinnerungssplitter an Kindheit, Jugend, Ehe, Psychiatrieaufenthalte, Gespräche, Ereignisse wechseln sich ab und ergeben einen Blick wie in einen zersprungenen Spiegel. Für die Schilderungen der gewalttätigen und verbal ausfallenden Eltern braucht der Leser schon recht gute Nerven. Dass die Geschwister das Verhalten der Eltern gegenseitig nie besprochen haben, sondern beide so schnell es ging als junge Erwachsene die elterliche Wohnung verließen und jahrelang keinen Kontakt hatten, ist sehr traurig. Ob ihnen im Alter die anstrengende Spurensuche weiterhilft, lasse ich an dieser Stelle offen. Das muss jeder Leser selbst erfahren in diesem nervenaufreibenden Buch.
Die Entwicklung der jungen Nina bildet einen zweiten Erzählstrang, der die verfahrene Situation der Geschwister vielleicht etwas entschärfen und auflockern soll, ich empfand ihn als nicht notwendig für die Geschichte. Aber am Ende hatte ich das Gefühl, Nina war das Ventil für den Überdruck, den die Autorin in diesem Buch entstehen ließ.
Fazit: eine zutiefst emotionale Geschichte, die mein Innerstes aber trotzdem nicht ganz erreichen konnte. Die Eltern, die auch der Emotions- und Herzlosigkeit angeklagt werden, blieben mir fremd, die Geschwister leider auch. Trotzdem kann ich das Buch empfehlen, es beleuchtet auf ungewöhnliche Weise die deutsche Vergangenheit und Gegenwart.

#GeschwisterimGegenlicht #NetGalleyDE