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amara5

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Insgesamt 123 Bewertungen
Bewertung vom 10.01.2022
Auto
Walker, Christina

Auto


sehr gut

Choreografie des Sinns

„Manchmal ist die Zeit ein kalter Hauch.“ – Busch hat jetzt viel Zeit in seinem selbst auferlegten Stillstand, die Zeit und sich selbst sowie das Außenherum detailliert zu beobachten. Er ist aus dem Hamsterrad ausgestiegen – früher war er Vertreter für die Verlagsbranche, kilometerweit ist er mit seinem Mercedes gefahren, bis er beschlossen hat, zu entschleunigen. Erst ist er auf den Zug umgestiegen, bis er ganz ausgestiegen ist. Misstrauisch beäugt von den Nachbarn wohnt er jetzt im stillgelegten Mercedes im Hof – nur zum Essen und Duschen kommt er noch in seine Wohnung, in der seine disziplinierte Frau Susanne und sein Sohn Matti wohnen. Ansonsten ist nun der Hinterhof sein eigener Mikrokosmos geworden, in dem jede Veränderung in der Langsamkeit wahrgenommen wird.

Innerhalb der Familie wird nicht viel über seinen Ausstieg gesprochen, es scheint eine Engelsgeduld zu herrschen, doch das täuscht. Nicht nur sein Psychologe, mit dem Busch wöchentlich telefoniert, möchte ihn zurück auf die 'richtige Spur' schicken, doch er verfolgt einen ganz eigenen Stillstand-Plan mit selbst erteilten Regeln (Regel 2: Alle Eigenbewegung auf das Nötigste und Wichtigste reduzieren. Regel 8: Warten und dankbar sein. Und dankbar fürs Warten sein.) und dem präzisen Beobachten des Himmels und der Ameisenkolonie im Hof – die Tiere folgen ohne Pause oder Hinterfragen ihrer Schwarmintelligenz, jede Ameise hat ihre Aufgabe, innere Ordnung und ihren Sinn: „Ameisen funktionieren in Formation. Da schert keine aus. Und das ist stets sinnvoll und nützlich für sie. Das ist die Choreografie des Sinns schlechthin.“ S. 31

In assoziativen Rückblenden wirft die Autorin Christina Walker kleine, liebevolle Schlaglichter auf den gutmütigen Protagonisten und seine Vergangenheit im Berufs- und Eheleben – sie zeichnet kein vollständig interpretierbares Bild seiner Beweggründe und trotzdem ist ihr eine berührende und tiefgründige Parabel auf unsere Hochleistungs-Gesellschaft mit ihren festgelegten Normen gelungen. Was wird als krankhaft oder normal angesehen? Wie reagiert das unmittelbare Umfeld auf einen Übergang in einem Menschenleben, das beschließt, sich teilweise der Gesellschaft abzuwenden?

Mit subtilem Humor und einer Brise Lakonie sowie einer philosophisch angehauchten Poesie folgt der Leser berührt den teils obskuren und doch so feinsinnigen Gedankengängen von Busch, wenn er nicht nur seinen Körper und seine Befindlichkeiten, sondern auch die Tiere und Menschen aus seinem Rückzugsort Mercedes ins kleinste Detail beobachtet oder wenige abgezählte Schritte zum Supermarkt wagt. Dabei stand sein Auto mal für Schnelligkeit und Mobilität – alles Dinge, denen sich Busch nun entzieht, um vielleicht durchlässig und unsichtbar zu werden. Er betrachtet sein Leben nun aus einem anderen Blickwinkel und tariert das Da-Sein aus. Die einzigen Konstanten in seinem Tagesablauf sind der tägliche Apfel und die Wettervorsage sowie das Beobachten der Ameisen sowie der Schrullen der Nachbarn.

Mit knappen, präzisen und wohlkomponierten Sätzen entwirft Christina Walker eine tragikomische, bewegende und mehrdeutige Geschichte über das Aussteigen und einer Sinnkrise, die zum Nachdenken und Reflektieren einlädt. Und der ruhige Roman sollte entschleunigt gelesen werden, da es so viele subtil-zarte Beobachtungen und lebenskluge Metaphern zu entdecken gibt. Ein feines, weises und lesenswertes Debüt, das sich auf verschiedene Arten interpretieren lässt und so schnell gedanklich nicht loslässt.

„Und er glaubt an die Liebe und daran, dass sie einem Bahnhof gleicht. Hin und her, empfänglich für Zugluft und Hoffnung gleichermaßen. Und manchmal so unsterblich wie ein Ameisenvolk.“ S. 155

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.10.2021
Wenn ich wiederkomme
Balzano, Marco

Wenn ich wiederkomme


sehr gut

Zerplatzte Träume

Der italienische Bestsellerautor Marco Balzano nimmt sich in seinem neuem Roman einem aktuellen und brisanten Thema an: osteuropäische Arbeitskräfte, die in den reicheren Ländern Alte und Kranke pflegen. So auch Daniela, die in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ihre Kinder und ihren Mann in einem rumänischen Dorf zurücklässt und nach Mailand aufbricht. Dort durchläuft sie eine Odyssee an Arbeitsverhältnissen – zumeist schwarz, 24 Stunden am Tag, Anschuldigungen und einer Unsicherheit ausgesetzt, wie lange sie „beschäftigt“ sein wird. Das Geld schickt sie ihrer Familie in Rumänien, in der Hoffnung und dem Zwang, dass alle ein besseres Leben erwartet, doch die Kinder und der Mann zerbrechen an ihrer langen Abwesenheit. Zwar kann Sohn Manuel eine Privatschule besuchen, wo er abgleitet, Tochter Angelica kann studieren, was ihr aber nichts wirklich bringt und Vater Filip fängt an, das Haus zu renovieren, um später abzuhauen und die Familie komplett zu verlassen. Als Manuel einen schweren Moped-Unfall erleidet, kommt Daniela zurück und versucht nach ihrer Entscheidung zu retten, was noch zu retten ist.

Marco Balzano gliedert seinen chronologisch gewürfelten Roman in drei Teile und in drei Stimmen – der Leser erfährt zuerst aus Manuels schnoddriger Teenagersicht, wie es ihm nach dem Weggang der Mutter ergangen ist. Er leidet sehr darunter, bricht immer mehr den Kontakt ab und als sein geliebter Opa stirbt, verliert er im wahrsten Sinne den Boden unter den Füßen. Der bewegenste und ausgefeilteste Teil ist das Mittelstück, in dem Daniela ihre Erlebnisse in Mailand schildert - gezeichnet vom Burnout (der Italienkrankheit) und der Angst um ihren Sohn. Am Krankenbett vermischt sie aktuelle mit alten Erinnerungen und versucht, ihren Weggang zu erklären. Der Schlußteil gehört Angelica – die hohe Verantwortung, die auf der großen Schwester lag, hat sie mürbe gemacht. Sie beschließt nach dem Studium zu heiraten und nach Berlin zu ziehen.

Insgesamt ist Marco Balzano ein berührender, aufrüttelnder und sehr realistisch geschilderter Roman über ein wichtiges Thema gelungen – doch den Figuren fehlt es hier und da an Tiefe und sie wirken teils oberflächlich und klischeehaft konstruiert. Doch die eindringlichen Schilderungen von Daniela aus ihrem schlechtbezahlten Alltag als ausländische Pflegekraft, die psychischen wie physischen Strapazen einer ungelernten Hilfskraft, die Entfremdung im anderen Land sowie ihre Schuldgefühle und das Zerbrechen der zurückgelassenen Familie sind feinfühlig, erschütternd und berührend ausgearbeitet. Zusammen mit dem informativen Nachwort von Balzano am Ende des Romans lenkt „Wenn ich wiederkomme“ die Aufmerksamkeit präzise auf das Schicksal von diesen ausgebeuteten Pflegekraft-Frauen sowie ihrer Familien und auf ein marodes Sozialsystem, das darauf basiert.

Bewertung vom 29.10.2021
Wie schön wir waren
Mbue, Imbolo

Wie schön wir waren


ausgezeichnet

Stimmen eines Aufstands

Nach ihrem erfolgreichen Erstlingswerk erzählt die kamerunisch-amerikanische Autorin Imbolo Mbue nun eine kraftvolle, ergreifende und erschütternde Geschichte über ein afrikanisches Dorf, das von einem mächtigen, amerikanischen Ölkonzern sukzessiv vergiftet wird. Zwar ist die über 40 Jahre chronologisch gewürfelte und generationsübergreifende Erzählung fiktiv – und doch könnte sie genau so passiert sein.

Es fing mit trockenem Husten der Dorfbewohner von Kosawa an, dann starben die ersten und es wurden immer mehr – durch die Ölbohrungen wird nicht nur die Umwelt und die Luft verschmutzt und nutzbare Landflächen brach gelegt, sondern auch tödliche Gifte in das Wasser geleitet. Was mit einem Versprechen zu Wohlstand begonnen hat, endet für das afrikanische Dorf in einer kolossalen Ausbeutung und dem Entzug einer Lebensgrundlage. Die eigene Regierung ist korrupt, zieht selbst Gelder aus der Ölgesellschaft und wer sich gegen das Imperium stellt, verschwindet auch mal spurlos. Genug ist genug beschließt die Dorfgemeinschaft und schmiedet einen jahrzehntelangen Plan des Aufstands. Mitarbeiter der amerikanischen Firma Pexton werden als Geisel genommen, doch das ist nicht alles, was diese facettenreiche, politische und gewaltvolle Geschichte, in der es fast nur Verlierer geben kann, zu Tage bringt. Das junge Mädchen Thula beispielsweise wird subtil zur Jugend-Anführerin des Aufstandes und setzt auf Bildung als Waffe – von den USA aus unterstützt sie ihr Dorf. Es kommen aber noch zahlreiche weitere Stimmen zu Wort: Alte, Junge und ein ganzer Chor an Kindern, die ihre Schicksale, Biografien, aber auch von dem Leben im Dorf sowie von der Gier, dem Leid und Tod berichten.

Imbolo Mbues großartiges Talent liegt in der brillanten, weitgespannten und klangvollen Erzählweise über Generationen hinweg: Mehrere individuelle Stimmen aus unterschiedlichsten Perspektiven und Zeiten tragen diesen bewegenden und aufrüttelnden Roman, der auch die Schönheit, den Zusammenhalt und die Traditionen des afrikanischen Dorfes detailliert und bildgewaltig schildert. In Zeitsprüngen und aus vielen Personen heraus bildet sich eine Gesamtstimme, die nicht nur aus Schwarz/Weiß besteht, sondern auch ein kraftvolles Afrika aufzeigt, das von Korruption, Kolonialisierung und Neokolonialismus gebeutelt ist und einen scheinbar aussichtslosen Kampf führt. Mbue packt aktuelle und brisante Themen in eine kluge, feinsinnige und lange nachhallende Geschichte über Ressourcen-Ausbeutung, Gegenwehr und Selbstbestimmung – packend und verstörend zugleich.

Bewertung vom 18.10.2021
Auf Basidis Dach
Ameziane, Mona

Auf Basidis Dach


sehr gut

Weiter Ausblick in Kulturen

Die Journalistin und TV-Moderatorin Mona Ameziane ist in zwei Kulturen aufgewachsen – in Deutschland mit einer deutschen Mutter und einem marokkanischen Vater. Jedes Jahr fliegt die Familie auf Verwandtenbesuch nach Marokko, bestimmt schon 40 Mal war Ameziane dort. In ihrem Debütroman „Auf Basidis Dach“ fasst sie ihre Erinnerungen, Gedanken und Reflexionen über Marokko, das Leben zwischen zwei Kulturen, aber auch zu Herkunft, Migration, Identität und Rassismus zusammen. Humorvoll, sehr persönlich, klug und auch ernsthaft.

Zahlreiche zeitlich buntgewürfelte und szenische Anekdoten reihen sich an Erlebnisse und der Erörterung zu kulturellen Unterschieden und Vorurteilen – gespickt mit hilfreichen Informationen zum Land, Fragen an den Vater und vielen atmosphärischen Reiseberichten wie zur Medina in Fès. In dieser Stadt lebten auch ihre geliebten Großeltern Basidi und Alla – auf der geräumigen Dachterrasse hatte Ameziane immer einen herrlichen Ausblick auf die Menschen, ihrem Zuhause und ihren Gepflogenheiten, auf die Gassen und Dächer, wenn sie ihre Gedanken schweifen ließ und dem Muezzin lauschte. Diese feinfühlige Horizonterweiterung und erneute, abenteuerhafte Spurensuche zusammen mit ihrem Vater in Marokko verwebt die Autorin verspielt und gekonnt mit vielen Rückblicken, Erinnerungen und Gedanken – mit Humor und Ernsthaftigkeit nimmt sie den Leser mit allen Sinnen warmherzig und offen mit nach Marokko.

In kurzen Kapiteln schafft Mona Ameziane einen unterhaltsamen und neugierigen Rundumblick auf Marokko, aber auch auf ihr Heranwachsen zwischen zwei Kulturen, das sie als Geschenk betrachtet. Ein Glossar sowie verschiedene Quellenangaben am Ende runden den Roman zwischen Autobiografie, Hommage an die Familie und Reisebericht ab. Authentisch, reflektiert und lesenswert!

Bewertung vom 18.10.2021
Wenn wir heimkehren
Heuser, Andrea

Wenn wir heimkehren


gut

Durchs Licht strömende Erinnerungen

Die Autorin Andrea Heuser begibt sich mit ihrem epischen Familienroman „Wenn wir heimkehren“ auf autobiografische Spurensuche ihrer eigenen Familie und Großeltern. Über mehrere Jahrzehnte und Generationen hinweg entwirft sie ein authentisches Bild des gebeutelten Nachkriegsdeutschland anhand von weitgestreuten, persönlichen Geschichten durch 80 Jahre Zeitgeschehen.

Im Mittelpunkt stehen Margot und ihre Männer (einschließlich Sohn Fred) in einer schwierigen Zeit. Im Köln der 1950er-Jahre trifft die alleinerziehende, resolute und doch innerlich zerrissene Margot auf den lebensbejahenden Willi, der trotz seelischen und physischen Kriegstraumata nicht die Lebensfreude verliert. Er ist fasziniert von Margot und es entsteht eine jahrzehntelange Liebe voller Widrigkeiten, Auseinanderdriften und Wiederzueinander finden, voller Schuld, Verdrängen und einfach Weitermachen. Heuser erzählt unheimlich detailverliebt, erschafft für jedes Jahrzehnt eine dichte, detailgetreue und gut recherchierte Zeitreise mit viel Lokalkolorit und melancholischen Erinnerungen. Auf den umfangreichen 600 Seiten ist die Geschichte rund um das ungleiche Paar Margot und Willi sowie dem intellektuellem Sohn Fred mit zahlreichen Rückblenden, Anekdoten und Abschweifungen in der Zeitleiste und an verschiedenen Orten versehen, bis das berührende und atmosphärische Epos am Ende in der Gegenwart ankommt. Darüber hinaus streut Heuser zahlreiche Liedzitate und anderen Redensarten auf verschiedene Sprachen ein – leider ein wenig zu viele.

Von den 1930er bis 90er-Jahren spannt Heuser eine weitläufig verzweigte Familiengeschichte, in denen verloren geglaubte Seelen immer weitermachen, zwischen Hoffnung, Freude und Schmerz schwanken und am Ende sehen, wie sich ihre Leben transgenerational verbinden, samt Traumata. Die Farben des Lichts und der Erinnerungen spielen eine zentrale Rolle, aber auch, was am Ende von all den Begegnungen bleibt.

Leider verliert sich die autobiografisch geprägte und poetisch in zwei Teilen erzählte Familiengeschichte an einigen Stellen zu sehr im Detail und in den vielen persönlichen und historischen Abschweifungen – eine Straffung und präzisere Strukturierung rund um einen roten Faden hätte hier sehr gut getan. Trotzdem insgesamt ein akribisch und gut recherchierter (Liebes-)Roman voller Erzählfreude über persönliche und fiktive Erinnerungen – und wie unterschiedlich diese betrachtet werden können, je nachdem „wie das Licht fällt“. Und ein unterhaltsames Stück deutsche Zeitgeschichte aus den (Nach-)kriegsjahren, den dazugehörenden Wunden, Traumata und Träumen sowie der schwierigen Rolle als Frau – auch wenn es einige Längen beinhaltet, die den Lesefluss bremsen.

Bewertung vom 30.09.2021
DAFUQ
Jarmysch, Kira

DAFUQ


sehr gut

Die Frauen aus Zelle 3
In ihrem rasant-modernen Debütroman „DAFUQ“ verwebt Kira Jarmysch, Sprecherin von Kreml-Kritiker Nawalny, sechs bewegende Frauenschicksale im Gefängnis zu einem Bild vom heutigen Russland voller Gegensätze. Jarmysch kann dabei auch auf eigene, persönliche Erfahrungen zurückgreifen – sie war bereits mehrfach in russischen Gefängnissen inhaftiert.

Protagonistin Anja demonstriert auf einer oppositionellen Kundgebung gegen Korruption seitens der Regierung und wird festgenommen – die 28-jährige Studentin wird im Schnellprozess verurteilt und kommt für zehn Tage in Arrest in ein Moskauer Gefängnis. In Zelle 3 stößt sie auf fünf weitere junge weibliche Insassinnen, mit denen sie die schier endlose und trostlose Zeit mit vielen Gesprächen vertreibt. Alle sehr unterschiedlichen Frauen sind wegen kleinerer Delikte hier – Natascha wegen Polizisten-Beleidigung, Irka wegen fehlender Alimenten-Zahlung und Maja, Katja und Diana wegen Fahrens ohne Führerschein. Unfreiwillig sitzen sie jetzt zusammen auf engem Raum und teilen ihre Sehnsüchte, Ängste und Auszüge aus ihrem Leben, während das russische Justizsystem mit seiner willkürlichen Härte zuschlägt. Da die Zellengenossinnen aus sehr verschiedenen Milieus stammen, ergibt sich ein vielschichtiges soziografisches Gesamtbild über weibliche Lebensentwürfe in Russland.

Anja ist die Politischste unter den Frauen, kämpft aber auch mit privaten Dämonen und Zweifeln – immer wieder blickt sie länger in die Vergangenheit: In ihre Kindheit im Dorf, in die komplizierte Pubertät, zu ihrer traumatischen Beziehung mit ihrem Vater, einer schwierig-intensiven Dreiecksbeziehung und ihre fortschreitende Politisierung, während es ihr in der Gegenwart psychisch zunehmend schlechter in der Haft geht. Halluzinationen und Tagträume vermischen sich mit der Realität, in der Kira Jarmysch mit vielen dichten Dialogen authentisch und bewegend die unterschiedlichen Biografien der Frauen ineinander laufen lässt, aber auch eindringlich-detailliert die Schikanen im Gefängnis beleuchtet und auch Nebendarsteller wie Gefängniswärter plastisch-komplex schildert.

Zwar blitzt zwischen den Zeilen immer wieder Humor auf, doch insgesamt ist es ein neben einer feinfühligen Coming-of-Age-Geschichte sowie Identitätssuche ein realitätsnaher Gefängnisroman, der ohne erhobenen Zeigefinger auf die rechtsstaatlichen Systeme und die allgemeine Lage in Russland blickt, dabei aber unterhaltsame, weibliche Standpunkte einnimmt. Das ist Jarmysch in ihrem tragikomischen Debüt präzise gelungen, bevor sie am Ende ins Mystische und Mythologische abdriftet: Anja ist alleine in ihrer Zelle und leidet an wirren, verstörenden Albträumen – zudem sinniert sie bis zum finalen Emotionsausbruch, der zum deutschen Buchtitel geführt hat, immer intensiver über Frauensymbole und anderen esoterischen Gedanken.

Wie Jarmysch, die biografische Züge mit der fiktiven Protagonistin aufweist, das heutige Russland mit seinen Spannungen und Repressionen in einem wertfreien, beklemmend-komischen Gefängnis-Kammerspiel spiegelt und dabei mit einem aufregend-vielstimmigen Schreibstil den facettenreichen Blick der russischen Frauen beleuchtet, ist erhellend und bemerkenswert!

Bewertung vom 09.09.2021
Der perfekte Kreis
Myers, Benjamin

Der perfekte Kreis


sehr gut

Die Honigwabe-Doppelhelix
Die beiden unkonventionellen Freunde Calvert und Redbone erschaffen in Südengland im Jahre 1989 ein hoffnungsstiftendes Narrativ der anderen Art: Ihre geheime Lebensmission ist es, wunderschöne und mystische Kornkreise in den weiten Getreidefelder zu kreieren, angetrieben nach Perfektion und dem Willen, immer detailreichere und präzisere Muster zu schaffen. Ihr Meiserwerk soll der Kreis „Die Honigwabe-Doppelhelix“ werden. Immer in der Nacht machen sich die beiden unterschiedlichen und idealistischen Freunde an ihre aufsehenerregenden Kunstwerke, philosophieren tiefsinnig über facettenreiche Themen, betrachten den Mond und schenken sich auch ohne große Worte über die traumatische Vergangenheit tiefe Zuversicht und Verbundenheit. Ihr Ziel ist es, mit den Kreisen Hoffnung und Glaube an die Menschheit zu verbreiten, aber auch die Leidenschaft, die Schönheit der Natur zu sehen und zu schützen.

„Sie sind Teil einer wortlosen Erzählung, die über Sprachbarrieren hinausgeht und für manche zur Metapher wird, für andere zum Mythos und für fast alle außer uns zum Mysterium. Sie erzählen eine sonderbare Geschichte, schaffen ein Narrativ. Vor allen sind sie etwas, woran man in zynischen Zeiten glauben kann.“ S. 183

Nachts begegnen sie vielfältigen Menschen und Situationen – Umweltverschmutzer, Haudegen und anderen Charakteren. Und so langsam rollt auch das mediale Interesse an den mystischen und wunderschönen Kornkreisen auf – Zeitungen berichten weltweit über die Zeichen, sprechen von paranormalen Urhebern und Außerirdischen, während die Menschheit begeistert ist.

Benjamin Myers hat mit „Der perfekte Kreis“ eine poetische, ruhig erzählte und philosophische Parabel auf die Menschheit und die Schönheit der Umwelt geschaffen – mit präzisen, spirituellen und bildgewaltigen Beschreibungen von Natur, Gestirnen aber auch der Gesellschaft. Die Kapitel sind mit kreativen Musterbezeichnungen der Kreise betitelt, Myers versteht es außerdem, eine feinfühlige Spannung aufzubauen – eine mysteriöse Atmosphäre umweht den Roman und einige Zeitungsartikel wurden miteingewoben. Es ist eine zeitlose, universelle und kluge Geschichte, die frei von egozentriertem Handeln ist und sich einer tiefsinnigeren, existenziellen Bedeutung widmet.

Bewertung vom 06.09.2021
Der Kolibri - Premio Strega 2020
Veronesi, Sandro

Der Kolibri - Premio Strega 2020


ausgezeichnet

Meditation über das Leben
Sandro Veronesi ist in Italien bereits ein Literaturstar, erhielt zweimal den renommierten Premio Strega – diesmal für „Der Kolibri“. Die opulente, philosophische und sprachlich außergewöhnlich raffinierte Familiengeschichte mit dem Protagonisten Marco Carrera ist intelligent durchdacht und raffiniert komponiert – die Zeiten und die Chronologie brechen aus ihrer Ordnung: Das von Schmerz und Leid geprägte Leben von Marco, der seit einer Wachstumsstörung den Spitznamen Kolibri hat, rollt sich von Geburt bis zum Tod kaleidoskopartig mit vielen Splittern aus Rückblenden, Briefen, Dialogen und Episoden auf. Und am Ende der gewürfelten Zeitsprünge und cleveren Mosaike ergibt sich ein bewegendes Gesamtbild eines Lebens mit Höhen und Tiefen.

Der ruhige Augenarzt ist eine Art moderner Hiob – viel Leid und Sterben prallen auf ihn ein. Er meistert sein Leben, indem er nicht jeder Veränderung Schritt hält, sondern die Geschehnisse wie der Vogel im Punkt-Schwirrflug betrachtet sowie auch den Objekten und Gegenständen wie dem großen Nachlass der Eltern eine tiefere Bedeutung schenkt. So werden beispielsweise fehlende Ausgaben einer Science-Fiction-Romansammlung scharfsinnig und pointiert in das Erzählte miteingeflochten.

In Veronesis Sätzen steckt viel Intelligenz, die durch eine fantasiereiche und lyrische Prosa getragen wird – das kann auch schon mal kurios Ausufern: Manche Assoziationen und Gedankengänge werden über Seiten ausgeführt, aber langweilen nie. Es geht um Schuld, Leid, Liebe, Sucht, Resilienz sowie die begrenzte Lebenszeit – und obwohl Marco soviel familiäre Tragik im Leben überfällt, schwingt eine humorvolle, warme und sehr kluge Lakonie im Schreibstil mit.

Sandro Veronesi ist mit „Der Kolibri“ auf dem Höhepunkt seines jahrzehntelangen Schreibens angelangt – ein gewaltiges, poetisches, tiefsinniges und ergreifendes Epos.

„Ausgehend von dieser Erfahrung lief sein Leben jedoch immer auf die gleiche Weise ab: Jahrelang verharrte es im Stillstand, während diejenigen der anderen sich vorwärtsbewegten, und brach dann plötzlich in ein unerwartetes, außergewöhnliches Ereignis aus, das ihn in ein neues, unbekanntes Anderswo schleuderte.“ S. 297

Bewertung vom 31.08.2021
Der Brand
Krien, Daniela

Der Brand


gut

Entfremdung auf allen Ebenen
Nach ihrem großen Erfolg von „Die Liebe im Ernstfall“ widmet sich die Autorin Daniela Krien in ihrem neuen Roman „Der Brand“ einer fast 30-jährigen Ehe, die ins Kriseln und Straucheln geraten ist. In Pandemie-Zeiten wollen Rahel (49) und Peter (55) aus Dresden eigentlich Urlaub in den bayerischen Alpen machen – da ihr gebuchtes Ferienhaus aber abgebrannt ist, müssen sie umdisponieren. Da trifft es der Zufall gut, dass eine gute Freundin um Hilfe bittet: Ruths Mann Viktor hat einen Schlaganfall erlitten, braucht auf der Reha in Ahrenshoop Unterstützung – Rahel und Peter fahren nach Uckermark auf Ruths idyllisches Anwesen, um Haus, Garten und die vielen Tiere zu betreuen.

Aufgeteilt in drei Kapiteln und drei Urlaubswochen beleuchtet Daniela Krien die Ehekrise und das Innenleben ihrer Protagonisten aus Rahels Perspektive – die Psychotherapeutin steckt mitten in den Wechseljahren und Stimmungsschwankungen, zudem setzt ihr es zu, dass Peter nicht mehr mit ihr schlafen möchte. Seit einem zugespitzt dargestellten Gender-Eklat und nachfolgendem Social-Media-Shitstorm fühlt sich der Literaturprofessor nicht nur von seinem beruflichen Umfeld, sondern auch von Rahel und der ganzen Gesellschaft zurückgewiesen. Auf dem Hofgut kümmert sich Peter um die Tiere – eine ältere Stute, ein flügelkranker Storch und eine einohrige Katze. Das Zurückziehen in die Natur und zu den Tieren bewahrt ihn vor einer ernsthaften Aussprache mit Rahel – Sprachlosigkeit durchzieht die Beziehung und Peter schmökert lieber in seinem alten Dresden-Buch oder anderen Literaturklassikern. Werden die Eheleute sich wieder annähern können? Während Rahel in Viktors Künstleratelier eine für sich lebensverändernde Entdeckung auf Zeichnungen macht, kündigt sich zudem Tochter und Drama Queen Selma samt Kindern an – auch sie steckt in einer Beziehungskrise und sucht um Rat.

Daniela Krien ist eine scharfe Beobachterin und feinfühlige Chronistin von menschlichen Widersprüchen und Beziehungen – auch in „Der Brand“ finden sich solche zart und präzise aufgefangenen Betrachtungen einer Ehe, die strauchelt und an der das Unausgesprochene und die Zeit nagt. Doch neben diesen Momenten stehen allerhand gesellschaftliche Bezüge, die in ihrer Gesamtheit überfrachtet, klischeehaft und teilweise unglaubwürdig eingeflochten werden. Krien wollte laut einem Interview in ihrem Roman darstellen, „warum sich freiheitlich und liberal gesinnte Menschen in unserer Gesellschaft zunehmend fremd fühlen“ – bei Peter, einem Literaturprofessor, nimmt das obskure Züge an, die vermuten lassen, dass das Querdenken auch im Akademikermilieu verbreitet ist: Zuerst liest er keine überregionalen Zeitungen mehr wegen fehlendem Realitätssinn, dann schaltet er die Nachrichten zu Corona-Zeiten aus, um sich seinen eigenen Verstand zu bedienen und am Ende schimpft er auf den Staat sowie auf westliche Mentalitäten, die über den Osten eingebrochen sind. An sich sehr wichtigte Themen, doch bei Krien kratzen sie ohne Tiefgang oder Facetten plakativ eingeworfen an der Oberfläche – die Charaktere sind sehr widersprüchlich und teils unrealistisch in ihrem Verhalten dargestellt.

Es brennt in „Der Brand“ auf vielen doppeldeutigen Bereichen und die Entfremdung findet nicht nur zwischen den gebildeten Eheleuten statt, sondern auch gegenüber der Gesellschaft, der Politik, den Medien und dem Staat – leider hat Daniela Krien hier eine sehr eindimensionale und oberflächliche Betrachtung eingenommen, die in der Gesamtkonstruktion nicht überzeugt. Neben der klaren, treffsicheren und literarisch wertigen Prosa sind das intensive Eintauchen in die Seelenleben und die atmosphärischen Beschreibungen von Hof und Tieren das Bemerkenswerte dieses Romans. Da aber auch hier manches in der Ehe- und Familiendynamik ins Klischee- und Spießbürgerhafte abdriftet, ist der Roman insgesamt eine kleine Enttäuschung – aber wunderbar szenisch arrangiert für das Vorabend-Programm im Fernsehen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.08.2021
Shuggie Bain
Stuart, Douglas

Shuggie Bain


ausgezeichnet

Ein Kampf aus Liebe
Im tristen, stagnierenden und von Arbeitslosigkeit und Sucht geprägten Glasgow der 80er-Jahre führt der junge und sanfte Shuggie Bain einen zerbrechlichen und starken Kampf aus Liebe – zu seiner Mutter Agnes, die dem Alkohol verfallen ist. Douglas Stuart ist mit seinem zutiefst bewegenden Debütroman mit dem renommierten Booker Prize 2020 ausgezeichnet worden und verarbeitet laut Interviews seine eigene Kindheit mit einer alkoholkranken Mutter.

Der Roman behandelt die wundervoll zärtlich aufgefangene Verbindung zwischen einem sanften Kind und seiner unbändigen Mutter, in einer rauen Welt, in der sich Shuggie zusätzlich als Ausgestoßener fühlt, da er sehr sensibel und feminin ist, lieber mit My Little Ponies als mit einem Fußball spielt und sich in einer vulgären Umgebung fein und gewählt ausdrückt. Auch Agnes ist eine schicke Frau nach außen, immer zurecht gemacht, doch innerlich ist sie zerbrochen, verlassen vom untreuen-gewalttätigen Mann und Shuggies Vater Big Shug, mittellos und die spärliche Sozialhilfe wird für die nächsten Biere ausgegeben. Von Männern wird Agnes sexuell ausgebeutet und auch Shuggie wird wegen seiner ‚Andersartigkeit’ gemobbt – seine Halbgeschwister gehen ihren eigenen Weg, so versucht der kleine Junge mit viel Einfallsreichtum seiner Mutter Fürsorge und Halt zu geben: In vertauschten Rollen bringt er alle Zärtlichkeit auf, um der von der Sucht emotional sehr instabilen und wechselhaften Agnes durch den Tag zu helfen. Ein aufwühlendes und wichtiges Thema – Kinder von drogenabhängigen Eltern und den emotionalen Missbrauch, den sie erleben.

Erschütternd, detailliert und düster zeigt Stuart in seiner eindringlichen Milieustudie und emotionalen Coming-of-Age-Geschichte den harten Alltag von Shuggie und Agnes, ohne rührselig zu werden – durchzogen mit dem brillant übersetzten Glasgower Slang und neben der vorherrschenden Trostlosigkeit auch eine herzerfüllende Wärme und reine Liebe, die Hoffnung versprühen und beim Lesen des Elends und Leids durchhalten lassen. Stuarts lyrische Prosa ist zudem von einer opulenten und bildgewaltigen Schönheit und aufblitzendem schwarzen Humor durchzogen, denn Shuggie ist trotz allem eine heitere Natur – gefolgt von derben Szenen mit Schimpfwörtern, sexueller Gewalt und die Schonungslosigkeit eines durch Alkohol verursachten Verfalls.

Ein bemerkenswertes Debüt voller Brutalität und Schönheit, Schrecken und Poesie sowie soziografische Szenen einer Stadt, die durch die Thatcher-Ära schwer gelitten hat und unvergessliche Momente einer außergewöhnlichen, komplexen Mutter-Sohn-Beziehung, die alle Grenzen sprengt und zwischen Zerstörung und Liebe changiert.