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amara5

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Insgesamt 118 Bewertungen
Bewertung vom 30.09.2021
DAFUQ
Jarmysch, Kira

DAFUQ


sehr gut

Die Frauen aus Zelle 3
In ihrem rasant-modernen Debütroman „DAFUQ“ verwebt Kira Jarmysch, Sprecherin von Kreml-Kritiker Nawalny, sechs bewegende Frauenschicksale im Gefängnis zu einem Bild vom heutigen Russland voller Gegensätze. Jarmysch kann dabei auch auf eigene, persönliche Erfahrungen zurückgreifen – sie war bereits mehrfach in russischen Gefängnissen inhaftiert.

Protagonistin Anja demonstriert auf einer oppositionellen Kundgebung gegen Korruption seitens der Regierung und wird festgenommen – die 28-jährige Studentin wird im Schnellprozess verurteilt und kommt für zehn Tage in Arrest in ein Moskauer Gefängnis. In Zelle 3 stößt sie auf fünf weitere junge weibliche Insassinnen, mit denen sie die schier endlose und trostlose Zeit mit vielen Gesprächen vertreibt. Alle sehr unterschiedlichen Frauen sind wegen kleinerer Delikte hier – Natascha wegen Polizisten-Beleidigung, Irka wegen fehlender Alimenten-Zahlung und Maja, Katja und Diana wegen Fahrens ohne Führerschein. Unfreiwillig sitzen sie jetzt zusammen auf engem Raum und teilen ihre Sehnsüchte, Ängste und Auszüge aus ihrem Leben, während das russische Justizsystem mit seiner willkürlichen Härte zuschlägt. Da die Zellengenossinnen aus sehr verschiedenen Milieus stammen, ergibt sich ein vielschichtiges soziografisches Gesamtbild über weibliche Lebensentwürfe in Russland.

Anja ist die Politischste unter den Frauen, kämpft aber auch mit privaten Dämonen und Zweifeln – immer wieder blickt sie länger in die Vergangenheit: In ihre Kindheit im Dorf, in die komplizierte Pubertät, zu ihrer traumatischen Beziehung mit ihrem Vater, einer schwierig-intensiven Dreiecksbeziehung und ihre fortschreitende Politisierung, während es ihr in der Gegenwart psychisch zunehmend schlechter in der Haft geht. Halluzinationen und Tagträume vermischen sich mit der Realität, in der Kira Jarmysch mit vielen dichten Dialogen authentisch und bewegend die unterschiedlichen Biografien der Frauen ineinander laufen lässt, aber auch eindringlich-detailliert die Schikanen im Gefängnis beleuchtet und auch Nebendarsteller wie Gefängniswärter plastisch-komplex schildert.

Zwar blitzt zwischen den Zeilen immer wieder Humor auf, doch insgesamt ist es ein neben einer feinfühligen Coming-of-Age-Geschichte sowie Identitätssuche ein realitätsnaher Gefängnisroman, der ohne erhobenen Zeigefinger auf die rechtsstaatlichen Systeme und die allgemeine Lage in Russland blickt, dabei aber unterhaltsame, weibliche Standpunkte einnimmt. Das ist Jarmysch in ihrem tragikomischen Debüt präzise gelungen, bevor sie am Ende ins Mystische und Mythologische abdriftet: Anja ist alleine in ihrer Zelle und leidet an wirren, verstörenden Albträumen – zudem sinniert sie bis zum finalen Emotionsausbruch, der zum deutschen Buchtitel geführt hat, immer intensiver über Frauensymbole und anderen esoterischen Gedanken.

Wie Jarmysch, die biografische Züge mit der fiktiven Protagonistin aufweist, das heutige Russland mit seinen Spannungen und Repressionen in einem wertfreien, beklemmend-komischen Gefängnis-Kammerspiel spiegelt und dabei mit einem aufregend-vielstimmigen Schreibstil den facettenreichen Blick der russischen Frauen beleuchtet, ist erhellend und bemerkenswert!

Bewertung vom 09.09.2021
Der perfekte Kreis
Myers, Benjamin

Der perfekte Kreis


sehr gut

Die Honigwabe-Doppelhelix
Die beiden unkonventionellen Freunde Calvert und Redbone erschaffen in Südengland im Jahre 1989 ein hoffnungsstiftendes Narrativ der anderen Art: Ihre geheime Lebensmission ist es, wunderschöne und mystische Kornkreise in den weiten Getreidefelder zu kreieren, angetrieben nach Perfektion und dem Willen, immer detailreichere und präzisere Muster zu schaffen. Ihr Meiserwerk soll der Kreis „Die Honigwabe-Doppelhelix“ werden. Immer in der Nacht machen sich die beiden unterschiedlichen und idealistischen Freunde an ihre aufsehenerregenden Kunstwerke, philosophieren tiefsinnig über facettenreiche Themen, betrachten den Mond und schenken sich auch ohne große Worte über die traumatische Vergangenheit tiefe Zuversicht und Verbundenheit. Ihr Ziel ist es, mit den Kreisen Hoffnung und Glaube an die Menschheit zu verbreiten, aber auch die Leidenschaft, die Schönheit der Natur zu sehen und zu schützen.

„Sie sind Teil einer wortlosen Erzählung, die über Sprachbarrieren hinausgeht und für manche zur Metapher wird, für andere zum Mythos und für fast alle außer uns zum Mysterium. Sie erzählen eine sonderbare Geschichte, schaffen ein Narrativ. Vor allen sind sie etwas, woran man in zynischen Zeiten glauben kann.“ S. 183

Nachts begegnen sie vielfältigen Menschen und Situationen – Umweltverschmutzer, Haudegen und anderen Charakteren. Und so langsam rollt auch das mediale Interesse an den mystischen und wunderschönen Kornkreisen auf – Zeitungen berichten weltweit über die Zeichen, sprechen von paranormalen Urhebern und Außerirdischen, während die Menschheit begeistert ist.

Benjamin Myers hat mit „Der perfekte Kreis“ eine poetische, ruhig erzählte und philosophische Parabel auf die Menschheit und die Schönheit der Umwelt geschaffen – mit präzisen, spirituellen und bildgewaltigen Beschreibungen von Natur, Gestirnen aber auch der Gesellschaft. Die Kapitel sind mit kreativen Musterbezeichnungen der Kreise betitelt, Myers versteht es außerdem, eine feinfühlige Spannung aufzubauen – eine mysteriöse Atmosphäre umweht den Roman und einige Zeitungsartikel wurden miteingewoben. Es ist eine zeitlose, universelle und kluge Geschichte, die frei von egozentriertem Handeln ist und sich einer tiefsinnigeren, existenziellen Bedeutung widmet.

Bewertung vom 06.09.2021
Der Kolibri - Premio Strega 2020
Veronesi, Sandro

Der Kolibri - Premio Strega 2020


ausgezeichnet

Meditation über das Leben
Sandro Veronesi ist in Italien bereits ein Literaturstar, erhielt zweimal den renommierten Premio Strega – diesmal für „Der Kolibri“. Die opulente, philosophische und sprachlich außergewöhnlich raffinierte Familiengeschichte mit dem Protagonisten Marco Carrera ist intelligent durchdacht und raffiniert komponiert – die Zeiten und die Chronologie brechen aus ihrer Ordnung: Das von Schmerz und Leid geprägte Leben von Marco, der seit einer Wachstumsstörung den Spitznamen Kolibri hat, rollt sich von Geburt bis zum Tod kaleidoskopartig mit vielen Splittern aus Rückblenden, Briefen, Dialogen und Episoden auf. Und am Ende der gewürfelten Zeitsprünge und cleveren Mosaike ergibt sich ein bewegendes Gesamtbild eines Lebens mit Höhen und Tiefen.

Der ruhige Augenarzt ist eine Art moderner Hiob – viel Leid und Sterben prallen auf ihn ein. Er meistert sein Leben, indem er nicht jeder Veränderung Schritt hält, sondern die Geschehnisse wie der Vogel im Punkt-Schwirrflug betrachtet sowie auch den Objekten und Gegenständen wie dem großen Nachlass der Eltern eine tiefere Bedeutung schenkt. So werden beispielsweise fehlende Ausgaben einer Science-Fiction-Romansammlung scharfsinnig und pointiert in das Erzählte miteingeflochten.

In Veronesis Sätzen steckt viel Intelligenz, die durch eine fantasiereiche und lyrische Prosa getragen wird – das kann auch schon mal kurios Ausufern: Manche Assoziationen und Gedankengänge werden über Seiten ausgeführt, aber langweilen nie. Es geht um Schuld, Leid, Liebe, Sucht, Resilienz sowie die begrenzte Lebenszeit – und obwohl Marco soviel familiäre Tragik im Leben überfällt, schwingt eine humorvolle, warme und sehr kluge Lakonie im Schreibstil mit.

Sandro Veronesi ist mit „Der Kolibri“ auf dem Höhepunkt seines jahrzehntelangen Schreibens angelangt – ein gewaltiges, poetisches, tiefsinniges und ergreifendes Epos.

„Ausgehend von dieser Erfahrung lief sein Leben jedoch immer auf die gleiche Weise ab: Jahrelang verharrte es im Stillstand, während diejenigen der anderen sich vorwärtsbewegten, und brach dann plötzlich in ein unerwartetes, außergewöhnliches Ereignis aus, das ihn in ein neues, unbekanntes Anderswo schleuderte.“ S. 297

Bewertung vom 31.08.2021
Der Brand
Krien, Daniela

Der Brand


gut

Entfremdung auf allen Ebenen
Nach ihrem großen Erfolg von „Die Liebe im Ernstfall“ widmet sich die Autorin Daniela Krien in ihrem neuen Roman „Der Brand“ einer fast 30-jährigen Ehe, die ins Kriseln und Straucheln geraten ist. In Pandemie-Zeiten wollen Rahel (49) und Peter (55) aus Dresden eigentlich Urlaub in den bayerischen Alpen machen – da ihr gebuchtes Ferienhaus aber abgebrannt ist, müssen sie umdisponieren. Da trifft es der Zufall gut, dass eine gute Freundin um Hilfe bittet: Ruths Mann Viktor hat einen Schlaganfall erlitten, braucht auf der Reha in Ahrenshoop Unterstützung – Rahel und Peter fahren nach Uckermark auf Ruths idyllisches Anwesen, um Haus, Garten und die vielen Tiere zu betreuen.

Aufgeteilt in drei Kapiteln und drei Urlaubswochen beleuchtet Daniela Krien die Ehekrise und das Innenleben ihrer Protagonisten aus Rahels Perspektive – die Psychotherapeutin steckt mitten in den Wechseljahren und Stimmungsschwankungen, zudem setzt ihr es zu, dass Peter nicht mehr mit ihr schlafen möchte. Seit einem zugespitzt dargestellten Gender-Eklat und nachfolgendem Social-Media-Shitstorm fühlt sich der Literaturprofessor nicht nur von seinem beruflichen Umfeld, sondern auch von Rahel und der ganzen Gesellschaft zurückgewiesen. Auf dem Hofgut kümmert sich Peter um die Tiere – eine ältere Stute, ein flügelkranker Storch und eine einohrige Katze. Das Zurückziehen in die Natur und zu den Tieren bewahrt ihn vor einer ernsthaften Aussprache mit Rahel – Sprachlosigkeit durchzieht die Beziehung und Peter schmökert lieber in seinem alten Dresden-Buch oder anderen Literaturklassikern. Werden die Eheleute sich wieder annähern können? Während Rahel in Viktors Künstleratelier eine für sich lebensverändernde Entdeckung auf Zeichnungen macht, kündigt sich zudem Tochter und Drama Queen Selma samt Kindern an – auch sie steckt in einer Beziehungskrise und sucht um Rat.

Daniela Krien ist eine scharfe Beobachterin und feinfühlige Chronistin von menschlichen Widersprüchen und Beziehungen – auch in „Der Brand“ finden sich solche zart und präzise aufgefangenen Betrachtungen einer Ehe, die strauchelt und an der das Unausgesprochene und die Zeit nagt. Doch neben diesen Momenten stehen allerhand gesellschaftliche Bezüge, die in ihrer Gesamtheit überfrachtet, klischeehaft und teilweise unglaubwürdig eingeflochten werden. Krien wollte laut einem Interview in ihrem Roman darstellen, „warum sich freiheitlich und liberal gesinnte Menschen in unserer Gesellschaft zunehmend fremd fühlen“ – bei Peter, einem Literaturprofessor, nimmt das obskure Züge an, die vermuten lassen, dass das Querdenken auch im Akademikermilieu verbreitet ist: Zuerst liest er keine überregionalen Zeitungen mehr wegen fehlendem Realitätssinn, dann schaltet er die Nachrichten zu Corona-Zeiten aus, um sich seinen eigenen Verstand zu bedienen und am Ende schimpft er auf den Staat sowie auf westliche Mentalitäten, die über den Osten eingebrochen sind. An sich sehr wichtigte Themen, doch bei Krien kratzen sie ohne Tiefgang oder Facetten plakativ eingeworfen an der Oberfläche – die Charaktere sind sehr widersprüchlich und teils unrealistisch in ihrem Verhalten dargestellt.

Es brennt in „Der Brand“ auf vielen doppeldeutigen Bereichen und die Entfremdung findet nicht nur zwischen den gebildeten Eheleuten statt, sondern auch gegenüber der Gesellschaft, der Politik, den Medien und dem Staat – leider hat Daniela Krien hier eine sehr eindimensionale und oberflächliche Betrachtung eingenommen, die in der Gesamtkonstruktion nicht überzeugt. Neben der klaren, treffsicheren und literarisch wertigen Prosa sind das intensive Eintauchen in die Seelenleben und die atmosphärischen Beschreibungen von Hof und Tieren das Bemerkenswerte dieses Romans. Da aber auch hier manches in der Ehe- und Familiendynamik ins Klischee- und Spießbürgerhafte abdriftet, ist der Roman insgesamt eine kleine Enttäuschung – aber wunderbar szenisch arrangiert für das Vorabend-Programm im Fernsehen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.08.2021
Shuggie Bain
Stuart, Douglas

Shuggie Bain


ausgezeichnet

Ein Kampf aus Liebe
Im tristen, stagnierenden und von Arbeitslosigkeit und Sucht geprägten Glasgow der 80er-Jahre führt der junge und sanfte Shuggie Bain einen zerbrechlichen und starken Kampf aus Liebe – zu seiner Mutter Agnes, die dem Alkohol verfallen ist. Douglas Stuart ist mit seinem zutiefst bewegenden Debütroman mit dem renommierten Booker Prize 2020 ausgezeichnet worden und verarbeitet laut Interviews seine eigene Kindheit mit einer alkoholkranken Mutter.

Der Roman behandelt die wundervoll zärtlich aufgefangene Verbindung zwischen einem sanften Kind und seiner unbändigen Mutter, in einer rauen Welt, in der sich Shuggie zusätzlich als Ausgestoßener fühlt, da er sehr sensibel und feminin ist, lieber mit My Little Ponies als mit einem Fußball spielt und sich in einer vulgären Umgebung fein und gewählt ausdrückt. Auch Agnes ist eine schicke Frau nach außen, immer zurecht gemacht, doch innerlich ist sie zerbrochen, verlassen vom untreuen-gewalttätigen Mann und Shuggies Vater Big Shug, mittellos und die spärliche Sozialhilfe wird für die nächsten Biere ausgegeben. Von Männern wird Agnes sexuell ausgebeutet und auch Shuggie wird wegen seiner ‚Andersartigkeit’ gemobbt – seine Halbgeschwister gehen ihren eigenen Weg, so versucht der kleine Junge mit viel Einfallsreichtum seiner Mutter Fürsorge und Halt zu geben: In vertauschten Rollen bringt er alle Zärtlichkeit auf, um der von der Sucht emotional sehr instabilen und wechselhaften Agnes durch den Tag zu helfen. Ein aufwühlendes und wichtiges Thema – Kinder von drogenabhängigen Eltern und den emotionalen Missbrauch, den sie erleben.

Erschütternd, detailliert und düster zeigt Stuart in seiner eindringlichen Milieustudie und emotionalen Coming-of-Age-Geschichte den harten Alltag von Shuggie und Agnes, ohne rührselig zu werden – durchzogen mit dem brillant übersetzten Glasgower Slang und neben der vorherrschenden Trostlosigkeit auch eine herzerfüllende Wärme und reine Liebe, die Hoffnung versprühen und beim Lesen des Elends und Leids durchhalten lassen. Stuarts lyrische Prosa ist zudem von einer opulenten und bildgewaltigen Schönheit und aufblitzendem schwarzen Humor durchzogen, denn Shuggie ist trotz allem eine heitere Natur – gefolgt von derben Szenen mit Schimpfwörtern, sexueller Gewalt und die Schonungslosigkeit eines durch Alkohol verursachten Verfalls.

Ein bemerkenswertes Debüt voller Brutalität und Schönheit, Schrecken und Poesie sowie soziografische Szenen einer Stadt, die durch die Thatcher-Ära schwer gelitten hat und unvergessliche Momente einer außergewöhnlichen, komplexen Mutter-Sohn-Beziehung, die alle Grenzen sprengt und zwischen Zerstörung und Liebe changiert.

Bewertung vom 18.08.2021
Harlem Shuffle
Whitehead, Colson

Harlem Shuffle


ausgezeichnet

Zwischen Strebern und Gaunern

Der zweifache Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead ist vor allem durch seine zwei vorherigen tiefernsten Romanen, die sich mit Sklaverei und Rassismus beschäftigen, berühmt. Auch in seinem neuen Werk „Harlem Shuffle“ spielt der Unterschied zwischen Weißen und Schwarzen eine Rolle, aber vor allem bedient Colson sich mit einer großartigen Prosa nebenbei noch den Genres spannender Ganovenkrimi und einer präzise Milieustudie von New Yorks Harlem der 60er-Jahre mitten in der Bürgerrechtsbewegung.

Möbelverkäufer Ray Carney möchte im Jahre 1959 rechtschaffend für seine Familie sorgen und hat sich in der 125. Straße sein kleines Königreich aufgebaut. Doch er verstrickt sich immer mehr in ein kriminelles Doppelleben, da er nebenbei noch Hehlerware seines ungeschickten Cousins Freddie vertickt, um besser über die Runden zu kommen. Ray selbst hatte eine schwierige, verwahrloste Kindheit mit einem stadtbekannten Gangster-Vater. Als Freddie beschließt, das historische Hotel Theresa auszurauben, gerät alles aus den Fugen und zahlreiche düster-gewaltvolle Gestalten aus der Unterwelt sowie zwielichtige Cops sind ihnen auf den Fersen. Carney muss sich nun in seinem Doppelleben entscheiden, wie viel Ganoven- oder Strebertum in ihm steckt, während er die wirklichen Drahtzieher in Harlem erkennt – es beginnt ein innerer Kampf. Ist in Harlem für einen Afroamerikaner ein sozialer Aufstieg ohne Kriminalität überhaupt möglich?

Scharf beobachtend, detailliert, lakonisch und sehr atmosphärisch lässt Colson Whitehead New Yorks berühmtestes Viertel Harlem wiederauferstehen – in den 60er-Jahren, der Zeit der Bürgerrechtsbewegung und der Kennedy-Ära. Die Sozial- und Milieustudie ist brillant und geht mit der spitzbübisch-kühnen Ganovengeschichte eine fesselnde Symbiose ein. In drei Teilen der Jahre 1959 bis 1964 tauchen allerhand eigenwillige und bunte Charaktere auf, eingetaucht in geschichtliche Details, literarische Bezüge und ein kunstvoll dicht komponiertes Harlem der 60er-Jahre, das sich erst in optimistischer Aufbruchsstimmung wähnt und dann in Unruhen versinkt.

Es wäre nicht verwunderlich, wenn Whitehead mit dieser hochwertigen und pointierten Gesellschaftsstudie über Rasse, Abhängigkeit und Macht sowie der Hommage an Harlem wieder renommierte Preise gewinnt!

„Vor ihm erstreckten sich keine neuen Ufer, endlos und üppig – das war etwas für Weiße – aber dieses neue Land war zumindest ein paar Blocks groß, und in Harlem waren ein paar Blocks alles. Ein paar Blocks waren der Unterschied zwischen Strebern und Gaunern, zwischen Gelegenheit und Herumgekrebse.“ S. 146

Bewertung vom 10.08.2021
Sag mir, wer ich bin
Ward, Felicity

Sag mir, wer ich bin


weniger gut

In ständiger Seelenqual

Als Teenager überlebt Sally nur knapp eine versuchte Vergewaltigung und gewaltvolle Entführung samt Körperverletzung in Paris. Da sie keine Hilfe bekommt und ihre Eltern nicht nur mit Verschwiegenheit, sondern wiederum mit Gewalt reagieren, wenn Sally von ihren Qualen spricht, versucht sie so gut wie es ihr möglich ist, das Trauma zu verdrängen. Doch das gelingt ihr ohne professionelle Therapie verständlicherweise nicht und so schleppt sie ihre inneren, seelischen Verletzungen sowie Ängste ein Leben oder ein Roman lang in „Sag mir, wer ich bin“ mit sich. Später wird sie ihren Patenonkel Carson heiraten, der ihr längere Zeit den Hof macht und unbedingt mit ihr schlafen möchte. Eingebettet in besseren Kreisen denkt Sally auf einer Feier, ihrem früheren Peiniger begegnet zu sein – Philippe. Jetzt beginnt das angekündigte „ Katz-und-Maus-Spiel“ , das die Autorin Felicity Ward so konstruiert, dass Sally angeblich die düster-gewaltvollen Elemente von Philippe provoziert. Sie gehen eine Sado-Maso-Beziehung ein, die in unerträglicher Gewalt und tödliche Gefahr umschlägt, solange Sally nicht die Wahrheit sagt. Dabei geht sie abermals seelisch zugrunde, scheint aber augenscheinlich ihre Sexualität zu befreien.

Nicht nur das konfuse Vorwort über Spaltungen zwischen englisch- und französischstämmigen Kanadiern in Montreal sowie über nicht verständliche Bezüge zwischen #MeToo, Völkermord und Opfer-Täter-Mentalität sind verwirrend und zweifelhaft – der gesamte Roman sowie die fragwürdigen Ansichten der Protagonisten sind es. Schlecht konstruiert in jede Menge nichtssagender Dialoge (teils auf Französisch), verliert sich die Handlung so wie Sally sich selbst. Dabei war der Beginn und Sallys Kampf nach dem Trauma um ein selbstständiges Leben trotz Ängsten, Panik sowie der zurückgewonnen Erinnerungen noch recht vielversprechend.

Im letzten Teil blitzt ein wenig Spannung auf, die schnell beim Lesen in Ärger umschlägt, da die Autorin am Ende das Opfer als Täterin dastehen lässt. Dieser Roman ist nicht empfehlenswert und ist so wie Sallys Innenleben eine Qual – ohne wichtige Kernaussage, im Gegenteil. Von der Autorin Felicity Ward ist nichts im Internet zu recherchieren – sie lässt die Leser mit ihrem fraglichen Roman verwirrt zurück.

Bewertung vom 05.08.2021
Wir für uns
Kunrath, Barbara

Wir für uns


sehr gut

Loslassen und Neubeginn
Zwei unterschiedliche Frauen treffen in dem fiktiven hessischen Ort Solbach aufeinander, als sie sich am meisten brauchen – zum Loslassen, Umsortieren und für einen Neustart. Sozialarbeiterin Josie ist von Bengt schwanger – doch es gibt zwei Haken: Bengt ist verheiratet mit einer anderen Frau und Josie ist schon 41. Doch sie will es nicht mehr nur ihrem langjährigen „Freund“ Bengt recht machen, der für eine Abtreibung ist – Josie möchte das Kind haben. Was folgt ist eine schmerzhafte Trennung und viele ernsthafte und klug aufgefangene Gedanken über die Möglichkeit einer Chromosomenstörung wie Trisomie 21. An diesem wichtigen Punkt in ihrem Leben trifft Josie auf Kathi – diese ist schon wesentlich älter und hat auch mit schmerzhaften Gefühlen zu kämpfen: Ihr Mann ist verstorben und zu ihrem Sohn hat sie den Kontakt verloren.

Berührend, authentisch, nachdenklich, aber auch mit einer Brise Humor und vor allem Lebensmut hat Barbara Kunrath in ihrem fünfteiligen Roman „Wir für uns“ eine warmherzige, einfühlsame und mutmachende Geschichte aus dem Leben geschrieben. Aus der Ich-Perspektive von Josie taucht der Leser tief ein in die ehrlichen und wichtigen Gedanken einer Spätgebärenden und die gelernt hat, ihre Wünsche ab nun vorne anzustellen. Es sind die feinfühligen Reflektionen, in denen Josie über ihre eigene Kindheit sinniert, über das eher distanzierte Verhältnis zur Mutter sowie zum verstorbenen Vater und was sie besser machen möchte bei ihrer Erziehung, die sehr bewegen. Josie und ihre Mutter werden zudem ein Traumata der Familie wieder ans Licht bringen, während Kathi auch an ein altes Geheimnis ihres Mannes herankommt.

Die ehrliche Freundschaft zwischen den Frauen, die sich durch Zufall treffen und gemeinsam lernen, sich zu stützen, loszulassen und neu zu beginnen, ist von Kunrath berührend und sympathisch komponiert und changiert zwischen Schmerz, Optimismus und Mut, ohne rührselig zu werden. Kleine Alltagsbeobachtungen, auch zu Grünem Leben und Klimawandel, fließen in Josies Reflektionen zum anstehenden Muttersein und seine tiefgreifenden Veränderungen. Ein Neubeginn für zwei Frauen aus unterschiedlichen Generationen, der zum Wohlfühlen und eigenem Wunschträumen einlädt – leichtfüßig, warm und lebensnah.

Bewertung vom 31.07.2021
Auszeit
Lühmann, Hannah

Auszeit


gut

Verästelte Gedanken

Henriette fühlt sich ihrem eigenen Leben nicht verbunden – die Mittdreißigerin hat schon immer mit Antriebsproblemen und Depressionen zu kämpfen, findet keinen für sie wünschenswerten Beruf und ihre Dissertation über die Kulturgeschichte des Werwolfes stagniert. Eine Abtreibung hat ihr derzeit den Rest gegeben und sie weiß nicht, wohin ihr Leben verlaufen soll, während für sie alle anderen ein geordnetes Dasein führen. Ihre enge Freundin Paula überredet sie für eine Auszeit in einer Hütte im Bayerischen Wald – umgeben von der Natur und mit Yogaübungen sowie Massagen möchte sie die Traumata und Wunden Henriettes heilen. Und die Umgebung in der Nähe von Wolfsgehegen sei prädestiniert für die Weiterführung ihrer Doktorarbeit. Die Tage ziehen neben Paulas gedanklichen Reflexionen mit alltäglichen Dingen wie Kochen, Reden, Wein trinken und Spazierengehen dahin, bis Paulas On-Off-Freund Tom auftaucht und das Zweierteam aufmischt.

„Der Moment direkt vor dem Augenaufschlag ist eine Millisekunde im Negativbereich des Bewusstseins vor dem Beginn der Zeitrechnung des Tages. Alles ist schon in ihm angelegt: die Trauer oder die Freude des Kommenden.“ S. 16

Feinfühling, zart, direkt und poetisch taucht der Leser tief in Henriettes verästelte Gedanken und Selbstzweifel ein – geplagt von Grübelattacken sucht sie einen Sinn im Leben, beobachtet dabei ihre Umgebung und ihren bisherigen Lebensweg präzise und kreist immer um sich selbst. Sie denkt schmerzhaft über die Abtreibung und dem dazugehörigen One-Night-Stand nach und ordnet immer wieder ihre Wahrnehmung und ihr Befinden ein. Dabei fließen Bezüge zur Werwolfs-Transformation und seine verschiedenen Ausführungen ein.

„Die Deutung, dass es sich bei der Verwandlung in einen Wolf um einen Ausbruch des Bösen im Menschen handelte, ist falsch. Ich glaube, der Werwolf rennt durch die Nacht wie ein Wahnsinniger, der leben will.“ S. 65

Hannah Lühmann zeigt ein bewegendes und ruhiges Bild einer depressiven jungen Frau, das sehr authentisch und intim zugleich ist. Dabei steht nicht eine ganze 30er-Generation, die sich voller Möglichkeiten in der Entscheidungsfindung verliert, sondern Henriette und ihre düsteren Gedankenspiralen im Vordergrund. Der Roman entwickelt sich leise, vieles ist zwischen den Zeilen zu finden. Am Ende wartet eine überraschende, fast schon traumartige Wendung, die Paula aus ihrer depressiven Phase holen wird. Dieses fällt etwas unrealistisch aus und die Werwolf-Bezüge sind insgesamt schwierig einzuordnen.

Mit einer dichten, sensiblen sowie klaren Sprache zeichnet Lühmann in „Auszeit“ präzise und eindringlich das Seelenleben einer jungen Frau nach, die vom eigenen Leben überfordert ist und einfach nur voller Energie leben möchte – bei der inhaltlichen Komposition ist noch Luft nach oben und es bleibt spannend, was von der Autorin in Zukunft erscheint.

Bewertung vom 20.07.2021
Was fehlt dir
Nunez, Sigrid

Was fehlt dir


sehr gut

Vom Leben und Sterben

Nach dem großen Erfolg von „Der Freund“ denkt Sigrid Nunez in ihrem neuen Roman „Was fehlt dir“ tiefgründig über das Sterben, das Leben und die Freundschaft nach: Intellektuell, assoziativ und in einem nüchtern-klugen Ton. Die Kerngeschichte ist die tödliche Krebserkrankung ihrer Freundin – die Ich-Erzählerin und Schriftstellerin wird diese beim Sterben begleiten, ihr sogar bei einer möglichen Sterbehilfe beistehen. Gemeinsam ziehen sie in ein schönes Gästehaus, reden und lachen, schauen Filme und philosophieren über ihr vergangenes Leben und kommen sich so nahe wie noch nie.

„In diesen Augenblicken fühlte ich, dass sie für mich ebenso ein Trost war, wie ich es für sie sein sollte. Hin und wieder drückte sie meine Hand, ohne etwas zu sagen – ohne etwas sagen zu müssen –, doch es war, als hätte sie mein Herz gedrückt.“ S. 182

Nebenschauplätze in diesem weisen und philosophischen Roman sind die vielen Anekdoten, Begegnungen und Gedanken der Erzählerin. So trifft sie bei einem Vortrag über die Hoffnungslosigkeit der Menschheit in Zeiten der Klimakrise auf ihren Ex-Freund, sie denkt über ihre ältere Nachbarin nach, die ständigen Betrüger-Anrufen ausgesetzt ist oder lässt eine Katze reden, die in einem Mülleimer gelandet ist, aber wieder ein Zuhause gefunden hat. Überall lässt Nunez literarische oder filmische Bezüge einfließen, seien es Klassiker, Krimi-Szenen oder Zitate wichtiger Denker und Schriftsteller. So stammt der Originaltitel „What are you going through“ von der französischen Philosophin Simone Weil.

Wie gehen wir im Angesicht des Todes mit unserem Leben um? Wer ist am Ende für uns da, hört zu und stellt empathische Fragen? Was zählt wirklich? Neben den Hauptthemen Sterben und erfülltes Leben, fließen auch teils humorvolle Überlegungen zum Älterwerden, Einsamkeit, Vergebung, Beziehungen, Freundschaften sowie am Ende auf der metafiktionalen Ebene über die Literatur und das Schreiben in den Roman mitein. Und stets fügen sich den eher schweren und melancholischen Themen zwischenmenschliche Begegnungen, präzise Beobachtungen oder kluge Reflektionen/Gespräche ein, die dem Ganzen eine ironisch-warme Leichtigkeit geben.

Es ist kein Roman mit großem Handlungsstrang und trotzdem passiert gedanklich sehr viel – die Intellektuelle und Susan-Sontag-Bekannte Sigrid Nunez regt mit „Was fehlt dir“ tief zum weiteren Sinnieren und Philosophieren über existentielle Themen an, auch wenn laut der Autorin keine Sprache gut genug sein kann, um die vergangene Realität präzise auszudrücken. Ein scharfsinniger Roman über die Freuden, Leiden und Endbarkeit des Lebens.

„Aber irgendjemand hat einmal gesagt, dass es zwei Sorten von Menschen gibt, die unterschiedlich auf das Leiden anderer reagieren: Die einen denken: Das kann mir auch passieren. Die anderen denken: So etwas wird mir nie passieren. Die einen helfen uns, durchzuhalten, die anderen machen uns das Leben zur Hölle.“ S. 146