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Buchbesprechung
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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

Bewertungen

Insgesamt 368 Bewertungen
Bewertung vom 15.08.2022
Sturmrot / Eira Sjödin Bd.1
Alsterdal, Tove

Sturmrot / Eira Sjödin Bd.1


sehr gut

REZENSION – Vor vier Jahren trat in Schweden ein verschärftes Sexualstrafgesetz in Kraft, im Volksmund auch Zustimmungsgesetz genannt. Seitdem werden auch sexuelle Übergriffe als Vergewaltigung gewertet, die zuvor anders klassifiziert wurden. So wurde erst 2018 der Straftatbestand der „fahrlässigen Vergewaltigung“ eingeführt. Entscheidend ist seitdem, ob für sexuelle Handlungen ein beiderseitiges, klar zum Ausdruck gebrachtes Einverständnis bestand. Selbst bei sexuellen Handlungen, bei denen die Frau nur auf Drängen des Mannes einwilligt, muss dies vor Gericht nicht zwingend als Zustimmung anerkannt werden, da auch dieses Ja nicht freiwillig erfolgte.
Zurückliegende Fälle, die zur Änderung des schwedischen Sexualstrafrechts sowie zum veränderten Umgang der Polizei mit verdächtigten Kindern führten, bilden den Hintergrund zu dem kürzlich im Rowohlt Verlag veröffentlichten Kriminalroman „Sturmrot“ der schwedischen Schriftstellerin Tove Alsterdal. Der bereits mit dem Schwedischen Krimipreis 2020 und dem Skandinavischen Krimipreis 2021 ausgezeichnete Roman ist Auftakt einer vielversprechenden Trilogie um die Dorfpolizistin Eira Sjödin, die in der nordschwedischen Region Ådalen in die Aufklärung eines Mordfalles eingebunden wird.
Olof Hagström war auf der Überführungsfahrt eines von seinem Chef gekauften Oldtimers spontan in seinen Geburtsort abgebogen, den er vor 23 Jahren verlassen musste. In seinem Elternhaus findet er den Vater, zu dem er seitdem keinen Kontakt hatte, erstochen in der Badewanne. Zu den Ermittlungen wird die ortskundige Mittdreißigerin Eira Sjödin hinzugezogen, die sich kürzlich aus Stockholm in die heimatliche Provinz hatte versetzen lassen, um ihre an Demenz erkrankte Mutter zu versorgen.
Von Nachbarn beim Verlassen des Tatorts vermutlich auf frischer Tat erwischt, wird Olof Hagström sofort als Tatverdächtiger festgenommen, obwohl er den Mord bestreitet. Zu seinen Lasten spricht allerdings die Tatsache, dass er bereits vor 23 Jahren als 14-Jähriger die 16-jährige Lina Stavred vergewaltigt und ermordet hatte. Erst nach wiederholtem Widerspruch hatte er letztlich den Mord damals doch zugegeben, konnte als Minderjähriger jedoch nicht vor Gericht gestellt werden. Stattdessen wurde er vom Vater verstoßen, kam in ein Jugendheim und wurde seitdem nie wieder in seinem Heimatdorf gesehen. Eira Sjödin, die sich im Gegensatz zu ihren ortsfremden Kollegen im Ermittlerteam mit den Menschen und deren dörflicher Lebensart vertraut ist, dringt tiefer in die Hintergründe ein, die eine Verbindung zwischen dem aktuellen und dem damaligen, juristisch längst abgeschlossenen Mordfall als Folge einer Vergewaltigung wahrscheinlich werden lassen.
Tove Alsterdal beschreibt ausführlich Landschaft, Örtlichkeiten und Menschen der nordschwedischen Küstenregion und schafft es dadurch, die charakterlich unterschiedlich geprägten Küsten- und Dorfbewohner bis hin zu den Randfiguren ihres Romans mit deren alltäglichen, auch hintergründig verborgenen Sorgen und Problemen lebendig werden zu lassen. Dies gilt in erster Linie natürlich für Eire Sjödin, die neben ihrer beruflichen Beanspruchung auch durch die Pflege und Sorge um die demente Mutter Kerstin in Anspruch genommen wird. Hinzu kommt die Unsicherheit ihrer eigenen Lebensplanung, einerseits der Mutter wegen als Dorfpolizistin in der Provinz zu versauern oder Karriere bei der Mordkommission in Sundsvall zu machen, andererseits als Mittdreißigerin vielleicht doch noch eine Familie gründen zu wollen.
„Sturmrot“ ist kein spannungsgeladener Action-Krimi, obwohl er gegen Ende in seiner Dramatik anzieht und nach logischem Aufbau des Geschehens für Ermittlerin Eire eine unangenehme Wendung nimmt. „Sturmrot“ ist ein in mehreren Zeit- und Handlungsebenen strukturierter Roman, der vielleicht deshalb stellenweise etwas langatmig wirkt. Allerdings mag man diesem ersten Band zugute halten, dass er in seiner Szenerie und zur Vorstellung der wichtigsten Protagonisten, zu denen neben Mutter Kerstin vo

Bewertung vom 07.08.2022
Das wahre Motiv / Offizier Gryszinski Bd.2
Seeburg, Uta

Das wahre Motiv / Offizier Gryszinski Bd.2


ausgezeichnet

REZENSION – Ein Serienmörder schlägt im Fasching des Jahres 1895 im Münchner Künstlerviertel zu. Ausgerechnet der preußische Reserveoffizier Wilhelm Freiherr von Gryszinski, der mit Kunst und Künstlern nur wenig anfangen kann, wird vom Münchner Polizeidirektor Ludwig von Welser (1841-1931) mit der Ermittlung beauftragt. Doch der junge Kriminalist, den der Polizeidirektor erst vor eineinhalb Jahren aus Berlin als Sonderermittler zur königlich bayerischen Gendarmerie geholt hat und der sich schon bald nach Dienstantritt in seinem ersten Mordfall bewähren konnte, ist wie kein anderer für diesen Auftrag geeignet: Er hatte als junger Jurist beim berühmten Grazer Strafrechtler Hans Groß (1847-1915), dem Gründer der modernen Kriminologie, hospitiert und soll nun in der bayerischen Hauptstadt die neuen, von Groß erfundenen kriminalistischen Methoden wie Fingerabdruck- und Spurensicherung am Tatort einführen, zumal es in München noch keine richtige Kriminalabteilung gibt. So macht sich der kürzlich zum preußischen Major der Reserve beförderte Freiherr mit seinem neumodischen, ebenfalls von Hans Groß entwickelten Tatortkoffer, der bei der Gendarmerie inzwischen Gryszinskis Markenzeichen ist, und, unterstützt von den beiden Wachtmeistern Vogelmaier, genannt Spatzl, und Eberle, an die Ermittlungsarbeit in einem von Künstlern geprägten, moralisch lockeren Umfeld, das ihm als Preußen mental völlig fremd ist.
Nach ihrem erfolgreichen Romandebüt „Der falsche Preuße“ (2021) über Gryszinskis ersten Mordfall, konzentriert sich Uta Seeburg in ihrem Folgeband „Das wahre Motiv“, kürzlich im Verlag Harper Collins erschienen, auf das bunte Faschingstreiben in Schwabing, dem als „Schwabylon“ berüchtigten Viertel mit seinen sogar für Münchner Konservative allzu lockeren Moralvorstellungen und rauschenden Festen. Auf der Suche nach dem unheimlichen Mörder, der seine Opfer in kunstvollen, an Gemälde der klassischen Mythologie erinnernde Posen drapiert, muss der preußische Kriminalist tief ins Umfeld der Schwabinger Bohème eintauchen, sich mit konservativen Malerfürsten wie Franz von Lenbach und Franz von Stuck als Vertreter der konservativen Künstlergesellschaft Allotria abgeben ebenso wie mit modernen Künstlern der jungen Münchner Secession oder mit progressiven Dichtern wie Frank Wedekind und Oskar Panizza.
Als wäre dies nicht genug, überrascht auch noch Ehefrau Sophie ihren Mann und die entsetzten Schwiegereltern aus altem preußischen Adel mit einem selbst verfassten Kriminalroman, für dessen Vermarktung sie sogar schon den jungen, kürzlich nach München übersiedelten Verleger Albert Langen (1869-1909) gewinnen konnte. Und zu allem Überfluss nistet sich dann noch der preußische Geheimdienstmitarbeiter Carl-Philipp von Straven ein weiteres Mal in Gryszinskis Wohnung ein mit dem Auftrag, die junge Künstlergruppe auszuspionieren. In ihr vermutet die preußische Regierung eine anarchistische Zelle, die ein Attentat auf den Kaiser plant. Wieder schon im ersten Fall steckt Gryszinski in dem Gewissenskonflikt, entweder seine Ehre als bayerischer Beamter zu verletzen oder jene als preußischer Offizier zu verlieren.
Auch in ihrem zweiten Krimi schafft es die promovierte Literaturwissenschaftlerin Uta Seeburg ausgezeichnet, diese unruhige, vom gesellschaftlichen Wandel geprägte Zeit der Jahrhundertwende – sei es in der Kunst, in der Gesellschaft des Adel oder der Kriminalistik – historisch authentisch und atmosphärisch dicht einzufangen. Vor allem aber gelingt der gebürtigen Berlinerin, die selbst seit vielen Jahren in München lebt, die mentalen und kulturellen Unterschiede zwischen Preußen und Bayern augenzwinkernd und humorvoll zu zeigen, deren Grenzen letztlich doch fließend erscheinen: Seeburgs Preuße aus Berlin entwickelt recht schnell einen unerwartet unpreußischen Hang zum Genuss bayerischer Leckereien wie Bier und Schweinsbraten. Nicht zuletzt diese „Reibung“ bekannter Klischees über Preußen und Bayern geben den Krimis um den preußischen Offizier in M

Bewertung vom 31.07.2022
Samson und Nadjeschda
Kurkow, Andrej

Samson und Nadjeschda


sehr gut

REZENSION – „Kriminalroman“ steht unter dem Titel. Doch der im Juli vom Diogenes Verlag veröffentlichte Roman des in Russland geborenen ukrainischen Schriftstellers Andrej Kurkow (61), den manche mit dem Japaner Haruki Murakami gleichsetzen, ist viel mehr als das: „Samson und Nadjeschda“ ist eine mit liebevoll charakterisierten Protagonisten besetzte Mischung aus Liebesgeschichte, historischem Roman und – ja, letztlich dies auch – einem Krimi. In seinem fast poetisch klingenden Sprachstil fühlt man sich an russische Klassiker erinnert.
Im nachrevolutionären russischen Bürgerkrieg (1918-1922), in dem die sowjetischen Bolschewiken gegen die unübersichtliche Gruppe aus Konservativen, Demokraten, gemäßigten Sozialisten, Nationalisten und Weißer Armee kämpften, hatten die Bolschewiken im Januar 1919 endlich die ukrainische Stadt Kiew erobert. Wenig später begegnen wir auf einer Straße dem jungen Samson und seinem verwitweten Vater ausgerechnet in jenem tragischen Moment, als Samsons Vater von marodierenden Rotarmisten ermordet und ihm selbst mit dem Säbel ein Ohr abgeschlagen wird. Dies ist die Schlüsselszene zum Auftakt einer Krimireihe, in deren Abfolge der nun zum Vollwaisen gewordene Samson eher zufällig und ohne jegliche fachliche Vorbildung in die gerade entstehende sowjetische Polizei aufgenommen wird. Eigentlich wollte er nur die beiden in seine Wohnung einquartierten diebischen Rotarmisten melden. Doch seinem künftigen Vorgesetzten Najden reicht schon Samsons Fähigkeit, gute Berichte zu formulieren, denn trotz aller Revolutionswirren scheint auch bei den Sowjets der Bürokratismus wichtiger als die Aufklärung von Kriminalfällen. War das von seinen unerwünschten „Untermietern“ in Samsons Wohnung abgestellte Diebesgut bisher sein alleiniges Problem, so wird die offizielle Ermittlung gegen die beiden Diebe nun unerwartet zum ersten Fall des völlig unerfahrenen Polizisten.
Schon allein die Tatsache, dass bis zur Aufnahme Samsons in die Polizei und zum Beginn seiner Ermittlungsarbeit etwa 90 der 370 Seiten zu lesen sind, lässt erkennen, das nicht der Kriminalfall im Zentrum des Romans steht, sondern Samsons Ermittlungen dem Roman seinen gestalterischen Rahmen geben. Im Grunde geht es dem Autor um die Darstellung der politisch wie gesellschaftlich vielschichtigen Situation in den Wirren des Bürgerkriegs, in dessen Verlauf es für die Bürger Kiews ziemlich unübersichtlich war, wer sie gerade beherrschte. Man tauschte zum Leben, was von Wert war, oder zahlte mit unterschiedlichen Währungen, verausgabt von bisherigen Regierungen, wobei der alte Rubel des untergegangenen Zarenreichs immer noch die stabilste Währung blieb.
Andrej Kurkow schafft es in seinem Buch, das Alltagsleben des Jahres 1919 in Kiew lebendig werden zu lassen und uns eingängig und authentisch die Probleme der Stadtbewohner zu schildern. Bald wird uns deutlich, dass sich die damalige Situation der ukrainischen Bevölkerung nur bedingt von der aktuellen Situation in den heute von russischen Truppen besetzten Ostprovinzen unterscheidet: Das Leben muss weitergehen, egal wer gerade die Stadt regiert. So absurd diese Situation damals wie heute ohnehin schon erscheint, steigert Andrej Kurkow dies ins Skurrile: So hört Polizist Samson ohne Ohrmuschel mehr als zuvor und kann durch sein abgeschlagenes Ohr, das er in einer Blechdose wechseln daheim oder im Büro aufbewahrt, trotz körperlicher Abwesenheit sogar das dortige Geschehen mithören – die Vorstufe heutiger Abhörmechanismen.
Wer in „Samson und Nadjeschda“ einen typischen Kriminalroman erwartet, wird also enttäuscht sein, zumal der von Samson zu lösende Fall keinerlei Dramatik bietet und der Roman insgesamt einige Längen hat. Auch die Figur der Nadjeschda – obwohl im Titel gleichberechtigt neben Samson – kommt hier noch zu kurz. Doch als Auftakt einer noch ausbaufähigen Krimireihe macht dieser erste Band auf die Fortsetzung neugierig: Denn während Samsons Abwesenheit wird sein Büro-Schreibtisch von Unbekannten durchwü

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Bewertung vom 16.07.2022
Die Paradiese von gestern
Schneider, Mario

Die Paradiese von gestern


sehr gut

REZENSION - Früher war alles besser? Es ist müßig, darüber nachzudenken oder den „Paradiesen von gestern“ nachzutrauern. Stattdessen gilt es, sich den Herausforderungen der neuen Zeit zu stellen und sein künftiges Leben danach auszurichten. Dies ist die Kernaussage des kürzlich im Mitteldeutschen Verlag veröffentlichten Romans „Die Paradiese von gestern“. In seinem eindrucksvollen Debütroman schildert Mario Schneider (52) in kleinen, scheinbar alltäglichen Szenen, wie seine aus drei völlig unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen stammenden Protagonisten mit diesen Herausforderungen umzugehen lernen – oder auch nicht.
Die junge Schauspielerin Ella und der angehende Musikstudent René haben nach dem Zusammenbruch des DDR-Sozialismus ihre ostdeutsche Heimat verlassen und prallen im Jahr 1990 auf ihrer Frankreich-Reise erstmals auf den Kapitalismus, im Roman vertreten durch den jungen Adligen Alain, in Paris als Makler für Luxusimmobilien erfolgreich. Er ist der scheinbar ungeliebte Sohn der Gräfin Charlotte de Violet, die als Nachfahrin eines tausend Jahre alten, ehemals hoch angesehenen, jetzt aber völlig verarmten Adelsgeschlechts aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Sie lebt auf ihrem längst verwahrlosten Weingut im verstaubten Schloss ihrer Ahnen allein mit Vincent, der ihr als einziger ihrer Angestellten als Diener, Koch und Gärtner treu blieb. Das ostdeutsche Liebespaar wird im leeren Schloss, das die letzten Jahrzehnte als Hotel herhalten musste und in Kürze verkauft werden soll, als letztes Gästepaar empfangen. In den nächsten Tagen lernt René in Begleitung Alains die Glitzerwelt von Paris und deren Jetset kennen, während Ella im Schloss zurückbleibt, um über sich und ihre Liebe zu René nachzudenken. Während ihrer Gespräche mit Diener Vincent erfährt sie, dass er seit einer kurzen Affäre mit der Gräfin vor 30 Jahren in Biarritz in sie verliebt ist, sich ihrer Liebe aber nicht sicher ist.
Der Autor vermag es mit erstaunlicher Leichtigkeit, diese sich auf seine Protagonisten unterschiedlich auswirkenden neuzeitlichen Herausforderungen unaufdringlich zu verdeutlichen. Nach und nach werden, obwohl die Handlung des Romans scheinbar nur dahinplätschert, die gewaltigen Umbrüche erkennbar, die die neue Zeit von Gräfin Charlotte und ihrem „Lebensbegleiter“ Vincent fordert. Beide halten an veralteten Konventionen fest, die ihnen ein Liebesverhältnis verbietet, und kreisen seit Biarritz um einander „wie zwei Planeten, deren Elipsen sich einmal berührt hatten und die nun im festen Verbund … eine gemeinsame Bahn beschritten, nur wenige Meter voneinander entfernt.“ Während die Gräfin eine Zukunft nach Verkauf ihres Familienschlosses für sich ausschließt, erkennt Vincent eine neue Chance: „Das ist nicht das Ende, es ist der Anfang.“
Auf anderer Ebene, aber nicht minder gewaltig, sind die Anforderungen, die die neue Zeit an René und Ella stellt. „Die Sachen, die vorbei sind, sind nicht mehr von Interesse. … Sie werden mit dem, was ist, was jetzt ist, umgehen müssen, und das wird Sie fordern, glauben Sie mir, es wird Ihnen alle Kraft abverlangen“ muss sich René in Paris sagen lassen. „Aber Sie sind jung. Schlagen Sie sich einen Weg durch den Dschungel!“ Nach den wenigen Tagen im Schloss und in Paris wird Ella und René bewusst, dass ihr Wunsch, nach ihrem Urlaub in ihre „verklärte Vergangenheit“ zurückkehren zu dürfen, unerfüllt bleiben muss und sie den „Liebenden, die sie noch vor Stunden gewesen waren … nie wieder begegnen würden“.
Schneiders Roman verführt durch seine malerische, poetische Sprache, die die Lektüre der 550 Seiten leicht macht und durch bildhafte Schilderungen selbst kleinster Szenen für manche vermeidbare Länge entschädigt. Es ist diese Sprache und die liebevolle Charakterisierung seiner so unterschiedlichen Protagonisten, die uns tief ins Geschehen hineinzieht und, obwohl die Handlung ohne spannende Aktion auskommen muss, dennoch fesselt. Es sind die leicht und locker anmutenden, inhaltlich aber tiefgehenden, oft

Bewertung vom 09.07.2022
Der denkwürdige Fall des Mr Poe
Bayard, Louis

Der denkwürdige Fall des Mr Poe


sehr gut

REZENSION - „In zwei oder drei Stunden werde ich tot sein“, beginnt Erzähler Augustus „Gus“ Landor im Roman „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“ seine Geschichte. Und doch reicht ihm die Zeit, um ausführlich auf 500 Seiten über seine Ermittlungen zur Aufklärung von zwei Morden an jungen Kadetten im Herbst 1830 an der US-Militärakademie West Point zu berichten. Der ehemalige New Yorker Polizeidetektiv hat sich aus Gründen, die wir in dem bereits 2006 im Original, aber erst jetzt nach 16 Jahren auf Deutsch im Insel Verlag veröffentlichten Kriminalroman des amerikanischen Schriftstellers Louis Bayard ganz am Schluss erfahren, als 48-jähriger „Constable im Ruhestand mit schwacher Lunge und Kreislaufproblemen“ in einem Haus nahe der Militärakademie zurückgezogen. Er wird nun von der Kommandantur beauftragt, diese beiden Morde ohne großes Aufsehen aufzuklären.
Der erste Mord hatte einen grausamen Fortgang: Der in der Krankenstation der Militärakademie zur Untersuchung aufgebahrte Leichnam war mitten in der Nacht gestohlen worden. Als man ihn wiederfand, war dem toten Kadetten das Herz entnommen worden. Schon bald wird ein zweiter Kadett ermordet. Da die Situation immer rätselhafter wird, Gus Landor aber verdeckt ermitteln soll und ihm der unbegleitete Zugang zum Militärgelände verboten bleibt, fordert er einen Kadetten als Assistenten an, der seine Kameraden und das Geschehen innerhalb des Kasernengeländes für ihn beobachten und ihm regelmäßig berichten soll. Landors Wahl fällt auf den poetisch veranlagten Edgar Allan Poe (1809-1849), der viele Jahre später durch seine Kriminal- und Schauergeschichten weltberühmt werden sollte, zum jetzigen Zeitpunkt aber gerade im Sommer 1830 als Kadett in West Point aufgenommen worden war. Die Kommandeure sind von Landors Wahl nicht begeistert: In seinem Vierteljahr an der Akademie war Poe bereits zum disziplinarischen Problemfall geworden, durch Alkoholexzesse aufgefallen und hatte etliche Strafpunkte angesammelt.
Die Einbindung einer realen Person in eine fiktive Handlung ist bei US-Autor Bayard nichts Neues: In „Die Geheimnisse des schwarzen Turms (2011) ist der Chef der Pariser Geheimpolizei, François Vidocq (1775-1857), einer der Protagonisten, in „Algebra der Nacht“ (2012) ist es der englische Mathematiker und Universalgelehrte Thomas Harriott (1560-1621). In „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“ erfahren wir nun sehr viel Interessantes über die wilden Jugend- und Entwicklungsjahre Edgar Allan Poes, der nach dem Tod seiner Mutter ungeliebt bei Pflegeeltern aufwachsen musste, sich wohl auch deshalb als 18-Jähriger bei der US-Army verpflichtet hatte und nun 1830 Offizier werden wollte. In Bayards Roman sind Poes Berichte an seinen Auftraggeber Landor keine militärisch nüchternen Beobachtungsprotokolle, sondern in ihrem literarischen Stil lässt der Autor schon den späteren Meister der Kurzgeschichte erkennen.
Bayards Buch wirkt in seiner szenischen Ausführlichkeit und in seinem Sprachstil weniger wie ein Krimi, sondern eher wie ein – wegen der Biografie Poes – auch literarisch interessanter Roman. Erst gegen Schluss wird er durch eine überraschende Wendung noch zum Krimi, wodurch auch der Romantitel „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“ eigentlich erst verständlich wird. Der lockere Plauderton des Autors oder seines Erzählers, der gelegentlich auch direkt seine „sehr geschätzten Leser“ anspricht, macht den Roman zu einer recht unterhaltsamen Lektüre, deren 500 Seiten man trotz einzelner Längen gern liest. Anschließend ist es wohl unvermeidbar, dass man sich – durch diesen Roman neugierig geworden – noch ausführlich mit der Biografie des Schriftstellers Edgar Allan Poe beschäftigt, der zum Zeitpunkt der Romanhandlung in West Point im Jahr 1830 bereits zwei Gedichtbände veröffentlicht hatte und neun Jahre später durch seine Kurzgeschichte „Der Untergang des Hauses Usher“ berühmt wurde.

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Bewertung vom 22.06.2022
Ein Giro in Triest
Klinger, Christian

Ein Giro in Triest


gut

REZENSION – Die Hafenstadt Triest ist nicht zum ersten Mal Schauplatz eines Romans des österreichischen Schriftstellers Christian Klinger (56), der nach Verlagsangabe seit 2017 dort seinen Zweitwohnsitz hat. Bereits in „Blutschuld“ (2017), dem vierten Fall seines Wiener Ermittlers Marco Martin, sowie in der Familiensaga „Die Liebenden von der Piazza Oberdan“ (2011) machte Klinger die Stadt an der Adriaküste zum Ort der Handlung. In seinem kürzlich im Picus Verlag veröffentlichten Roman „Ein Giro in Triest“, Auftakt zu einer historischen Krimireihe, widmet sich Klinger allerdings vollends der heutigen Hauptstadt der italienischen Region Friaul-Julisch Venetien, die über 500 Jahre zum österreichischen Kaiserreich gehörte und erst 1918 zu Italien kam.
In seinem Triest-Krimi geht der Autor in diese letzte Phase der von Österreichern, Italienern, Slowenen und anderen Nationalitäten besiedelten habsburgischen Hafen- und Handelsstadt zurück und lässt seinen jungen Inspektor Gaetano Lamprecht im Jahr 1914 im Umfeld von Monarchisten, nationalistischen Italienern (Irredentisten) und der italienisch-slawischen Unterwelt ermitteln. Schon der italienisch-deutsche Name des Inspektors der Triester Polizei zeigt dessen eigene gespaltene Identität, ist doch sein Vater ein Österreicher und die Mutter eine Italienerin. Scheint es Gaetano Lamprecht anfangs nur mit einem vorgetäuschten Selbstmord eines Soldaten zu tun zu haben, wandelt sich Klingers Roman bald von einem historischen Krimi in einen interessanten Politkrimi, der die politisch brisante Situation in der Vielvölkerstadt aufzeigt: Gerade sind der österreichische Thronfolgerpaar, Erzherzog Franz Ferdinand und seine Ehefrau Sophie, am 28. Juni 1914 in Sarajewo von Gavrilo Princip, einem Mitglied der serbisch-nationalistischen Bewegung Mlada Bosna, ermordet worden. Die Särge des Paares sollen über Triest nach Wien gebracht werden. Doch jetzt drohen Nationalisten mit der Entführung der Särge, was Gaetano verhindern soll. In einem Netz aus Verschwörungen und Korruption gelingt es dem noch jugendlich-forschen und gelegentlich auch unüberlegt handelnden Kriminalisten nur mühsam, die Verschwörer zu entlarven und letztlich dadurch auch seinen Mordfall zu lösen.
Der Soldatenmord und die Jagd nach den Särgen des Thronfolgerpaares geben dem historischen Roman allerdings nur einen Handlungsrahmen, weshalb in „Ein Giro in Triest“ auch keine rechte Spannung aufkommen will. In erster Linie schildert das Buch die schwierige Situation in Triest im politischen wie gesellschaftlichen Umgang mit und zwischen den Bewohnern so unterschiedlicher Nationalitäten, die jede für sich um ihre Rechte und Anerkennung kämpft. Doch diese komplexe Vielfalt beschreiben zu wollen, lähmt zwangsläufig den Handlungsablauf und nimmt dem Krimi die Spannung.
Mag die geschichtliche Recherche dem Autor gelungen sein, was nur Historiker beurteilen können, übertreibt der Autor allerdings dann, wenn er der Handlung wieder zu mehr Spannung verhelfen will: Es ist doch wenig glaubhaft, wenn sein junger Inspektor, so gelenkig und sportlich dieser als trainierter Radrennfahrer auch sein mag, auf offener See ein Kriegsschiff in voller Fahrt nur mit Hilfe eines herabgelassenen Taus entert. Auch die nachfolgende Handlung an Bord scheint kaum glaubwürdig, langweilt zudem in ihrer Detailfreudigkeit.
In seiner Danksagung nennt Autor Klinger ausdrücklich seinen Schriftsteller-Kollegen und Landsmann Günther Neuwirth (55) als Ratgeber. Dieser hat mit seinen beiden historischen, nur wenige Jahre früher in Triest spielenden Krimis „Dampfer ab Triest“ (2021) und „Caffè in Triest“ (2022) mit dem galanten Ermittler Bruno Zabini die Messlatte hochgelegt. Wird man nun von Klinger selbst zum Vergleich gezwungen, muss man feststellen, dass sein „Giro in Triest“ für sich allein betrachtet sich zwar gut lesen lässt, doch gegenüber Neuwirth stilistisch und atmosphärisch noch ein Stück aufzuholen hat.

Bewertung vom 14.06.2022
Kaiserstuhl
Glaser, Brigitte

Kaiserstuhl


sehr gut

REZENSION – Auch in „Kaiserstuhl“, dem dritten kürzlich im List Verlag erschienenen Roman ihrer historischen Buchreihe, lässt Schriftstellerin Brigitte Glaser (67) die Gründungsjahre der deutschen Bundesrepublik wieder lebendig werden. Nach ihrem Bestseller „Bühlerhöhe“ (2016), dem 1952 während der Kanzlerschaft Konrad Adenauers im gleichnamigen Schlosshotel nahe Baden-Baden spielenden Roman, und dem Folgeband „Rheinblick“ (2019) über den Machtkampf Willy Brandts im Wahljahr 1972 mit seinen Parteigenossen Horst Ehmke, Helmut Schmidt und Herbert Wehner in Bonn geht die Autorin in ihrem dritten Band nun wieder zehn Jahre zurück – in den Herbst und Winter 1962 während der Schlussverhandlungen zum deutsch-französischen Freundschaftsvertrag.
Die politische Situation bei der von Bundeskanzler Konrad Adenauer und Frankreichs Präsident Charles de Gaulle angestrebten Beendigung der deutsch-französischen „Erbfeindschaft“ schildert Glaser am Beispiel ihrer badisch-elsässischen Grenzbewohner: In einem Weindorf am badischen Kaiserstuhl lebten bei Kriegsende die Kriegerwitwe Henny Köpfer, Tochter eines Freiburger Weinhändlers, und Paul Duringer, ein aus dem elsässischen Straßburg stammender französischer Soldat, gemeinsam mit dem dreijährigen Kriegswaisen Kaspar auf dem Hof der alten Bäuerin Kätter, Hennys Schwiegermutter und Pauls Tante. Doch die familiengleiche Gemeinschaft zerbrach, als Henny die Hochzeit mit Paul platzen ließ. Paul verschwand daraufhin, Henny baute die Weinhandlung ihres Vaters in Freiburg wieder auf und Kaspar blieb bei der „Großmutter“ zurück. Erst knapp 20 Jahre später treffen Henny und Paul wieder aufeinander. Grund ist die Suche nach einer Champagnerflasche aus einem Nazi-Raubzug im Elsass, die Paul im Auftrag des französischen Sicherheitsdienstes finden soll. Dieser Champagner soll angeblich nach Unterzeichnung des Élysée-Vertrags von Adenauer und de Gaulle als Zeichen der Aussöhnung getrunken werden.
Vor dem realen politischen Hintergrund erzählt Glaser in einer interessanten Mischung literarischer Genres vom wechselhaften Schicksal der Menschen in der badisch-elsässischen Grenzregion: „Kaiserstuhl“ ist einerseits ein historischer Roman um die Geschehnisse des Jahres 1962 sowie ein Politkrimi, andererseits aber auch ein Heimat- und Schicksalsroman über die Beziehungen zwischen den Bewohnern beider Seiten des Rheins mit ihren wechselseitigen und je nach politischer Lage wechselnden Sehnsüchten und Ängsten. Glaser lässt dabei ihre Figuren, deren Umfeld und Alltagsleben recht authentisch wirken und nutzt hierzu Akzente der damaligen Mode, zitiert zeitgenössische Schlager- und Jazztitel sowie damals aktuelle, teilweise heute noch als Klassiker bekannte französische Filme der Nouvelle Vague.
Glasers Roman mag mit seinen schnellen und harten Szenenwechseln sowie durch häufige Zeitsprünge zwischen Kriegs- und Nachkriegsjahren anfangs etwas verwirren und die Lektüre erschweren. Doch je tiefer man in die Handlung eindringt, umso besser fügen sich die Puzzle-Teile zum vollständigen und lebendigen Bild jener Wirtschaftswunderjahre in der noch jungen Bundesrepublik, als die Menschen an ihre Zukunft und die Politiker an die Neuausrichtung des geopolitischen Machtsystems dachten. Brigitte Glaser macht deutlich, dass dabei die von wenigen Zeitgenossen geforderte Aufarbeitung von Kriegsverbrechen vielen nicht nur ungelegen kam, sondern sogar politisch unerwünscht war. „Kaiserstuhl“ wird bei Älteren manche Erinnerung aufkommen lassen und liefert Jüngeren manche historisch interessante Information.

Bewertung vom 26.05.2022
Der blonde Hund
Ehmer, Kerstin

Der blonde Hund


ausgezeichnet

REZENSION - Nach ihren historischen Berlin-Krimis „Der weiße Affe“ (2017) und „Die schwarze Fee“ (2019) folgte im Februar im Pendragon Verlag mit „Der blonde Hund“ Kerstin Ehmers dritter Fall für den jungen, aus dem provinziellen Wittenberge (Elbe) stammenden Kommissar Ariel Spiro, der nun inmitten politischer und sozialer Wirren der Zwanziger Jahre in der Reichshauptstadt rätselhafte Mordfälle aufzuklären hat.
Diesmal wird im November 1925 eine Leiche aus einem Berliner Kanal gefischt, die bald als ein Journalist vom „Völkischen Beobachter“, dem Presseorgan der erstarkenden Nationalsozialisten, identifiziert wird. Doch der Fall erweist sich als kompliziert, zumal es in derselben Nacht noch ein zweites, schwer verletztes Opfer – einen jungen Mann – gegeben haben soll, das allerdings nicht mehr auffindbar ist. Erst der später auftauchende Ausweis des jungen Mannes lässt einen Zusammenhang erkennen: Der ermordete Journalist nutzte als „Ziehvater“ des früheren Waisenjungen, den er „Canis“ (Hund) nannte, schamlos aus. Auf der Suche nach diesem „blonden Hund“, den er als Zeugen braucht, kommt Spiro in Sachsen und Ostpreußen mit den Artamanen in Kontakt, einem vom 25-jährigen Heinrich Himmler als Jugendbewegung gegründeten radikal-völkischen Siedlungsbund.
Während Spiro keine Zeit für Freundin Nike Fromm hat, befasst sich diese als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sexualwissenschaft des Dr. Magnus Hirschfeld dort mit einem schwer misshandelten Strichjungen. Beim Versuch, die Verursacher dieser Misshandlung zu finden, gerät sie ins Umfeld homosexueller Perversitäten. An diesem Beispiel zeigen sich die negativen Auswüchse damaligen Bemühens um sexuelle Freiheit, deren unterschiedliche Facetten ebenso stimmig in die Romanhandlung eingebaut sind wie der damals in den Salons der gehobenen Gesellschaft gepflegte Spiritismus und die Verbreitung der von Rudolf Steiner gegründeten Anthroposophie.
So schildert Kerstin Ehmer auch in ihrem dritten Krimi wieder auf sehr eindrucksvolle Weise das politische und gesellschaftliche Leben in der Reichshauptstadt zur Zeit der überhaupt nicht goldenen Zwanziger Jahre in all seinen vielfältigen Erscheinungsformen. Politisch erleben wir das allmähliche Erstarken der Nationalsozialisten, die zu einer bedrohlichen Macht heranwachsen, ohne von der Bevölkerungsmehrheit schon als Gefahr erkannt zu werden. Für die NSDAP ist es die Zeit der „Säuberungen“, in der sie sich von brutalen, in den Vorjahren noch nützlichen Kämpfern befreit, um künftig als seriöse national-konservative Partei politischen Einfluss zu gewinnen. Die Voraussetzungen sind gut: Der Antisemitismus zeigt sich bereits offen in allen Schichten der Gesellschaft.
Ihre atmosphärisch dichte Schilderung dieses vielschichtigen, prallen und turbulenten Berliner Lebens in einer schwierigen Zeit voller Widersprüche verknüpft die Autorin mit einem spannenden Kriminalfall. Sowohl Ariel Spiro als auch seine Freundin Nike Fromm geraten darin in einen unaufhaltsamen Strudel aus politischer Macht und brutaler Gewalt, aus dem sie sich nicht befreien können. Zwar klären sich die Mordfälle trotz aller Hindernisse am Ende auf, doch die eigentlich schuldigen Hintermänner bleiben unentdeckt. Zu weit reichen inzwischen schon die Tentakel der Nazi-Führung – sogar bis in Spiros Kriminalkommissariat. So steht Kerstin Ehmers Kommissar letztlich nicht als erfolgreicher Ermittler da, sondern als ziemlich hilfloser Kriminalist, dem auch die Unterstützung seiner Vorgesetzten versagt bleibt. Dieser offene Schluss des Romans lässt seine Leser nachdenklich zurück, denn wir alle wissen, wie die Zeitgeschichte weitergeht. Wer sich für historische Krimis über die Zeit der Weimarer Republik interessiert, sollte diesen in Sprachstil und Authentizität ausgezeichneten Roman „Der blonde Hund“ lesen.

Bewertung vom 14.05.2022
Mary Shelley
Sichtermann, Barbara

Mary Shelley


ausgezeichnet

REZENSION – Schon 2017 hatte die Publizistin und Schriftstellerin Barbara Sichtermann (79) ihre Romanbiografie über die englische Schriftstellerin Mary Shelley unter dem Titel „Mary Shelley – Leben und Leidenschaften der Schöpferin des 'Frankenstein'“ erstmals veröffentlicht. Nach fünf Jahren erschien nun im Februar im Osburg Verlag eine überarbeitete Ausgabe unter dem neuen Titel „Mary Shelley – Freiheit und Liebe“ über die aufregenden, zu Shelleys Zeit skandalösen Jugendjahre sowie das später weit weniger spektakuläre Autoren- und Witwenleben der Verfasserin, die bereits 1818 durch ihren anfangs noch ohne Autorennamen veröffentlichten ersten Science-Fiction-Roman „Frankenstein oder Der junge Prometheus“ bekannt geworden war.
Sichtermanns unbedingt lesenswertes Werk als „Romanbiografie“ zu bezeichnen, ist im Grunde tief gestapelt, denn mit dieser Kategorisierung würde man ihr Buch leichtfertig mit den heute vielzählig als Auftragsarbeiten in Serie erscheinenden Unterhaltungsromanen über berühmte Frauen vergangener Jahrhunderte gleichsetzen. Der literaturwissenschaftliche Terminus der „Biografie“ wird ihrem Buch wesentlich gerechter, auch wenn die Autorin zweifellos romaneske Passagen nutzt, um uns Lesern das Verständnis historischer, soziologischer oder literarischer Zusammenhänge zu erleichtern.
Sichtermann schildert das ungewöhnliche Leben der Mary Shelley (1797-1851), einer freiheitsliebenden, emanzipierten und willensstarken Frau, Tochter des Sozialphilosophen und Autors William Godwin, des Begründers des philosophischen Anarchismus, und der Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Mary Wollstonecraft. Von beiden in Charakter und Lebensanschauung schon als Mädchen geprägt, verfolgt Mary nicht nur konsequent ihren Traum vom Schreiben eigener Werke, sondern verlässt als 16-Jährige das Elternhaus und brennt mit ihrem Geliebten, dem fünf Jahre älteren, in Literatenkreisen bekannten und skandalumwitterten Dichter Percy Shelley (1792-1822) durch.
Die Jugendjahre Mary Shelleys bis zu Percys frühem Tod vor der toskanischen Küste nehmen den Großteil der Biografie ein, sind sie doch auch die aufregendsten und durch ihre Bekanntschaften mit Schriftstellern und Dichtern ihrer Zeit auch die literarisch interessantesten. Ihr späteres Leben ist weit weniger spektakulär, wenn auch für Mary selbst nicht weniger aufreibend, leidet sie doch als alleinerziehende Witwe wegen nachfolgend literarischer Misserfolge ständig unter Geldmangel. Erst nach der von ihr kommentierten Neuausgabe aller Werke ihres verstorbenen Mannes hat sie ein leidliches Auskommen, das ihr sogar 1840 und 1842/43 ausgedehnte Reisen quer durch Europa bis nach Italien erlaubt – in Erinnerung der wenigen glücklichen Jahre mit Percy Shelley.
Sichtermann hat mittels unzähliger Zitate aus Marys Tagebüchern und Briefen sowie aus literarischen Werken und Dokumenten ihres Ehemannes und ihres Bekanntenkreises ein literaturwissenschaftlich hochinteressantes Buch verfasst. Zudem liefert die Biografie wissenswerte Einblicke nicht nur in Mary Shelleys Privat- und Familienleben, sondern zugleich in die damals durch Folgewirkungen der Französischen Revolution in Unruhe versetzte monarchisch geprägte englische Gesellschaft. Dennoch ist Sichtermanns Romanbiografie – und hier hilft dann doch die romaneske Aufbereitung aller Fakten – eine spannend zu lesende Lebensgeschichte einer ungemein interessanten Frau des frühen 19. Jahrhunderts, die nicht nur für Fans der britischen Schriftstellerin oder ihres Frankenstein-Romans zur Lektüre empfohlen werden kann.

Bewertung vom 30.04.2022
Caffè in Triest
Neuwirth, Günter

Caffè in Triest


ausgezeichnet

REZENSION – Mit seiner neuen Krimireihe um den Kriminalbeamten Bruno Zabini ist es dem österreichischen Schriftsteller Günter Neuwirth (55) nicht nur gelungen, in der Vielzahl historischer Krimis eine geopolitisch interessante Lücke für sich auszumachen. Er hat es nach seinem ersten Roman „Dampfer ab Triest“ (2021) nun mit dem im März im Gmeiner Verlag erschienenen Folgeband „Caffè in Triest“ endgültig geschafft, ihr auch seinen literarischen Stempel aufzudrücken.
Neuwirths charmanter Protagonist Bruno Zabini, Inspector I. Klasse des kaiserlich-königlichen Polizeiagenteninstituts der Reichsunmittelbaren Stadt Triest und Tröster zweier unglücklich verheirateter Frauen, muss in der zum europäischen Handelszentrum gewordenen Hafenstadt an der Adria erneut sein kriminalistisches Können beweisen: Dem Slowenen Jure Kuzmin ist der Aufstieg vom einfachen Seemann zum Kaffee-Importeur gelungen. Doch als er sich in die Tochter eines angesehenen Triester Großhändlers verliebt, zieht er den Zorn des italienischen Dandys Dario Mosetti auf sich. Dieser will seinen Nebenbuhler ausschalten und bittet seine italienischen Freunde, dem Slowenen eine Abreibung zu verpassen. Doch die Aktion läuft aus dem Ruder, führt zu einem ersten Mord und weitet sich bald zum Bandenkrieg zwischen Italienern und Slowenen aus. Inspector Zabini steht unter Druck, denn in wenigen Tagen werden der habsburgische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin Herzogin Sophie zum Stapellauf zweier Passagierdampfer der österreichischen Handelsmarine erwartet.
Neuwirth greift in seinem Krimi gleich mehrere sozial- und wirtschaftspolitische Aspekte auf, die das komplizierte Miteinander in dieser Vielvölkerstadt im Jahr 1907 ausmachen: Einerseits ist Triest eines der wirtschaftlich bestentwickelten Gebiete des Habsburger-Reiches. Österreichische und italienische Großkaufleute haben es zu Wohlstand gebracht, der Handel mit Übersee boomt – vor allem mit arabischem Kaffee. Das kulturelle Leben ist hoch entwickelt, Triest ist zum Mekka für Literaten aus ganz Europa geworden. Doch untergründig brodelt es: Radikale Italiener versuchen, Stimmung gegen die alles beherrschende und verhasste Donau-Monarchie zu machen: „Man müsse die terra irredenta den Habsburgern entreißen, man müsse mit einem scharfen Messer heiliges italienisches Land aus der fauligen Masse des Vielvölkerstaates schneiden“, meinen die radikalen Irredentisten, zu denen leider auch Darios junge Freunde gehören, die in ihrem Hass auf alles Fremde in Jure Kuzmin weniger Darios Nebenbuhler als vielmehr den slowenischen Ausländer sehen.
Günter Neuwirth schildert die damalige Situation in der von den Habsburgern beherrschten, aber im Kern doch italienischen Wirtschaftsmetropole Triest mit all ihren gesellschaftlichen und politischen Spannungen so plastisch und leicht nachvollziehbar, dass es nicht nur für historisch Interessierte ein Genuss sein dürfte, seinen Roman zu lesen: Fast meint man während der Lektüre, als Gast am Kaffeekränzchen der feineren Gesellschaft teilzunehmen, im Caffè Tomasseo bei den politischen Eiferern dabei zu sein oder am Hafen beim Verladen der Schiffe zuzuschauen. Sprachlich versucht sich Neuwirth dem Tonfall damaliger Zeit ohne zu übertreiben anzupassen, so dass seine Geschichte atmosphärisch überaus stimmig wirkt.
Dass „Caffè in Triest“ nicht nur ein Roman für geschichtlich Interessierte ist, dafür sorgt der von Bruno Zabini zu lösende Kriminalfall. Dieser scheint allerdings der bunten Schilderung des Triester Alltagslebens eher den notwendigen Handlungsrahmen zu geben, um aus der vielfältigen Stoffsammlung eine lesenswerte Erzählung machen zu können. Anders ist es dagegen mit dem auch für unsere Zeit noch ungewöhnlichen Liebesleben des Protagonisten, das sich zu einem über die Bände durchgängigen, parallel laufenden Handlungsstrang zu entwickeln scheint: Der charmante Junggeselle Bruno Zabini ist der Tröster gleich zweier unglücklich verheirateter Frauen während der mehrmonatig