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Tokall

Bewertungen

Insgesamt 75 Bewertungen
Bewertung vom 04.10.2021
Probe 12
Lange, Kathrin;Thiele, Susanne

Probe 12


sehr gut

In dem Wissenschaftsthriller „Probe 12“ entwickeln die Autorinnen Lange und Thiele die Idee, dass man multiresistente Keime und beginnende Antibiotikaresistenzen mit Hilfe einer Bakteriophagen-Therapie erfolgreich behandeln kann. Im Zentrum der Handlung stehen die Forschungsergebnisse des georgischen Wissenschaftlers Georgy Anasias, der zu Beginn des Romans brutal ermordet wird und um dessen Erkenntnisse dann eine intensive Hetzjagd beginnt, denn sein Laborjournal und seine Ampullarien mit 12 Bakteriophagen konnte er noch rechtzeitig an seinen früheren Assistenten Dr. Max Seifert nach Deutschland schicken. Der Handlungsstrang der actionreichen Verfolgungsjagd wird ergänzt um weitere: einerseits um das Schicksal von Tom Morell und seiner 15-jährigen, todkranken, an Mukoviszidose leidenden Tochter Sylvie, die bereits eine Antibiotikaresistenz entwickelt und nun auf alternative Behandlungsmöglichkeiten hoffen muss, andererseits um die außerparlamentarische Gruppierung der „pandemic fighters“ und ihren Forderungen nach angemessener Bekämpfung von Pandemien, multiresistenten Keimen und beginnenden Antibiotikaresistenzen sowie nicht zuletzt um den Bioterroristen Prometheus, der Anschläge mit multiresistenten Keimen auf Altersheime verübt, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die verschiedenen Handlungsstränge sind intelligent miteinander verflochten und bis zum Ende bleibt offen, wie alles nun miteinander zusammenhängt. Das ist raffiniert, geschickt erzählt und gut gemacht, es tröstet auch darüber hinweg, dass das erzählerische Tempo an manchen Stellen in der ersten Hälfte des Buches für meinen Geschmack doch etwas zu dynamisch und in erster Linie im Hinblick darauf gestaltet worden ist, Action zu erzeugen.
Was gut gelungen ist, ist die Ausgestaltung der Figurencharakteristik und der Beziehungsverhältnisse zueinander. Positiv hervorzuheben ist hier in meinen Augen v.a. der wagemutige und gleichzeitig fürsorgliche Tom und sein Verhältnis zu seiner kränklich-leidenden Tochter Sylvie, mit der man als Leser viel Mitleid empfindet, sowie zu der gefühlvollen und aufgeweckten Wissenschaftsjournalistin Nina Falkenberg, für die der ermorderte Georgy Anasias ein väterlicher Mentor war. Zwischen Tom und Nina entsteht im Laufe der Geschehnisse sehr zaghaft eine romantische Beziehung, das wird sehr feinfühlig erzählt. Auch die Figur der Kommissarin Christina Voss finde ich gelungen dargestellt, eine intelligente, empathische und professionelle Frauenfigur, die stets den Durchblick behält und klare Ansichten hat. Und auch der Bösewicht, der Auftragskiller Jegor, wird in seiner ganzen Gefühlskälte und Brutalität überzeugend gezeichnet und ruft Empörung sowie Abscheu beim Leser hervor. Das Figurenensemble ist also gut aufeinander abgestimmt
Eine weitere Stärke des Romans ist es, dass viele wissenschaftliche Hintergründe sowie Abläufe zur Gesetzgebungsverfahren geschickt und nachvollziehbar in die Handlung integriert werden. Dabei ist positiv hervorzuheben, dass der Inhalt fundiert recherchiert ist. Im Anhang findet man nämlich neben dem Glossar mit den wichtigsten Fachbegriffen auch ein Literaturverzeichnis mit weiterführenden Lektürehinweisen sowie ein aufschlussreiches Nachwort mit Hintergrundinformationen. Und für mich hätte das interessante Nachwort im Anhang sogar noch etwas ausführlicher ausfallen dürfen. Denn ich hätte es spannend gefunden zu erfahren, ob es z.B. für die Partei GPD ein reales Vorbild gab und ob die Absichtserklärung der Bundesregierung „DART 21“ wirklich existiert.

Fazit: Eine turbulente Hetzjagd und ein komplexes Gefüge unterschiedlicher Figuren, Gruppierungen und Parteien, deren Zusammenhang und verschiedene Motive man erst am Ende aufzudecken in der Lage ist, sowie ein Buch, bei dem man etwas dazulernt und das sogar zur Eigenrecherche anregt.

Bewertung vom 01.10.2021
Wie schön wir waren
Mbue, Imbolo

Wie schön wir waren


ausgezeichnet

In dem Roman „Wie schön wir waren“ von der Autorin Imbolo Mbue stehen der Werdegang der starken Frauenfigur Thula als Revolutionsführerin und der ihrer Familie, die mit Unterstützung des Dorfes Kosawa gegen den Ölkonzern Pexton und die Regierung kämpfen, im Zentrum. Das Dorf leidet unter den Verunreinigungen, die durch die Ölbohrungen auf den naheliegenden Ölfeldern verursacht werden, viele Kinder sterben – bedrückend geschildert – an trockenem Husten und Fieber. Doch der Ölkonzern hat nur warme Worte für das Leid der Dorfbevölkerung übrig, sagt keine konkreten Hilfen zu und beutet das Dorf schamlos weiter aus. Erzählt wird in den Kapiteln aus den Blickwinkeln der einzelnen Familienmitglieder von Thula und auch aus der Sicht ihrer gleichaltrigen Freunde. Dadurch entsteht ein gefälliges komplexes Zusammenspiel verschiedener Perspektiven. Beschrieben wird, wie sich die Gewaltspirale im Kampf gegen Pexton beständig weiter fortsetzt und noch verstärkt. Drei Männer aus dem Dorf, darunter Thulas Vater, verschwinden spurlos, als sie in der Hauptstadt Bezam bei Pexton vorsprechen und die Regierung zur Rechenschaft ziehen wollen. Daraufhin werden drei Mitarbeiter von Pexton im Dorf als Geiseln genommen, um sich zu rächen und Verbesserungen zu erzwingen. Nach dem Erscheinen eines lokalen Zeitungsberichts kommt es zu Verhaftungen, Todesurteilen und genau in der Mitte des Buchs zu einer weiteren schweren Gewalteskalation, die das ganze Dorf traumatisiert. Gleichzeitig erfahren wir, wie ein Keim von Hoffnung entsteht, als Thula zum Schulbesuch und Studium in die USA geschickt wird und die „Aktion Neuanfang“ nach der Gewalteskalation für Verbesserungen im Dorf Kosawa sorgen will. Wir verfolgen die Entwicklung Thulas zu einer belesenen Revolutionsführerin, die fortwährend und vor allem nach ihrer Rückkehr in ihr Heimatdorf für das Wohl Kosawas sorgt. Dabei ist sie stets unermüdlich, auch wenn es immer wieder herbe Rückschläge gibt, z.B. in Form von Gewaltanwendungen oder juristischen Zermürbungstaktiken von Seiten des Konzern Pexton. Sie hat die Idee einer revolutionären Bürgerbewegung, mobilisiert Einwohner zu Demonstrationen, schaltet einen New Yorker Anwalt in den Fall ein und gründet sogar eine Partei. Alles in allem besticht die Darstellung dadurch, dass man als Leser emotionalisiert und v.a. aufgerüttelt wird. Mich machte das Geschriebene häufig fassungslos, insbesondere hatte ich großes Mitleid mit der leichtgläubigen und abergläubischen Dorfbevölkerung, die nicht recht weiß, wie sie sich verteidigen soll und deshalb als leichtes Opfer eines rücksichtslosen Konzerns erscheint und aus der Verzweiflung heraus zu Gewalt greift. Neugierig und hoffnungsvoll verfolgte ich über das gesamte Buch hinweg den Werdegang Thulas, dabei fand ich vor allem gut erzählt, wie sie in Briefform weiter mit ihren Freunden aus dem Dorf Kosawa Kontakt hält und von ihrer Begegnung mit dem fremden Amerika berichtet. Sie hat mir als starke Frauenfigur imponiert, die ein klares Ziel verfolgt und sich auch nicht davon einschüchtern lässt, dass ihr als Frau von der patriarchalisch geprägten Gesellschaft nur wenig zugetraut wird. Interessant fand ich auch den Einblick, den man in die Kultur der Dorfbevölkerung erhält. Denn Themen wie Sexualität, Männer-Frauenrollen, Korruption, Vetternwirtschaft, Altenpflege, Umgang mit Älteren, Hochzeit, Beerdigungen und Totenfeiern sowie Mannwerdungsrituale werden ebenfalls am Rande erwähnt. Besonders aufschlussreich fand ich in diesem Zusammenhang die Erzählungen der Großmutter, die Erinnerungen an frühere Zeiten Revue passieren lässt und dabei Themen wie Sklaverei, Missionierungsversuche, Zwangsarbeit auf Kautschukplantagen und Enteignung anspricht.

Fazit: Ein Buch, das emotional aufrüttelt, zum Nachdenken anregt und das Mitleid, Fassungslosigkeit und Wut beim Lesen erzeugt sowie Einblicke in Kultur und Gesellschaft bietet. Keine leichte Kost!

Bewertung vom 12.09.2021
DAFUQ
Jarmysch, Kira

DAFUQ


ausgezeichnet

Anja demonstriert und landet für 10 Tage im Arrest. Trauriger Alltag in Russland, in diesem Werk gut geschildert und aufbereitet. Die Autorin lässt dabei sicherlich auch viele eigene Erfahrungen einfließen. Das gefällt und lässt das Geschilderte sehr authentisch und realistisch wirken. Wer sich Einsichten in das Leben in Russland erhofft, wird mit diesem Buch nicht enttäuscht, Themen wie Alkoholismus, Korruption, Polizeiwillkür, Drogensucht, Homosexualität, Feminismus und Sexismus sowie das Männer-Frauen-Rollenverständnis werden durchaus am Rande erwähnt. Detailliert werden die Abläufe in der Polizeidienststelle und im Gericht, die Aufnahmeprozedur in der Haftanstalt sowie der Alltag dort beschrieben. Was mich erstaunt hat: Die Ordnungshüter wirken bis auf einzelne Ausnahmen insgesamt recht nett, verständnisvoll sowie korrekt. Beschwerden der Häftlinge werden ernst genommen, Anträge werden weitergegeben und schnell bearbeitet. Dennoch gibt es einzelne schwarze Schafe, unter deren Willkür die Häftlinge zu leiden haben. Auch die Mitinsassinen verhalten sich Anja gegenüber freundlich und offen. Als sie in ihrer Zelle ankommt, wird munter small-talk über die Haftgründe geführt, Scharade folgt, man bietet Anja sogar Tee an. Die Atmosphäre wirkt insgesamt wohlig warm, nur der psychische Zustand von Anja verschlechtert sich zusehends. Doch darauf komme ich weiter unten zurück.

Im Zentrum der Handlung steht Anja, ihren Gedanken und Gefühlen folgen wir vor allem als Leser. In eingeschobenen Rückblicken erfahren wir auch etwas über ihre Vergangenheit, vor allem über ihre verschiedenen Jugendsünden, ihre schwierige Dreiecksbeziehung mit Sonja und Sascha sowie über das Beziehungsverhältnis zu ihren Eltern, besonders das zu ihrem Vater. Neben Anja bekommen die Mitinsassinnen Irka und Maja noch viel Raum in dem Roman; am Beispiel von Irka wird uns eine gescheiterte Existenz vorgeführt, sie ist ein Opfer, abhängig von Tabletten und Alkohol, die sich sogar dafür prostitutiert und auch Misshandlung erlebt hat. Maja erscheint dem Leser hingegen als eine Art „Barbie-Püppchen“, die in sich selbst mit Schönheitsoperationen investiert, von ihren merkwürdigen geschäftlich-romantischen Beziehungen zu Männern erzählt und dabei ein absurdes Männerbild und Frauenrollenverständnis offenbart.

Der erzählerische Höhepunkt des Romans ist für mich aber die Darstellung der Verschlechterung des psychischen Zustands von Anja; spätestens im letzten Viertel des Romans, als sie allein in ihrer Zelle sitzt, weil die anderen Insassinnen bereits entlassen wurden, tritt ihr labiler innerer Zustand immer deutlicher zutage. Immer stärker fühlt sie sich der Willkür der sog. „Diensthabenden“ ausgeliefert, sie scheint das Zeitgefühl zu verlieren. Meisterhaft wird erzählt, dass Anja plötzlich Zusammenhänge entdeckt, wo keine sind, wie sie mystische Gedankengänge entwickelt, sie nimmt merkwürdige Zufälle wahr, sie erlebt Stimmungsschwankungen, Grübeleien, assoziative Erinnerungsketten, innere Angespanntheit, Manie und Größenwahn. Ihre Wut gipfelt letztlich sogar in der Vorstellung eines Mords. Und ich finde plausibel, dass man in einer solchen Situation von Isolation solche depressiv-psychotischen Gedanken entwickelt, zumal Anja bereits im Vorfeld, als ihre Mitinsassinnen noch anwesend waren, in Form von Halluzinationen dem Leser zu erkennen gibt, dass es ihr psychisch nicht gut geht.

Fazit: Ein Roman, der einen Einblick in das heutige Russland gewährt, vor allem in den Haftalltag von Arrestierten und darin, welch psychische Belastung ein solcher Aufenthalt für den/die Betroffene(n) sein kann.

Bewertung vom 30.08.2021
SCHWEIG!
Merchant, Judith

SCHWEIG!


ausgezeichnet

In dem Thriller „Schweig!“ von Judith Merchant wird ein intensiver Psycho-Schlagabtausch zwischen der jüngeren Schwester Sue und ihrer älteren Schwester Esther zelebriert. Beide Schwestern sind dabei als Kontrastfigur angelegt, sie leben jeweils in ganz unterschiedlichen Welten, Esther mit ihrer vierköpfigen Familie in einer Wohnung in der turbulenten Stadt, Sue zurückgezogen und allein sowie kinderlos und frisch von ihrem Partner Robert getrennt, in einer Villa am Waldrand. Kurz vor Weihnachten treffen sie aufeinander und sie haben sich eigentlich nichts zu sagen. Für beide ist es eine lästige Pflicht der Beziehungspflege. Esther besucht Sue unter dem Vorwand, dass sie sich Sorgen um sie macht. Immer wieder wird von ihr ein Vorfall auf dem letztjährigen Weihnachtsfest als Begründung für die Besorgnis angedeutet, über den wir als Leser erst nach und nach etwas erfahren. Sue hingegen will die übergriffige und neugierige Esther einfach nur loswerden. Dafür ist sie sogar bereit, sie anzulügen. Doch Esther durchschaut die Lüge, kehrt zu Sue zurück, nachdem sie zwischenzeitlich zu ihrem Mann Martin und den Kindern zurückkehren wollte. Als Sue ihr die Tür nicht öffnet, bricht sie sogar in ihr Haus ein. Der Psychokrieg steuert nun auf einen Höhepunkt zu: Es kommt zu einer Aussprache zwischen beiden, Sue beschließt in die Offensive zu gehen und Esther offen ihre Meinung zu sagen, scheinbar zum ersten Mal. Dabei wird klar, wie gut Sue ihre Schwester kennt und in der Lage ist, sie gänzlich zu durchschauen. Und die bis dato wenig selbstreflektierte Esther scheint daraufhin tatsächlich Einsicht zu zeigen, sie will sich ändern, sie stellt sogar kurzzeitig ihr eigenes Leben in Frage. Doch dann taucht plötzlich Martin bei Sue auf.

Was den Roman so besonders macht und ihm überhaupt erst große und atemberaubende Spannung verleiht, ist meiner Meinung nach die sehr gute erzählerische Gestaltung der Perspektiven. So wählt die Autorin für beide Schwestern jeweils die Ich-Perspektive, die einander abwechseln. So sind wir jeweils an die Sicht einer Figur gebunden und folgen mal den Gedanken und Gefühlen der einen mal der anderen Schwester und wir sehen als Leser auch, welche Bewertungen beide Schwestern jeweils übereinander treffen. Als Leser fühlt man sich vor allem zu Beginn des Romans wie eine Art Mediator. Man hört sich beide Seiten an und weiß nicht, was stimmt; das, was Sue über Esther erzählt, oder das, was Esther über Sue berichtet. Das personale Erzählen im Wechsel verhindert eine übergreifende Sicht auf beide Figuren und das ist für mich große Erzählkunst. Als Hilfsangebot wird dem Leser nach einem Drittel des Romans auch noch die Perspektive von Martin dargeboten. Ab diesem Zeitpunkt wird dem Leser klar, dass Esther tatsächlich keine einfache Person ist, auch Martin wird von ihr eingeengt und kontrolliert, er wünscht sich mehr Freiheit. Allerdings zeigt sich auch, dass Sue kompromisslos agiert, wenn es darum geht, sich an ihrer großen Schwester zu rächen. Hinzu kommt, dass Esther ein Kindheitstrauma erlebt hat, das ihr Verhalten möglicherweise sogar in gewisser Weise verstehbar werden lässt. Darüber wird in einzelnen eingeschobenen Rückblick-Kapiteln berichtet. Was mich etwas ratlos zurückgelassen hat, ist lediglich das Ende des Romans. Nach einem Zeitsprung von einem Jahr folgen wir zunächst den Gedanken von Sue und dann denen von Esther. Für mich waren die Gedanken der jüngeren Schwester dabei nicht plausibel, nach allem, was sie mit ihrer Schwester erlebt hat und was sie zuvor über sie gedacht hat.

Fazit: Ein fesselnder Psychothriller mit einer ausgefeilten Figurencharakteristik und spannender erzählerischer Gestaltung

Bewertung vom 10.08.2021
Liebe Rock
Zürcher, Tom

Liebe Rock


ausgezeichnet

Der Ich-Erzähler Timm zieht in eine WG zu Rock, in die er sich dann verliebt. Problem dabei: Sie ist schon mit Marc zusammen. Heraus kommt eine turbulente Dreiecksbeziehung, die durch interessante Charaktere besticht, die Emotionen auslösen können. Da ist der Ich-Erzähler, der Schriftsteller werden will, aber nicht sehr ernsthaft dabei wirkt, wenn es um die Umsetzung seines Plans geht. Und da sind die mütterliche Rock sowie Marc, der Freund von Rock, und damit Konkurrent. Beachtlich bei diesem Figurenensemble ist, wie sie einander auf den Gefühlen herumtrampeln, ohne Rücksicht zu nehmen. Rock wirkt unnahbar und zu Beginn unsympathisch, sie verletzt andere, indem sie Seitensprünge begeht; Timm ist ebenfalls rücksichtslos und er verhält sich verantwortungslos, als er sich schamlos bei Marcs Dissertation bedient, um seinen Roman fertigzustellen. Noch dazu lügt er oft hemmungslos, um einen Vorteil daraus zu ziehen. Als Leser verspürt man durchaus Wut, mal auf die eine oder andere Figur, oder auch Mitleid. Der einzige, der einen korrekten Eindruck macht, ist Marc, dem man lediglich vorwerfen könnte, dass er viel zu nett ist und zu wenig Stolz aufweist. Lobenswert ist auch die Darstellung der Dynamik in der Beziehungskonstellation, zwischen Marc und Timm kommt es regelmäßig zu Konflikt und Versöhnung, Marc und Rock führen v.a. zu Beginn des Romans eine regelrechte on/off-Beziehung und auch zwischen Timm und Rock erleben wir ein ständiges auf und ab sowie hin und her. Gegen Ende des Romans sind die Fronten dann geklärt und die Dynamik verliert an Bedeutung, dafür zeigt sich umso mehr Timms Realitätsverlust. Das ist große erzählerische Darstellungskunst, auch weil die Oberflächlichkeit der Beziehungsverhältnisse gut herauskommt. Alles in allem also ein durchdachtes Figurenensemble, gut aufeinander abgestimmt.
Das zweite große Thema des Romans ist die Schriftstellerei. Hier offenbart der Roman mehr Tiefe, als man zunächst annimmt. Der gesamte Literaturbetrieb wird genüsslich und mit viel Komik auf die Schippe genommen und ins Lächerliche gezogen. Es zeigt sich z.B. dass der Inhalt des Romans von Timm letztlich kaum eine Rolle spielt, es geht in erster Linie darum, einen Effekt zu erzielen und im Feuilleton angemessen rezipiert zu werden. Am Beispiel von Timm sehen wir, was das mit einem Autor anstellen kann. Gleichzeitig wundern wir uns darüber, wie ihm der Erfolg in den Schoß zu fallen scheint. Hier enthält der Roman viele absurde Ideen und Passagen, über die ich schmunzeln konnte.
Doch der Roman bietet noch mehr: ein kunstvolles Arrangement von erzählerischen Stilmitteln. Neben den frechen Dialogen und kodderigen Schlagabtauschen wird auch die indirekte und wörtliche Rede inkorrekt verwendet. Doch das aus einem bestimmten Grund: Der Roman wirkt wie ein erster Entwurf, der noch nicht gelesen wurde, und das wiederum passt zum Spiel, was mit der Abgrenzung zwischen Erzählerinstanz und Instanz des Autors getrieben wird. Am Ende des Romans verschmelzen Fiktion und Wirklichkeit, der reale Autor tritt plötzlich zurück. Eine tolle Idee, die mir so noch nicht untergekommen ist. Hinzu kommen aber noch weitere Ideen: Das erste und das letzte Kapitel bilden einen in sich geschlossenen Rahmen, es entsteht eine Art Endlosschleife und mit dem Wissen aus dem letzten Kapitel, kann man den Roman ein zweites Mal mit anderen Augen lesen. Nicht zuletzt überzeugt die Idee der Countdown-Kapitel, die rückwärts gezählt werden. Und es gelingt dem Autor (wer immer es auch ist) die Handlung zum Ende auf einen Höhepunkt hin zu steigern. Eine geniale Idee gut umgesetzt.
Fazit: Der Roman hat mich vollends begeistert, weil er so viel mehr ist als nur ein schnodderig geschriebener weiterer Popliteratur-Roman.