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Havers
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Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 01.02.2023
Verschwiegen / Mörderisches Island Bd.1
Ægisdóttir, Eva Björg

Verschwiegen / Mörderisches Island Bd.1


sehr gut

„Verschwiegen“ ist das Debüt der isländischen Soziologin Eva Björg Ægisdóttir und gleichzeitig der Auftakt einer Krimireihe, in deren Zentrum Elma und ihre Kollegen der Dienststelle in Akranes stehen. Die Kleinstadt im Südwesten Islands ist überschaubar, die meisten Bewohner leben bereits seit Generationen dort, haben ihren angestammten Platz im sozialen Gefüge. Für die Polizei gibt es kaum Arbeit, denn schwerwiegende Gesetzesverstöße kommen so gut wie nicht vor, das tägliche Leben geht seinen geregelten Gang.

Eva Björg Ægisdóttir ist, wie ihre Protagonistin Elma, in Akranes geboren, kennt die Gegend wie ihre Westentasche, und sie ist mit der Mentalität der dort lebenden Menschen vertraut. Beides zusammengenommen ergibt, soweit ich es beurteilen kann, ein stimmungsvolles und authentisches Bild von Land und Leuten.

Elma ist nach einem kurzen Abstecher bei der Reykjaviker Polizei aus persönlichen Gründen in ihren Geburtsort zurückgekehrt. Sie sucht Ruhe, möchte das traumatische Ende ihrer Beziehung verarbeiten und arbeitet nun als Polizistin in Akranes. Aber die Heile-Welt-Atmosphäre währt nicht lange, denn am alten Leuchtturm wird eine Frauenleiche gefunden unbekannter Identität entdeckt. Schnell stellt sich heraus, dass sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist und nachträglich an diesem Ort platziert wurde. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Saevar wird Elma auf den Fall angesetzt, und was sie während der Ermittlungen herausfinden, lässt sie recht schnell erkennen, dass die Antworten auf ihre Fragen in der Vergangenheit zu finden sind. Aber leichter gesagt als getan. Zwar können sie den Namen der Toten ermitteln, aber sämtliche weiteren Befragungen laufen ins Leere. Ein Mantel des Schweigens breitet sich über der Kleinstadt aus, die offenbar alles daran setzt, ihre schmerzlichen Geheimnisse für sich zu behalten.

„Ein Island-Krimi“ steht auf dem Cover, und die von mir sehr geschätzte Ann Cleves bezeichnet diese Debüt als Nordic Noir, aber leider wird weder die eine noch die andere Aussage diesem Roman in all seinen Facetten gerecht. Natürlich stellt sich die Frage nach dem Täter, aber wesentlich wichtiger scheint mir doch der kritische und entlarvende Blick der Autorin auf diese kleinstädtische Gemeinschaft, die nach ihren eigenen Regeln lebt. Auf der einen Seite die solvente Unternehmerfamilie, die man tunlichst mit Samthandschuhen anfassen sollte, was besonders deutlich an den Anweisungen von Elmas Vorgesetztem wird, dort das vernachlässigte Kind aus prekären Verhältnissen, um das sich kaum jemand kümmert.

Es sind heikle Themen, die die Autorin in ihrem Erstling anpackt. Allerdings merkt man hier die sozialwissenschaftliche Ausbildung, denn sie behandelt diese mit sehr viel Fingerspitzengefühl und vermeidet das Abgleiten in voyeuristische Beschreibungen. Ein feiner, psychologisch durchdachter Roman, dessen einziges Manko das unbefriedigende Ende ist, was mich allerdings nicht davon abhalten wird, die Reihe weiter zu verfolgen.

Bewertung vom 29.01.2023
Stigma
Adam, Lea

Stigma


weniger gut

Thriller, in denen Gewalt gegen Frauen im Mittelpunkt steht, meide ich üblicherweise wie die Pest, vor allem dann, wenn es um das in diesem Genre gerne genommene Thema Sexualisierte Gewalt geht. Dass ich dennoch zu „Stigma“ gegriffen habe, hat zwei Gründe. Zum einen wurde es mit den Aussagen „Für alle, die es leid sind, immer wieder dieselbe Geschichte über ermordete Frauen zu lesen: Dieses Buch ist für Euch.“ und „Auftakt einer feministischen Thriller-Serie“ beworben, zum anderen verbergen sich hinter dem Pseudonym Lea Adam die beiden Autorinnen Regina Denk und Lisa Bitzer, was mich auf das entsprechende Fingerspitzengefühl und den sensiblen Umgang mit dieser Thematik hoffen ließ. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn ich zuerst nach einer Leseprobe geschaut hätte, denn bereits während des Prologs löste sich diese Hoffnung in Luft auf und es war klar, wohin die Reise geht.

„Stigma“ ist ein Thriller über Selbstjustiz, Rache und Schuld, aber ist es auch ein feministischer Thriller? Diese Bezeichnung greift nur dann, wenn man damit zufrieden ist, dass weibliche Opfer von männlicher Gewalt zu Täterinnen werden und somit die Geschlechterrollen umkehren. Natürlich ist diese Selbstjustiz ein nachvollziehbar, aber dennoch sollte, ja muss man sie infrage stellen, wenn man den eigenen moralischen Kompass nicht aus den Augen verlieren will. Stellt sich allerdings die grundlegende Frage, ob es wirklich notwendig ist, eine Vergewaltigung oder einen Mord im Detail zu beschreiben, um Spannung zu erzeugen. Ich bin wirklich nicht zimperlich, aber das war selbst mir über weite Strecken zu viel, zu undifferenziert und konnte mich deshalb nicht überzeugen.

Bewertung vom 25.01.2023
Wo vielleicht das Leben wartet
Jachina, Gusel

Wo vielleicht das Leben wartet


ausgezeichnet

Die Autorin und Filmemacherin Gusel Jachina nimmt uns in ihrem neuen Roman „Wo vielleicht das Leben wartet“ mit zurück in die russische Geschichte.

Kasan, eine Stadt in der Republik Tartastan am Ufer der Wolga. Wir schreiben das Jahr 1923. Der Bürgerkrieg hat unzählige Opfer gefordert. Viele Kinder haben ihre Eltern verloren. Teils wurden sie getötet, teils haben sie die Kinder ihrem eigenen Schicksal überlassen, weil sie sich nicht mehr imstande sind, sie zu ernähren. Es fehlt an allem, die Lage ist aussichtslos.

Dejew, der ehemalige Rotarmist und jetzt Zugführer bei der Transportabteilung, erhält den Auftrag, 500 bis auf die Knochen abgemagerte Heimkinder im Alter zwischen zwei bis zwölf Jahren in die landwirtschaftlich geprägte Region um Samarkand zu bringen. 4200 Kilometer bis an einen Ort, wo es noch genug zu essen gibt, die Überlebenschancen besser als in der Heimat sind und wo vielleicht das Leben auf sie wartet.

Keine leicht Aufgabe, denn es liegt eine lange und entbehrungsreiche Fahrt durch schwieriges Gelände einem klapprigen Sanitätszug vor ihnen. Es fehlt an Heizmaterial für die Lok, aber auch an Proviant, Medikamenten und Kleidung, selbst Seife ist knapp, aber Not macht erfinderisch und zwischendurch gibt es auch manchmal Hilfe von unerwarteter Seite. Dejew fühlt sich für jedes einzelne Kind verantwortlich und tut alles dafür, dass diese Mission erfolgreich ist. Deshalb handelt er, wenn es die Umstände erfordern, auch gegen die Anweisungen seiner Begleiterin Belaja, einer Moskauer Kommissarin der „Kommission zur Verbesserung des Lebens der Kinder“, die die korrekte Durchführung des Transports überwachen soll und sich ihrem Auftrag und weniger sentimentalen Emotionen verpflichtet fühlt. Aber fünf Wochen sind ein langer Zeitraum, in dem sich viel verändern kann.

Der in Kasan geborenen Autorin ist mit diesem auf historischen Fakten beruhenden Roman ein eindrucksvolles, berührendes Roadmovie gelungen. Sie schreibt gegen das Vergessen an, will die dunklen Kapitel in der Geschichte ihres Heimatlandes aufzeigen. Das ist es, was all ihre Romane kennzeichnet. Dabei wechselt sie gekonnt zwischen an die Nieren gehenden realistischen Beschreibungen und zuversichtlichen, Hoffnung verbreitenden Bildern von tiefer Menschlichkeit. Und ja, man mag es kitschig nennen, aber es sind die empathisch geschilderten Einzelschicksale, die in Erinnerungen bleiben. Die Zuversicht in hoffnungsloser Lage vermitteln und die Bereitschaft zur Verständigung fördern, letzteres die Mission von Gusel Jachina.

Auf den Seiten 572 – 576 sind übrigens die Kosenamen aller Kinder aufgeführt, die nach langer Fahrt wohlbehalten ihr Ziel in Samarkand erreicht haben.

Bewertung vom 23.01.2023
Altes Leid / Ida Rabe Bd.1
Stein, Lea

Altes Leid / Ida Rabe Bd.1


sehr gut

Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, aber die Auswirkungen des Hungerwinters sind auch in Hamburg noch deutlich zu spüren. Nahrungsmittel sind knapp, und wer noch etwas zum Eintauschen hat, fährt zu den Bauern ins Umland und versucht dort sein Glück. Viele Männer sind noch in Gefangenschaft, nicht aus dem Krieg heimgekehrt, und so bleibt es meist an den Frauen hängen, die Hamsterfahrten zu übernehmen.

Im Mai 1947 treten Ida Rabe und Heide Brasch als erste Frauen ihren Dienst in dem Revier Davidwache auf St. Pauli an. Weibliche Polizisten? Ein Novum, das die britischen Besatzer eingeführt haben. Von Vorgesetzten und Kollegen misstrauisch beäugt, verbannt man sie in einen Abstellraum im Keller, wo sie sich um das Dienstbuch kümmern und Schreibarbeiten übernehmen sollen. Keine befriedigende Beschäftigung für Ida.

Bei den Anzeigen im Dienstbuch stößt sie auf kurze Randbemerkungen eines Kollegen, die den Gemütszustand der Frauen dokumentieren, die bestohlen worden sind und wird hellhörig, kursiert doch das Gerücht, dass ein Vergewaltiger in der Gegend von Vierlande sein Unwesen treibt. Gegen jede Vernunft und ohne Autorisierung beginnt sie, auf eigene Faust zu ermitteln. Sie vertraut ihrem Instinkt, aber sämtlich Versuche, die Erlaubnis und Unterstützung ihrer Vorgesetzten einzuholen, scheitern. Dennoch lässt sie sich nicht beirren, selbst auf die Gefahr hin, dass sie durch ihr eigenmächtiges Handeln ihre Arbeitsstelle verlieren könnte.

„Altes Leid“ ist der Auftakt einer Reihe, in deren Mittelpunkt die uniformierte Polizistin Ida Rabe stellvertretend für die Frauen steht, die in dieser Männerdomäne um ihren Platz kämpfen. Gleichzeitig wirft dieser Kriminalroman aber auch einen entlarvenden Blick auf eine Nachkriegsgesellschaft, die sich im Wandel befindet. Viele Frauen sind nicht mehr bereit, sich damit zufrieden zu geben, was ihnen von den Männern zugestanden wird. Sie suchen nach ihren eigenen Wegen, haben sie doch während der Kriegsjahre Stärke bewiesen und die Gesellschaft am Laufen gehalten.

Ein historischer Kriminalroman zeichnet sich durchgründliche Recherchearbeit aus, die durch stimmige Beschreibungen die atmosphärischen Besonderheiten dieses Zeitabschnitts aufzeigt. Das ist der Autorin hier sehr gut gelungen, und auch die Einbettung des spannenden Kriminalfalls lässt durch seine Vielschichtigkeit nichts zu wünschen übrig. Allerdings hätte ich mir mehr Informationen zu der Vergangenheit der Protagonistin gewünscht. Diese werden zwar hier und da häppchenweise in Nebensätzen eingestreut, reichen aber bei weitem nicht aus, um sich ein umfassendes Bild von Ida Rabe zu machen. Offenbar sollen/müssen wir uns gedulden und darauf hoffen, dass unser Informationsbedürfnis in den nachfolgenden Bänden, die ich mit Sicherheit lesen werde, befriedigt wird.

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Bewertung vom 20.01.2023
Miss Bennet
Hadlow, Janice

Miss Bennet


ausgezeichnet

Wenn man Jane Austen-Fans nach ihrer Lieblingsfigur in „Stolz und Vorurteil“ fragt, wird wohl in den seltensten Fällen der Name Mary fallen. Nicht überraschend, denn die mittlere Bennet-Schwester wird von der Autorin nicht sonderlich beachtet. Ihr fällt im Wesentlichen die Aufgabe zu, die Eigenschaften ihrer vier Schwestern in das entsprechende vorteilhafte Licht zu rücken, während sie dabei im Schatten bleibt.

Auch in „Miss Bennet“ ist Mary zu Beginn unscheinbar, schüchtern, liebt ihre Bücher mehr als gesellschaftliche Verpflichtungen und rauschende Bälle. Ihre Schwestern sind mittlerweile alle verheiratet, nur sie ist übriggeblieben und das lässt sie ihre Mutter tagtäglich spüren. Noch immer ist sie diejenige, die übersehen wird, aber da sie hier als Hauptfigur aus dem Schatten tritt, zieht sie die Aufmerksamkeit der Leser auf sich. Durch Rückblicke in ihr Aufwachsen weckt die Autorin gleichzeitig Verständnis, Mitleid und Sympathie, aber auch Freude über ihr allmähliches Erwachen nach dem Tod des Vaters. Die entscheidende Zäsur in ihrem Leben, die ihr den Boden unter den Füßen wegzieht. Nicht nur, dass sie sich komplett verloren fühlt, sie muss auch ihre Heimat verlassen Aber es ist dieser Schritt ins Unbekannte, der lange verborgene Stärken zutage bringt und letztlich dafür verantwortlich ist, dass Mary ihren Platz in der Welt findet.

Ich habe den Roman sehr gerne gelesen und natürlich währenddessen auch Vergleiche mit der literarischen Vorlage angestellt. Die Autorin behält deren Ton bei, stellt aber in ihrer Neuinterpretation des Klassikers durch die Fokussierung auf Mary und deren Selbstfindung aktuelle Themen in den Mittelpunkt, die der heutigen Zeit angemessen sind. Natürlich empfehle ich den Roman allen Jane Austen-Fans, aber auch all denjenigen, die dem Bridgerton-Hype erlegen sind.

Bewertung vom 18.01.2023
Zu wenig Zeit zum Sterben / Eddie Flynn Bd.1
Cavanagh, Steve

Zu wenig Zeit zum Sterben / Eddie Flynn Bd.1


ausgezeichnet

Nie mehr einen Fuß in ein Gerichtsgebäude setzen, das hat sich Eddie Flynn geschworen, nachdem er einen seiner Mandanten komplett falsch eingeschätzt hat. Mit verheerenden Folgen. Doch es gibt Situationen, in denen man alles über den Haufen werfen muss, was man sich vorgenommen hat. Vor allem dann, wenn nicht nur das eigene Leben, sondern auch das Leben eines Kindes bedroht ist.

Olek Volchek, Oberhaupt der New Yorker Bratwa, hat eine Mordanklage am Hals, und es steht außer Frage, dass er einen Schuldspruch zu erwarten hat. Ein ausgefuchster Anwalt wie Eddy könnte vielleicht das Verfahren noch drehen, aber wer will schon einen Mafioso in einem aussichtslosen Verfahren verteidigen? Volchek fackelt nicht lange, sondern beauftragt seine Männer, sich Eddy zu schnappen und eine Bombe an seinem Körper zu patzieren. Zeitgleich wird seine Tochter Amy entführt und als Druckmittel eingesetzt, denn wenn Eddy keinen Freispruch für Volchek erreicht, müssen beide sterben. Also tut er, was er tun muss und in seinem früheren Leben als Trickbetrüger gelernt hat, um das Leben seiner Tochter zu retten. Ihm bleiben 48 Stunden…

„Zu wenig Zeit zum Sterben“ ist der erste Band der Eddie-Flynn-Reihe des nordirischen Autors und Bürgerrechtsanwalts Steve Cavanagh und völlig anders aufgebaut, als wir es von den üblichen Justizthrillern à la Grisham kennen. Kaum Fakten oder langwierige Erklärungen zum amerikanischen Rechtssystem, sondern eine verzwickte Story mit hohem Tempo vom Anfang bis zum Ende. Eddy Flynn ist ein Anwalt, der um Ecken denkt, wie ein Schachspieler der Anklage immer einen Schritt voraus ist, Staatsanwälte und Zeugen mit unerwarteten Einwänden aus dem Konzept und genau dorthin bringt, wo er sie haben will. Sich nicht scheut, auch alte Kontakte zur Unterwelt zu aktivieren, wenn ihm keine andere Wahl bleibt. Dabei intelligent geplottet, durchgehend spannend und hier zusätzlich durch den Zeitfaktor voller Dramatik. Und natürlich gibt es auch jede Menge überraschende Wendungen.

Als 2015 „Zu wenig Zeit zum Sterben“ erstmals in deutscher Übersetzung erschien, ging das Buch in der Flut der Neuerscheinungen unter. Und auch „Gegen alle Regeln“, die Fortsetzung der Serie, blieb weitgehend unbeachtet. Zum Erscheinungstermin von „Thirteen“ (Bd. 4) wurde nun der gesamten Reihe ein einheitlicher, ansprechender neuer Look verpasst und der englische Originaltitel beibehalten. Eine kluge Entscheidung, wobei ich mir allerdings gewünscht hätte, dass man bei den Erscheinungsterminen der Neuauflage die Chronologie eingehalten hätte.

Bewertung vom 17.01.2023
Kreiseziehen
Shipstead, Maggie

Kreiseziehen


ausgezeichnet

„Great Circle“, so der Originaltitel von Maggie Shipsteads „Kreiseziehen“: Shortlist Booker Prize 2021, Nominierung für den Women’s Prize for Fiction, Best Book of the Year von unzähligen amerikanischen und englischen Publikationen. Alle aufzuzählen würde den Rahmen sprengen. Aber worum geht es in diesem von allen Seiten hochgelobten Roman?

Hadley Baxter, eine Hollywood-Actress, die weniger wegen ihres schauspielerischen Talents als vielmehr wegen zahlreichen Skandalen in den Schlagzeilen ist, wird quasi als letzte Chance die Rolle in einem Biopic über Marian Graves angeboten. Marian Graves, Fliegerin aus Leidenschaft, in den fünfziger Jahren spurlos vom Radar verschwunden. Als erster Mensch wollte sie die Erde entlang der Längsachse von Pol zu Pol umrunden, ein waghalsiges Vorhaben, das nicht gelang. Alles, was von ihr geblieben ist, ist ihr Logbuch, das Jahrzehnte später in einer verlassenen Forschungsstation in der Antarktis entdeckt wird und das Leben einer Frau beschreibt, die seit frühester Kindheit einen Traum hatte, für den sie alles in die Waagschale geworfen hat. Eine Frau, die Vorschriften und Grenzen nicht akzeptierte, die ihren Weg trotz aller Widrigkeiten gegangen ist, ihren Traum von grenzenloser Freiheit mit allen Konsequenzen gelebt hat. Bis zum Ende.

Zwei Frauen, zwei Zeitebenen, zwei Erzählstränge. Vergangenheit und Gegenwart.

In der Vergangenheit, wesentlich umfangreicher, detaillierter und gelungener, begleiten wir Marian Graves von frühester Kindheit, hinein ins Erwachsenenalter und schließlich bis zu ihrem letzten Flug. Die Mutter tot, der Vater verschwunden, mit ihrem Bruder in prekären Verhältnissen bei einem Onkel aufgewachsen, dessen Interesse weniger den Kindern als vielmehr dem Hochprozentigen gilt. Die Bekanntschaft mit einem Kunstflieger und dessen Frau weckt in ihr den Wunsch nach Freiheit. Davonfliegen ohne Beschränkungen, alles hinter sich lassen. Und diese Abenteuerlust, dieses Verlangen, das sie ausmacht und dem sie alles unterordnet, wird zum Antrieb für ihr weiteres Leben.

Die Gegenwart gehört Hadley Baxter, die sich in der Vorbereitung auf den Film intensiv mit Marians Leben beschäftigt. Viele Punkte in deren Biografie decken sich mit Erlebnissen, aber auch mit Einschränkungen, die sie während ihres Lebens und ihrer Karriere hinnehmen musste, insbesondere in den Bereichen, in denen sie von männlichem Goodwill abhängig war.

Ich könnte noch ewig weiterschreiben, aber das würde diesem üppigen, abwechslungsreichen Roman in keinster Weise gerecht, der in seiner Stoffvielfalt so facettenreich und fesselnd, bis in die Nebenfiguren voll mit vielschichtigen, glaubhaft agierenden Charakteren und dazu noch sprachlich auf höchstem Niveau ist. Lesen. Unbedingt!

Bewertung vom 15.01.2023
Das dunkle Lied der Toten / Leningrad-Trilogie Bd.2
Creed, Ben

Das dunkle Lied der Toten / Leningrad-Trilogie Bd.2


ausgezeichnet

Winter 1952/53. In einem sibirischen Arbeitslager hoch im Norden kämpft der Milizleutnant Revol Rossel ums Überleben. Um ihn herum fordern die harten Lebensbedingungen, die Zwangsarbeit in immerwährender Kälte, der Hunger und die Gewaltexzesse der Bewacher und Mitgefangenen tagtäglich Opfer. Aber Rossel, der die Belagerung von Leningrad mit- und überlebt hat, lässt sich nicht unterkriegen.

Die Verbannung in den GULAG hat er seinem mittlerweile im militärischen Geheimdienst tätigen Erzfeind Major Nikitin zu verdanken, und deshalb überrascht es ihn umso mehr, als dieser im Lager auftaucht und ihm die Freiheit anbietet. Aber sie hat ihren Preis, denn im Gegenzug soll Rossel ihn bei der Aufklärung einer besonders perfiden Mordserie in Leningrad unterstützen. Ein Unbekannter hat es auf altgediente Soldaten abgesehen, tötet sie, schneidet ihnen die Zunge heraus und platziert an deren Stelle Zettel mit Machiavelli-Zitaten. Rossel hat kaum eine Wahl, denn wenn er nicht in der Verbannung sterben will, muss er, ob er will oder nicht, den Vorschlag Nikitins annehmen. Und so beginnt die Zusammenarbeit dieser beiden in Feindschaft verbundenen Männer, in deren Verlauf unerwartete Ergebnisse zutage gefördert werden, die in das nationalsozialistische Deutschlands zurückreichen.

In „Das dunkle Lied der Toten“ schreibt Ben Creed (Pseudonym des britischen Autorenduos Chris Rickaby und Barney Thompson) die Leningrad-Trilogie fort und nimmt uns mit in das von Angst und Misstrauen geprägte stalinistische Russland mit seinen Geheimdiensten. Jeder bespitzelt jeden, niemand kann sicher sein. Die Story ist spannend und sehr komplex, ein Minimum an Kenntnis der historischen Zusammenhänge schadet nicht. Das Besondere an dieser Reihe ist aber die Dynamik, die sich aus dem Zusammenspiel zweier Protagonisten ergibt, die verschiedener nicht sein könnten. Sie haben keine Gemeinsamkeiten, scheinen aber in ihrem Willen, die Wahrheit aufzudecken, zumindest in diesem Fall am gleichen Strang zu ziehen. Sie ergänzen sich. Nikitin, bestens vernetzt, beschafft Informationen, Rossel prüft, analysiert, ordnet ein, stellt Zusammenhänge her, denen sie nachgehen. Nicht ungefährlich in einer Zeit, in der ein falsches Wort den Tod oder die lebenslange Verbannung bedeuten kann.

„Das dunkle Lied der Toten“ ist ein atmosphärischer Thriller, der am ehesten Ähnlichkeiten mit den Romanen der Leo-Demidow-Trilogie von Tom Rob Smith hat, was allerdings nicht die schlechteste Referenz ist. Allen historisch interessierten Lesern nachdrücklich empfohlen.

Bewertung vom 10.01.2023
Ginsterhöhe
Caspari, Anna-Maria

Ginsterhöhe


sehr gut

Der 1. Weltkrieg ist zu Ende. Die Überlebenden kehren in ihre Heimat zurück, jeder von ihnen verwundet. Unsichtbar die einen, sichtbar die anderen. Zu letzteren gehört Albert, ein Eifelbauer aus Wollseifen, dessen Gesichtshälfte durch eine Verwundung entstellt ist, die dafür sorgt, dass seine Frau auf Distanz zu ihm geht (was allerdings kaum relevant für die Handlung ist). Auch wenn das tägliche Leben schwierig und die Bestellung der Felder mangels ordentlicher Gerätschaften problematisch ist, aufgeben ist und war keine Option, weder für die Zurückgebliebenen noch für die Heimkehrer. Allmählich blüht das Dörfchen wieder auf und der Fortschritt hält Einzug. Doch mit der allmählichen Ausbreitung des Nationalsozialismus und der Einflussnahme durch dessen Unterstützer aus ihren eigenen Reihen, steht den Wollseifenern die nächste Bewährungsprobe ins Haus. Mit ungeahnten Folgen für die Menschen, das Dorf und die Region.

„Ginsterhöhe“ ist sowohl Heimatkunde als auch ein stückweit Zeitgeschichte. Anna-Maria Caspari, lebt in der Eifel und hat sich zu diesem Roman durch die wechselhafte Geschichte des Dörfchens Wollseifen inspirieren lassen, das unweit der ehemaligen NS-Schulungsstätte Vogelsang lag. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Gelände von den Briten besetzt, die das Dorf räumen ließen, sämtliche Gebäude zerstörten und dort einen Truppenübungsplatz errichteten, der ab 1950 vom belgischen Militär bis ins Jahr 2006 als Truppenübungsplatz genutzt wurde. Auf Initiative des Fördervereins Wollseifen wurden ab diesem Zeitpunkt zahlreiche Ruinen restauriert und das Gelände zu einer Besinnungs- und Gedenkstätte auf- und ausgebaut, die für die Öffentlichkeit zugänglich und als Bodendenkmal eingetragen ist.

Verpackt in eine informative Romanhandlung (zwischen 1919 und 1949) zeigt Caspari an individuellen Schicksalen anschaulich die Jahre zwischen den beiden Weltkriegen, die Anstrengungen, die die Rückkehr zur Normalität ermöglichen sollte, aber auch die verheerenden Auswirkungen, die das Erstarken des Nationalsozialismus für diese strukturschwache Region hatte.

Bewertung vom 08.01.2023
Tea Time
Noll, Ingrid

Tea Time


gut

Es ist schon eine schräge Truppe, die sich im Weinheimer „Club der Spinnerinnen“ zusammengefunden hat. Sechs Freundinnen mit unterschiedlichen Zwangsstörungen, Spleens und Freizeitbeschäftigungen, wobei die Beobachtung von Wolkenformationen oder das zwanghafte Kämmen von Teppichfransen doch eher harmlos ist. Ganz anders sieht es aus, wenn ein Außenstehender die Grenzen überschreitet, zudringlich wird und die warnenden Untertöne ignoriert. Dann sind die Frauen solidarisch, denn wer nicht hören will, muss fühlen – auch das kennen wir bereits aus früheren Romanen der Autorin. Deshalb überrascht es nicht, dass männliche Ignoranz und Unverschämtheit unbarmherzig von den Spinnerinnen bestraft wird.

Man weiß, was man bekommt, wenn man zu einem Roman von Ingrid Noll greift, mittlerweile 87 Jahre alt und produktiv wie eh und eh, denn sie weicht auch in ihrem neuen Roman „Tea Time“ nicht von ihrem bewährten Konzept ab: Mehr oder weniger skurrile Protagonistinnen, mal jünger, mal älter, nach außen hin unauffällig. Aber sie haben es faustdick hinter den Ohren, verfügen über jede Menge kriminelle Energie und schrecken auch nicht davor zurück, unliebsame Zeitgenossen, vorzugsweise männlichen Geschlechts, ins Jenseits zu schicken. Und die Methode? Selbst hier gibt es kaum Variationen, denn Frau Noll geht offenbar davon aus, dass Frauen ausschließlich mit Gift töten.

Keine Frage, die Romane sind unterhaltsam, bestens geeignet für Leserinnen, die unblutige, gemütliche Kriminalromane mögen, deren Schwerpunkt auf liebenswert gezeichneten Personen, schwarzem Humor und feiner Ironie liegt. Aber Spannung ist leider Fehlanzeige. Vielleicht wäre es doch einmal an der Zeit für Veränderung, für neue Impulse, um so der Vorhersehbarkeit der Stories ein Schnippchen zu schlagen.