Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Almut Scheller-Mahmoud
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 74 Bewertungen
Bewertung vom 09.11.2020
Ein Irokese am Genfersee
Wottreng, Willi

Ein Irokese am Genfersee


sehr gut

Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer.
Dieses alte Zitat bewahrheitet sich auch im Schicksal des Irokesen Deskaneh Levi General, Erbchief der Six Nations. Er war für die Weißen ein Unruhestifter und eine lästige Rothaut. Mit seinen Forderungen nach Eigenstaatlichkeit der Six Nations. Sie wollten keine kanadischen Untertanen sein: sie lebten auf eigenem Grund, der ihnen von der britischen Krone als Anerkennung für ihre Aufopferung im Krieg gegen die amerikanischen Separatisten gewährt worden war.

Willi Wottreng beginnt diese irokesische Biographie mit einem klassischen Autorentrick.
Die Erzählerin findet in einem Nachlass Papiere und Fotos und ist sofort fasziniert. Denn in ihrer Jugend sah sie sich selbst als Winnetou, als Stadtindianerin. Freiheit und Gerechtigkeit waren die Pfeiler ihres Denkens, beeinflusst von Dürrenmatts „Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht“.

Ursula Haldiman beginnt zu recherchieren und blättert ein außergewöhnliches Leben vor dem Leser auf. Das Leben eines Einzelkämpfers, wenn auch mit Unterstützung der Presse und diversen Gruppierungen mit missionarischen Eiferern. Seine vielen Vorträge und seine „bella figura“ im federgeschmückten Ornat garantieren ihm eine große Fan-Gemeinde. Aber all seine Bemühungen, die Causa seines Volkes vor den Völkerbund in Genf zu bringen, scheitern. Kanadas Indianerbetrauftragter Scott sieht in den Indigenen Schutzbefohlene, die man erziehen und zivilisieren müsse. Das klassische Überlegenheitsgefühl der Weißen setzt auch hier drastische Maßnahmen ein.

Deskaneh sah sich voller Stolz als Vertreter einer der ältesten Demokratien der Welt. Doch seine Mission war ein Misserfolg. Er ging ins Exil nach Rochester in den USA, denn nach Kanada konnte er nicht zurück. Schon in der Schweiz hatte ihn eine starke Erkältung so sehr geschwächt, dass er zur Kur musste. Immer liebevoll-tatkräftig an seiner Seite Hedwig Barblan, die in ihm den Weg in ein exotisches Leben abseits der kleinbürgerlichen Schweizer Enge sah. In Rochester überfällt ihn ein Schlaganfall, er wird sich nicht mehr erholen. Er stirbt mit 52 Jahren, an gebrochenem Herzen und…..? Gerüchte über einen unnatürlichen Tod machen die Runde. Ursula Haldiman lässt diese Frage keine Ruhe, sie kann natürlich keine Beweise erbringen, aber Mut-maßungen bleiben offen. Man sagt, im Moment des Todes ziehe das ganze Leben vor den Augen des Sterbenden vorbei. Was sah Deskaneh?

In dieser kleinen Tour d’horizon erfahren wir viel über die Traditionen und Denkweisen der nordamerikanischen Indigenen außerhalb der Hollywood-Szenerie. Viel über die Denkweisen der politischen Machthaber und viel über ihre Selbstherrlichkeit.
Es ist mehr als lobenswert, dass hier in klarer Sprache einem vergessenen Kämpfer ein Denkmal gesetzt wird. Für Freunde der indianischen „Kindheits“-Literatur und für Freunde der indianischen Realität ein unbedingtes Muss.

Das Buch endet mit fünf Fragen. Wer war Deskaneh? Das mag jeder interessierte Leser für sich selbst entscheiden

Bewertung vom 09.11.2020
Checkpoint (eBook, ePUB)
Bischara, Asmi

Checkpoint (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

In den sechzig Episoden seines literarischen Erstlingswerks zeigt uns Asmi Bischara, arabischer Israeli, Autor, Politiker und Ex-Abgeordneter der Knesset, das Leben an und mit den Checkpoints im „Heiligen Land“. Er teilt diese Grenzmarkierungen ein in Checkpointstaat und Checkpointland. In seinen Skizzen beschreibt er die „Herren und die Knechte“: das moralische Überlegen-heitsgefühl der einen und die gedemütigten Seelen der anderen. Ironisch und humoristisch lässt er den Leser teilhaben am Alltag an den Checkpoints.

Da gibt es Szenen von Hochzeitsfeiern, Beerdigungen und Leichenzügen, wartenden Krankenwagen und immer und überall Resignation.Lebendig beschrieben wird das Reich der Plastiktüten, die Mobilität der Fliegenden Händler. Selbst Melonen werden zu Verdächtigem.
Fliegende Sperren werden zum Spielzeug einer Soldateska, ganz im Sinne der Pawlow’schen Lehre der Reflexe. Dieses Ausgeliefertsein ist nicht nur resignativ und demütigend, sondern frisst sich in die Seelen, in das menschliche und soziale Gefüge.
Mir gefallen die kreativen Wortschöpfungen von Bischara wie Tagtäglichkeit, gecheckpointete Passanten, endverdächtigt, Gewehrsprache, westweit.


Er beschreibt zwei menschliche Gegenpole: die der Araber und die der Israelis.
Die nicht nur durch die Checkpoints und die 800 km „Mauer“ voneinander getrennt sind. Sondern durch ihr religiös-politisches Sendungsbewusstsein, durch internationale Sympathien und Solidarität für die einen wie auch für die anderen, durch steinewerfenden Widerstand und märtyrerhaften Terrorismus.

„Ein Volk, das ein anderes mit Checkpoints blockiert, hat selber einen inneren Checkpoint.“
Dieser äußert sich dann in Schulmeisterei, Machoallüren, narzisstischer Befriedigung durch die eigene Macht und die Ohnmacht der anderen, Halbstarkengehabe, den Exhibitionismus der Stärkeren und „selbstgefälliger Selbstbeifall der einzigen Demokratie im Nahen Osten“.


Asmi Bischara notiert Psychogramme derjenigen, die vor bzw. hinter den Checkpoints ihre Statistenrolle im politischen Spiel ausfüllen. Die einen hoffen auf die Auswanderung aller, damit man sie nicht abermals wie 1948 vertreiben muss. Die anderen hoffen - ja, auf was? Auf den Schlussstrich unter die Okkupation? Auf ihr Recht auf ihr Land? Auf Menschenwürde?

Wird es je eine Lösung für dieses geteilte Land geben? Für seine Bewohner diesseits und jenseits der Checkpoints? Werden die Menschen diesseits und jenseits der Checkpoints überhaupt noch eine gemeinsame menschliche Sprache sprechen können? In beiden Völkern sind Bewusstsein und Unbewusstsein geschädigt und verletzt.
Ist es ein von Jahwe oder von Allah verhängtes Schicksal oder ist es einfach nur Geopolitik?
Gibt es Hoffnung? Stirbt die Hoffnung zuletzt?

Die Lektüre dieses aufschlussreichen Buches wirft viele Fragen auf und
regt zum kritischen Nachdenken an.



Der Schrecken, den die Unterdrücker systematisch erzeugen, verselbstständigt sich, er geht in das System des Bewusstseins und des Unbewusstseins.
Manés Sperber

Bewertung vom 09.11.2020
Kampuchea
Deville, Patrick

Kampuchea


ausgezeichnet

Der Geschichte nachspüren
2010 reist der Autor vom Mekong-Delta bis an die Grenze nach China.
Er führt uns ein in die Geschichte Indochinas, die den meisten von uns unbekannt sein wird bis auf Schlagworte wie Angkor Vat, Dien Bien Phu, Vietnamkrieg, Coppolas Apokalypse Now, Pol Pot und Killing Fields.

Durch minimalistische Biographien werden wir Zeuge von politischen und kulturellen Umwälzungen. Lebensepisoden von Henri Mouhot, der 1860 Angkor Vat (wieder) entdeckte: ein Narrativ der Steine aus dem 9. Jahrhundert. Angkor Vat soll im 12. Jahrhundert eine Million Einwohner gehabt haben. Prinz Sihanouk, der aus Phnom Penh ein fernöstliches Paris machen wollte und Pol Pot, der in Paris studiert und das Leben des La douce France genossen hatte. Ho Chi Minh, ein Mann mit der unbeugsamen Geschmeidigkeit eines Bambus. Aber auch von Unbekannten wie Vann Nath, der in unermüdlicher Serienarbeit Portraits von Pol Pot erstellen musste. Francois Ponchaud, ein katholischer Priester, der die Khmer-Sprache erlernt und die Codes und Chiffren der Roten Khmer entziffert hatte. Sein anprangerndes, 1977 veröffentlichtes Buch „Kambodscha im Jahre Null“ fand im Westen nirgendwo Gehör. Kong Bunchhoeun, der über 120 Bücher geschrieben, Filme gemacht, gemalt, gedichtet und komponiert hat.


Und immer das verbindende Hauptthema. Die genozidale Herrschaft der Roten Khmer allgegenwärtig. Mit ihrer ideologischen Vermischung von Rousseau, Marx und buddhistischem Denken. In den vier Jahren eines steinzeitlichen Kommunismus wurden fast 2 Millionen Menschen umgebracht, gefoltert, vernichtet. Die Tötungsmaschinerie der Menschheit ist unersättlich: Gulags, KZs, Ruanda. Massengräber der Grausamkeit.

Aber Deville informiert auch über die Vorgeschichte dieser Massaker. Der weiße Mann mit seinem Bewusstsein der Überlegenheit über alle anderen Kulturen und Völker. Vom Opiumkrieg mit China, in dem die Truppen den Pekinger Sommerpalast plünderten. Taliban und IS sind auch da nur Nachahmer.
Die Prozesse gegen Pol Pot und einen Gefängniswärter: ein unscheinbarer, biederer Beamter, der seine Pflicht erfüllte. Da tauchen Assoziationen auf zur „Banalität des Bösen“.

Eine kaleidoskopische Lektüre, bunt und farbig, aber eben nicht nur schön. So erliest man sich in kurzen Kapiteln, Zeiten und Orte wechselnd, die Ahnung eines Gesamtbilds einer komplexen kulturellen und politischen Andersartigkeit. Dieses Buch vereint Reportage, Biographie, Prosa, Reisebericht und auch Autobiographisches. Devilles Neugier auf das Heute und Gestern, die Verknüpfungen von Biographien, von Tätern und Opfern. Von Kolonisierten und Kolonisatoren. Für Deville sind Reisen und Schreiben unabdingbar miteinander verwoben, um so Knoten für Knoten des Heute und des Gestern knüpfen zu können. Für ihn gilt nicht das Zitat von Pascal’s Zimmer.

Die Geschichte vom Flügelschlag des Schmetterlings, der viele Tausend Kilometer entfernt und Jahrzehnte später eine Katastrophe auslöst, ist das perfekte Motto für diesen geschichtsträchtigen Roman.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.11.2020
Blauer Elefant
Mourad, Ahmed

Blauer Elefant


gut

Ahmed Mourad präsentiert uns eine kafkaeske, eindringliche Geschichte, für die man einen langen Atem braucht, um sich in den Gefilden der Halluzinationen und der vWahnvorstellungen zurecht zu finden. Ein Szenario der Albträume, ein psychedelisches Labyrinth und ein mentales Konstrukt mit Teufeln und Dämonen, mit Magie und mysteriöser Zahlenmagie.


Jachjar, ein 37 Jahre alter forensischer Psychiater, verlor vor Jahren bei einem Autounfall seine Frau und seine Tochter: er war schuld und überlebte und blieb deshalb fünf Jahre seiner Arbeit fern.
Er versank in schweren Depressionen und Verwahrlosung, zudem ist er zuckerkrank und süchtig nach selbstgedrehten Zigaretten, nach Kaffee, nach Haschisch, Whisky und nach Sex mit Maja, einer Gelegenheitsgeliebten, einer ausgeflippten jungen Frau, mit der er das Ritual des Ab-sinthtrinkens pflegt.

Jachjar wird von der Leiterin seiner Klinik nach einer letzten Abmahnung zur Arbeit gerufen und findet sich auf der Station 8 wieder, wo Menschen, über deren Schuldfähigkeit man sich uneins ist, stationiert sind.

E trifft auf einen alten Kollegen, Scharif al Kurdi, der beschuldigt wird, seine Frau Basma ermor-det, sie aus dem 30. Stock eines Hochhauses gestürzt zu haben.
Der Anwalt plädiert auf unschuldig, es sei Selbstmord gewesen. Als Jachjar Scharifs Foto in der Polizeiakte sieht, fällt ihm eine tätowierte Linie von der Schulter bis in die Handfläche mit um den Arm mäandernden Querlinien auf: das Muster erinnert an einen bestimmten arabischen Buchstaben und dessen Spiegelbild.

Durch seine Recherchen trifft er Lubna wieder, seine große Liebe und zugleich Scharifs Schwester. Sie treffen sich regelmäßig und fühlen sich immer noch zueinander hingezogen, obwohl Lubna inzwischen verheiratet und Mutter einer kleinen Tochter ist.

Nach Einnahme des „Blauen Elephanten“, einer Droge, einer Substanz ähnlich, die sich angeblich im Körper während des Sterbeprozesses bilden soll, erlebt Jachjar und der Leser mit ihm Horrorszenen. Die verschiedenen Erzählebenen verlieren sich in surrealen Dimensionen, so dass offen bleibt, ob nicht alles nur eine Einbildung des Protagonisten ist. Man fühlt sich wie ein Wünschelrutengänger in einem Gärprozess.


Ahmed Mourad baut viele kleine kulturgeschichtliche Reminiszenzen in seinen Text ein (unter-füttert durch Erläuterungen). Ansonsten finde ich den Stil anbiedernd modern,
so gewollt modern, mit vielen überflüssigen Anglizismen. Ganz besonders störend seltsame „Adjektiv-Sätze“ wie: „und betastete meinen Hals, der so verbeult war wie eine leere Pepsi-Dose“, „sie ließ mich warten, bis ich so gut abgehangen war wie ein Stück zähes Kamelfleisch“, „aus meinem Rachen kam ein Gestank wie aus dem Hintern eines toten Schweins“, „wie ein alters-schwacher Löwe mit Haarausfall auf der Flucht vor der Peitsche seines Dompteurs“.

Wer Verwirrspiele der psychedelischen Art im Metier von Psychothrillern mag, ist mit der Lektüre gut bedient. Das Ende wird natürlich nicht verraten.