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Juma

Bewertungen

Insgesamt 123 Bewertungen
Bewertung vom 26.09.2023
Kajzer
Kaiser, Menachem

Kajzer


gut

Wer gestorben ist, ist noch lange nicht tot
„Es ist der Fluch des Schriftstellers, er muss versuchen, seine Geschichte so wahrhaftig und vollständig wie möglich zu erzählen, während er gleichzeitig jene Details minimieren muss, die andere als überflüssig oder beschämend empfinden könnten. Vielleicht habe ich in diesem Punkt versagt. Falls ja, dann hoffe ich, dass man mir vergibt.“ Dies ist ein Zitat aus dem letzten Abschnitt „Dank“ von Menachem Kaisers Buch, das es mir erspart, dem Autor wie dem Lektorat zu große Vorwürfe ob der Weitschweifigkeit zu machen.
„Kajzer“ ist die minutiöse Berichterstattung einer Ahnenforschung und Spurensuche, der Versuch Erbe und Gerechtigkeit in Polen zu erlangen und gleichzeitig noch die Geschichte des Abraham Kajzer zu erzählen. Alles in allem doch etwas viel und weit ausholend. Der Autor, kanadischer Jude mit jüdisch-polnischen Vorfahren, konzentriert sich auf wortwörtlich alles, findet für sich und seine Suche in Polen immer neue Leute, neue rote Fäden, berichtet vom Nazivorhaben „Riese“ ebenso ausführlich wie von Gerichtsverhandlungen und Anhörungen, den Tod und das Erbe seiner Vorfahren betreffend. Dass er sich mit polnischen Schatzsuchern verbündet, wundert da nicht, das sind die wahren Spurensucher. Das Nazigold haben aber auch sie bis heute nicht gefunden. Schrecklich fand ich den Spitznamen für die polnische Anwältin, die als „Killerin“ durchs Buch geistert.
Mich persönlich, die ich einschließlich meines Großvaters rund 120 Angehörige durch den Holocaust verloren habe, konnte dieses Buch emotional und intellektuell trotzdem kaum berühren. Nur zwei Begebenheiten erscheinen mir würdig, erwähnt zu werden: die Geschichte des Überlebens und Weiterlebens von Abraham und die Suche nach zehn goldenen Eiern, die mit den Kajzers rein gar nichts zu tun haben. Mehr will ich darüber nicht preisgeben.
Im Übrigen hätte ich es passend gefunden, das von Abraham Kajzer verfasste Buch über seine Erlebnisse in deutschen KZs, die es offensichtlich nur auf Polnisch und Hebräisch gibt, als eigenständige, zusammengeführte Übersetzung im Buch zu präsentieren. Die vereinzelt eingefügten Übersetzungen verlieren etwas an Überzeugungskraft, alles im Ganzen zu lesen, stelle ich mir eindringlicher vor.
Ich vermute, dass das Buch Lesern, die sich bisher wenig mit derartigen Texten über den Holocaust und z. B. die erwähnte Aktion „Riese“ beschäftigt haben, eher gefallen wird als mir.
Das Buch ist kein Roman im eigentlichen Sinn, aber auch die Bezeichnung Sachbuch ist trügerisch, ich empfinde das Buch als eine Mischung aus beidem, was ich keinesfalls negativ bewerte. Über so emotionale Ereignisse zu berichten, bewirkt auch, dass Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen. Letzteres ist für den Bericht Abraham Kajzers ebenso zutreffend, wie für das vorliegende Buch von Menachem Kaiser.

Bewertung vom 26.09.2023
Eigentum (eBook, ePUB)
Haas, Wolf

Eigentum (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Liebevoller Nachruf auf eine glühende Anhängerin der rhetorischen Trias

Wolf Haas, mir eher bekannt durch seine niveauvollen Brenner-Krimis, gedenkt mit diesem Roman seiner Mutter, die mit 95 Jahren in einem Altersheim verstorben ist.
Mit ihren Worten formt er ein so plastisches Bild von ihr und ihrem Leben, von den Umständen und Zeitläuften, dass man das Buch, einmal begonnen, kaum noch aus der Hand legen mag.
Marianne Haas, eine Tochter aus einfachsten Verhältnissen, mit vielen Geschwistern und keiner Chance auf höhere Bildung, entwickelt sich trotz aller Widrigkeiten zu einer lebenstüchtigen, schlauen und hartnäckigen Frau und Mutter. Sie übersteht den Krieg und arbeitet acht Jahre lang in der Schweiz, um ihren Eltern Geld für ein im Bau befindliches Haus senden zu können. Als sie in jenem Haus dann selbst wohnen möchte, bekommt sie die kleinste Stube mit Küche für sich und ihre Familie. Kein Dank, nirgends, kein Geld, keine Freude.
Haas erinnert sich in diesem Roman also an alles und jedes, was seine Mutter, mit bemerkenswerter Vehemenz und Energie, von sich gegeben hat und wie er es damals und heute bewertet. Gut kann ich mir vorstellen, wie er und sein Bruder das eine oder andere Mal die Augen verdrehten oder das Weite suchten, wenn die Tiraden der Mutter auf sie niedergingen.
Obwohl man beim Lesen ja weiß, dass die Mutter sterben wird, das sagt Haas gleich zu Beginn, ist es kein trauriges Buch, es macht nachdenklich, aber immer wieder musste ich schmunzeln, laut auflachen und manchen Satz zur Erbauung gleich ein zweites Mal lesen. Genau: Lesen lesen lesen – sparen sparen sparen – schreiben schreiben schreiben… Wolf Haas hat es mit dem Denken denken denken, an einer Stelle im Buch beantragt sein Hirn Sabbatical. Ich kann das verstehen, wenn es immer nur denkt, braucht es auch mal Ruhe, selbst wenn es einem Wolf Haas gehört. Und Niedergeschlagenheit findet keinen Platz, egal wie trüb die Aussichten sind.
Mir hat dieser Roman sehr gefallen, besonders die im österreichisch gefärbten Dialekt geschriebenen Gespräche mit der Mutter, ihre Erinnerungen, zeugen von viel Liebe und Warmherzigkeit.
„Bist bes auf mi, Mutti?“ – „Des hättma, finito, Ende der Diskussion."
Ich kann dieses Buch sehr empfehlen.

Bewertung vom 21.09.2023
Die Freiheit so nah
Kästner, A. A.

Die Freiheit so nah


sehr gut

So viele zerstörte Träume, so viel Hoffnung
Die Literatur, die Schriftsteller, die Sachbuchautoren, viele beschäftigen sich mit der Geschichte, ich lese viele Bücher über den Zweiten Weltkrieg, Flucht, Vertreibung, aber die Thematik, die uns heute zeitlich sehr viel näher liegt, die kommt noch sehr selten vor in Romanen. Die begrenzte Zeit der DDR von 1949 bis 1989 aber ist mit all ihren Merkwürdigkeiten, mit der für die dort lebenden Menschen einengenden und freiheitsfeindlichen Politik noch immer ein recht blinder Fleck. Umso mehr wollte ich dieses Buch unbedingt lesen, denn ich habe meine Kindheit und Jugend bis hin zum 35. Lebensjahr in Ostberlin erlebt. Ich kenne den „real existierenden Sozialismus“ und ich habe die Diktatur der Arbeiterklasse erlebt. Nicht alle Rückblicke erscheinen mir da im goldenen Licht.
Ich dachte, ich würde dieses Buch schnell durchlesen können, aber im Gegenteil, ich blieb immer wieder stecken, nicht weil ich es nicht mochte, sondern weil jede Seite bei mir Gedanken, Erinnerungen, Wehmut, Erschütterung getriggert hat. Immer wieder schweiften meine Gedanken ab, die absonderlichsten Momente fielen mir ein. Und ich dachte an die Menschen, die vielleicht durch meinen Vater, der KGB- und Stasimann war, gelitten haben oder geschädigt wurden. Ich wuchs ohne diesen Vater auf, erst 2011 begann ich, sein Leben zu erforschen, seine Biografie zu schreiben und auch seine Stasiakten einzusehen, aber das macht das Denken darüber nicht leichter.
So durchlitt ich mit Kay all die Jahre, all seine Niederlagen und Hoffnungen, seine Ausreise, seinen Neuanfang. Wie furchtbar die Entdeckung des Verräters in den eigenen Reihen ist, das kann ich nicht wissen, mir ist so etwas nie passiert, aber es ist auch so, dass ich nicht alles weiß und nun auch nicht mehr wissen will. Genau an diesem Punkt beginnt auch das Schwanken, ist es besser, alles zu erfahren oder lässt man manches lieber ruhen? Ich jedenfalls war froh, dass die Mauer fiel, auch wenn die ersten Jahre danach ein großes inneres Chaos auslösten. Alles wurde anders, am Ende kann ich sagen, alles wurde besser. Ich habe das Gefühl, auch Kay könnte diese Gedanken gehabt haben.
Dass dieses Buch überhaupt entstanden ist, empfinde ich als echtes Geschenk. Es gibt so viele Menschen, die über die DDR-Zeit nichts wissen oder nur oberflächlich damit in Berührung kamen. Hier haben sie Gelegenheit, recht nah an die Wirklichkeit heranzukommen. Und damit meine ich nicht nur junge Leute, die in den Achtzigern oder noch später geboren wurden. Nein, auch die Menschen, die im Wirtschaftswunderland BRD großwurden, haben oft nur rudimentäre Vorstellungen vom Leben in der DDR.
Ich wünsche dem Buch Erfolg und danke der Autorin und ihrem Kay für diese mühevolle und sicher auch schmerzliche Erinnerungsarbeit. Die indische Reisegruppe wird mir in Erinnerung bleiben.

Bewertung vom 30.08.2023
Mama Odessa (MP3-Download)
Biller, Maxim

Mama Odessa (MP3-Download)


ausgezeichnet

Was wäre die deutsche Buchwelt ohne Maxim Biller? Da würde mir viel fehlen, über Biller kann ich gleichzeitig lachen und weinen. Genial.
Gelesen wird dieses Hörbuch vom Schauspieler Jens Harzer, dem der Text auf den Leib geschrieben scheint. Jede Szene ist authentisch, leicht ironisch und einfühlsam gespielt. Mehr kann man von einem Hörbuchsprecher nicht verlangen.
Maxim Biller beschreibt eine Jugend in Hamburg, die (s)eine/Mischas Emigrantenfamilie, erlebt. Etwas makaber wird das Ganze, wenn er über die neue Frau seines Vaters als "Nazihure" berichtet, aber das sind offenbar Mischas Eindrücke, unverfälscht und heftig. Die Mutter hingegen ist Mama Odessa in Reinkultur. Später, wenn Mischa erwachsen wird, lauern andere Fallstricke, die enge Bindung an die Mutter aber bleibt ein Leben lang.
Es ist wohl einiges autobiographisch im Buch, aber es ist keine Autobiographie von Biller. Mit dieser hat er wohl vorerst abgeschlossen, aber die Emigrantenthematik und Hamburg bleiben dem Leser erhalten.
Ich bin froh, dass Biller seine Drohung, nach dem Beginn des Ukrainekrieges nun nicht mehr schriftstellerisch tätig zu sein, nicht wahrgemacht hat. Es wäre sehr schade. Wobei der Buchtitel Mama Odessa mit dem jetzigen Geschehen dort nichts gemein hat, aber es geht einem eben nicht aus dem Kopf.
Absolute Hörempfehlung!

Bewertung vom 26.08.2023
Bei euch ist es immer so unheimlich still
Schröder, Alena

Bei euch ist es immer so unheimlich still


ausgezeichnet

Eine glaubhafte Familiengeschichte
Ich hatte mir dieses Buch ausgewählt, weil ich bereits "Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid" gelesen hatte und mir der Schreibstil von Alena Schröder sehr gut gefiel.
Nun also schreibt sie einen Roman mit gänzlich anderen Vorzeichen: Erzählt wird eine glaubhafte, beinahe doch unglaubliche Familiengeschichte, sehr empathisch und mitreißend. Der Leser hat beinahe das Gefühl, selbst im Uraltauto der Protagonistin Silvia zu sitzen, bloß weg aus Berlin, bloß weg von der WG, bloß weg von den Männern. Und das mit der Aussicht, ihr Baby der ahnungslosen Großmutter zu präsentieren und möglichst für sich und das Kind einen Unterschlupf zu finden. Dass da zuerst im provinziellen Heimatort nicht gerade die Empfangsfanfaren geblasen werden, kann man sich gut vorstellen. Die plötzliche Großmutter Evelyn hat auch ihr Päckchen zu tragen und es dauert eine Weile, bis sich Mutter und Tochter einander annähern. Dass das süße Baby Hannah daran auch seinen Anteil hat, kann der Leser live miterleben.
Natürlich geht auch dieser Roman in der Handlung rückwärts und vorwärts, in Berlin fällt die Mauer und es ereignen sich einige unerwartete Dinge, die Silvia an ihrer Entscheidung, zur Mutter zu ziehen doch manchmal zweifeln lassen.
Mir hat dieses Buch ausnehmend gut gefallen und es hat mich gut unterhalten. Das Cover ist wunderschön und verleitet sofort zum Kaufen. Leseempfehlung!

Bewertung vom 26.08.2023
Aenne und ihre Brüder
Beckmann, Reinhold

Aenne und ihre Brüder


ausgezeichnet

Ein „normales“ Schicksal, das einzigartig erzählt wird
Reinhold Beckmann ist ein Journalist und Musiker, der sein angeborenes Talent zum Geschichten- und Geschichte erzählen in diesem Buch auf hervorragende Weise zum Ausdruck bringt.
Er nimmt sich der Lebensgeschichte seiner Mutter und ihrer Brüder und Schwester mit großer Herzenswärme an, um dieses persönliche Schicksal herum gelingt ihm eine komprimierte Abhandlung über das Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zur Nachkriegszeit. Gut lesbarer Geschichtsunterricht, der an viele Ereignisse erinnert, die Geschichtsinteressierten natürlich bekannt sind, die sich aber gut in diesen privaten Rahmen fügen. Gerade auch die regionalen Ereignisse, die mir nicht geläufig waren, sind eine interessante Ergänzung von Aennes Geschichte.
Der kleine katholische Ort Wellingholzhausen wird sehr anschaulich beschrieben, wie auch seine Bewohner und die knorrige Lebensart, die sich auch in einem schwer verständlichen Dialekt ausdrückt. Zum Glück ahnt Beckmann, dass nicht alle Leser den sofort verstehen und schiebt immer wieder Erklärungen oder Übersetzungen nach.
Die Ambivalenz, dass meine Eltern zu den Opfern des Nationalsozialismus gehörten, mein Großvater in Auschwitz ermordet wurde, lässt sich nicht einfach verdrängen. Das Buch von Beckmann ließ mich lange darüber nachdenken, weil es einfach nicht möglich ist, sich aus der heutigen Position in die Lage der Menschen zu versetzen, die Hitler an die Macht kommen, ihn unterstützten und ihn seine Macht bis zum bitteren Ende auskosten ließen. Aber auch diese Menschen haben teuer bezahlt.
Aenne hat das Pech, als Mädchen auf dem Lande aufzuwachsen, ohne jede Hoffnung, dem dort normalen Lebensweg entgehen zu können. Keine höhere Schulbildung, keine Berufsausbildung, dafür aber eine recht herrische Stiefmutter und dann nach der Schulzeit „in Stellung“ bei Bauern. Kein Zuckerschlecken für eine Vierzehnjährige. Aber sie entzieht sich dem Diktat der Stiefeltern und beginnt mit 18 Jahren tatsächlich einen neuen Lebensabschnitt, zumindest einige Kilometer von ihrem Zuhause entfernt. Aber da beginnen auch schon die letzten Kriegsvorbereitungen, der Stiefvater wird eingezogen, die drei älteren Brüder ziehen einer nach dem anderen in den Krieg.
Schon der Klappentext nimmt den Verlauf von Aennes Lebensgeschichte vorweg, die Brüder fallen alle vier. Und doch hat Aenne nicht der Lebensmut verlassen. Dass sie später ihrem Sohn von ihrer Kindheit und Jugend, der Familie, den Geschwistern und Stiefeltern so ausführlich berichtet, ist eine echte Seltenheit. Reinhold Beckmann packt die Gelegenheit beim Schopf, als er von seiner sterbenden Mutter dann die Feldpostbriefe der Brüder erhält. Diese tragischen Zeugnisse des unsinnigen Sterbens einer ganzen Generation sind kaum zu ertragen. Furchtbar sind die Gewissheiten wie die Ungewissheiten.
Beckmann startet mit dem Schreiben zwei Tage vor Beginn der russischen Invasion in die Ukraine. Auf Seite 208 wird in einer Divisionschronik (Alfons‘ 60. Infanteriedivision) von dem Schrecken berichtet, „dass die russische Führung keinerlei Scheu vor den größten Menschenopfern hat. (…) Der Wert eines Menschen spielt nicht die geringste Rolle, …“ Ich sehe beim derzeitigen Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, keinerlei Unterschiede zur stalinistischen Einstellung im Zweiten Weltkrieg. Russland hat eben immer noch ein riesiges Potential an „Menschenmaterial“, wenn die Waffen nicht mehr reichen, schicken sie eben noch mehr Soldaten. Dieses Wissen ist entsetzlich. In seiner Jugend war Beckmann Wehrdienstverweigerer, leider schreibt er nicht, wie er jetzt angesichts dieses nun schon 1 ½ Jahre dauernden brutalen Kriegs zum Pazifismus steht.
Das Buch ist sehr ansprechend und dezent gestaltet, der Bildteil bringt einem Aenne und ihre Familien sehr nah.
Fazit: Beckmann macht aus der Geschichte seiner Mutter und den Briefen ein absolut faszinierendes Buch, es liest sich wunderbar, der Schreibstil hat nichts „Journalistisches“, es ist wie ein Roman, der mit Briefen und historischen Informationen (die überhaupt nicht trocken daherkommen) erweitert wird. Ich empfinde dieses Buch als eine große Bereicherung und als ein absolutes Antikriegsbuch, das gut neben Remarques „Im Westen nichts Neues“ seinen Platz finden kann. Mir hat die Art des Schreibens sehr gefallen. Das Lied für die vier Brüder setzt einen emotionalen Schlusspunkt, man sollte es sich unbedingt anhören. Das schön gestaltete Buch verdient zudem mindestens einen der von mir vergebenen fünf Sterne.
Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 23.08.2023
Geschwister im Gegenlicht (eBook, ePUB)
Bode, Sabine

Geschwister im Gegenlicht (eBook, ePUB)


gut

Endlich das Familienschweigen brechen

Die Autorin Sabine Bode ist mir durch ihre Bücher seit vielen Jahren vertraut, sie hat sich mit der German Angst ebenso intensiv beschäftigt, wie mit den Traumata von Kriegskindern, -enkeln und der Bewältigung der (als Trauma) existierenden Schuld in Familien. Das aus der jahrelangen Beschäftigung mit dieser Problematik und aus den vielen, intensiven Recherchen einmal ein Roman entstehen würde, empfinde ich als logische Entwicklung.
Der Roman wird von der Hauptperson Sonja Sänkel erzählt, der SS-Sonja, wie sie in der Kindheit und Jugend genannt und gehänselt wurde. Sonja, nun Mitte 60, pensionierte und verwitwete Lehrerin, versucht, dem Berliner Alltag zu entkommen und zieht sich in ein kleines Ostseebad zurück. Die Rückzugsruhe endet abrupt, weil ihr Bruder Rolf mit der halbwüchsigen Tochter Nina bei ihr Unterschlupf und Halt suchen. Konflikte brechen auf, der Rückblick in die Kindheit und Jugend der beiden Geschwister und auf ihre übergriffigen Eltern verdunkelt die gemeinsamen Stunden. Die unausgesprochenen Konflikte mit der Nazivergangenheit wie auch mit der unveränderten Nazihaltung der Eltern bilden den Hintergrund der Gedanken und später auch der Gespräche der Geschwister. Nichts war bis dato offen ausgesprochen worden, nun, mit Mitte, Ende 60 kommen beide an ihre Grenzen. Und sie kommen sich endlich näher, als sie es als Kinder je waren. Wie sie das Dilemma lösen, das beschreibt der Roman in teilweise recht verwirrenden Rückblicken, es wird keine chronologische Geschichte erzählt, der Roman entsteht aus vielen, ineinander verschachtelten Versatzstücken. Erinnerungssplitter an Kindheit, Jugend, Ehe, Psychiatrieaufenthalte, Gespräche, Ereignisse wechseln sich ab und ergeben einen Blick wie in einen zersprungenen Spiegel. Für die Schilderungen der gewalttätigen und verbal ausfallenden Eltern braucht der Leser schon recht gute Nerven. Dass die Geschwister das Verhalten der Eltern gegenseitig nie besprochen haben, sondern beide so schnell es ging als junge Erwachsene die elterliche Wohnung verließen und jahrelang keinen Kontakt hatten, ist sehr traurig. Ob ihnen im Alter die anstrengende Spurensuche weiterhilft, lasse ich an dieser Stelle offen. Das muss jeder Leser selbst erfahren in diesem nervenaufreibenden Buch.
Die Entwicklung der jungen Nina bildet einen zweiten Erzählstrang, der die verfahrene Situation der Geschwister vielleicht etwas entschärfen und auflockern soll, ich empfand ihn als nicht notwendig für die Geschichte. Aber am Ende hatte ich das Gefühl, Nina war das Ventil für den Überdruck, den die Autorin in diesem Buch entstehen ließ.
Fazit: eine zutiefst emotionale Geschichte, die mein Innerstes aber trotzdem nicht ganz erreichen konnte. Die Eltern, die auch der Emotions- und Herzlosigkeit angeklagt werden, blieben mir fremd, die Geschwister leider auch. Trotzdem kann ich das Buch empfehlen, es beleuchtet auf ungewöhnliche Weise die deutsche Vergangenheit und Gegenwart.

#GeschwisterimGegenlicht #NetGalleyDE

Bewertung vom 21.08.2023
Valentinstag (eBook, ePUB)
Ford, Richard

Valentinstag (eBook, ePUB)


sehr gut

Ans Ende kommen ist schwer
Richard Ford, einer der großen amerikanischen Schriftsteller des 20. Und 21. Jahrhunderts scheint mit „Valentinstag“ der Romanserie um sein Alter Ego Frank Boscombe tatsächlich ein Ende setzen zu wollen. Dass er es dem einst leichtfüßigen Protagonisten im hohen Alter so schwer macht, hätte ich nicht gedacht. Der nun mittlerweile über 70jährige Frank, der sich von seinem Seniorendasein in einen Job bei den Hausflüsterern, einer Immobilienfirma mit besonderem Anspruch, als Teilzeitangestellter flüchtet, muss mit einer tragischen Tatsache zurechtkommen. Meine Überschrift ist ein Zitat aus diesem Buch.
Nachdem seine Ex-Frau ebenso verstorben ist wie sein erster Sohn, bekommt nun Franks Sohn Paul die Diagnose ALS. Der Roman beginnt mit Rückblicken, mit Gedanken übers Glücklichsein, mit der Erinnerung an seine Mutter und mit der Behandlung Pauls an einer Mayo-Klinik. Dass die Behandlung von ALS, einer Krankheit, die das gesamte Nervensystem „auffrisst“, nur erleichternden und aufschiebenden Charakter hat, das weiß jeder, die Ärzte, Frank, Paul, auch seine Schwester und natürlich jeder Leser. So werden die kommenden Kapitel eine tour de Force für Frank und Paul. Schon ein misslungener Kinobesuch gerät zu einer anstrengenden Tortur, dann beschließt Frank, mit Paul zum Mount Rushmore zu reisen. Der Weg ist das Ziel, der Weg ist das Glück. Wie die beiden das hinbekommen, lasse ich selbstverständlich offen, aber eines kann ich schreiben, es wird von Seite zu Seite spannender.
Dass sich ein Buch über ALS nicht gerade als leichte Lektüre entpuppt, wird wohl jeder akzeptieren, besonders die Ford-Fans finden in diesem Buch sicher dutzende Aha-Momente, die sich auf Franks und Pauls Vergangenheit beziehen.
Dem Übersetzer Frank Heibert ist ein Kunststück gelungen, die Übersetzung liest sich meiner Meinung nach sogar besser als das Original. Das heißt „Be mine“ und ist schon seit Juni 2023 erhältlich, so auch die recht lange Leseprobe (10 %), die ich nach dem deutschen Buch auch noch gelesen habe. Auch der Titel „Valentinstag“ ist passend gewählt. Heibert hat diesem Buch ein einfühlsames Nachwort gewidmet und auch einige Anmerkungen zu amerikanischen, dem deutschen Leser nicht unbedingt geläufigen Details verfasst. Eigentlich schade, dass diese nicht im laufenden Text mit einer Fußnotennummer versehen sind. Nicht jeder liest zuerst am Ende des Buches das Nachwort, gerade beim gedruckten Buch ist das nachträglich Auffinden der Textstellen, die zu den Anmerkungen passen, nicht so leicht wie in einem e-Book.
Fazit: Richard Fords Schreibstil wird für Ford-Neueinsteiger zuerst etwas gewöhnungsbedürftig erscheinen, aber ich denke, dass sich das Weiterlesen unbedingt lohnt. Für mich gewöhnungsbedürftig war in erster Linie die sehr naturalistische Art, mit der Frank als Vater über seinen schon von der Krankheit schwer gezeichneten Sohn erzählt. Aufgehoben wird das aber vielfach durch ironische Bemerkungen, mit denen der Autor versucht, das Gleichgewicht zwischen Tragik und Komik wieder herzustellen. Die Ironie hat in diesem Buch eindeutig die Oberhand.
Klare Leseempfehlung!

#Valentinstag #NetGalleyDE

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.08.2023
Kornblumenzeit
Wernicke, Simona

Kornblumenzeit


ausgezeichnet

Sag mir, wo die Blumen sind…
Dieses Lied von Pete Seeger, in der deutschen Version gesungen von Marlene Dietrich, fiel mir ein, als ich über dieses Buch nachdachte. Es entsprach genau meiner Gefühlsverfassung, die dieser Debütroman von Simone Wernicke bei mir hinterlassen hat. Mit ihrem Erstlingswerk muss sich die Autorin nicht verstecken, bei mir im Regal wird es seinen Platz finden zwischen all den Büchern, die ich in den letzten zwei Jahren über Krieg, Flucht, Vertreibung und unendlichen Schmerz gelesen habe. Ich erinnere mich an Christiane Hoffmanns „Alles, was wir nicht erinnern“, Susanne Bendas „Dein Schweigen, Vater“ oder Olaf Müllers „Der Himmel meiner Mutter“, auch Sachbücher wie „Das Wolfsmädchen“ von Christian Hardinghaus und „Flucht“ von Andreas Kossert stehen bei mir. Wer sich mit dieser Thematik näher befasst, wird auch Arno Surminskis Ostpreußen-Bücher kennen. Simona Wernicke gehört für mich ab sofort zu den Autoren, die mir und meiner Seele am nächsten kamen.
Der Umschlags- und der Annotationstext geben eine kurze Inhaltsangabe, erzählt wird in diesem Buch die Familiengeschichte der Kühnapfels von 1928 bis in die Nachkriegszeit. Was für mich den Roman so besonders macht, ist der erste Teil mit den ausführlichen Schilderungen der Lebensbedingungen, wie sich im kleinen Ort Locken in Ostpreußen eine Familie bildet und zusammenwächst, wie es im Haus und auf dem Hof aussieht, welche Anstrengungen nötig sind, um jedes Jahr wieder die Ernte einzufahren, wie zum Jahresende dann doch alle wieder glücklich in der warmen Stube Weihnachten feiern. Dieses ganz normale, harte, trotzdem schöne ostpreußische Leben wird wunderbar erzählt. Die Dialoge sind lebensecht und machen einen großen Teil der Authentizität dieses Buches aus. Der Leser lernt neue Begriffe, weiß bald, dass der raue ostpreußische Charakter eine ganz eigene, von vielen liebevollen Diminutiven durchwobene Sprache benutzt und die Generationen einen enormen Zusammenhalt pflegen. Dass dieses ostpreußische Land auch noch in den 1930er Jahren in vielem rückständig und unterentwickelt ist, ich denke nur an die Torftoilette unter der Treppe der Kühnapfels oder die erst spät ins Haus verlegten Wasser- und Stromversorgungen, das ist uns als heutigem Leser so fremd wie der Mond.
Die Familie aber wächst und wächst, im Hintergrund wächst der Nationalsozialismus heran. Die Kühnapfels ahnen, dass die politische Entwicklung und der Kriegsbeginn Folgen auch für ihre Familie haben werden. Das wird im zweiten Teil dieses Buches so entsetzlich realistisch geschildert, dass einem der Atem stockt. Ich werde hier auf diesen zweiten Teil nicht eingehen, einerseits denke ich, dass die meisten Leser ahnen, was ab 1945 auch dieser Familie nicht erspart bleibt, andererseits soll auch durch Spoilern kein Leser vom Weiterlesen abgehalten werden.
Gekürzte Rezension!
Zum Schluss erzählt Simona Wernicke dann in ihrem Epilog noch über das Leben ihrer Familienmitglieder bis in die heutige Zeit. Ein schöner, wenn auch teilweise trauriger Abschluss. Dass sie mit ihrem Vater über all die Ereignisse, die im Buch so lebensnah beschrieben werden, auch sprechen konnte, mit ihm Locken besucht hat und so die Familiengeschichten und -traditionen erhält, finde ich das Schönste und Bewundernswerteste an diesem Buch. Danke, Simona Wernicke!
Fazit: für mich ein außergewöhnliches und trotz der schmerzvollen Geschehnisse wunderbares Buch, ich möchte es nicht mehr missen und empfehle es uneingeschränkt weiter.