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dracoma
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LANDAU

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Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 22.01.2024
Was es braucht, das Leben zu lieben
Diome, Fatou

Was es braucht, das Leben zu lieben


ausgezeichnet

Fatou Diome legt in diesem kleinen Band 8 kleine Erzählungen vor, die alle eines gemeinsam haben: die große Empathie, mit der sich die Autorin ihrem Gegenstand widmet. Es sind nicht immer Menschen, die sie in den Mittelpunkt stellt. In einer der Geschichten ist es das sog. „kleine Schwarze“, das sich an unzählige glanzvolle Auftritte und aufregende Begegnungen erinnert und voller Trauer seine momentane Situation beleuchtet: vergessen an einem Kleiderbügel hängend, achtlos betrachtet, lieblos hin- und hergeschoben.

Von dieser Geschichte abgesehen, lässt die Autorin einen bunten Figurenreigen auftreten. Alle Figuren leben sichtlich aus dem Erfahrungsschatz der Autorin, die sich als frankophone Afrikanerin zwischen zwei Kontinenten und zwei Kulturen bewegt. In einer Geschichte erzählt sie z. B. von ihrem senegalesischen Großvater, dem sie sich nach wie vor verbunden fühlt, und setzt ihm schreibend ein zärtliches Denkmal.
Zwei andere Geschichten erzählen von einem körperbehinderten Nachbarn, von dem sie sich beobachtet fühlt. Daher stuft sie ihn empört als Spanner ein, und seine etwas lockeren Sprüche bestätigen sie in ihrem Urteil. Schließlich aber wird ihr klar, dass er lediglich „als Gentleman ... das Geplänkel“ genoss. Sie erkennt, dass er ihr nicht nur seine Freundschaft, sondern auch seinen Schutz anbietet.

Die Autorin liebt es offensichtlich, die Perspektiven zu wechseln. Zwei weitere Geschichten gehen von einer eher alltäglichen Unfreundlichkeit aus, und die Autorin beleuchtet nun die beiden Beteiligten. Mit großer Empathie zeichnet sie das Psychogramm eines Mannes, der sich auf dem absteigenden Ast seines Lebens befindet und seine Mutter wegen ihrer Illoyalität anklagt – und auf der anderen Seite vertieft sie sich genauso akribisch in das Opfer seiner Unfreundlichkeit.

Was macht das Leben liebenswert? „Mit ein paar Löffeln Zuneigung machten wir es ein bisschen warmherziger“, auch wenn das Leben seinen „unangenehmen Beigeschmack der Realität“ dadurch nicht verliert.

Alle Geschichten leben von der menschenfreundlichen Haltung der Autorin und ihrer überbordenden Sprachlust, mit der sie lebhafte und originelle Bilder erschafft. So schreibt sie z. B. nicht einfach: „Ich erzählte ihm von meiner Reise“, sondern sie gestaltet den Satz üppiger: „Meine Zunge peitschte die Minuten wie die Paddel der Niominka den Rücken des ungeheuerlichen Atlantik“. Das farbenprächtige Cover passt zu den Erzählungen.

Bewertung vom 19.01.2024
Hans Grünauer
Senn, Jakob

Hans Grünauer


ausgezeichnet

Jakob Senn ist ein Schriftsteller, der im Schweizer Oberland und Zürich als Volksschriftsteller sicherlich eher bekannt ist als im übrigen deutschsprachigen Raum. Umso schöner ist es, dass der Limmat-Verlag zum 200. Geburtstag Jakob Senns sein Hauptwerk neu herausgibt.

Der Roman erinnert schon im Titel an ein berühmtes Werk eines weitaus berühmteren Kollegen: an den Entwicklungsroman „Der Grüne Heinrich“ von Gottfried Keller. Auch Senns Roman trägt deutliche autobiografische Züge. Der Leser wird versetzt in die Mitte des 19. Jahrhunderts, in ein kleines Dorf im Töss-Tal in der Nähe von Zürich. Hier wird Hans Grünauer, das Alter Ego Senns, in eine Kleinbauernfamilie hineingeboren, darf fünf Jahre lang zur Schule gehen und muss dann am Webstuhl und mit harter Arbeit in der Landwirtschaft zum Unterhalt der Familie beitragen. Trotz seiner entbehrungsreichen Kindheit gibt er seine Liebe zu Büchern und zur Dichtkunst nicht auf. Er liest, was ihm in die Hände fällt, und das ist überwiegend fromme Erbauungsliteratur. Seine Eltern, vor allem seine Stiefmutter, machen ihm als Nichtsnutz das Leben schwer, aber in seinem Bruder Jakob findet er eine gleichgestimmte Seele und einen lebenslangen treuen Freund.

Die Krisen der Zeit wie das Aufeinanderprallen von protestantischen Liberalen und katholischen Demokraten, die schlimme Hungersnot Mitte der 40er Jahre und die Gründung des Bundesstaates fließen nur am Rande in den Roman ein. Der Autor konzentriert sich auf die literarische Entwicklung seines Helden. Im Lauf der Zeit findet Hans Förderer für sein autodidaktisches Lernen, und recht launig beschreibt er z. B. den geldgierigen Dorfapotheker oder den schrulligen Volksdichter Zellberger, der als Eremit lebt und einen Kreis von ergebenen Jüngern um sich schart. Ausgesprochen burlesk ist auch die Geschichte seiner erzwungenen Brautschau, und von seinem Freigeist zeugt z. B. seine Beobachtung, dass die meisten medizinischen Werke zur Frauenheilkunde von Priestern geordert werden.

Was den Roman so lesenswert macht, ist nicht nur diese besondere Biografie, sondern auch der Blick in die Zeit. Das harte Leben der Kleinbauern, die langen Fußwege bei Wind und Wetter, die bigotte Frömmigkeit und das pietistische Frömmlertum, Entbehrungen, das unzureichende Schulwesen, dörfliche Bräuche und vieles mehr lässt Senn vor seinem Leser auferstehen. Trotz der Härte des Lebens – „keine Blumenpfade“- findet der Autor einen humorvollen und immer versöhnlichen Ton.

Das Nachwort liefert hilfreiche Informationen zu Jakob Senn.

Bewertung vom 16.01.2024
Eine Jugend in Deutschland (MP3-Download)
Toller, Ernst

Eine Jugend in Deutschland (MP3-Download)


ausgezeichnet

Tollers Aufzeichnungen umfassen die Jahre 1893 bis 1939, und schon in den ersten Sätzen macht er klar, um was es ihm geht: seine persönliche Geschichte ist für ihn typisch für seine Generation in dieser Zeit.

Aufgewachsen in wohlhabenden Verhältnissen, genießt er eine unbeschwerte Kinderzeit. Allerdings erhält er durch seinen Kinderfreund Einblick in andere, kargere wirtschaftliche Verhältnisse, und die ungleiche Verteilung von Geld und Wohlstand beschäftigt ihn. Die Antwort seiner Mutter „Gott will das so“ beruhigt ihn zunächst, aber nicht auf Dauer, und die Beseitigung dieser und anderer Ungleichheiten wird zu seiner Lebensaufgabe werden.

Toller erzählt von der großen Kriegsbegeisterung, mit der seine Generation in den I. Weltkrieg gezogen ist. Im Feld aber kommt die große Ernüchterung er entwickelt sich zum leidenschaftlichen Pazifisten. Weil er als Kriegsursache das Streben der Hochfinanz nach Bodenschätzen und Gewinn erkennt, wendet er sich dem Sozialismus zu.

Sehr lebhaft beschreibt er in der Folge die Revolution, die Bildung der Arbeiter- und Soldatenräte und er bedauert das Zaudern der Revolutionäre vor institutionalisierten Machtstrukturen, die eine gründliche Umwälzung verhindern und das Erstarken der Konterrevolution begünstigen. Das Scheitern der Räterepublik, der Wirrwarr der Revolution, die blutigen Kämpfe zwischen Weiß- und Rotgardisten – Tollers Erzählungen und die eingefügten Augenzeugenberichte lassen diese unruhige Zeit lebendig werden. Ebenso lebendig in ihrer Grausamkeit und ihrer Menschenverachtung wird die Zeit der 5jährigen Festungshaft.

Toller ist ein außergewöhnlicher Mensch, ein leidenschaftlicher und dabei hoch moralischer Mann. Er weiß inzwischen, dass die Aussage seiner Mutter „Gott will es so“ nicht stimmt, und er setzt seine ganze Energie und Wortgewalt ein für eine Zukunft frei von Ungleichheiten, frei von Kriegen und Nationalismus, und für eine Zukunft, in der das Recht unparteiisch ist und nicht, wie er es erlebt hatte, ein Instrument der Macht. Sehr scharfsichtig erkennt er Hitler als einen üblen nationalistischen Agitatoren, der einer solchen Zukunft im Wege steht.

Seine Erinnerungen sind zugleich ein Memento Mori für seine ermordeten Weggefährten, allen voran Eisner, Landauer, Leviné und Erich Mühsam.
Tollers Leidenschaft wird vom Sprecher Richard Barenberg äußerst wirkungsvoll in Sprache umgewandelt.
Hörempfehlung!!

Bewertung vom 16.01.2024
Grace
Lynch, Paul

Grace


ausgezeichnet

Der Roman versetzt uns in das Irland der Großen Hungersnot in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Über fünf Jahre hinweg fielen die Kartoffelernten aufgrund der sog. Kartoffelfäule aus und führten zu einer katastrophalen Hungersnot, die durch die englischen Exporte und fehlende Hilfsmaßnahmen noch verschärft wurde.
Grace, gerade 14 Jahre alt, wird von ihrer Mutter als Junge verkleidet auf den Weg gebracht: sie soll sich Arbeit suchen und für sich selber sorgen. Grace liebt ihre kleinen Brüder und trennt sich schwer von ihnen, aber Colly, einer der Brüder, begleitet sie heimlich.

Was nun beginnt, ist eine Odyssee durch das hungernde Land. Immer durch Graces Augen sieht der Leser die Not der Menschen: Bettelnde und heruntergekommene Menschen, die ihren Besitz und sich selbst verkaufen für einen Penny oder ein Stück Brot; verwahrloste und halb erfrorene Kinder, verhungerte Menschen in Straßengräben, gespenstische Kolonnen von Hungernden, die durchs Land ziehen, verwahrloste Kinderbanden. Gras, Vogelmiere, Kräuter – alles wird gegessen, Haustiere sowieso, und die Vögel werden vom Himmel geholt. Und immer gegenwärtig die Angst vor den Constablern und die Angst, als Diebin am Galgen zu enden.

Der Hunger lässt die Menschen verrohen, niemand ist sicher vor seinem Mitmenschen, und Grace muss mit ihrem Messer ständig auf der Hut sein vor Diebstahl und Übergriffen. Die seltenen milden Gaben von wohltätigen Reichen sind nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein, sondern sie rufen bei Grace auch einen unbändigen Hass hervor auf die Nutznießer der Hungersnot. Der Hass wird gesteigert, wenn sie sieht, wie die reichen Bauern ihren Besitz sichern. Sie schrecken dabei vor Mord und Totschlag nicht zurück und lynchen auch halbverhungerte Kinder. Der Wolf ist des Menschen Wolf geworden.

Auch Grace verroht, der Hunger macht sie mitleidlos und hart. Sie stiehlt, sie schlägt, sie setzt ihr Messer ein, sie schüttelt bettelnde Kinder von ihrem Arm. Aber sie leidet unter ihren Taten, und die Toten kommen als Hungerhalluzinationen zu ihr, sodass sie schließlich Traum und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten kann.
Der Autor wahrt streng die Perspektive des jungen Mädchens, und damit macht er es dem Leser nicht immer leicht. Grace ist noch ein Kind, sie versteht einiges nicht, und so bleibt es dem Leser überlassen, sich das Geschehen zusammenzureimen. Mit diesen Leerstellen gelingen dem Autor aber auch äußerst anrührende Stellen, z. B. im Zusammenhang mit dem geliebten kleinen Bruder, mit dem sie ständige Zwiesprache führt.

Ein sprachlich dichter Roman, düster, lyrisch und poetisch, allerdings mit Längen.

Bewertung vom 15.01.2024
Abenteuer & Wissen, Ernest Shackleton - Gefangen im Packeis (MP3-Download)
Hempel, Berit

Abenteuer & Wissen, Ernest Shackleton - Gefangen im Packeis (MP3-Download)


ausgezeichnet

Das „Heroic Age“, wie die Briten das Zeitalter der Polarforscher bezeichnen, ist vorbei, aber die Faszination hält an, die von diesen Abenteurern ausgeht. Einer davon ist Ernest Shackleton, dem kein Erfolg und zu Lebzeiten auch kein Ruhm zugedacht war. Eine schöne Idee, zu seinem 150. Geburtstag am 15. Februar dieses Hörspiel herauszugeben!

Mit seinem Schiff Endurance und 28 Männern versuchte Shackleton, den antarktischen Kontinent über den Südpol hinweg zu durchqueren. Das Unternehmen scheiterte, die Endurance wurde vom Packeis festgesetzt, schließlich zermalmt und unter Wasser gezogen, wo sie erst 2022 in über 3000 m Tiefe gesichtet werden konnte. Die Besatzung zog über neun Monate unter Shackletons Führung unter schlimmsten äußeren Umständen durch die Antarktis, bis sich Shackleton zu einer riskanten Rettungsaktion entschloss Und diese Rettungsaktion ist es, die in die Geschichte eingeht und ihm den ersehnten Ruhm brachte.

Das Hörspiel stellt von Beginn an Shackletons charismatische Führungspersönlichkeit heraus, die geprägt ist von Teamgeist, Weitsicht, Ausdauer und Fürsorge für seine Leute. Der Untergang der Endurance, die ständige Bedrohung durch das Packeis, die mörderische Kälte und Nässe - all das stellt das Hörspiel in kurzen, sehr plastischen Szenen vor. Erzählende Passagen wechseln mit Tagebucheinträgen und informierenden Hinweisen ab. Als Clou kommt auch der Polarforscher Arved Fuchs zu Wort, der Shackletons spektakuläre Rettungsaktion wiederholte und von der Antarktis bis nach Südgeorgien segelte. Wörter wie „homogen“, „bagatellisieren“ u. a. übersteigen den Wortschatz der Zielgruppe, aber die Bedeutung ergibt sich aus dem Zusammenhang.

Das dazugehörige Booklet bietet Karten, weiterführende Informationen z. B. zum Walfang, zum geomagnetischen und magnetischen Südpol u. a. und zum Polarforscher Arved Fuchs.

Eine sehr gelungene Mischung aus Abenteuer und Wissen, für Kinder und Erwachsene gleichermaßen geeignet.

Bewertung vom 08.01.2024
Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt / Die Mordclub-Serie Bd.4 (2 MP3-CDs)
Osman, Richard

Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt / Die Mordclub-Serie Bd.4 (2 MP3-CDs)


sehr gut

Mein Hör-Eindruck:

Die Seniorenresidenz „Coopers Chase“ im ländlichen Kent: ein idyllischer Schauplatz für ganz und gar nicht idyllische Handlungen!

Richard Osman legt hier den 4. Band seiner Reihe „Donnerstagsmordclub“ vor, und auch wenn man wie ich die vorhergehenden Bände nicht gelesen/gehört hat, hat man keinerlei Verständnisschwierigkeiten.

Vier recht robuste, teilweise recht skurrile Senioren vertreiben sich ihre Zeit mit Mördersuche und bilden ein sehr originelles Ermittlerteam, das mit der örtlichen Polizei mehr oder weniger vertrauensvoll zusammenarbeitet. In dieser Folge wollen sie dafür sorgen, dass der Mörder eines befreundeten Antiquitätenhändlers gefunden wird. Dabei geraten sie in einen Strudel von Kunstfälschungen, Heroinschmuggel, Drogendeal, Antiquitätenschmuggel, polizeilichen Zuständigkeitskollisionen, und – last, but not least – auch Heiratsschwindel. Dieser Strudel bringt es mit sich, dass recht viele, zu viele Leichen den Gang der Handlung pflastern, was aber der guten Stimmung der vier Senioren keinen Abbruch tut.

Der Roman lebt von dem sprichwörtlichen unterkühlten britischen Humor. Er rutscht aber niemals ins Banale oder Flapsige ab. Dafür sorgt der Autor, wenn er seine Ermittler auch die schweren Seiten des Altwerdens erleben lässt. Die zunehmende Demenz ihres Ehemannes bürdet Elizabeth, einer der Vier, eine schwere Verantwortung auf, die sie schließlich nur mit Hilfe ihrer Freunde tragen kann. Und auch die anderen leiden unter der Einsamkeit nach dem Tod ihrer Partner, dem sie sich immer noch verbunden fühlen. Diese tiefe Verbundenheit hat nichts Kitschiges an sich; sie stellt einen behutsamen Kontrapunkt zu den Liebesirrungen und -wirrungen der jüngeren Handlungsträger dar. So wie der Autor seinen Humor niemals ins Flapsige abrutschen lässt, genauso wahrt er hier den Spagat zwischen Ernst und Heiterkeit.

Das Hörbuch lebt von seinen beiden Sprechern, und hier vor allem von Johannes Steck. Die Wandlungsfähigkeit seiner Stimme ist einfach nur phänomenal. Jede Person hat ihre Stimme, ohne dass sich die Sprecher-Stimme verzerrt oder peinlich unnatürlich wird. Ein Vergnügen!

Bewertung vom 01.01.2024
Die November-Schwestern
Johnson, Josephine W.

Die November-Schwestern


ausgezeichnet

Josephine Johnson versetzt uns in ihre Zeit und in ihr Land: in das Amerika der 30er Jahre, das durch die Große Depression gebeutelt wird. Ihr erster Satz „Jetzt im November sehe ich unsere Jahre im Ganzen. “ zeigt nicht nur das Erzählen aus dem Rückblick, sondern vor allem schon die elegische Grundstimmung, die über dem ganzen Roman liegt.

Im Mittelpunkt steht die Familie Haldmarne: Vater, Mutter, drei Töchter, wobei die mittlere die Ich-Erzählerin ist. Der Vater hat seine Arbeitsstelle und sein Geld verloren und versucht nun, als mittelloser Farmer auf einer vernachlässigten Farm über die Runden zu kommen. Er ist glücklos und oft verzweifelt und dem ständigen Kampf gegen die Tücken des Wetters kaum gewachsen. Die Angst vor dem drohenden Bankrott, die Abhängigkeit von den Marktbedingungen und die Aussichtslosigkeit seiner Lage machen ihn zu einem launischen und mürrischen Menschen.

Darunter leidet vor allem die ältere Tochter Kerrin. Im Unterschied zu ihren Schwestern entzieht sie sich immer wieder der harten Arbeit auf der Farm und auch dem familiären Miteinander. Sie macht ihren glücklosen Vater für die Situation der Familie und vor allem für den Verlust ihrer Zukunftsträume verantwortlich, aber sie findet keine Möglichkeit, ihre Situation zu ändern. Die Anstellung eines Knechts wirkt in dieser gespannten Situation wie ein Katalysator, der unterdrückte Aggressionen freisetzt.

Der Blick der jungen Autorin auf ihre Zeit und die aktuellen Lebensbedingungen ist erstaunlich scharf, trotz ihrer Jugend. Sie schlägt deutliche sozialkritische Töne an, wenn sie zeigt, wie die wirtschaftlichen Bedingungen die Entfaltungsmöglichkeiten eines jungen Menschen verhindern und was der ständige Kampf ums Überleben mit dem inneren Gefüge einer Familie macht.

Dazu kommt, dass die Familie Haldmarne kein Einzelfall ist. Auch ihre Nachbarn befinden sich in einer ähnlichen Situation. Die Lage verschärft sich durch Steuerforderungen, für deren Begleichung die Familie den halben Rinderbestand verkaufen muss und damit weiter in eine Armut rutscht, aus der sie sich kaum mehr selber befreien kann. Die Nachbarn versuchen sich gegenseitig zu helfen, aber ihre Mittel sind beschränkt und wirken nur kurzfristig. Eine grundlegende Hilfe ist nicht in Sicht, im Gegenteil: der Kapitalismus blüht, indem die Landbesitzer immer reicher werden und ihre Pächter ums Überleben kämpfen müssen. Mit eindringlichen Bildern vermittelt Johnson ihrem Leser einerseits die Schönheit der Natur, aber andererseits vor allem die Not der Zeit, die Ausweglosigkeit der Lage, das entbehrungsreiche Leben und den Fatalismus ihrer Zeitgenossen.

Passend zum bäuerlichen Leben organisiert Johnson ihren Roman wie den Kreislauf eines Bauernjahres: ein schöner Kunstgriff!

Im Unterschied zu ihren eher wortkargen Figuren kann sie erzählen und Emotionen vermitteln, sie kann wortgewaltig dramatische Naturereignisse wie Dürre, Sturm und Feuer beschreiben, und so spricht der Roman über die fast hundert Jahre hinweg seine Leser eindringlich und unvermittelt an.

Bewertung vom 22.12.2023
Das rote Buch der Abschiede
Saisio, Pirkko

Das rote Buch der Abschiede


ausgezeichnet

Pirkko Saisio macht es ihrem Leser nicht leicht. Ihr Buch ist ein Erinnerungsbuch, und so springt sie zwischen den Zeiten hin und her, analog zu ihrer Erinnerung. Sie beginnt zwar in der Gegenwart, aber reiht dann ihre Erinnerungsfetzen aneinander und überlässt dem Leser die Gesamtschau.

Diese Gesamtschau ist jedoch faszinierend. Vor dem Auge des Lesers entsteht das Bild Helsinkis in den 60er und 70er Jahren, penibel beschreibt die Autorin die Wege, die Örtlichkeiten, die Lage der elterlichen Wohnung und vor allem die Kirche, zu der sie eine besondere Beziehung entwickelt. Hier in Helsinki wuchs die Autorin auf, in einem Mietshaus im Arbeiterviertel, in einer kommunistischen Familie, in deren Regalen ausschließlich die Bücher von Stalin und Lenin standen. Damit sind schon die Konstituenten genannt, die das Leben der Autorin bestimmen: ihre Religiösität und ihre kommunistische Ausrichtung.

Die Liebe zum Buch, zur Literatur und allgemein zur Kunst führt sie von ihrer Familie weg. Sie ist die Erste ihrer Familie, die studiert. Noch entscheidender ist aber ihre Homosexualität, die im Finnland der 70er Jahre noch unter Strafe stand und die zum Bruch mit ihren Eltern führt: „Und so trennt Mutter mich mit einem Seziermesser von meinem Hintergrund."

Das ist nicht der einzige Abschied, den die Autorin thematisiert. Im Zentrum steht der quälende Abschied von ihrer großen Liebe Havva, der ihr Leben aus den Fugen geraten lässt. Noch heute unterteilt sie ihr Leben in die Zeit vor und nach dieser Liebesbeziehung. Kleinere Abschiede gruppieren sich um dieses Zentrum herum. Es sind nicht nur Abschiede von Lebenspartnerinnen, sondern auch der Abschied von beruflichen Plänen und die Neu-Ausrichtung hin zur Schauspielerei, zur Regie und zum Schreiben. Durch diese Abschiede wird das Buch sehr dicht. Der Leser begleitet Pirkko Saision zu ihren sozialistisch-revolutionären Agitprop-Theatervorstellungen, und er bekommt einen Eindruck vom Leben einer jungen lesbischen Frau im Finnland der 70er Jahre. Die Art und Weise, wie sie ihre sexuelle Identität literarisiert, besticht durch die Selbstverständlichkeit und auch Leichtigkeit, mit der sie sie erzählt. Ihre oft szenische Erzählweise, die an ein Drehbuch erinnert, wirkt lebhaft, pointiert und kraftvoll, aber immer poetisch.

Wie eingangs gesagt: Pirkko Saisio macht es ihrem Leser nicht leicht. Sie springt nicht nur zwischen den Zeiten umher, sondern auch zwischen den Erzählinstanzen. Mal erzählt ein Ich, dann wieder eine Sie. Damit schafft die Autorin zwar kunstvoll Nähe und dann wieder Distanz zu ihrer Figur, aber dieser Wechsel führt immer wieder zu Kohärenzproblemen und damit zu Verständnisproblemen.

Ein sprachlich beeindruckendes Zeitdokument!

Bewertung vom 18.12.2023
Der verwunschene Fels
Cather, Willa

Der verwunschene Fels


ausgezeichnet

Willa Cather interessiert sich für Menschen und deren Geschichten, in denen sie wiederkehrende Muster erkennt. Diese Muster erzählt sie in ihren Romanen, und man erkennt sie auch in diesen acht Kurzgeschichten wieder, die Agnes Krup teilweise erstmals übersetzt hat.

Alle Geschichten handeln von Menschen, die sich von ihren umgebenden Mitmenschen unterscheiden, die aus der üblichen Ordnung der Dinge herausfallen, die sich lösen wollen und in Unbekanntes aufbrechen oder, umgekehrt, die in eine bestehende Ordnung hineinkommen und dort für Irritation sorgen.

Zwei Geschichten haben mir besonders gut gefallen: „Pauls Fall“, die bittere Geschichte eines jugendlichen Außenseiters, und „Ein Wagner-Konzert“, die nicht minder bittere Geschichte einer älteren Frau.

„Pauls Fall“: Mit diesem doppeldeutigen Titel erzählt Willa Cather das eine dieser Muster. Es ist die Geschichte eines jugendlichen Außenseiters, der nirgendwo verwurzelt ist, sogar nicht in seiner Familie. Er liebt das Theater und kann mit dem eher bäuerlich geprägten Umfeld wenig anfangen, und mit einer roten Nelke im Knopfloch hebt er sich schon äußerlich von seiner Umgebung ab.

In „Ein Wagner-Konzert“ steht die ältere Tante des namenlosen Ich-Erzählers im Mittelpunkt. Sie ist eine gebildete Frau, aber hat sich mit ihrer Ehe für das entbehrungsreiche, harte Leben einer Pioniersfamilie in der Prärie entschieden. Sie ist verarbeitet und vorzeitig gealtert. Der Ich-Erzähler lädt sie in ein Wagner-Konzert ein. Und bei der Musik – ebenfalls ein Cather-Thema – bricht das große Heimweh der Tante nach Musik und Kultur in ihr auch, sie ist erschüttert bis ins Mark.

Wie Willa Cather das Innere ihrer Figuren deutlich macht, ist hohe Kunst. Vieles verbleibt im Indirekten und Nicht-Gesagten, Willa Cather beherrscht die Kunst des Auslassens in Perfektion. Und trotzdem erhält der Leser einen Einblick in die Seelen der Figuren. Wie die Autorin beobachtet er sie aus der Distanz, und zugleich rücken sie ihm emotional sehr nahe.

Immer wieder geht es um die Sehnsucht nach dem Fernen, um Träume des zukünftigen Lebens und um Hoffnungen, aber es geht auch um den Verlust dieser Träume, um Desillusionierung und Bescheidung. Es geht auch konkret um die Liebe zur heimatlichen Prärie Nebraskas, die Willa Cather in wunderschönen knappen Schilderungen feiert. Und über allen Geschichten liegt der Zauber einer versunkenen Zeit.

Ein außerordentlicher Lese-Genuss!