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Benutzername: 
Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 161 Bewertungen
Bewertung vom 14.07.2022
Was geschieht in der Nacht
Cameron, Peter

Was geschieht in der Nacht


ausgezeichnet

Ein namenloses Ehepaar aus New York begibt sich auf eine lange und beschwerliche Reise in den äußersten Norden Europas, um im dortigen Waisenhaus ein Kind zur Adoption abzuholen. Ihr Quartier ist das seltsame Grand Imperial Hotel, dessen Gäste die Eigenheiten des Gebäudes sogar noch übertreffen. So verwundert es nicht, dass das gerufene Taxi sie am nächsten Morgen nicht wie geplant zum Waisenhaus bringt, sondern zum sonderbaren Heiler Bruder Emmanuel. Ist dieser Mann die Rettung für die todkranke Ehefrau? Oder steckt vielleicht ein ganz anderer Plan hinter den Machenschaften des Heilers?

In seinem neuen Roman "Was geschieht in der Nacht", der jetzt bei Liebeskind erschienen ist, erzählt Peter Cameron die Geschichte eines Ehepaares, das sich auf eine düstere Reise begibt, die einerseits die Liebesbeziehung der beiden Protagonisten zu einem versöhnlichen Ende führen und andererseits den Weg für eine neue, elterliche Liebe öffnen soll. Dass letztlich alles ganz anders kommt, spürt man praktisch vom ersten wunderbaren Satz an. "Der Abend senkt sich so beunruhigend abrupt herab wie der hastig fallende Vorhang vor einer Laienaufführung, die fürchterlich danebenging", heißt es dort und da auf den folgenden Seiten wohl so häufig wie in kaum einem anderen Roman die Wörter "dunkel" und "Dunkelheit" auftauchen, ahnt man als Leser:in früh, dass diese Reise durch lichtlose nordische Wälder zu einem unwirtlichen Bahnhof kein fröhlicher Urlaubstrip wird.

Cameron entpuppt sich in diesem fulminanten Beginn, der einen sofort in die Handlung hineinreißt, als Meister der Atmosphäre. Alles wirkt so bedrohlich und gleichzeitig kunstvoll, dass ich mich zeitweise in einem Arthouse-Horrorfilm wähnte. Doch die Horrorelemente entwickeln sich früh zu einem Mysterium, das seinen Höhepunkt mit dem ersten Auftritt des Hotels und seiner seltsamen Mitarbeiter:innen und Gäste erreicht. Eine Hotelhalle, die einer Krypta ähnelt, eine Bar, die nur von einem immer in Bewegung scheinenden Perlenvorhang separiert wird und natürlich die Menschen dort, die mit zunehmender Dauer des Romans wie verlorene Seelen wirken; Heimatlose, die eine so starke Verbindung mit dem Hotel eingehen, dass man fast das Gefühl bekommt, sie seien das Hotel.

Das cineastische Ambiente bleibt auf jeden Fall bestehen, doch nun hatte ich das Gefühl, mich in einem sehr guten David Lynch-Film zu befinden. So hätte es mich nicht gewundert, wenn durch diesen Vorhang plötzlich ein tanzender Kleinwüchsiger getreten wäre oder die im Hotel als Musikerin auftretende Diva Livia Pinheiro-Rima - schon der Name verrät ihren Glamour - sich für das Rückwärtssprechen entschieden hätte.

Neben der Atmosphäre sind es diese verrückten und skurrilen Figuren, die den Charme von "Was geschieht in der Nacht" ausmachen. Die zahlreichen Dialoge, bei denen der Autor übrigens konsequent auf Anführungszeichen verzichtet, strotzen vor Wortwitz, Klugheit und - insbesondere am Ende des Romans - philosophischer Tiefe. Denn Cameron gelingt es trotz aller Düsternis und der Schwere des drohenden Todes der Ehefrau, die Handlung einerseits erstaunlich leicht, spannend und unterhaltsam voranzutreiben und dennoch nicht die Schönheit der Literatur aus den Augen zu verlieren. So heißt es beispielsweise über den schon erwähnten Vorhang, die Perlen reagierten in ihrer Erzitterung "nur auf die Spannung der Welt".

Dass die von Peter Cameron in diesem Roman erschaffene Welt ihre Spannung nicht verliert, liegt vor allem am grandiosen Finale, das mit seiner tiefen Menschlichkeit verblüfft und die ein oder andere Länge, die das Buch in seiner Mitte aufweist, vergessen lässt. Der Autor schreibt sich in Höchstform und geißelt sich selbstironisch, indem er eine wahrlich nervige Nebenfigur komplett demaskiert und lapidar als "Ablenkung" abtut. Im letzten Akt des mittlerweile auch zu einem Beziehungsdrama gewordenen Buches schwingt sich dafür Livia in vorher kaum vermutete Handlungssphären, wobei es ihr beinahe gelingt, dem Hotel als

Bewertung vom 15.06.2022
Das Marterl
Laubmeier, Johannes

Das Marterl


ausgezeichnet

Als sein Vater 2009 mit seinem Motorrad tödlich verunglückte, endete für Johannes Laubmeier mehr als nur seine schon etwas in die Jahre gekommene Kindheit. Er lässt auch A. hinter sich, diese 12.000-Seelen-Kleinstadt in der Nähe von Regensburg, seine Freund:innen, seine Liebe, seine Erinnerungen. Zehn Jahre später kehrt er zurück und stellt sich nicht nur diesem ungeheuerlichen Schrecken der Vergangenheit, sondern auch den vielen inneren und äußeren Konflikten und dem Schmerz, die der abrupte Abschied damals mit sich brachte...

"Das Marterl" von Johannes Laubmeier ist der Debütroman des 1987 in Regensburg geborenen Schriftstellers und Journalisten, der kürzlich im Tropen-Verlag erschienen ist. Laubmeier schreibt darin so souverän und empathisch, dass man sich kaum vorstellen kann, ein literarisches Debüt zu lesen. Wobei man den Begriff "Roman" ein wenig weiter umfasst interpretieren sollte, denn in seiner Gesamtheit ist "Das Marterl" wahrscheinlich eher der Autofiktion zuzuordnen. Was daran biografisch und was fiktional ist, bleibt das Geheimnis des Autors und der Fantasie der Leserschaft überlassen.

Laubmeier erzählt in zwei unterschiedlichen Perspektiven. Zwischen die 2019 spielende Rückkehr mit Ich-Erzähler Johannes mischen sich immer wieder Kindheitserinnerungen des als "Jungen" betitelten Protagonisten, die sich auf das größtenteils sehr liebevolle Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater beziehen. Besonders daran ist, dass man die Unterschiede nicht nur am plötzlich auktorialen Erzähler erkennt, sondern die Texte auch stilistisch deutlich differieren. Während sich der erwachsene Johannes auf die Spurensuche seines Vaters und seiner Vergangenheit begibt und dabei immer wieder auch klug und berührend philosophisch-existenzielle Fragen einfließen lässt, ist man in den Kindheitsepisoden ganz nah am Jungen, man spürt seine Unsicherheit und Naivität, man lacht und weint mit ihm.

Sehr gelungen ist in diesem Zusammenhang übrigens die Coverauswahl, die ein Originalfoto des Jungen Johannes zeigt - geschossen von seinem Vater Hans, als dieser von Frau und seinem als Tiefseetaucher verkleideten Sohn vom Bahnhof abgeholt wird. Liest man diese Szene und legt sich den Schutzumschlag direkt neben das Buch, so erkennt man jedes kleinste Detail und taucht so nahezu unmittelbar in die Handlung ein. Als sei man selbst ein Tiefseetaucher, auf der Suche nach der so lange zurückliegenden Kindheit oder gar nach dem verlorenen Vater. Bewegend und besonders.

Insgesamt strahlt "Das Marterl" eine große Melancholie aus, verharrt dabei aber nicht ausschließlich in Traurigkeit, sondern erlaubt Johannes und seinen Leser:innen auch immer wieder heitere und unbeschwerte Momente. Wenn sich Klosterschüler Johannes und seine Freunde beispielsweise auf den Weg machen, um die Leiche eines verstorbenen Abtes zu sehen. Oder wenn sie ihre eigene Skapunk-Band gründen und dabei den Konflikt mit den patriotischen Jugendlichen der "Danubius Buam" suchen.

"Das Marterl" ist außerdem ein mutiges Buch, denn auf der einen Seite erfordert es überhaupt Mut, sich der Trauer und dem Verlust auf so persönliche Art zu stellen. Hinzu kommt jedoch, dass Johannes Laubmeier nichts beschönigt und nichts verherrlicht. Denn das ganze Ausmaß der Tragik um den Tod des Vaters und Johannes' inneren Konflikt wird den Leser:innen schrittweise und behutsam erst nach und nach wirklich klar.

Gerade zu Beginn des Romans fühlte ich mich stark an das im letzten Jahr erschienene und ebenfalls sehr gelungene "Niemehrzeit" von Christian Dittloff erinnert, in dem der Autor den Spuren seiner kurz hintereinander verstorbenen Elternteile folgte. Wobei Laubmeier stärker als Dittloff auf die eigene Kindheit blickt und er auch dadurch im Buch mehr Raum einnimmt als Dittloff, der sich noch deutlicher auf die Elternfiguren konzentrierte. Gern hätte ich in diesem Zusammenhang tatsächlich noch die ein oder andere Kindheitsepisode mehr gelesen, denn gerade im Bereich zwischen dem Zehnjährigen

Bewertung vom 12.06.2022
Wunderkind Erjan
Ismailov, Hamid

Wunderkind Erjan


ausgezeichnet

Trotz seiner gerade einmal knapp 150 Seiten ist dieser Roman ein Ereignis. Hamid Ismailov erzählt in einer wunderbar gelungenen Mischung aus Tragik und Komik die Geschichte des virtuos Geige spielenden Erjan und dessen Kindheit in der kasachischen Steppe in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre.

Als Rahmenhandlung dient eine Zugfahrt durch die Steppe gegen Ende der 90er-Jahre, auf der der namenlose Ich-Erzähler den 27-jährigen Geigenspieler trifft. Doch Erjan sieht aus wie ein Zwölfjähriger und erst nach einem Blick in seinen Pass kann er sein Gegenüber von seinem Alter überzeugen. Mit zwölf Jahren hörte Erjan nämlich urplötzlich auf zu wachsen, just nachdem er einen Sprung in einen durch Nukleartests entstandenen Stausee wagte. In der Folge erzählt Erjan seinem Begleiter auf der Zugfahrt seine Familiengeschichte.

Hamid Ismailov gelingt es in meinen Augen ganz hervorragend, die Leser:innen sowohl zum Lachen als auch zum Weinen zu bringen. Denn der historische Fakt, der dieser erzählten Kindheit zugrunde liegt, ist ein ungeheuerlicher: Von 1949 bis 1989 wurden in besiedelter Landschaft der Steppe insgesamt 468 Kernexplosionen ausgelöst, davon 125 überiridische. Die Sprengkraft übertraf in der Summe die der Hiroshima-Bombe um das 2500-fache. Darüber informiert das Buch in einem kleinen Auszug vor Beginn der Geschichte.

Trotz dieser nahezu unfassbaren Grausamkeit wirkt "Wunderkind Erjan" erstaunlich humorvoll, bisweilen sogar beschwingt. Die Übersetzung aus dem Russischen von Andreas Tretner, die auch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, ist hervorragend, denn Tretner gelingt es, durch zahlreiche Wörter und Gedichte aus dem Kasachischen eine sehr hohe Authentizität zu schaffen.

Ein besonderer Erzählkniff ist, dass Erjan auf der Zugfahrt irgendwann einschläft und sich der Ich-Erzähler somit selbst zusammenreimen muss, wie Erjans Geschichte weiterging. Hier überwiegen die tragischen Ereignisse, denn der Erzähler ist offenbar ein Schwarzseher - oder nur ein Realist?

"Wunderkind Erjan" ist ein großartiger kleiner Roman, ein Märchen aus dem Realismus, eine Parabel, vielleicht eine Art Anti-Blechtrommel. Was wäre das für ein Orchester, wenn Erjan an der Geige und Oskar Matzerath auf der Blechtrommel sich ein Stelldichein gäben und den Erwachsenen und den Grausamkeiten der Welt lärmend-virtuos gegenüberträten und ihnen ein "Hört uns an!" entgegen schmetterten.

Ausdrücklich zu loben ist auch die wunderschöne Gestaltung des Buches aus der "Friedenauer Presse". Ich wünsche dem Roman viele Leser:innen - und den Leser:innen selbst, dass sie ihn entdecken mögen.

Bewertung vom 07.06.2022
So tun, als ob es regnet
Wolff, Iris

So tun, als ob es regnet


ausgezeichnet

Sie heißen Jacob, Henriette, Vicco und Hedda. Vier Menschen, die mehr oder weniger mit der Geschichte Siebenbürgens verknüpft sind, dieser vor allem aus der Schauerliteratur bekannt gewordenen Region im heutigen Rumänien. Sie sind die Hauptfiguren in Iris Wolffs "So tun, als ob es regnet", einem Roman in vier Erzählungen aus dem Jahre 2017, den Klett-Cotta nun als Taschenbuch neu aufgelegt hat.

Auf gerade einmal 160 Seiten gelingt es Wolff dabei eindrücklich, ein ganzes Jahrhundert so zu entfalten, dass der Leser nicht nur vier unterschiedliche Generationen kennenlernt, sondern ganz nebenbei auch noch unheimlich viel über die Geschichte Siebenbürgens erfährt. Dass Iris Wolff selbst gebürtig aus dieser Region stammt, merkt man dem Werk dabei durchaus an, denn die Empathie und Emotionalität, die die Autorin dabei entwickelt, lassen sich auf fast jeder dieser Seiten entdecken.

Die Sprache ist dabei beglückend poetisch, ein regelrechtes Fest - und das, ohne verkopft zu wirken. Insbesondere die erste Erzählung "Budapest?", die den Soldaten Jacob im Jahre 1916 ins umkämpfte Kriegsgebiet Siebenbürgen begleitet, ist in dieser Hinsicht der Höhepunkt des Buches. Wolff spielt mit der Sprache und den Leser:innen und schafft es sogar, die Schrecken des Ersten Weltkrieges sprachlich so poetisch und elegant darzustellen, dass es einem fast den Atem raubt. Sätze wie "Das Zischen der Raketen vermischte sich mit dem Heulen der Wölfe" stehen sinnbildlich für die Melange aus Leben und Tod oder Grauen und Schönheit. Gerade diese erste Erzählung vereint sowohl bei den Figuren, als auch den Ereignissen so viele großartige Szenen, dass man mit dem Staunen kaum hinterherkommt.

Die zweite Erzählung "Elemérs Garten" begleitet Jacobs Tochter Henriette im Jahre 1933 und strahlt bis zum bedrückenden Finale eine etwas größere Leichtigkeit aus. Liebevoll spinnt Wolff hier viele Andeutungen aus dem ersten Teil zu einer Protagonistin zusammen, die das Buch wohl wie keine andere der Figuren bis zum Ende prägen wird. Zudem nimmt sie Bezug auf das rumänische Sprichwort, dem das Buch seinen Titel verdankt. Wenn jemand "so tut, als ob es regnet", stellt sich bei dieser Person eine gewollte oder ungewollte Abwesenheit ein, in der dieser Mensch kaum ansprechbar scheint.

Die 1969 spielende "Eine Zitrone im All" begeistert vor allem durch die Ambivalenz des Protagonisten Vicco, seinerseits Henriettes Sohn. Vicco ist vielleicht das beste Beispiel dafür, wie gut Iris Wolff bis in die Nebenfiguren hinein die Figurenkonzeption gelingt. Denn Vicco ist ein Freiheitsliebender mit Angst vor der Freiheit. Ein angepasster Rebell. Ein melancholischer Weiberheld. Ein Muttersöhnchen, das sich vor seiner Mutter fürchtet und sich für sie schämt. Ein Philosoph, der nur Perry Rhodan liest. Ein behüteter Verlassener.

Die letzte, in der Gegenwart angesiedelte Erzählung "Wölfe und Lämmer" ist die einzige, die nicht in Siebenbürgen spielt, sondern auf der kanarischen Insel La Gomera. Viccos Tochter Hedda ist dorthin ausgewandert, und auch ihre Eltern haben Siebenbürgen längst verlassen und leben mittlerweile in Deutschland. Klug und berührend gelingt es Iris Wolff in ihr, die zentralen Motive des gesamten Buches - Träume, Heimat und Identität - noch einmal hervorzuheben, um sie im nächsten Moment von den Leser:innen fortzureißen in diesem Strom der Melancholie, der dem ganzen Werk als wiederkehrendes Merkmal folgt. Vicco ist schwer an Krebs erkrankt und träumt nicht einmal mehr siebenbürgisch. Und auch die kinderlose Hedda scheint keine große Verbindung mehr zur Heimat ihrer Familie zu haben...

"So tun, als ob es regnet" ist ein kleines Meisterwerk, in dem es der Autorin wegen ihrer wunderbaren Sprache und der hervorragend ausgearbeiteten Figuren gelingt, dass man sich diesen trotz ihrer verhältnismäßig kurzen Auftritte stets nahe fühlt. Das Buch vereint große Themen wie Identität, Freiheit, Tod, Leben, Familie, Heimat, Politik und Krieg und verdichtet diese so stark, das

Bewertung vom 25.05.2022
Mrs. Dalloway
Woolf, Virginia

Mrs. Dalloway


gut

Als Virginia Woolf 1925 im eigenen Verlag ihren vierten Roman "Mrs. Dalloway" veröffentlichte, galt dieser als stilistisch und sprachlich revolutionär, weil er mit den gewohnten erzählerischen Konventionen brach. Mehr als jeder andere Roman zuvor. Und auch sie selbst notierte in ihrem Tagebuch: "Ich glaube ganz ehrlich, dass dies der gelungenste meiner Romane ist." So erfahren wir es im Klappentext der jüngsten Ausgabe, die kürzlich in der Manesse Bibliothek erschienen ist. Es handelt sich dabei um eine deutsche Neuübersetzung von Melanie Walz, ergänzt und aufgewertet durch ein Nachwort der österreichischen Schriftstellerin Vea Kaiser.

Und tatsächlich kann man Woolfs Stil als unkonventionell und modern bezeichnen, ihr in "Mrs. Dalloway" als Erzählform verwendeter Bewusstseinsstrom findet sich auch heute noch in der zeitgenössischen Literatur: meisterlich und aufregend beispielsweise in Damon Galguts mit dem Booker Prize ausgezeichneten "Das Versprechen", etwas weniger spannend in Tanguy Viels Me-Too-Krimi "Das Mädchen, das man ruft". Was die beiden letztgenannten Romane aber von "Mrs. Dalloway" grundlegend unterscheidet, ist die Handlungsebene. Denn Virginia Woolf verzichtet fast vollständig auf diese und setzt komplett auf das Innenleben ihrer Figuren.

So lässt sich die Handlung auch knapp zusammenfassen: An einem Londoner Junitag des Jahres 1923 macht sich die 51-jährige Clarissa Dalloway auf, um Blumen für ihre am Abend stattfindende Party der sogenannten Upper Class zu besorgen. Die gesamte - überschaubare - Handlung konzentriert sich auf diesen einzigen Tag, den Rhythmus gibt dabei Big Ben mit seinem Glockenschlag als wiederkehrendes Motiv vor. Neben Mrs. Dalloway rückt als ihr Gegenpart der kriegstraumatisierte Septimus Warren Smith als nahezu gleichberechtigter zweiter Protagonist in den Mittelpunkt des Interesses.

Dieser Septimus ist in meinen Augen dann auch die mit Abstand interessanteste Figur des Romans. Eindringlich nähert sich Woolf diesem zerbrechlichen Mann, der stets auf der schmalen Linie zwischen Leben und Tod zu balancieren scheint. Eine besondere Note erhält Septimus' Charakterisierung, wenn man im Hinterkopf behält, dass Virginia Woolf selbst im Jahre 1941 den Freitod wählte.

Die anderen Figuren habe ich inklusive Mrs. Dalloway hingegen als recht beliebig und banal wahrgenommen. Die gesellschaftlichen Themen, die die feinen Damen und Herren beschäftigen, wirken austauschbar und bisweilen sogar platt. Wobei zu betonen ist, dass man Woolfs Absicht im Hinblick auf diesen Aspekt berücksichtigen muss: die Darstellung der britischen Nachkriegsgeneration in all ihren Aspekten. Leider konzentriert sie sich dabei jedoch auf zwei Extreme: die Upper Class und den traumatisierten Soldaten. Figuren aus der Mitte der Gesellschaft tauchen mit Ausnahme des ehemaligen Dalloway-Geliebten Peter Walsh kaum auf.

Hinzu kommt, dass es die Sprache ebenso wenig schaffte, mich mitzureißen, wie ich es mir eigentlich erhofft hatte. Denn grundsätzlich bin ich ein Freund des erzählerischen Bewusstseinsstroms und schätze gute und ausgiebige Beschreibungen ebenso wie eine starke Atmosphäre. Zwar ist der Stil modern, aber nicht die Sprache selbst, die bisweilen arg repetitiv wirkt. Wenn beispielsweise innerhalb dreier Seiten ganze neun Mal wiederholt wird, dass Peter Walsh aktuell verliebt sei, dann hatte selbst ich es wohl nach der fünften Wiederholung begriffen.

Hervorzuheben ist dennoch der Mut der Autorin, die nicht nur die literarischen Konventionen außer Acht lässt, sondern durchaus auch gesellschaftlich heikle Themen anspricht: Kriegsfolgen, Umgang mit psychischen Erkrankungen, Auseinanderdriften der Gesellschaft, Homosexualität, Suizid.

Um auf den berühmten Film- und Theaterstücktitel von Edward Albee "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" zurückzugreifen, sollten sich potenzielle Leser:innen vor der Lektüre also fragen: "Wer hat Angst vor dem Bewusstseinsstrom?" und lieber einmal zu einer Leseprobe greifen, bev

Bewertung vom 23.05.2022
JAB
Kim, Un-su

JAB


sehr gut

Da ist der Barkeeper, der sich bei den härtesten Gangstern des Viertels anbiedert und zuhause seine Freundin verprügelt. Da ist der Mann, der das Geld für die teure Behandlung seines todkranken Vaters einfach verjubelt. Da ist das Mädchen, das mit nahezu jedem Mann Sex hat, bevor es sich von der Brücke stürzt. Und da ist der Alkoholiker, der für eine neue Wohnung seine Grundsätze über den Haufen wirft und wieder anfängt zu trinken. Sie alle sind gescheiterte oder tragische Antiheld:innen voller Schmerz und Melancholie. Und sie sind die Hauptfiguren in Un-Su Kims Kurzgeschichtenband "JAB", der kürzlich im Europa Verlag erschienen ist.

Während das koreanische Original bereits 2013 veröffentlicht wurde, liegt es nun in der Übersetzung von Kyong-Hae Flügel erstmals auf Deutsch vor. Es ist eine gute Entscheidung des Verlags, der zuletzt schon mit weiteren koreanischen Titeln wie Hwang Sok-Yongs "Vertraute Welt" punkten konnte. Denn Un-Su Kims abwechslungsreiche Mischung ist gleichermaßen unterhaltsam wie schmerzhaft, düster wie skurril und komisch wie tragisch. Kim schreibt schnörkellos und pointiert und entfaltet in vielen Momenten doch eine gewisse Poesie, der man sich schwer entziehen kann.

Insgesamt handelt es sich um acht Kurzgeschichten, von denen nicht alle gleichermaßen qualitativ überzeugen, doch in ihrer Unterschiedlichkeit sollten sie durchaus eine größere Leserschaft für sich entdecken dürfen. Vornehmlich richtet Kim den Blick auf gesellschaftliche Verlierer: Ganoven, Alkoholiker, Opfer von Verbrechen und psychisch labile Persönlichkeiten. Eine wohltuende Ausnahme dieses recht dunklen Cocktails stellt die Titelgeschichte "JAB" dar, die nicht von ungefähr dem Band nicht nur dessen Namen gab, sondern das Buch auch eröffnen darf.

Der jugendliche Ich-Erzähler ist ein Träumer mit Prinzipien. Als er dafür bestraft wird, im Unterricht einen Blätterwirbel angeschaut zu haben, richtet er seine Aggression lieber auf einen Boxsack und versetzt diesem zahlreiche "Jabs" - kurze schnelle Hiebe. Er ist der einzige durchweg liebenswerte Protagonist, der seine Strafe für die Träumerei einfach abarbeitet - und erst spät die strafenden Lehrer durch seine Standhaftigkeit ein Einsehen haben lässt.

Weitere Höhepunkte des Buches sind "Dan Valjean Street", die wie eine düstere Mischung aus Dick Tracy und Twin Peaks daherkommt - mit einer liebevollen kleinen Hommage an Laura Palmer und Co. Eine Erzählung wie ein melancholischer Film Noir mit einem Barkeeper als Protagonisten, der sein Fünkchen Menschlichkeit ausgerechnet einer hungernden Katze gegenüber zeigt. Auch "Das Sofa" überzeugt in seiner Skurrilität und zeigt, welche Auswirkungen es auf einen Menschen haben kann, wenn ein Gegenstand plötzlich zu einer großen Last wird. Das erinnert in seiner Seltsamkeit durchaus an das geniale "Salzfass" von Simon Sailer. Und wenn der Protagonist in "Das verdammte Albumin" bis zum tragischen Finale wirklich alles falsch macht, was man nur falsch machen kann, verharrt man als Leser:in in ungläubiger Resignation.

Nur selten treffen Buch und Autor nicht die richtigen Töne. Beispielsweise in "Eingesperrt im Tresorraum", das trotz des gelungenen Endes mit seiner Knallchargen-Komik nervt. Oder bei den zum Teil etwas seltsam anmutenden Übersetzungen, in denen wie aus dem Nichts plötzlich eingedeutschte Straßennamen auftauchen.

Doch in der Gesamtheit handelt es sich bei "JAB" um einen durchaus lesenswerten Kurzgeschichten-Band, der hoffentlich auch in Deutschland dazu beiträgt, dass der Name Un-Su Kim einen noch höheren Bekanntheitsgrad erfährt. Verdient hätten es Autor und Verlag in jedem Fall.

Bewertung vom 19.05.2022
Der Aufgang
Hertmans, Stefan

Der Aufgang


sehr gut

Eher zufällig erfährt Autor Stefan Hertmans: 20 Jahre hat er in Gent in einem Haus gelebt, in dem über viele Jahre der flämische SS-Kollaborateur Willem Verhulst mit seiner Familie lebte. Hertmans begibt sich auf eine jahrelange Recherche, um die Spuren der früheren Bewohner:innen sichtbar zu machen und findet dabei nicht nur zahlreiche persönliche Geschichten heraus, sondern auch deren Verbindung zum Land Belgien und dessen Konflikte, die teilweise bis heute andauern...

Zunächst einmal seien potenzielle Leser:innen vor dem Wörtchen "Roman" gewarnt, das der Diogenes-Verlag zwar auf dem Cover verwendet, klugerweise aber davon absieht, es - anders als sonst - noch einmal auf dem Titelblatt zu wiederholen. Denn im Grunde genommen ist "Der Aufgang" von Stefan Hertmans kein Roman, sondern eher eine Biografie Willem Verhults und seiner Familie, die Hertmans allerdings mit zahlreichen fiktiven Elementen anreichert. Frei nach dem Sprichwort "Die Axt im Haus erspart den Zimmermann" könnte man also sagen "Der SS-Mann im Haus erspart den Roman". Wer also den Roman eines Hauses wie "Das Gartenzimmer" von Andreas Schäfer erwartet, dürfte enttäuscht sein. Dass die Geschichte dieses Hauses und seiner Bewohner:innen dennoch spannend genug ist, liegt vor allem an der großen Erzählkunst Hertmans'.

Besonders gelungen ist das Buch, wenn Hertmans selbst in Erscheinung tritt und atmosphärisch wirklich großartig die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart knüpft, zwischen der Familie Verhulst und Hertmans selbst. Mit großer Ernsthaftigkeit, Ehrlichkeit, erheblichem Recherche-Aufwand und fast greifbarer Empathie begibt sich Hertmans auf die Spuren der Menschen, die 30 Jahre zuvor in genau den Räumen hausten, in denen Hertmans später mit seiner Freundin vor dem Kamin saß. Als eigentliche Heldin des Buches entpuppt sich Mientje, die zweite Ehefrau des SS-Kollaborateurs, die es in ihrer Güte fast allein schafft, drei Kinder großzuziehen und dem permanent abwesenden Willem trotzdem verzeiht. Doch auch Hertmans' Verbindung zu den Kindern ist glaubhaft und emotional. Willems Sohn Adri entpuppt sich nämlich als kein Geringerer als Hertmans' späterer Professor, durch dessen Buch Hertmans überhaupt erst erfährt, in welchem Haus er dort jahrelang wohnte. Und auch die beiden Töchter sind mit ihren Interviews im sehr hohen Alter und den Devotionalien ein echter Gewinn für "Der Aufgang".

Zudem gelingt es Hertmans, die Figur Willem Verhulst glaubhaft und eindringlich nachzuzeichnen. Vom fast blinden Außenseiter-Kind über den fanatisch-impulsiven flämischen Extremisten bis zum SS-Mitläufer ist Willem eine zunächst ambivalente Figur, deren negative Charaktereigenschaften im Verlaufe des Buches aber eindeutig die Oberhand gewinnen. Verhulst betrügt seine Frau, verrät die Nachbarn und stilisiert sich im Gefängnis zum Opfer.

Ein weiterer Höhepunkt ist die Darstellung des Hauses selbst. Wenn sich Hertmans vom Notar durch sein späteres Zuhause führen lässt und er den Verfall und die Räume ebenso intensiv beschreibt wie die Gerüche und Geräusche der Stadt und der Natur, bekommt man als Leser:in fast den Eindruck, selbst an diesem Rundgang teilzunehmen. Eine sehr plastische und eindringliche Wirkung entfachen die Momente, in denen der Autor aus dem Fenster schaut und weiß, dieses Gebäude gegenüber hat auch schon die Familie Verhulst gesehen. Und dieser Blauregen dort, das ist doch die Pflanze, die Mientje damals erworben hat. Und stand Mientje nicht ängstlich vor der Tür dieses Hauses, als Hertmans selbst in einer Art jugendlicher Verwirrung als Student mit Rechtsextremen randalierend um die Häuser zog? Es sind wahre Gänsehautmomente, die Hertmans in diesen Beschreibungen gelingen.

Allerdings - und damit komme ich neben der "Roman"-Fehlleitung zum eigentlichen Schwachpunkt des Buches - setzt Hertmans diese Beschreibungen leider viel zu selten ein. Insbesondere im wahrlich zu lang geratenen letzten Drittel passiert auf dieser Ebene viel zu wenig. Stat

Bewertung vom 09.05.2022
Eine Laune Gottes
Laurence, Margaret

Eine Laune Gottes


ausgezeichnet

Die 34-jährige Grundschullehrerin Rachel Cameron führt in der kanadischen Provinzstadt Manawaka ein ereignisloses Leben. Während sie zuhause ihre pflegebedürftige Mutter umsorgt und dafür die meiste Zeit aufbringt, findet sie auch im Berufsleben nicht wirklich Anschluss. Als ihr ehemaliger Mitschüler Nick für den Sommer nach Hause kommt, scheinen sich die Dinge schlagartig zu ändern. Rachel beginnt mit dem ein Jahr älteren Mann eine Affäre, die für sie nicht folgenlos bleibt...

"Eine Laune Gottes" von Margaret Laurence ist im kanadischen Original bereits 1966 erschienen, und der Eisele Verlag bringt in der Übersetzung von Monika Baark und mit einem Nachwort von Margaret Atwood versehen nun erstmals eine deutsche Fassung auf den Markt. Es ist eine wunderbare Entscheidung, denn der Roman ist ein literarisches Juwel erster Güte.

Während Laurence (1926 - 1987) in Kanada neben Atwood und Alice Munro als eine der drei großen heimischen Schrifstellerinnen gilt, war sie in Deutschland bis vor Kurzem nahezu unbekannt. Mit der Neuübersetzung von "Der steinerne Engel" bemühte sich der Eisele Verlag schon vor zwei Jahren, daran etwas zu ändern. Mit "Eine Laune Gottes" legt der Verlag nun den zweiten der fünf "Manawaka"-Romane nach.

Ich-Erzählerin und Protagonistin Rachel ist eine hinreißende Figur, der ich von Beginn an sehr gern gefolgt bin. Ihre inneren Monologe strahlen eine große Intensität aus, zudem ist sie eine zutiefst verunsicherte Person voller Selbstzweifel und mit einem fast krankhaften Wunsch, nicht auffallen zu wollen. Sie ist eine Hauptfigur voller Fehler und Makel, die mich nie kalt ließ und trotz ihrer Ambivalenz bei mir auf großes Mitgefühl stieß. Denn Margaret Laurence gelingt es, Rachel psychologisch sehr feinfühlig und gleichzeitig ehrlich und mit einer gehörigen Prise Selbstironie darzustellen. Diese Ambivalenz überträgt sich fast nahtlos auf die ebenfalls sehr gelungenen Nebenfiguren wie Nick, Rachels Mutter oder die heimlich in sie verliebte Kollegin Calla.

Laurences Schreibstil ist schnörkellos und mag auf den ersten Blick etwas simpel scheinen, doch immer wieder finden sich zwischen den Zeilen bemerkenswert kluge Sätze. "Kinder haben einen eingebauten Verlogenheitsradar", heißt es beispielsweise an einer Stelle oder "Die Nacht fühlt sich an wie ein gigantisches Riesenrad, das in der Dunkelheit seine Runden dreht" über eine schlaflose Nacht voller Grübeleien. Immer wieder schiebt sie zudem kleinere Absätze ein, in denen es um Träume oder Phantastereien Rachels geht. Auch durch diese fast surreal wirkenden Absätze gelingt es der Autorin, die Spannung durchweg hochzuhalten.

Zu Höchstform läuft Laurence gar im letzten Drittel des Romans auf, das sicherlich als Höhepunkt des gesamten Romans gelesen werden kann. Die Autorin überrascht die Leser:innen ein ums andere Mal mit nicht vorhersehbaren Wendungen und bleibt dabei trotzdem glaubwürdig. Und obwohl das Finale eine große Hoffnung ausstrahlt, verkommt es nicht einmal ansatzweise zu einem kitschigen Happy-End.

So ist "Eine Laune Gottes" für mich insgesamt eine wunderbare Lektüre und zudem eine große Überraschung gewesen. Trotz seiner fast 60 Jahre wirkt der Roman angenehm zeitlos und alles andere als angestaubt. Durch die Kriegshandlungen in der Ukraine erhält er in einer Nebenhandlung sogar überraschende Aktualität. Zudem traut sich Laurence, gesellschaftliche und persönliche Themen wie weibliche Sexualität, Einwanderung, Glauben und Homosexualität anzusprechen, was vor allem im Nordamerika der 1960er-Jahre alles andere als selbstverständlich war. Aufgrund der Entwicklung Rachels wirkt "Eine Laune Gottes" auf mich außerdem fast wie ein Coming-of-Age-Roman mit einer Erwachsenen, was ich so bisher wohl auch noch nicht kennengelernt habe.

Laurence schafft es, mich mit dem Roman zum Lachen und - allerspätestens mit den herausragenden letzten drei Sätzen - zum Weinen zu bringen, mich mit und über Rachel zu ärgern und mich für sie zu freuen. Es ist der

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Bewertung vom 06.05.2022
Die Schülerin / Kriminaldirektor a.D. Manz Bd.1
Wittekindt, Matthias

Die Schülerin / Kriminaldirektor a.D. Manz Bd.1


ausgezeichnet

Als Kriminaldirektor a. D. Manz von seiner Tochter erfährt, dass sie als Anwältin gerade eine Mandantin wegen eines vermeintlichen Meineids vertritt, gehen bei ihm die Warnlichter an. Jene Sabine Schöffling erinnert ihn nämlich an einen alten Fall aus dem Jahre 1978, als sich die damals 16-jährige Schülerin als Zeugin in einem Mordfall nicht gerade kooperativ verhielt. Nach und nach kehren seine Gedanken zurück zu diesem Fall, als ein 15-jähriger Junge tot aufgefunden wurde, den niemand zu vermissen schien. Im Fokus seiner damaligen Ermittlungen: die Elisabeth-Rotten-Schule, eine Berliner Reformschule, und deren seltsame Lehrer- und Schülerschaft...

Etwa ein Jahr nach dem erfolgreichen Manz-Debüt "Vor Gericht" legt Matthias Wittekindt beim Kampa Verlag mit "Die Schülerin" nun den zweiten Band der neuen Reihe vor - und landet damit erneut einen Volltreffer. Gewohnt unaufgeregt und in ruhigem Erzähltempo begeistert das Buch nicht nur optisch mit dem knallroten Farbschnitt, sondern auch mit einem kauzig-liebenswerten Ermittler, authentischen Dialogen und spannenden ambivalenten Nebenfiguren.

Die Struktur des Romans gleicht dabei "Vor Gericht" nahezu exakt. Im ersten Teil des Buches, der mit mehr als 300 Seiten um ein Vielfaches länger ist, rekonstruiert Matz die Ermordung des 15-jährigen Riccy, wobei für kurze Momente auch immer wieder die gegenwärtigen Familienverhältnisse des Kriminaldirektors a. D. beleuchtet werden. Der zweite sehr kurze Teil befasst sich mit dem Prozess gegen Sabine Schöffling und lässt die Protagonist:innen nach 41 Jahren wieder aufeinander treffen.

Am gelungensten sind dabei vor allem die Verhöre von Manz und seinem Kollegen Borowski an der Elisabeth-Rotten-Schule. Die "zur Freiheit" erzogenen Schülerinnen und Schüler präsentieren sich zwar als künstlerische Freigeister, doch Manz bemerkt schnell, dass eine schöne Fassade allein "das Böse" nicht wegsperren kann. Durch seine unnachgiebigen Ermittlungen werden letztlich nicht nur verbale Brandsätze gelegt.

Während mich eine Dialoglastigkeit in Romanen sonst eher stört, habe ich die unverstellten und unterhaltsamen Gespräche in "Die Schülerin" sehr geschätzt. Zwischen den Zeilen blitzt immer wieder Manz' Schalk durch, der erheblich dazu beiträgt, dass man diesen Ermittler und die Buchreihe so schnell ins Herz geschlossen hat. Insgesamt strahlt "Die Schülerin" eine etwas hellere Stimmung als der Vorgänger "Vor Gericht" aus - und das, obwohl es sich bei der jugendlichen Leiche um ein wahrlich tragisches Opfer handelt. Zu Höchstform laufen die Ermittler gar auf, als es darum geht, in einem Striplokal eine Sing- und Tanzgruppe namens "Die Sirenen" zu befragen. Eine wirklich herrliche Szene, die mich sehr zum Lachen brachte und nicht nur wegen der Zeuginnen lange im Gedächtnis bleibt.

Wer sich also mit der etwas unglaubwürdigen Ausgangsprämisse abfindet, dass Manz wegen eines von Sabines Mutter vorbeigebrachten Zettels, auf dem "Du bist tot" steht, erstmals seine Ermittlungen an der Elisabeth-Rotten-Schule aufnimmt, wird in der Folge mit einem wunderbaren Kriminalfall belohnt, der ganz nebenbei auch einen Blick auf die Pädagogik der 70er-Jahre und das Berliner Stadtbild erhält. Matthias Wittekindt beweist jedenfalls erneut, dass er neben Friedrich Ani und Jan Costin Wagner zum Triumvirat der deutschen Kriminalliteratur gehört. Da freue ich mich jetzt schon, dass der Kampa Verlag bereits am 13. Oktober dieses Jahres mit "Die rote Jawa" den dritten Manz-Band veröffentlichen wird.

Bewertung vom 03.05.2022
Der Pesthof
Sommerfeldt, Albrecht

Der Pesthof


ausgezeichnet

1619, vor den Toren Hamburgs: Auf dem Hamburger Berg liegt der Pesthof - ein Ort, an dem sich der Aussatz der Hamburger Gesellschaft befindet, um sich auf sein mehr oder weniger langes Dahinsiechen vorzubereiten. Zwischen den Schwindsüchtigen, Tollen und Gichtkranken befindet sich auch Merten Overdiek, ein Hamburger Kaufmann, der zwischen all den Verstoßenen eine Sonderrolle einnimmt. Einerseits genießt er wegen seiner Bildung und seines Wohlstands ein durchaus hohes Ansehen. Doch andererseits ist er selbst unter den Kranken und geistig Verwirrten ein Außenseiter. Denn Merten hat Lepra und darf nicht einmal mit dem Rest des Hofes die Mahlzeiten gemeinsam einnehmen. Als es auf dem Pesthof zu diversen mysteriösen Todesfällen kommt, ergreift Merten die Gelegenheit, der Einsamkeit auf dem Hof zu entkommen und macht sich kurzerhand selbst an die Ermittlungen. Eine Entscheidung, die nicht nur ihn, sondern auch die ihn unterstützende Pflegefrau Maria in höchste Gefahr bringt...

"Der Pesthof" ist der mittlerweile dritte Historische Kriminalroman des Hamburger Autors Albrecht Sommerfeldt und - wie aus den Vorgängern gewohnt - punktet auch dieses Buch mit seiner unnachahmlichen Mischung aus Schmutz, Gestank, Düsterkeit, liebenswert-kauzigen Figuren, einer gesunden Prise Humor und einer spannenden Kriminalhandlung, die bis zum Finale alles andere als vorhersehbar ist.

Während "Von Huren, Bettlern und Glunterschratzen" im Jahre 1617 und der Nachfolger "Teufelstaler" 1618 spielte, sind wir mittlerweile also im Jahre 1619 angekommen. Und so schreiten nicht nur die Geschehnisse um den Dreißigjährigen Krieg voran, sondern auch das kühne Vorhaben Albrecht Sommerfeldts, über jedes Jahr dieses Krieges einen weiteren Roman verfassen zu wollen.

Mit dem Protagonisten Merten Overdiek beweist der Autor einmal mehr, dass seine Empathie den Menschen gehört, die sich am unteren Rande der Gesellschaft bewegen. Trotz seiner liebenswerten und zugänglichen Art meiden die Leute vor allem jeglichen Körperkontakt mit ihm, und auch sonst gehen die meisten eher auf Distanz, wenn sie ihn erblicken. Bewegt er sich einmal außerhalb des Pesthofs, muss er eine sogenannte Warnklapper mit sich führen, die ihn schon von Weitem im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Aussätzigen macht. Die besten Voraussetzungen also, um im Sommerfeldt-Universum die Rolle des Helden einzunehmen. Merten zeigt im "Pesthof" eine ungemeine Präsenz und trägt die Handlung ebenso leicht auf seinen Schultern wie ihm die Sympathien der Leser:innen gewiss sein sollten.

Der eigentliche Star des Romans ist aber der Pesthof selbst. Während sich die Handlungsorte in den vorherigen Romanen vielfältiger zeigten, vollzieht sich in diesem Buch das Geschehen nahezu ausschließlich auf dem Gelände der mildtätigen Stiftung, irgendwo "im Niemandsland zwischen Hamburg und Altona", wie es im Klappentext heißt. Ein riskantes Vorhaben, das in anderen Büchern zu einer gewissen Monotonie führen könnte. Doch so atmosphärisch wie Sommerfeldt diesen Pesthof beschreibt und welch aberwitziges Ensemble sich dort ein Stelldichein gibt, macht deutlich, dass der Autor die absolut richtige Entscheidung getroffen hat. Zwischen kühlen Kellergewölben, Geheimgängen und stinkenden Gräben ist es vor allem das Tollhaus, das die Aufmerksamkeit der Leser:innen auf sich ziehen sollte.

Die Bewohner:innen des Tollhauses sind ein weiterer Beweis dafür, wie bunt und lebendig Albrecht Sommerfeldt seine Charaktere bis in die kleinsten Nebenfiguren hinein entwickelt. Neben dem prophetischen Maler Michelangelo und dem Wiedersehen mit einer beliebten Figur aus "Teufelstaler" war es vor allem Caesar, der mich begeisterte und zu meiner absoluten Lieblingsfigur wurde. Caesar antwortet ausschließlich mit lateinischen philosophischen Sprichworten, macht aber mit jeder Antwort deutlich, dass der vermeintliche "Irre" alles um sich herum bis ins kleinste Detail mitbekommt - ein tragikomischer Charakter, der mich mehrfach zum Lachen brachte