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miss.mesmerized
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Bewertungen

Insgesamt 1245 Bewertungen
Bewertung vom 23.03.2022
Der große Fehler
Lee, Jonathan

Der große Fehler


sehr gut

Er war der Mann, der Greater New York zu dem gemacht hat, was es heute ist. Und doch ist der Erschaffer des Central Parks, der New York Public Library und des Metropolitan Museum of Art weitgehend unbekannt, nur eine winzige Plakette an schwer zugänglicher Stelle im Central Park erinnert an ihn und ein Gemälde, das jedoch nicht öffentlich zugänglich ist. Jonathan Lee beginnt die Geschichte des größten Bauherrn der Stadt mit dessen Todestag. An dem unheilvollen Freitag, dem 13. November 1903 wird Andrew Haswell Green vor seinem Haus in der Park Avenue von Cornelius Williams mit fünf Kugeln erschossen.

Wie auch in seinem Roman „Wer ist Mr Satoshi?“ lässt Jonathan Lee die Geschichte von einem Ende her erzählen, das jedoch zahlreiche Fragen aufwirft. Während sich Inspector McClusky auf die Erforschung der Gründe für den Mord macht, erfährt der Leser, wie aus dem armen Farmerjungen aus Massachusetts der Mann werden konnte, der das Bild des Big Apples für immer prägen sollte. Im Wechsel taucht man ein in die Lebensgeschichte Greens und die Ermittlungen, die trotz der Festnahme des Tatverdächtigen nur langsame Fortschritte machen.

Am prägendsten für Green war sicher die Freundschaft mit Samuel J. Tilden, Rechtsanwalt und späterer Gouverneur von New York und Präsidentschaftskandidat. Er nahm den damaligen Lehrling unter seine Fittiche, ermöglichte den Aufstieg und ermutigte ihn auch, seine Träume zu verfolgen.

Auch wenn ein Mord im Zentrum steht, ist der Roman doch sicherlich kein Krimi – allein das Ergebnis der Ermittlung verbittet dies schon. Lee hat eine spannende Mischung aus Biografie einer Person und einer Stadt erschaffen, man spürt den Herzschlag New Yorks. Einerseits fließen vielfältige Details in die Handlung ein, dann wiederum lässt der Autor auch Leerstellen, beispielsweise wenn es um das Verhältnis von Green und Tilden geht. Er bedient damit keinen Voyeurismus, ebenso wie man kaum Greens Gedankenwelt bei der Erschaffung seiner großen Werke nachvollziehen kann.

Lee gelingt im letzten Kapitel ein grandioser Abschluss, der vielleicht am besten die schwer zufassende Figur Andrew H. Green beschreibt:

„Parks. Brücken. Große Institutionen. Kunst. Sie waren die einig erschwinglicheren Formen der Unsterblichkeit (...) Doch kam ihm hier und jetzt der Gedanke (...), dass all seine öffentliche Arbeit nicht so viel bedeutete, wie einen Freund zu haben, der seine Hand hielt, wenn er starb.“

Bewertung vom 23.03.2022
Ein Leben lang
Poschenrieder, Christoph

Ein Leben lang


ausgezeichnet

„Die Frage, die da im Hintergrund lauerte, die aber niemand, auch ich nicht, aussprach, war doch: Kann ein Mörder unser Freund sein und bleiben? Oder, wenn du es noch mal zuspitzen willst: Können wir es mit unserem Selbstverständnis vereinbaren, dass einer von uns einen Mord begangen hat?“

Die zentrale Frage des Romans wird gegen Ende erst offen ausgesprochen. Vier Freunde befragt der Journalist kurz bevor der wegen Mordes an seinem Onkel verurteilte Freund aus der Haft entlassen wird. 15 Jahre zuvor haben sie dem Prozess beigewohnt, seine Unschuld beteuert, alles drangesetzt, ein anderes Bild von ihm zu zeichnen als jenes, das vor Gericht und in den Medien präsentiert wurde. Einer von ihnen, den sie seit der Kindheit kannten, mit dem sie befreundet, sogar liiert waren, der konnte doch nicht heimtückisch seinen Onkel erschlagen haben. Oder doch? In den Gesprächen lassen sie die zwei Jahre des Verfahrens Revue passieren und wissen am Ende doch nicht sicher, ob ihr Freund schuldig ist oder nicht.

Der Journalist und Autor Christoph Poschenrieder hat sich für seinen Roman von einem realen Fall inspirieren lassen, bei dem Freunde eines Angeklagten ohne Wenn und Aber zu ihm gehalten haben und dies während des mehrjährigen Prozesses beharrlich demonstrierten „Ein Leben lang“ reißt die Fragen an, wie gut man wirklich jemanden kennen kann, wie weit Freundschaft geht oder wie bedingungslos diese ist, auch in Momenten der extremen Herausforderung.

„Die nennen ihn nie beim Namen. Sie sind die Gruppe und er ist er, oder ‚unser Freund‘. Einer von ihnen und doch nicht. Oder nicht mehr.“

Viel Zeit ist vergangen, Zeit, in der Sebastian, Benjamin, Sabine und Emilia nicht nur älter und reifer geworden sind, sondern in der sie sich auch auseinandergelebt und neu positioniert haben. Mit dem Blick des Erwachsenen stellen sie sich nun nochmals jenen Fragen, mit denen sie schon viele Jahre zuvor konfrontiert waren: wie stichhaltig sind die Indizien? Ist der Freund vielleicht doch ein Mörder? Wenn sie sich so von den Kleinigkeiten täuschen lassen konnten, die vor Gericht als Lügen entlarvt wurden, haben sie sich dann nicht vielleicht auch in seinem Charakter getäuscht? Bei allen Zweifeln bleibt jedoch eine Überzeugung: es war richtig zu ihm zu stehen, denn dafür sind Freunde nun einmal da.

Durch die kurzen Interviewsequenzen wirkt der Roman lebendig und das Gesamtbild setzt sich peu à peu zusammen. Die unterschiedlichen Emotionen, die die Figuren durchleben, von fast euphorischem Kampfwillen bis zu tiefgreifenden Zweifeln fängt er dabei überzeugend ein und lässt sie authentisch und glaubwürdig wirken. Poschenrider schildert ein Ereignis, das menschlich maximal herausfordert, und lädt den Leser ein, sich selbst den Fragen zu stellen, die seit vielen Jahren an seinen Figuren nagen.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.03.2022
Die Wut, die bleibt
Fallwickl, Mareike

Die Wut, die bleibt


ausgezeichnet

Helene steht vom Abendbrot-Tisch auf, öffnet die Balkontür und stürzt sich zwölf Meter in die Tiefe. Zurück bleiben ihr Mann Johannes, die fast fünfzehnjährige Lola und die beiden Kleinen Maxi und Lucius. Sarah, Helenes Freundin seit Kindergartentagen, springt ein, übernimmt die Rolle der Mutter und Putzfrau, während Johannes so weitermacht wie zuvor. Lola wird zunehmend wütender, während des Lockdowns ist sie auf feministische Bloggerinnen gestoßen, hat unzählige Bücher gelesen und sieht nun zu, wie die unabhängige Autorin genauso in eine Rolle gezwängt wird, die ihre Mutter nicht mehr ausgehalten hat. Doch nun geht Lola weiter, sie will nicht Opfer werden, sich von Männern erniedrigen lassen und Worte, das hat sie bereits gelernt, reichen im Notfall auch nicht, um sich zu verteidigen.

Mareike Fallwinckl verarbeitet in „Die Wut, die bleibt“ das, was inzwischen durch Statistiken mehr als gut belegt ist: all die Jahre des Kampfes um Emanzipation, für Gleichberechtigung und geteilte Familienarbeit wurden mit der Pandemie einfach weggewischt. Die Frauen sind beruflich zurückgetreten, haben Job, Familienarbeit und Homeschooling übernommen, während die Männer maximal das firmeneigene gegen das häusliche Büro getauscht haben. Im Fall von Helene war das Ende der Fahnenstange erreicht und sie hat den brutalen Ausweg gewählt. Die Frage nach dem Warum stellt sich niemandem wirklich.

Ohne Frage ist „Die Wut, die bleibt“ weniger eine Auseinandersetzung mit dem Verlust eines geliebten Menschen als ein radikal-feministischer Roman. Sarahs Reflex, Johannes nicht mit den Kindern allein lassen zu können, ungefragt für die Freundin einzuspringen und deren Rolle zu übernehmen unter Aufgabe ihres eigenen Lebens – niemand wundert sich wirklich darüber oder hinterfragt ihr Handeln. Der Vater muss gar nicht erst versuchen zurechtzukommen, es wird ihm schon abgenommen, bevor er es erkennt. Sarah merkt zwar, dass etwas schiefläuft, aber ihre Erziehung und ihre Rollenbilder erlauben ihr trotz des Glaubens an die vermeintliche Emanzipation nicht, das, was geschieht, ernsthaft infrage zu stellen.

Erst durch Lola und deren deutlich radikalere Ansichten, setzt ein Denkprozess ein. Bei dem Mädchen nimmt dieser durch den nicht verarbeiteten Verlust und die unwirkliche Situation deutlich schneller Fahrt auf. Die schützende Mutter ist weg und auch sonst niemand mehr da, der sich schützend vor sie stellen würde. Das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht treiben sie an, etwas zu ändern. Doch sie schlägt nicht den intellektuellen, sondern den physischen Weg des Widerstands ein und findet Mitstreiterinnen, die sich gegenseitig antreiben.

Sarah und Lola ergänzen und spiegeln sich. Sie gehören zu unterschiedlichen Generationen und agieren entsprechend auch verschieden. Der jeweilige Verlust mag in der Intensität ähnlich sein und doch ist er nicht vergleichbar. Es liegt in der Natur des Teenager Daseins, ohne Rücksicht auf Verluste und Gefühle wahrgenommene Wahrheiten auszusprechen und man muss einräumen: wirklich falsch liegt Lola mit ihren Feststellungen nicht. Das kann natürlich keine Entschuldigung für die Gewalt sein, die sie als Antwort auf Ungerechtigkeit wählt, aber es fällt auch nicht wirklich schwer, ihren Gedanken zu folgen.

Die Positionen Sarahs und Lolas sind nicht weit auseinander und doch: es mag der Altersunterschied, die Erfahrung oder auch einfach die Aufgabe des Kampfes und der Weg des geringeren Widerstands in der Gesellschaft sein, der sie auf scheinbar unterschiedliche Seiten stellt. Sie suchen und brauchen beide ein Ventil. Als Leser spürt man ihre Wut, die verdrängten in ihren Körpern gefangene Emotion, die einen Weg nach draußen braucht, um wieder ein inneres Gleichgewicht herzustellen.

Ein Roman, der einem unmittelbar berührt, mitreißt und zwei starke Protagonistinnen, die man gerne wie beste Freundinnen in den Arm nehmen und drücken möchte, um ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind mit dem, was sie erleben, w

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.03.2022
French Braid
Tyler, Anne

French Braid


ausgezeichnet

It is coincidental encounter at a station: Serena sees a young man and is not sure if he’s her cousin. Her boyfriend cannot believe this, how can she not know her own cousin? Well, family matters have never been easy with the Garretts. Robin and Mercy have married at a young age, their two daughters Alice and Lily could hardly be more different from each other and their son David, a couple of years younger than the girls, even as a boy, was rather withdrawn. As the years pass by, the kids get older and independent, have their own families, make mistakes, Mercy follows her artistic works and drifts apart from Robin. It is only rare events that bring the whole family together for brief moments, but then, they remain on the surface and the important things are left unsaid.

Anne Tyler has been writing books for almost six decades, but I have only come to detect her work a couple of years ago. What I liked from the start was her relaxed tone which takes life just as it is, acknowledging the ups and downs, knowing that the show has to go on. Her latest novel, too, “French Braid” is wonderfully narrated capturing the small but decisive moments. It is the portrait of a family, not the totally average one but nevertheless one that could just live next door to you. Again, Tyler finds the interesting points in those at the first glance totally average lives.

“What’s the name of that braid that starts high up on little girls’ heads?” David asked Greta one night (...) “Oh a French braid,” Greta said. “That’s it. And then when she undid them, her hair would still be in ripples, little leftover squiggles, for hours and hours afterwards. “ “Yes...” “Well,” David said, “That’s how families work, too. You think you’re free of them, but you’re never really free; the ripples are crimped in forever.”

None of the Garretts have ever been close, not even the married couples, but nevertheless, they are family and therefore gather from time to time. They may not even like each other, but they like to stay informed. Some of them try to break out, especially the women, but just like the French braid, they cannot really free themselves, some things just stick.

Anne Tyler surely is a most accomplished writer, how else would it be possible to totally enjoy a novel and at the same time feel a little bit uncomfortable due to the extent you can recognise yourself in her writing. She does not focus on the exceptional, the outstanding, but finds the aspects worth mentioning in the ordinary, in the well-known and hardly ever actually noticed. It is with her soft voice and quite narration that she hints at what you should look at and think about. Another though-provoking, simply marvellous novel.

Bewertung vom 18.03.2022
Der Mann aus dem Schatten / Rekke & Vargas Bd.1
Lagercrantz, David

Der Mann aus dem Schatten / Rekke & Vargas Bd.1


ausgezeichnet

Nach dem Fußballspiel einer Jugendmannschaft wird der Schiedsrichter Jamal Kabir erschlag in einem benachbarten Wäldchen aufgefunden. Der Verdacht fällt schnell auf einen Vater, der schon während des Spiels ein erhitztes Gemüt gezeigt hat und im Viertel für seine Ausbrüche bekannt ist. Einzig die Beweise oder ein Geständnis fehlen der Polizei, weshalb Micaela Vargas ins Team der Mordermittlung geholt wird. Sie stammt aus demselben Viertel wie der Verdächtige und kennt diesen seit Kindheitstagen; vielleicht kann sie ihn dazu bewegen, die Tat zu gestehen. Micaela kommen jedoch schnell Zweifel, die noch verstärkt werden, nachdem die Polizei den berühmten Psychologen Hans Rekke hinzuzieht. Die junge Polizistin will den Fall aufklären, stößt aber bald auf Widerstände und wird schließlich ganz abgezogen. Scheinbar hat sie die richtigen, aber unerwünschten Fragen gestellt.

Der Journalist und Autor David Lagercrantz konnte mich mit seinen Fortsetzungen der Stieg Larsson Reihe um Lisbeth Salander und Mikael Blomkvist bereits begeistern. „Der Mann aus dem Schatten“ ist die Eröffnung seiner Reihe um den manisch-depressiven Psychologen Hans Rekke und die unerschrockene Ermittlerin Micaela Vargas. Auch wenn der erste Fall in sich abgeschlossen sind, sind doch schon viele Hinweise angelegt, die sogleich neugierig auf die folgenden Bände machen.

Lagercrantz lässt seine Handlung um Jahr 2003 starten, was zunächst verwundert, im Laufe der Geschichte enthüllt sich jedoch, dass sie in einem damals aktuellen politischen Kontext steht und weit über den kleinen Sportplatz in Stockholms Außenbezirk hinausgeht. Das bedauernswerte Opfer, ein aus Afghanistan Geflüchteter, hatte sich scheinbar gut in Schweden eingelebt und sich im Jugendsport engagiert. Dass ein väterlicher Ausraster zu so einer Tat führt, kann schnell verworfen werden. Nun jedoch stellt sich die Frage, ob Jamal Kabir wirklich der Mann war, wie ihn alle kannten.

Die beiden Protagonisten Micaela und Hans könnten gegensätzlicher kaum sein, was sie zu einem nicht unkomplizierten, aber sich hervorragend ergänzenden Team macht. Beide sind mit interessanten Charakterzügen ausgestattet und haben komplexe Familiengeschichten im Hintergrund, die noch viel Raum für Entwicklungen bieten. Mich konnten sie beide unmittelbar für sich gewinnen.

Der Schlüssel zur Lösung des Falls ist nicht leicht zu finden und Lagercrantz integriert geschickt psychologische Aspekte, die durch Rekke eingebracht werden, wie auch die politisch brisante Lage, die durch US-amerikanische Operation „Enduring Freedom“ in Afghanistan ausgelöst wurde. Micaela hingegen ist die Figur, die zwischen den unterschiedlichen Welten der verschiedenen Gesellschaftsschichten wandert und ein feines Gespür für Zwischentöne zeigt und unerschrocken für die Wahrheit kämpft.

Ein packender Politthriller, der fraglos Lust auf weitere Bände der Reihe macht.

Bewertung vom 16.03.2022
Den Wölfen zum Fraß
McGuinness, Patrick

Den Wölfen zum Fraß


ausgezeichnet

Als man eine Frauenleiche findet, scheint der Täter offenkundig: der etwas exzentrische Einzelgänger Michael Wolphram, der das Opfer auch kannte und gar nicht verhehlt, gelegentlich mit der attraktiven jungen Frau gesprochen zu haben. Vor seiner Pensionierung war er Lehrer am Chapleton College, das auch Alexander, einer der beiden Polizisten, die den Fall untersuchen, besuchte. Er hat gänzlich andere Erinnerungen an den Mann als das Bild, das die Presse schnell von ihm zeichnet. Sein Kollege Gary will eigentlich nur noch die notwendigen Beweise sichern und den Fall abschließen. Was zunächst offenkundig scheint, wirft jedoch schnell einige Fragen auf.

Patrick McGuiness erzählt zwar oberflächlich in "Den Wölfen zum Fraß" einen klassischen Krimi, darunter liegt jedoch eine scharfsinnige Analyse der Gesellschaft, die auf unterschiedenen Ebenen von Vorurteilen und klaren Grenzen zwischen den Schichten und Bevölkerungsgruppen geprägt ist. Die Frage nach dem Mörder rückt immer wieder hinter diese zurück und eröffnet so Raum für weitaus größere und interessante Aspekte.

Die beiden Polizisten sind perfekt austarierte Partner, die trotz ihrer Verschiedenheit, oder vielleicht auch gerade wegen dieser, hervorragend zusammenarbeiten und sich ergänzen. Alexander der gebildete, studierte, der mit klarem Kopf sachorientiert vorgeht; Gary repräsentiert mit seinem Dialekt eher die Arbeiterklasse, zu der er naturgemäß bei Befragungen auch besser einen Draht aufbauen kann.

Durch die Rückblicke in eine längst vergangene Schulzeit eröffnet Alexander nicht nur ein differenzierteres Bild des Verdächtigen, sondern zeigt auch wie eng die realen und geistigen Mauern des britischen Internatslebens sein können und wie schwierig es für Außenseiter ist, dort Fuß zu fassen. Mehr noch allerdings exponiert er die Presse, die blutsaugend hinter dem Fall her ist. Die Geschichte basiert auf jener von Christopher Jeffries, der 2010 wegen des vermeintlichen Mordes an Joanna Yeates durch die Boulevardblätter bereits verurteilt wurde, bevor überhaupt die Polizeiarbeit abgeschlossen war.

Kein Roman, der mich von der ersten Seite gepackt hätte, sondern einer, der zunehmend sein Potenzial zeigt, dessen pointierte Sprache ihre Bedeutung erst langsam enthüllt und dann erst erkennen lässt, um was für einen großartigen, bis ins Detail ausgefeilten Roman es sich handelt.

Bewertung vom 14.03.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


sehr gut

Schon als Jugendliche hat Mélanie die Stars der Reality TV Shows bewundert und wollte sein wie sie. Doch ein kurzer Auftritt hat ihr gezeigt, dass sie dort nicht hingehört. Mit dem aufkommenden Internet und den Social-Media-Kanälen wächst jedoch in der inzwischen zweifachen Mutter ein Plan heran. Bei anderen sieht sie, wie man mit Alltagsvideos Likes generieren und ein bisschen Berühmtheit erlangen kann. Sie ist perfekt darin, sich und die beiden Kinder Sammy und Kimmy zu inszenieren und das kommt an, Millionen Menschen folgen ihren YouTube Videos und Instagram Storys. Doch dann passiert das Schlimmste, was sich Eltern vorstellen können: Kimmy verschwindet beim Spielen. Die Polizistin Clara muss erst lernen, mit wem sie es zu tun hat und der Verdacht liegt schnall nah, dass es sich um einen Neider handeln könnte, denn davon gibt es beinahe genauso viele wie Fans.

„Die Kinder sind Könige“ ist ein Roman, der irgendwie so gar nicht in die Reihe von Delphine de Vigans Veröffentlichungen passt. Für mich liest sich die Geschichte wie eine Anklage der Sogenannten „Mommy-Influencerinnen“ und Familien-Blogger, was sie sicherlich auch ist, wirkt dadurch etwas zu sachlich und wenig fiktiv. Die Figuren treten hinter die Aussage zurück und können bei mir daher nicht die Emotionen wecken, wie es anderen von der Autorin erschaffenen Figuren gelungen ist. Nichtsdestotrotz greift sie ein wichtiges Thema auf und verpackt es geschickt in die Handlung um das Verschwinden des 6-jährigen Mädchens.

Mélanies Enttäuschung von dem ausbleibenden Erfolg im Fernsehen ist der Ausgangspunkt für ihre sagenhafte Karriere, die jedoch nur durch das Instrumentalisieren ihrer beiden Kinder möglich wird. Mehrmals pro Woche müssen sie Filme drehen, strikt nach Drehbuch, was jedoch besonders spontan und authentisch wirken soll. Es ist ein Job, Mélanie ist den ganzen Tag damit beschäftigt, die Fans zu bedienen, neuen Content zu planen und zu generieren. Dass die Kinder ausfallen, ist nicht vorgesehen und wehren können sie sich nicht, dazu sind sie zu klein.

Durch die Augen der Polizisten, denen das Business weitgehend unbekannt ist, nähert man sich auch als Leser und beginnt zu verstehen, welche Maschinerie hinter diesem Phänomen steht, das scheinbar auch sehr erträglich ist. Die Kindheit online dokumentiert zu sehen, scheint zunächst ein lustiger Spaß, ein Einblick hinter sonst verschlossene Türen, der ein wenig den Voyeurismus in uns allen bedient. Der Roman geht jedoch schwerpunktmäßig darauf ein, was dies mit den Kindern macht. Die Geschichten der Kinderstars aus dem Film- und Musikbusiness sind bekannt: der Kindheit beraubt haben nicht viele schon früh zu Drogen und Alkohol gegriffen. Doch im Gegensatz zu den Internetstars hatten sie immer eine öffentliche und eine private Seite des Lebens. Mélanie lässt keine Privatheit bei Sammy und Kimmy zu, alles wird öffentlich und veröffentlicht – unlöschbar für immer und alle verfügbar.

Ein aufschlussreicher Roman, der ein wichtiges Phänomen thematisiert. Erzählerisch wäre sicher noch mehr drin gewesen, man hat den Eindruck, dass der Autorin das Thema so wichtig war, dass dieser Aspekt hinter die Aussage zurücktreten musste.

Bewertung vom 13.03.2022
Give Unto Others
Leon, Donna

Give Unto Others


ausgezeichnet

When Commissario Guido Brunetti is contacted by his childhood neighbour, he is a bit perplexed and does not know what to do. Elisabetta Foscarini is worried about her daughter Flora. She does not provide any real details but Flora's husband Enrico Fenzo makes her feel uncomfortable. The accountant has helped her husband Bruno to set up a charity but then suddenly left the project to take care of other clients. Her feeling might stem from Fenzo's business contacts but she cannot really nail it down. Brunetti promises to look into the matter even though he is not convinced of any threat. Since life has become slow in Venice due to the pandemic, he and his team have got the time to investigate the matter. Just when the start digging, Flora's veterinary clinic is vandalised and some animals are seriously harmed. Soon after, clever Signorina Elettra finds some remarkable facts about "Belize nel Cuore", Bruno del Balzo's charity.

Not a classic murder investigation for the Venetian Commissario. However, Donna Leon cleverly integrated the pandemic into the plot which slowed down life in the Italian city due to the lack of tourists. Thus "Give Unto Others" differs quite from the other crime mysteries in the series but in my opinion, it is a lot more complex and interesting since it is not that obvious where the investigation will lead to and the characters, too, have a lot more depth.

What brings Elisabetta to Brunetti is quite vague at the beginning, neither does she really know where her uneasy feeling comes from nor does the detective know where exactly to start and to look. As it turns out, things are not what they seem and people have motives they successfully hide for a long time thus exploiting others reach their questionable aims.

Rapidly, the story develops into a financial crime novel which is complicated on the one hand, and, on the other, tells you a great deal not only about people but also about legislation. At the end, you have learnt a lot of things you actually did not really want to know and again, the thin line between legal and illegal reveals itself to be quite flexible depending on the point of view: what is morally questionable might be perfectly legal.

A thought provoking crime mystery that, again, I thoroughly enjoyed.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.03.2022
Anthem
Hawley, Noah

Anthem


sehr gut

All over the country, teenagers are committing suicide, leaving a note that says “A11” which does not make sense to the adults. While America sinks into chaos with violence ruling the streets, a group superrich enjoys their peaceful life. Some individuals still believe in the constitution, thinks that with the established structures, they can do something to turn the situation around, to make a change. Among them is Margot Burr-Nadir who is about to be appointed to the Supreme Court. She has strong convictions and is well-meaning but the disappearance of her daughter Story also occupies her mind. While some still hope for a future, it much rather seems as if the last day of mankind has arrived.

I was so looking forward to Noah Hawley’s next novel and “Anthem” sounded like a luring effigy of the world we are heading to. Now, in March 2022, I had to start the novel three times until I could finish it. Neither the author nor the book is to blame, reality which has overtaken Hawley’s imagination at a tearing pace is. This was simply not a good moment for me to read a dystopia in which single persons accept the destruction of countries, of lives, to reach their personal goals.

“Anthem” portrays the USA in a state not much different from reality, just a step further. I liked Hawley’s thoughts and direct addresses to the reader in the story, especially that moment where he ponders about how you can write a satirical text while reality is the best satire (referring to people complaining about how masks limit their personal liberty). Well, that was yesterday, if we thought that after two years of pandemic nothing could shock us anymore – surprise, surprise.

Stories of the deep state, a global conspiracy of the rich and the powerful, people living within and yet outside society captured in their own frame of belief built on bits and pieces gathered here and there – there is nothing unthinkable anymore. We have seen all of that wondering where it might lead ultimately – and how the next generation might react to it. The aspect of collective suicide since there is no hope, no future anymore is persuading: what has this world to offer them? News, fake news, alternating news – what can you believe? Bombings, attacks, wars, violence – when is your turn to be hit? There is a small group of teenagers, courageously following their ideals, showing empathy and thus bringing some hope to the plot. Unfortunately, I cannot imagine this happening right now.

There is so much in the novel to ponder about. Noah Hawley without a doubt greatly developed aspects of the present into his dystopian future, showing how closely he observes the world he lives in and touching sensitive issues which should lead us to react before it is too late. Unfortunately, the novel did not come at the right moment for me to really enjoy it.

Bewertung vom 12.03.2022
Kangal
Schentke, Anna Yeliz

Kangal


ausgezeichnet

Kangal - wie der starke bissige Hirtenhund, das ist das Pseudonym, unter dem Dilek online zu finden ist. Unter diesem schreibt sie, was man in der Türkei seit 2016 nicht mehr öffentlich sagen kann, weil sonst Gefängnis oder Schlimmeres droht. Doch nach Befragungen und Verhaftungen in ihrem Bekanntenkreis wird die Luft dünner, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis man sie identifiziert. Dilek beschließt zu fliehen, weiht nicht einmal ihren Freund ein. In Deutschland hofft sie in Sicherheit zu sein, nur zu ihrer Cousine Ayla traut sie sich Kontakt aufzunehmen, denn bevor ihre Mütter sich im Streit entzweiten, waren sie unzertrennbare Verbündete, fast wie Schwestern, obwohl sie in zwei verschiedenen Ländern aufwuchsen.

Anna Yeliz Schentke greift in ihrem Debütroman ein aktuelles Thema auf. Dass sich die Lage nach dem Putschversuch für alle, die nicht auf Linie des Präsidenten sind, dramatisch verschlechtert hat, ist weitgehend bekannt. „Kangal“ schildert eindrücklich die Angst, die vor allem junge, nach Freiheit strebende Menschen begleitet, und die Schwierigkeit, ihren Landsleuten hier in Deutschland die Situation begreiflich zu machen, während diese im zweiwöchigen Sommerurlaub an den Stränden das Dasein genießen und nichts von den alltäglichen Repressalien des Mannes erfahren, dem sie aus der Ferne zujubeln.

Dileks Angst wird in der Geschichte zunehmend greifbarer. Quasi minütlich könnte sie entlarvt und ihr Pass gesperrt werden. Was genau sie online gepostet hat, bleibt dabei im Dunkeln, spielt aber auch keine Rolle in einem Staat, wo es Rechte und Rechtsstaatlichkeit nur noch auf dem Papier zu geben scheint. Auch in der Ferne kann sie sich nicht von der Angst befreien und fürchtet bei jedem Türken, dass dieser zum Verräter werden und sie auffliegen lassen könnte.

Ihre Cousine kennt die Türkei nur als Urlaubsland, hat natürlich die Nachrichten verfolgt, kann sich aber kaum vorstellen, dass Dilek sich ernsthaft in Gefahr befindet. An ihrer Figur wird das zweite große Thema des Romans angerissen: wie konservativ ist die türkische Gemeinschaft hierzulande, können sich gerade junge Frauen überhaupt frei entfalten und wie kommt es, dass viele der sogenannten Gastarbeiter sich trotz anderer Pläne ihr Leben letztlich in Deutschland eingerichtet und die Rückkehrpläne aufgegeben haben. Vor allem für Frauen scheinen sich die großen Versprechungen und Erwartungen nicht erfüllt zu haben – Grund genug, diese auch den Töchtern vorzuenthalten?

Ein kurzer Einblick in das türkische Leben dort wie hier, in dem sich vieles im Schatten oder Verborgenen abspielt, sei es wegen der gesellschaftlichen oder familiären Normen oder wegen staatlicher Drohung, die auch aus der Ferne wirkt. Interessant fand ich dabei, dass Dilek weitaus moderner und aufgeklärter wirkte als Ayla, die sich letztlich doch dem familiären Korsett fügt und nur sehr begrenzt ihre eigenen Vorstellungen von einem Leben verfolgt.

Das Ungesagte, Verschwiegene nimmt einen wichtigen Platz mit ganz unterschiedlichen Funktionen ein. In der Türkei bietet dies Schutz vor der staatlichen Gewalt, in der Familie von Dilek und Ayla steht es zwischen ihnen, die Mädchen wissen nicht, was zwischen den Müttern gesagt und vorgefallen war und trauen sich nach Jahren auch kaum die Frage danach zu stellen, sondern beginnen selbst zu schweigen. So wird das Schweigen von einer auf die nächste Generation übertragen, ohne dass diese wüsste, warum.

Ein interessanter Roman, der viel zu schnell endet, denn die Geschichte der beiden jungen Frauen ist für mich noch nicht zu Ende erzählt, zu viel Potenzial steckt noch in Anna Yeliz Schentkes Figuren.