Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Verena

Bewertungen

Insgesamt 148 Bewertungen
Bewertung vom 15.12.2022
Fang jetzt bloß nicht an zu lieben
McFarlane, Mhairi

Fang jetzt bloß nicht an zu lieben


weniger gut

Gaslighting mit rosa Cover
Was würdet ihr von einem Roman erwarten, der in der typischen Rom-Com Aufmachung mit rosafarbenem Cover und dem Titel „Fang jetzt bloß nicht an zu lieben“ erwarten? Eine leichte, unterhaltsame romantische Gesichte, das hatte ich mir erhofft. Im Klappentext findet sich zwar etwas über einen Exfreund der Protagonistin, Harriet, und einer „Vergangenheit, der sie sich stellen muss“. Die Vergangenheit, beziehungsweise deren Bewältigung, nahm dann einen sehr großen Teil der Geschichte ein. Dagegen habe ich grundsätzlich nichts; wenn allerdings darin eine Thematik beschrieben wird, die bei (eventuell sogar betroffenen) Leser:innen traumatische Erinnerungen auslösen könnten, dann erschließt sich mir einfach nicht, warum Verlage und Autor:innen nirgends einen Hinweis auf diese inhaltliche Komponente geben. Deshalb von mir nun der Spoiler: es geht um Manipulation, emotionalen Missbrauch, psychische Gewalt in Beziehungen – heutzutage bekannt als Gaslighting. Die Protagonistin Harriet ist Opfer dieser Form von psychischer Gewalt und wird jäh darin erinnert, als sie den Täter, ihren Exfreund, plötzlich auf einer Hochzeit trifft, auf der sie als Fotografin arbeitet. Die Autorin zeigt gut auf, wie Harriets Trauma durch die Begegnung hochkommt; bringt den Leser:innen das Vergangene in einem Brief an die aktuelle Verlobte des Täters nah und zeigt, wie perfide Täter vorgehen, ihre Opfer systematisch fertigzumachen. Die Liebesgeschichte, mit der der Klappentext wirbt, zwischen Harriet und ihrem neuen Mitbewohner Cal spielt eine untergeordnete Rolle. Das stört mich nicht, das Marketing des Romans eben schon. Ansonsten hätte dem Roman weniger Nebenschauplätze gut getan: Cals frühere Beziehung, Cals Familiengeschichte, Lorna und ihr seltsamer Lover und ganz grundsätzlich Roxys Storyline wirkte Fehl am Platz. Stattdessen hätte McFarlane den Fokus mehr auf die Figuren Harriet und Cal legen sollen, denn trotz umfangreicher Vergangenheit bleiben beide irgendwie blass.

Bewertung vom 03.12.2022
Fabelhafte Rebellen
Wulf, Andrea

Fabelhafte Rebellen


sehr gut

Wer ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert hat, kennt das „Ich“ als Zentrum des Denkens. Mir begegnete es bewusst zum 1. Mal in den Einführungsvorlesungen meines Soziologiestudiums; vertieft in den anschließenden kultur- und literaturwissenschaftlichen Inhalten. Der Höhepunkt war eine meiner liebsten Vorlesungen über die englischen Romantiker und die diskursive Konstruktion von Identität. Doch das, was die frühen Romantiker ab dem Ende der 1790er Jahre in Jena revolutionär entwickelten, betrifft alle Menschen (Nicht-Ichs) – egal ob sie von dieser Gruppe an Dichter*innen und Denker*innen gehört haben oder nicht.
In ihrem Buch stellt Autorin Andrea Wulf diese Jenaer Gruppe und ihr gemeinsames (mehr oder weniger) Leben vor: Goethe, Schiller, Novalis, Fichte, Schelling, Hegel, die Schlegel sowie die Humboldt Brüder, jedoch auch die Frauen in ihrem Leben – allen voran Caroline Schlegel –, die nicht minder beteiligt waren an den Werken der berühmten Männer.
Der Rechercheaufwand der Autorin muss immens gewesen sein; ebenso, das alles so anzuordnen, dass es für die Leser*innen wirkt, als würden sie dem Leben in Jena beiwohnen: philosophischer Diskurs, dichterisches Schaffen, geselliges Beisammensein, eifriger Briefwechsel sowie Klatsch und Tratsch gehören dazu wie auch die politischen Entwicklungen der Zeit. Trotz der vielen Protagonist*innen liest sich das Buch leicht, teilweise sogar amüsant; manchmal jedoch hatte ich das Gefühl, dass Wulf sich zu sehr in kleinen Details verliert und sich einiges wiederholt, gleichzeitig aber in der Menge untergeht.
Ich habe viel gelernt bei der Lektüre des sehr interessanten Buches, allerdings wird es seinem Titel nicht wirklich gerecht. Die titelgebende „Erfindung des Ichs“ wird nur beiläufig erwähnt und nicht weiter erörtert. Das ist schade, denn Wulf reißt vor allem im Prolog und im Epilog kurz an, wie wichtig die Idee des „Ichs“ gerade auch in der heutigen Zeit ist, beispielsweise im Kontext der Pandemie und des Klimawandels. Dennoch eine Leseempfehlung.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.11.2022
Die Gartenparty
Mansfield, Katherine

Die Gartenparty


sehr gut

Die neuseeländische Autorin Katherine Mansfield gilt als eine der Begründer:innen und Meisterin der modernen Short Stories. In dieser Ausgabe der Manesse Bibliothek wird eine Auswahl von 27 Kurzgeschichten präsentiert. Wie immer bestechen die kleinen Büchlein durch ihre kunstvolle Gestaltung: hochwertige Materialien, ein eindrucksvolles Cover und – wie auch bereits bei Auszügen aus Katherine Mansfields Tagebüchern – sind die Innenseiten des Hardcovers mit Schriftstücken Mansfields geschmückt. Eine absolute Augenweide. Bei den Stories erging es mir wie bei den meisten Kurzgeschichtensammlungen: manche begeisterten mich, andere konnten mich gar nicht erreichen. Beeindruckt hat mich die Vielfalt der Figuren, der Situationen, der Themen, die Mansfield in ihren Stories erarbeitet hat. Wie sie vom ersten Satz an völlig in die abgebildete Realität eintaucht und die Protagonist:innen der einzelnen Erzählungen trotz des kurzen Moments, den man als Leser:in mit ihnen verbringt, wie komplett abgerundete Charaktere wirken, die Mansfield mit großem sprachlichen Geschick präsentiert. Auch ziemlich interessant fand ich den Aspekt, dass Mansfield häufig – aber nicht ausschließlich – sehr banale alltägliche Szenen für ihre Kurzgeschichten auswählte, obwohl ihr eigenen Leben alles andere als alltäglich war, weder für die damalige noch für die heutig Zeit. Kaum auszumalen, was sich noch alles hätte literarisch erschaffen können, wäre sie nicht 1923 im Alter von gerade einmal 34 Jahren verstorben.

Bewertung vom 18.11.2022
So federleicht wie meine Träume
Turk, Mariko

So federleicht wie meine Träume


gut

Ein richtig toller Jugendroman, ein Must-Read für Ballett- und Musicalfans und eines meiner Jahreshighlights! Alinas Lebenstraum ist geplatzt: seit sie klein ist, tanzt sie Ballett. Die Profikarriere vor Augen verbrachte sie ihre ganze Zeit beim Training. Nach einem Sturz ist klar, dass sie nie wieder so tanzen kann wie zuvor. Eine Mitschülerin überredet sie, am Schulmusical teilzunehmen, wo Alina unerwartet wieder auflebt. Sie muss sich selbst neu kennenlernen und einen Weg finden mit ihrer Trauer um den Verlust des Lebens, für das sie so hart gearbeitet hat, umzugehen. Hinzu kommt der Konflikt mit ihrer jüngeren Schwester, durch den ihr die Schattenseiten des Balletts bewusst werden. Alina hat japanische Wurzeln, ihre beste Freundin beim Ballett, Colleen, ist schwarz. Beide versuchten – ihrem Traum zuliebe – zu verdrängen, dass sie – wie viele andere nicht weiße Tänzer:innen Diskriminierung erfahren. Die Thematik ist da und wichtig, dominiert aber die Geschichte nicht. Denn im Zentrum stehen Alina und ihre Freund:innen: das Ensemble ist so divers auf eine natürliche Art und Weise, wie es an einer typischen amerikanischen High School der Fall sein könnte. Die Jugendlichen wirken ihrem Alter entsprechend und führen keine hochphilosophischen Dialoge wie in manch anderem Young Adult Roman. Das fand ich sehr erfrischend und authentisch. Die Bande zwischen den Figuren entwickeln sich langsam: es geht um Freundschaft, erste Liebe aber auch die Beziehung zweier entfremdeter Schwestern. Alinas Entwicklung ist keine leichte; nicht immer wirkt sie dadurch nahbar, aber ihr Lernprozess und die Art, sich selbst, ihre Gefühle und ihr Verhalten zu reflektieren, werden von Autorin Mariko Turk einfühlsam und realistisch dargestellt. „So federleicht wie meine Träume“ ist zart und kraftvoll zugleich, wie eine Balletttänzerin, die anmutig und elegant über die Bühne schwebt, den Zuschauer:innen verborgen getragen von der Muskelkraft einer Hochleistungssportlerin.

Bewertung vom 18.11.2022
QUEEN ELIZABETH II.: Ihr Leben in Bildern, 1926-2022
Souden, David

QUEEN ELIZABETH II.: Ihr Leben in Bildern, 1926-2022


gut

Ein schöner Bildband, der einen interessanten roten Faden präsentiert, aber dennoch ein wenig hinter meinen Erwartungen zurückblieb. Da es sich um ein von der BBC in Auftrag gegebenes Buch handelt, spielt die British Broadcasting Corporation auch eine größere Rolle: sie wurde gegründet 1922, vier Jahre bevor Elizabeth II. geboren wurde. Der rote Faden durch den Bildband sind daher Ereignisse im Leben der Queen, die auch durch die BBC geprägt waren. Das ist vor allem in der ersten Hälfte ihres Lebens sehr spannend: Radioübertragungen – zuerst durch ihren Vater, der ja bekanntlich erst König wurde, nachdem sein Bruder abgedankt hatte; dann aber auch durch die noch sehr junge Prinzessin selbst. Fotografen bei ihrer Hochzeit, Fernsehübertragungen bei ihrer Krönung – heute eine Selbstverständlichkeit, damals ein absolutes Novum, nicht nur im Zusammenhang mit dem Königshaus. Ein wenig verpasst es daher aber der Autor diesen Trend mit ins 21. Jahrhundert zu nehmen. Ähnlich wie die Königsfamilie sich selbst neu erfinden muss, um weiterhin relevant zu bleiben – vor allem in Zeiten in denen die Monarchie grundsätzlich in Frage gestellt wird –, muss dies sicher auch die BBC. Das zu reflektieren hätte dem Bildband, gerade bei dem roten Faden der Medien und Kommunikation, gutgetan. Auch wird völlig unkritisch auf das Leben der Queen geblickt; selbst größere Krisen, die es gab und gibt, spielen keine Rolle.
Irritiert hat mich das Ende des Bildbands: der letzte Text ist zu finden unter dem Foto, als sie 2017 mit angeblichem Anti-Brexit Outfit zur Eröffnung des Parlaments erschien. Neuere Fotos, ein Bild vom Balkon des Buckingham Palaces anlässlich des Platinum Jubilees im Sommer 2022 ist zu finden. Pandemie, der Tod ihres geliebten Ehemanns und auch ihr Tod im September 2022 fließen nicht mehr ein. Das ist nicht nur sehr schade, es wirkt irgendwie unabgeschlossen. Man könnte fast vermuten, dass man den Bildband schnellstmöglich veröffentlichen wollte und dabei auf einen richtigen Abschluss verzichtet hat.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.11.2022
Ein Lied vom Ende der Welt
Ferencik, Erica

Ein Lied vom Ende der Welt


schlecht

Wissenschaft auf Wish bestellt! Linguistin Valerie soll in die Arktis reisen: Klimaforscher Wyatt hat dort ein Mädchen im Eis gefunden, das eine unbekannte Sprache spricht. Der Ansatz, dass ein Kind in einen Eisblock gefroren gefunden wird, ist zwar nicht sehr realistisch, aber spannend. Leider konnte die Autorin aus ihrer eigentlich genialen Idee nichts machen.
Die Linguistin wirft dem Kind Wörter nordischer Sprachen an den Kopf, wie Linguisten (die natürlich alle zig Sprachen sprechen) das nun mal machen. Die Klimaforscher sausen auf Schneemobilen herum, bohren Löcher ins Eis und saufen sich die Hucke voll, denn an Wein mangelt es auf der Forschungsstation nie. Die Figuren sind super platt, bis auf das Kind allesamt unsympathisch, es wirkt, als wären der Autorin wissenschaftliche Arbeitsvorgänge völlig egal, die Auflösung des Rätsels so an den Haaren herbei gezogen, dass man nur noch darüber lachen kann und selbst die gar nicht mal so schlechten Beschreibungen der einzigartigen Natur schmelzen dahin wie das Eis, weil die Autorin es nicht schafft, sie richtig in ihre Geschichte einzubauen.
Ein paar besondere negativ Highlights (Spoiler!)
- Die Frauenfiguren hätten so spannend sein können. Wissenschaftlerinnen in der Arktis! Stattdessen wird allen eine dramatische Verlustgeschichte angehängt, die ihr ganzes Tun bestimmt
- Wyatt ist so eklig
- Lange kommt keiner der "Forscher" auf die Idee, dass das Kind, das in Jahrtausende altem Eis gefunden wurde, selbst uralt sein könnte
- die Szene, in der das Baby aufgetaut wird (!!!!)
- die Tauchszene!!! Valerie schafft es, im Eismeer zu tauchen, weil sie jeden Abend den Merkzettel der Polartaucher liest. Beide Polarforscher sterben bei der Aktion, bei Valerie, die mit Tauchen bis auf diesen Zettel nix am Hut hat, noch dazu unter dem Entzug ihrer Medikamente und ihrer Angststörung leidet, klappt alles
- alles, was mit der Arbeit von Linguist:innen zu tun hat

Bewertung vom 07.11.2022
In 80 Büchern um die Welt

In 80 Büchern um die Welt


sehr gut

Sehr hochwertig gestaltet beschäftigt sich dieses Buch mit Büchern, in denen gereist wird. Aber man sollte nicht fälschlicherweise eine Art Reiseführer erwarten, denn auch wenn auf dem Cover von „abenteuerlichen Reisen“ die Rede ist, so ist die Herangehensweise der Essays, die die einzelnen Bücher vorstellen, eher eine literaturwissenschaftliche. Je nachdem wie stark die interpretatorische Ebene dabei ins Metaphorische geht, kann das für Leser:innen eventuell befremdlich sein (so hatte ich zumindest den Eindruck von der Leserunde). Mir persönlich hat das gefallen und ich hatte auch nicht mit einem Reiseführer gerechnet (obwohl ich doch zugeben muss, warum die Vermarktung des Buches dahingehend irreführend sein könnte). Natürlich wird bei dem Umfang hier und da quergelesen, einige Essays fand ich interessanter als andere. Ein kleiner Kritikpunkt ist, dass die erste der vier Zeitepochen extrem weit gefasst ist im Vergleich zu den anderen; da ging definitiv das ein oder andere Buch unter. Zudem hätte ich mir ein bisschen mehr Diversität gewünscht: der Anteil der Autorinnen ist – auch in der Postmoderne und Gegenwart – deutlich geringer im Vergleich zu den männlichen Kollegen. (Im Klappentext wird beispielsweise Jane Austen erwähnt, im Buch selbst taucht dann aber keines ihrer Werke auf.) Auf jeden Fall ist das Buch super hochwertig, eine tolle Haptik, die Illustrationen sind wirklich sehr passend gewählt und versprechen eine schöne Schmökerzeit.

Bewertung vom 07.11.2022
Miss Bridgerton und der geheimnisvolle Verführer / Rokesby Bd.3
Quinn, Julia

Miss Bridgerton und der geheimnisvolle Verführer / Rokesby Bd.3


sehr gut

Wieder ein sehr unterhaltsamer Roman von Julia Quinn! Durch das meist gleichbleibende Setting der Schiffskabine zeigt die Autorin, wie super sie Dialoge schreiben kann – Andrew und Poppys „Wortgefechte“ wirken sehr dynamisch, die beiden Figuren toll gezeichnet. Das Knistern zwischen den beiden kann man wirklich gut spüren. Die große Entführung, also die zweite, die in Portugal, hätte ich nicht unbedingt gebraucht, aber ich bin mir sicher, dass viele andere Leser:innen auch das sehr unterhaltsam finden werden. Ein bisschen schade war, dass der Roman relativ abrupt endete, zwar mit dem für Julia Quinn üblichen Epilog, aber nach der dramatischen Entführung und Rettungsaktion hätte ich gerne noch etwas mehr Zeit mit Andrew und Poppy und den restlichen Bridgertons und Rokesbys in Kent verbracht. Aber dennoch einer der Quinn-Romane, die ich eher weit oben einordnen würde.

Bewertung vom 02.11.2022
Heumahd
Betz, Susanne

Heumahd


sehr gut

Mit „Heumahd“ erfindet Autorin Susanne Betz eine Geschichte für das „Mädchen mit weißem Kopftuch“ von Wilhelm Leibl, zu sehen in der Bayerischen Staatsgemäldesammlung. Mit 23 verwittet ist Vroni erleichtert, nicht mehr den Misshandlungen des Bauers ausgesetzt zu sein. Sie beginnt ihr neues Leben als Hofherrin des kleinen Bergbauernhofs. Stur geht sie ihren Weg und arbeitet hart. Neben Magd und Knecht gibt es auch noch den Onkel des Bauern und Rosl, ein Kind aus dessen erster Ehe. Vroni ist abhängig vom Wetter, muss Grenzen akzeptieren, die ihr Körper ihr aufzeigt, und ist unter ständiger Beobachtung des Dorfes: nicht mehr heiraten wollen, in dem jungen Alter, sorgt für Unruhe.
Durch die Jahreszeiten dem Alltag auf dem Hof zu folgen wirkt entschleunigend; bildgewaltig liegt er unter dem Karwendelgebirge und die Naturbeschreibungen funktionieren meist (hin und wieder sind die Metaphern zu blumig).
Auch der Maler Leibl hat einen Auftritt. Er freundet sich an mit Vroni, zeigt ihr, wie man die Natur auch genießen kann und bringt einen englischen Arzt an den Hof. Rosl, die Stieftochter, ist behindert, verachtet im Dorf. Vroni sorgt sich um ihre Gesundheit – das kleine Mädchen ist ihr das Liebste auf der Welt. Hier wird es etwas kitschig, denn die Vermischung realer Personen mit fiktiven Elementen war für mich etwas zu viel. Der Engländer ist ein Sohn von John Langdon Down – auf ihn geht die Bezeichnung Down Syndrom für Menschen mit Trisomie 21 zurück. Auch wenn es historisch korrekt sein mag, so ist mir doch ab und zu die Beschreibung von Rosl aufgestoßen; hinzukommen Begrifflichkeiten, die längst – und aus gutem Grund – nicht mehr für Menschen mit Down Syndrom verwendet werden. Schade, dass die Autorin hier nicht auch etwas mehr künstlerische Freiheit walten ließ, wie sie es bei Leibl und Reginald getan hat. Wenn schon das nicht, wäre auf jeden Fall ein Hinweis im Nachwort schön gewesen.
Selten war ich so froh über ein leicht kitschiges Ende – das Bild ist gemalt, alle sind glücklich und die Familie des Bergbauernhofs, v.a. Vroni und Rosl, sind mir wirklich ans Herz gewachsen.

Bewertung vom 01.11.2022
Das Leuchten der Rentiere
Laestadius, Ann-Helén

Das Leuchten der Rentiere


ausgezeichnet

Ein Jahreshighlight!

In „Das Leuchten der Rentiere“ durfte ich viel über die Kultur der Sámi, dem indigenen Volk Skandinaviens, lernen. Der Roman beginnt mit einer sehr eindrücklichen Szene, als die 9jährige Elsa allein auf dem Weg zu den Rentieren ist. Diese werden von Sámi-Familien halbwild gehalten, ihre Lebensweise ist eng mit den Tieren verknüpft. Elsa muss mit ansehen, wie ihr Kalb brutal gewildert wird. Bisher konnte die Familie die Gräuel von ihr fernhalten, doch von nun an, versucht sie zu verstehen: warum unternimmt die Polizei nichts, obwohl es wieder und wieder passiert? Drohungen, Rassismus, die Folgen des Klimawandels, Angst, Hoffnungslosigkeit und die hohe Suizidrate v.a. unter den jungen Sámi gehören zum Alltag. 10 Jahre später hat sich nichts geändert: aus der Perspektive der Wilderer wird die brutale Jagd beschrieben. Aus Spaß quälen und foltern sie die Ren zu Tode, so langsam es nur irgendwie geht.

Die tiefe, über Generationen gefestigte Verbindung die die Sámi zu den Rentieren haben, kann von Außenstehenden nie ganz nachempfunden werden. Viele der Rentierhalter scheinen resigniert zu haben: neben den Wilderern machen auch die Folgen des Klimawandels immer mehr Schwierigkeiten. Hinzu kommen einige selbst gemachte Probleme: das patriarchalische System sieht für Frauen wie Elsa, die ihr Leben den Ren widmen möchte, keinen Platz vor. Mit großer Leidenschaft kämpft sie für ihre Überzeugungen, auch wenn es wirkt, als träte sie gegen Windmühlen an.

Ein starkes Gefühl, das ich beim Lesen hatte, war Hilflosigkeit. Hilflosigkeit gegen schier übermächtige Feinde: die unvorstellbare Brutalität der Wilderer, der Rassismus, die Perspektivlosigkeit. Gleichzeitig aber auch Bewunderung: Elsa gibt nie auf; schöpft Kraft in der Natur, in den Tieren, in ihrer Kultur – die sie gleichzeitig immer wieder hinterfragt. Neugierde und die Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren und entsprechend zu handeln – das ist die Zukunft. Ein beeindruckender Roman, mit einer Protagonistin, die mir lange in Erinnerung bleiben wird.

Die fiktionale Geschichte basiert, wie Autorin Ann-Helén Laestadius, selbst gebürtige Sámi, im Nachwort berichtet, auf wahren Begebenheiten.