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dracoma
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LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 151 Bewertungen
Bewertung vom 08.10.2023
Der Verwechsling
Lüftner, Kai

Der Verwechsling


ausgezeichnet

Der Verlag empfiehlt das Buch für Leser ab 6 Jahren, und also habe ich es K., unserem 7jährigen Enkelliebchen, vorgelesen und ihm auch die Beurteilung überlassen.

K. hat gespannt zugehört, und besonders gut hat ihm die Szene gefallen, wie Vilmar sich im Schoß der Oma zusammenkuschelt und sich so richtig gut aufgehoben fühlt. Mit Vilmar konnte sich K. sogar identifizieren, weil Vilmar dasselbe Hobby wie er hat: die beiden schnitzen gerne. Die Tatsache, dass Vilmar nicht mehr wächst und nicht spricht, fand er allerdings unheimlich und stellte sofort Vermutungen über den Grund an.

Aber: „Oma, was ist ein Verwechsling?“ Hm... Er hat es sich so zurechtgelegt, dass die Menschen das Kind verwechseln mit einem echten Menschenkind, und dass manche wachsen und sprechen so wie Hendrik, und andere eben nicht, so wie Vilmar. „Und was sind Unterirdische?“ „Kommt Vilmar aus dem Meer? Geht er wieder ins Meer?“ Die Geschichte lässt also Raum für die eigene Phantasie.

Die Sprache ist grundsätzlich altersangemessen, auch wenn der Begriff „Vegetationsgrenze“ erläutert werden muss. Sehr schön wird mit Worten und Wortspielereien eine märchenhafte Atmosphäre geschaffen. Der Märchenton wird nicht konsequent durchgezogen (z. B. der Ausdruck „altersgerecht“), was aber nur kurzfristig stört.

Die Märchenhaftigkeit wird unterstützt durch die wunderschönen Bilder von Emilia Dziubak, die wegen ihrer klaren Konturen und ihrer Farbgebung von Enkel und Oma sehr geschätzt wurden. Der nach Art der Mangas übergroße Kopf des kleinen Verwechslings störte den kindlichen Leser nicht.

Wir waren uns einig: ein wunderschönes Winterbuch!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.10.2023
Übertretung
Kennedy, Louise

Übertretung


ausgezeichnet

Eine Welt voller Hass und Gewalt im Irland der 70er Jahre öffnet sich in diesem Buch. Der Leser erlebt die irischen "troubles" aus der privaten Sicht von Cushla Laverty, einer jungen Lehrerin in Belfast. Trotz der Waffenruhe ist das tägliche Leben von Bombenattentaten, gewalttätigen und grausamen Übergriffen, Überwachung und von Polizeiwillkür gepägt. Cushla und ihre Familie gehören zur katholischen Minderheit in einem durchwegs protestantisch bewohnten Viertel. Sie wohnt noch bei ihrer Mutter, einer Alkoholikerin, und abends hilft sie ihrem Bruder in dessen Pub aus. Hier lernt sie den protestantischen Anwalt Michael kennen, mit dem sie schließlich eine leidenschaftliche Affäre beginnt.

Damit sind bereits einige „Übertretungen“ Cushlas benannt. Das ist zum einem die Tatsache, dass sie als junge Katholikin eine unmoralische Affäre hat und damit, jedenfalls nach Ansicht ihrer Familie, ihre Heiratschancen mindert. Zum anderen ist es der Umstand, dass Michael verheiratet ist, und, last not least, er ist Protestant. Die Beziehung wird daher von Geheimhaltung, von Verstellung und auch von Lügen begleitet.

Eine weitere Übertretung besteht darin, dass Cushla sich eines kleinen Schülers annimmt, dessen Vater katholisch, die Mutter aber protestantisch ist. Die Familie ist täglichen Schikanen und auch tätlichen Übergriffen seitens ihrer protestantischen Nachbarn ausgesetzt. Die Angriffe gehen so weit, dass der Vater grausam verletzt und arbeitsunfähig wird. Cushla übertritt hier die Aufgaben, die ihr als Lehrerin zugewiesen sind, und kümmert sich um die Familie, die unter dem äußeren Druck zerbricht.

Cushla sieht sich wegen dieser Übertretungen großem privaten Druck ausgesetzt, und zwar sowohl, von offizieller Seite durch den Schulleiter und den fanatisierten Priester, als auch im privaten Bereich durch Mutter und Bruder, die „tugendhaftes“ Verhalten einfordern. Auch hier übertritt Cushla tradierte Grenzen und verweigert das Nachleben von patriarchalischen Rollenvorstellungen. Sie wehrt sich gegen die Bevormundungen und damit auch gegen die traditionelle Abwertung der Frauen.

Damit vermischt die Autorin das Thema der Emanzipation mit den politischen-konfessionellen und auch sozialen Konflikten, die Irland viele Jahre polarisiert haben. Diese Vermischung gelingt ihr ohne jede Verwerfung, und es ist beklemmend zu lesen, wie die Zeitgeschichte im privaten Leben Cushlas zur Tragödie wird.

Fazit: Lesenswert!!

Bewertung vom 01.10.2023
Valentinstag
Ford, Richard

Valentinstag


ausgezeichnet

Frank Bascombe, dieser amerikanische Durchschnittsmann, ist wieder da. Wie sein Autor, der demnächst 80 Jahre alt wird, ist auch Frank Bascombe gealtert: er ist 74. Franks Leben steht vor einer besonderen Herausforderung. Sein Sohn Ralph ist bereits früh verstorben, die Ehe zerbrach an diesem Verlust, und nun begleitet er seinen Sohn Paul, der an der tödlichen Krankheit ALS leidet und bald sterben wird.

Der Plot ist eigentlich schnell erzählt: Vater und Sohn kaufen ein klappriges Wohnmobil und starten eine Tour zu den Absurditäten und Verrücktheiten der USA. Im Mittelpunkt steht dabei der Besuch des Mount Rushmore in Süd-Dakota, der Berg, in den die vier monumentalen Köpfe der Präsidenten George Washington, Thomas Jefferson, Abraham Lincoln und Theodore Roosevelt eingehauen sind. Ein Nationaldenkmal, ein Sinnbild des amerikanischen Selbstverständnisses und der Demokratie. Vater und Sohn sehen den organisatorischen Aufwand, die Parkplätze, die Menschenmassen, die pompöse Zugangsallee, die vielen Andenkenläden, den ganzen Konsum um dieses Denkmal herum, und sie sehen, dass das Denkmal bröckelt.

Diese Feststellung ist typisch für den ganzen Roman: nicht nur das Denkmal, dieser Shrine of Democracy, bröckelt, sondern auch das Land. Ford und sein Protagonist scheinen hier zu verschmelzen, wenn sie sehr genau beobachten und beschreiben. Die Furcht vor Amokschützen in öffentlichen Freiplätzen, der ungebremste Konsum in Einkaufsparadiesen, die Negierung ethnischer Rechte, heruntergekommene und überteuerte Motels, Fast-Food-Ketten, ein Casino, das von Indianern betrieben wird, endlose Straßen, endlose Vororte, touristisch aufgemotzte Orte, ein bizarres Maismuseum, die Mayo-Klinik als perfekt durchorganisierter riesiger Gesundheitspark, der den Tod negiert, und natürlich Trump - das ist der Blick, den Autor + Protagonist dem Leser vermitteln: ein ernüchternder Blick auf ein zerbröckelndes Land.

Das Verhältnis Vater-Sohn war nie das Beste, dennoch beschließt Frank, sich um den Sohn zu kümmern. Er beobachtet die schleichende Verschlechterung von Pauls Zustand, er registriert seine Muskelzuckungen, die zunehmende Muskelschwäche, die zu Stürzen führt, und seine Probleme beim Kauen und Sprechen. Es wäre also Zeit für das große Resümee, das die Klinik empfohlen hat. Und genau das tun sie nicht. Die Beiden reden viel, sie machen Witze, sie pflaumen sich an, aber sie reden nicht über die Dinge, die anstehen: Pauls Sterben und Tod. Aber hinter all den verbalen Spielereien klingt immer Franks tiefe Trauer über die Erkrankung des Sohnes heraus. Und diese verhaltene Mischung aus Tragik und Komik, aus Leid und Ironie macht den Roman anrührend bis zum letzten Satz.

Die Gedanken von Vater und Sohn kreisen um die Frage, woraus ein gutes Leben besteht. „Ein tolles Leben habe ich nicht hingelegt“, sagt der Sohn, und der Vater darauf: „Aber du hast dich ordentlich geschlagen.“ Damit sind sie beide zufrieden. Frank verzichtet darauf, mit dem Schicksal zu hadern und nach dem Warum zu fragen. Er lehnt sich nicht auf, sondern beugt sich und nimmt das Schicksal an, das ihm zugewiesen ist. Die Frage nach dem Glück beantwortet er nüchtern und in Anlehnung an Augustinus so, dass Glück die Abwesenheit von Unglück ist.
Und was ist ein gelungenes Leben? Die Antworten des Vaters auf diese Frage werden dem sterbenden Paul vorgelesen. Der Roman schließt mit dieser tröstlichen Aussage: Nicht alles hat Sinn und Zweck, vieles macht man nicht, obwohl man es machen wollte oder sollte, und auch wenn nicht alles klappt, wie es sollte, hat man trotzdem ein gelungenes Leben geführt.

Der Roman wurde perfekt und kongenial übersetzt von Frank Heibert, Chapeau!! Schade, dass das Nachwort der Print-Ausgabe im Hörbuch nicht enthalten ist!
Ebenso perfekt ist die Einlesung von Christian Brückner, dessen variationsstarke Stimme v. a. in den Dialogen überzeugt.

Bewertung vom 28.09.2023
Der Flakon
Pleschinski, Hans

Der Flakon


ausgezeichnet

Mein Lese-Eindruck:

Ein Gift-Anschlag auf Friedrich den Großen? Davon erzählen die Geschichtsbücher nichts, aber das sagt nicht unbedingt etwas aus, da Geschichte bekanntlich von den Siegern geschrieben wird – und der ist in dieser Handlung König Friedrich II. von Preußen, der sicherlich dafür sorgte, dass kein Schatten auf den Glanz seiner Krone fiel.

Pleschinski findet in der Hofchronik des Grafen Lehndorff eine kleine und zudem unklare Notiz, aber sie reicht, um seine Fabulierlust zu entfachen. So bleibt es also unklar, inwieweit das erzählte Geschehen der Realität entspricht, und der Leser ist damit zufrieden, dass es so hätte geschehen können.

Die Handlung versetzt den Leser in die Zeit des 7jährigen Krieges, als Preußen 1756 ohne die übliche Kriegserklärung in Sachsen einfiel. Die sächsische Armee war zwar als einzige Armee Europas komplett mit Perücken ausgestattet, d. h. sie sah sicher fesch aus, hatte aber im Unterschied zur preußischen Armee wenig Ahnung von militärischem Drill, von Strategie und Taktik. Mit der Kapitulation dieser Armee beginnt der Roman.
Pleschinski schart einige historische Personen um diesen Gift-Anschlag, allen voran die schöne und energische Reichsgräfin Brühl, deren verwöhntes Leben durch die preußische Besetzung in Trümmer gelegt wurde: ihr Mann flieht nach Polen, ihre Söhne stehen an der Front, ihre exorbitanten Kunstsammlungen werden geplündert, das Personal ist auf und davon, ihre vielen Schlösser sind zerstört. Sie will Sachsen retten und zur einstigen Größe zurückführen. Daher plant sie den Tyrannenmord und begibt sich auf eine beschwerliche Postkutschenreise von Dresden nach Leipzig.

Streng genommen geht es in dem Buch weder um die Reise noch um den Giftanschlag, sondern es geht um den Zustand Sachsens nach dem preußischen Überfall. Sachsens Geschichte liegt dem Autor spürbar am Herzen. Er zeichnet das Bild eines Kulturstaates, in dessen Mittelpunkt ein glanzvoller Hof stand, offen für Theater, Musik und Literatur, mit prächtigen Gemäldesammlungen und Bibliotheken, mit repräsentativen Bauten und üppigen Festen. Und daher lässt Pleschinski auch einige Größen der Zeit auftreten wie Gottsched und die Gottschedin sowie Gellert, der sich in einer Sänfte behaglich durch den Park tragen lässt. Alles Geld Sachsens floss in Kultur und nicht wie in Preußen ins Militär.

Pleschinski entwirft deutliche Bilder des Niedergangs, die die Gräfin Brühl in ihren Zobelpelzen auf ihrer Reise beobachten kann: die Zerstörungen und kriegsbedingten Wüstungen, Hunger, Verwahrlosung, Armut, Flüchtlingsströme, u. a. jüdische Emigranten aus Prag, Plünderungen und Übergriffe, zerstörte Herrensitze. Mit der Gräfin Brühl zeichnet Pleschinski damit zugleich die Vertreterin einer untergegangenen Zeit und markiert die Kapitulation von 1756 als einen Wendepunkt der sächsischen Geschichte, von dem sich Sachsen nicht mehr erholen wird.

Pleschinski erzählt diese Geschichte multiperspektivisch. Alle kommen zu Wort, sei es der schöne Marwitz, der Friedrich II. und dessen Bruder als Lustknabe dient und offen auch bei den Damen über seine sexuelle Ausrichtung plaudert, sei es der intrigante Diener Glasow und sogar der Alte Fritz mit seinem ernüchternden Testament. Die historischen Recherchen sind beeindruckend, und das Einrücken von Original-Dokumenten macht den Roman noch authentischer. Trotz der zeitlichen Entfernung wirkt der Roman nicht verstaubt, die Figuren sprechen gewählt, aber nicht antiquiert. Aber ob die Leipziger tatsächlich schon damals auf dem Weg zur Nikolaikirche „Wir sind ein Volk“ skandiert haben? Und rutscht der vornehmen Reichsgräfin Brühl tatsächlich einmal ein „Fuck you“ heraus...? Und wenn nur die etwas hölzernen Reden nicht wäre... Historische Sachverhalte werden immer wieder nicht durch die Handlung transportiert, sondern im Dialog präsentiert, was gelegentlich recht steif wirkt.

Trotzdem: ein vergnüglicher und kenntnisreicher Ausflug in die sächsische Geschichte.

4,5/5*

Bewertung vom 21.09.2023
Verlogen / Mörderisches Island Bd.2
Ægisdóttir, Eva Björg

Verlogen / Mörderisches Island Bd.2


gut

Mein Lese-Eindruck

... ist etwas weniger euphorisch als der Klappentext.

„Verlogen“ ist der 2. Band einer Krimi-Serie um die Ermittlerin Elma. Schon im 1. Band wurde angedeutet, dass sie aufgrund einer privaten Tragödie von der Hauptstadt zurück in ihre Heimatstadt gezogen ist. In diesem Band erfährt der Leser nun den Grund.

Auch der Kriminalfall, dem sich Elma und ihre Kollegen widmen müssen, schlägt den Bogen zurück zum 1. Band. Die Tatsache, dass vor Jahren eher nachlässig und voreingenommen ermittelt wurde, rächt sich nun. Der Leser begleitet Elma bei ihrer Ermittlungsarbeit, die realistisch dargestellt wird. Elma ist nicht als genialische Einzelkämpferin unterwegs, sondern hier arbeitet ein Team, dem Fehler unterlaufen, das auf falsche Fährten gerät und das sich immer wieder neu orientieren muss.

Der Roman besteht aus zwei Handlungssträngen: einmal der um Elma und ihre Kollegen und dann, zeitlich versetzt, eine Art Tagebuch um die Entwicklung eines Mutter-Tochter-Paares. In diesem Handlungsstrang erfährt der Leser von den schwierigen Verhältnissen einer Teenager-Mutter und vor allem von deren Unvermögen, eine liebevolle Beziehung zu ihrer Tochter aufzubauen. Da keine Namen genannt werden, darf der Leser spekulieren, um sich dann mit unerwarteten Wendungen konfrontiert zu sehen. Allerdings lässt dann die Spannung nach, weil die Puzzlesteine recht schnell neu gelegt werden können. Diesen Spannungsverlust versucht die Autorin gegen Ende auszugleichen, was ihr nicht ganz gelingt.

Der Epilog bietet Erklärungen für das Geschehen an, aber einige Handlungselemente, die vielleicht nur der Dramatisierung dienen, bleiben auch hier ungeklärt, die wegen Spoilergefahr nicht genannt werden können. Leider. Unter diesen logischen Brüchen leidet der Krimi, so spannend er auch ansonsten erzählt ist.

Trotzdem: eine kurzweilige Lektüre.
3,5 von 5 *

Bewertung vom 10.09.2023
Geschichte für einen Augenblick
Ozeki, Ruth

Geschichte für einen Augenblick


gut

Ruth, eine Schriftstellerin, die auf einer kleinen Insel von British Columbia lebt, findet am Strand ein ganz besonderes Treibgut: ein Päckchen mit einer Uhr, mit Briefen und dem Tagebuch der jungen Japanerin Nao.

Aus diesen Zutaten lebt der Roman, der auf der einen Seite das Tagebuch Naos wiedergibt und auf der anderen Seite, in der Rahmenhandlung, die Reaktion der Schriftstellerin auf dieses Tagebuch erzählt. Die autofiktionalen Bezüge der Rahmenhandlung sind unübersehbar. Da auch Ruth japanische Wurzeln hat, sieht sie viele Parallelen zur Welt Naos und findet einen starken emotionalen Zugang zu dem Schicksal Naos. Nao wiederum verbindet ihre Lebensbeschreibung mit der Biografie ihrer Urgroßmutter, einer politischen Aktivistin und buddhistischen Nonne.

Die Autorin spannt damit einen sehr breiten Bogen, in dem vieles Platz finden muss. Das Platzen der Dotcom-Blase und der soziale Abstieg der Familie, das japanische Schulwesen, der Zen-Buddhismus und seine Meditationstechniken, Geisterglaube, der Tsunami von 2011, Meeresströmungen, Vermüllung der Meere, der II. Weltkrieg, grausame Übergriffe der japanischen Armee im chinesisch-japanischen Krieg, Kamikaze, der Drill in der Kaiserlich-japanischen Armee, Mythen der indigenen Bewohner von British Columbia, die für Europäer ungewohnte Betrachtung des Selbstmords, Cyber-Mobbing, Wiederaufforstungsbestrebungen, das Problem invasiver Arten, Gewissen und Digitalisierung – das ist nur eine unvollständige Auflistung der Themen, die die Autorin anschlägt und die sie in einem Anhang teilweise näher erläutert. Unbestritten: das Buch ist lehrreich, und der Blick in den japanischen Alltag und vor allem das japanische Denken ist faszinierend.

Sehr originell ist auch die Art und Weise, wie die Autorin die beiden Rahmenhandlungen miteinander verknüpft. Ruth erkennt nämlich, dass sie das Leben des Tagebuchschreiberin beeinflussen kann, und zwar durch einen Traum. Durch diesen Traum wird ihre Welt mit der Welt Naos verbunden, über die zeitlichen Unterschiede hinweg. Diese Einflussnahme ist rational nicht erklärbar – aber da das Haustier Schrödinger heißt, wird der Leser auch kurz in die Quantentheorie eingeführt.

Diese Überfülle an Themen führt dazu, dass der Leser gelegentlich den roten Faden verliert. Eine straffere Erzählweise und der rigorose Verzicht auf einige Themen hätten dem Buch gut getan und zudem noch hinreichend Stoff für weitere Bücher geboten.

Die vielen japanischen Einfügungen mögen zwar die Authentizität stärken, aber sind sie notwendig? Beispiel: „Nanka kusai yo!“ heißt schlicht „Hier stinkt etwas“, ist also kein japanisches Idiom. Diese häufigen Einsprengsel zwingen den Leser zu den Fußnoten und hemmen unnötig den Lesefluss.

Trotz dieser Schwächen eine Lese-Empfehlung: der Roman ist ein lohnenswerter Ausflug in die japanische Gedankenwelt.

Bewertung vom 18.08.2023
Solange wir schwimmen
Otsuka, Julie

Solange wir schwimmen


ausgezeichnet

Mein Hör-Eindruck:

„Solange wir schwimmen“, ist die Welt in Ordnung. In einem unterirdischen Schwimmbad treffen die unterschiedlichsten Menschen zusammen, die aus unterschiedlichsten Gründen hier ihre Bahnen ziehen. Jeder hat seine feste Bahn, und es gibt Rituale und feste Regeln für das Miteinander. Im Tageslicht dagegen, oberhalb des Schwimmbads, erkennen sie einander oft nicht. Im Tageslicht wirken die Menschen oft ungelenk, teilweise übergewichtig, das Alter zeigt sich in Krähenfüßen im Gesicht – unten aber, im Schwimmbad, kommt ihr jugendliches Selbst wieder zum Vorschein. Sie sind beweglich, geschmeidig und anmutig. Sie fühlen sich in der geordneten Welt des Schwimmbads sicher und geborgen.

Ein Riss im Boden des Schwimmbads bringt die Gemeinschaft zum Nachdenken, und letzten Endes ist es dieser Riss, der auch für die Erzählung einen Riss bedeutet: das Schwimmbad muss saniert werden, die Schwimmgemeinschaft bricht auseinander und zwingt die Schwimmer aufs Land. Der Riss im Boden ist zugleich ein Riss im Kopf der Alice. Ihre beginnende Demenz führt dazu, dass sie innerhalb der Familie nicht mehr betreut werden kann.

Das Besondere an diesem Roman ist weniger das Thema Demenz, sondern die Art und Weise, wie die Autorin es erzählt. Wie in ihrem ersten Roman wählt sie wieder das chorische Sprechen, und zwar einmal für die Schwimmenden, und dann für die Betreuer im Heim, die sich in Form einer Hausordnung an Alice wenden. Die Heimordnung ist streng, und es wird deutlich: Alice hat keine Zukunft mehr.

Im 3. Teil kommt die Tochter zu Wort. Sie sucht nach Ursachen der Demenz-Erkrankung in der Lebensführung der Mutter und erinnert sich an erste Gedächtnisausfälle und andere Merkwürdigkeiten, wie z. B. das stereotype Wiederholen ein- und derselben Geschichte. Dazu kommen Vorwürfe wegen eigener Versäumnisse. In diesem Teil verschwindet das chorische Sprechen, aber nach wie vor ist das Erzählen stark rhythmisiert. Mit vielen Anaphern wie „Sie weiß noch“ und dann „Sie weiß nicht mehr“ macht die Erzählerin den Fortgang der Krankheit klar, bis ihre Mutter schließlich in Sprachlosigkeit und Apathie versinkt.

Das rhythmisierte Sprechen führt zu einer nüchternen und klaren Sprache, in der kein Wort zuviel gesprochen wird. Umso eindringlicher wirken kleine Szenen der liebevollen Zuwendung zwischen Mutter und Tochter, und am Schluss meint man als Leser einen hoffnungsvollen Augenblick lang, dass diese Liebe die Krankheit überwinden kann.

Ein berührender Roman über Familie und Verantwortung.

Das ungekürzte Hörbuch wurde eingelesen von Sascha Icks, die mit ihrer kultivierten Stimme, die besondere bedrängende Wirkung des chorischen Sprechens perfekt wiedergibt und der Mutter eine eigene Stimme verleiht, ohne gekünstelt oder aufgesetzt zu wirken.

Bewertung vom 18.08.2023
So leben wir - und wie lebst du?
Sandjon, Chantal-Fleur

So leben wir - und wie lebst du?


sehr gut

Das Buch knüpft an die sog. Freundebücher an, in denen Kinder durch ihre Einträge in vorgefertigte Rubriken (Wo wohnst Du? Deine Lieblingsspeise? Dein Lieblingstier? etc.) dafür sorgen, dass sie dem Eigentümer des Freundebuches in Erinnerung bleiben.
In diesem Buch spannt sich eine Rahmenhandlung um die Steckbriefe in dem Freundebuch herum. Pako hat auf dieses Buch gespart und will es seiner Cousine Lesedi zeigen, wenn er sie demnächst in Johannesburg besucht. Lesedi soll wissen, welche Freunde Pako hat und wie er in Deutschland lebt.

In dem Buch stellen sich nun zehn Freunde und Freundinnen vor nach dem bekannten Muster vor, und ein anschließender Fließtext lässt das jeweilige Kind Näheres zu seinem Leben ausbreiten.

Es sind sehr unterschiedliche Kinder, die hier zu Wort kommen. Einige Kinder leben in Patchworkfamilien oder Wohngemeinschaften, andere mit nur einem Elternteil, andere wiederum in Pflegefamilien oder mit gleichgeschlechtlichen Eltern. Auch die Wohnsituationen sind unterschiedlich und reichen vom Hausboot bis hin zum Flüchtlingslager. Dazu kommt, dass die ethnische Zugehörigkeit der Kinder variiert. In den Fließtexten erfährt der Leser einiges von den Problemen, denen die Kinder ausgesetzt sind.

Mit diesen Steckbriefen entwirft die Autorin für ihre kindlichen Leser ein sehr diverses Bild unserer Gesellschaft. Damit weckt sie nicht nur Verständnis für Andersartigkeit, sondern vor allem Neugier auf das Anders-Sein im weitesten Sinne. Sehr schön gelingt es der Autorin, das Anders-Sein als Alltäglichkeit in unserer Gesellschaft hinzustellen.

Die Sprache ist meist kindgerecht; ein Begriff wie „Depression“ und auch die parallele Verwendung von Iran und Persien muss sicher erläutert werden.Ob es sinnvoll ist, bei so jungen Kindern schon das Problem der Geschlechtsidentität anzusprechen, müssen geschulte Erzieher beurteilen. Auch der Begriff „Depression“ müsste so jungen Kindern erläutert werden.

Eine sehr schöne Idee ist es, am Schluss des Buches einen Steckbrief für den Leser einzufügen. Damit kann sich das Lese-Kind in die bunte Reihe von Pakos Freunden und Freundinnen einreihen und bereichert das bunte Bild an Lebenswirklichkeiten.

Das Buch schließt ab mit einem kleinen Frageteil, mit dem die kleinen Leser das Gelesene bedenken können.

Die Illustrationen sind klar konturiert und eher zurückhaltend, aber kräftig koloriert. Sie reduzieren sich auf das Wesentliche und sind daher für Kinder sehr geeignet.

Das Buch wird empfohlen ab 6 Jahre. Der Steckbrief am Ende setzt allerdings Schreibkenntnisse voraus.

Bewertung vom 17.08.2023
Der letzte Zug nach Schottland / Ein Fall für Alan Grant Bd.6
Tey, Josephine

Der letzte Zug nach Schottland / Ein Fall für Alan Grant Bd.6


sehr gut

Alan Grant ist Inspector bei Scotland Yard, und er leidet wegen chronischer Überarbeitung an Panikattacken. Da hilft nur eines: raus aufs Land, ins beschauliche Schottland, wo seine Verwandten als Schafzüchter leben und wo er seiner Leidenschaft fürs Angeln in klaren Gebirgsbächen nachgehen kann.
Das Landleben bekommt ihm, die Landschaft lässt ihn zur Ruhe kommen, und als auch noch eine verwitwete Gräfin auftaucht und ihn Amors Pfeil streift, überlegt er sogar, den Dienst zu quittieren und auf immer in diesem gesunden Landstrich zu bleiben.

Wie gut, dass ihm ein Mord dazwischenkommt! Alan Grant muss keine Sekunde überlegen, die Prioritäten sind eindeutig, und er macht sich an die Arbeit. Dabei begegnet er ausgesprochen skurrilen Charakteren, die die Autorin mit nur wenigen Pinselstrichen liebevoll-ironisch skizziert. Ein besonders liebenswerter Charakter ist ihr mit dem kleinen Patrick gelungen, ein eigenwilliger und doch einnehmender kleiner Junge. Die Autorin nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn sie über die schottische Geschichte, das Essen auf den Hebriden und andere Eigentümlichkeiten schreibt.

Ein großes Vergnügen ist die wohltuend klare Sprache der Autorin. Ihre Landschaftsbeschreibungen sind frei von jedem Kitsch und auch nicht langatmig, aber trotzdem entstehen im inneren Auge des Lesers Bilder der herben Landschaft auf den Hebriden und der schottischen Highlands. Ihr schwarzer Humor in Verbindung mit dezent-ironischen Formulierungen machen das Lesen zu einem Vergnügen.

Alan Grant ist einer der Ermittler, die ihre Fälle mit Überlegungen und Schlussfolgerungen lösen. So findet er auch den Bösewicht, aber leider fehlen die Beweise. Und daher greift die Autorin zu dem unschönen Kunstgriff und lässt den Bösewicht seine Taten und seine Motive selber erklären. Schade, dass der Autorin keine andere Möglichkeit eingefallen ist.

Trotzdem: ein Wohlfühlbuch!

Bewertung vom 17.08.2023
Vertrauensübung
Choi, Susan

Vertrauensübung


sehr gut

Eine Schauspielschule, eine Eliteschule in den 80er Jahren im ländlichen Süden der USA, die ihren Schülern den Sprung auf die großen Bühnen der Welt ermöglicht: so sieht sich die Schule. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus, und darum geht es in diesem Roman.

Die Autorin nutzt konsequent die Elemente von Theater und Bühne für ihr Erzählen.

Im I. Akt lernt der Leser eine Anfängerklasse kennen, die stolz darauf ist, von Mr. Kingsley unterrichtet zu werden. Mr. Kingsley ist ein charismatischer Lehrer, ein Freund seiner Schüler, fordernd und auch fördernd, das Aushängeschild der Schule. Mit seinen Schülern veranstaltet er sog. Vertrauensübungen. Solche Vertrauensübungen sind tatsächlich die Basis jedes kreativen Prozesses, und gerade die Theaterarbeit erfordert ein hohes Maß an Angstfreiheit und Vertrauen des einzelnen Spielers zu seinen Mitspielern. Mr. Kingsleys Übungen jedoch führen weder zu Angstfreiheit noch zu gegenseitigem Vertrauen. Im Gegenteil. Sie gleiten sofort ins Übergriffige ab und zeigen bedrohliche Elemente sexueller Aggression. Damit wird ein Grundakkord dieses Romans angeschlagen: Sexualität als lebensbestimmendes Handlungsstimulans dieser jungen Leute.

Die erzählten Szenen wirken wie Theaterszenen. Sie spielen auch großenteils auf der Bühne, und auch für Intimes und Privates wird die Öffentlichkeit als Bühne gesucht. Unter der Regie von Mr. Kingsley spielt sich auch ein Liebesdrama auf der Bühne ab, wenn der Lehrer seine Schüler mit seinen manipulativen an ihre emotionalen Grenzen bringt, ohne dass sie aber ihr Inneres öffnen können. In quälend langen Konfrontationen behalten sie ihre Fassaden bei, es entsteht kein Vertrauen, und man fragt sich als Leser, inwieweit die eigenen Wahrnehmungen belastbar sind: stimmt das alles, was wir lesen?

Der II. Akt wird belebt durch eine Theatergruppe aus England, die die Klasse aufmischt. Sie bieten eine Vorstellung von „Candide“, die durch eine Fülle an sexuellen Provokationen nicht wiederholt werden darf. Und die sexuelle Erhitzung, die sich hier auf der Bühne zeigte, wird anschließend in das wirkliche Leben übertragen. Die Grenzen zwischen Schülern und Lehrern verwischen sich, sexuelle Abhängigkeiten entstehen, die Außenwelt wie z. B. die Eltern haben kaum mehr Zugriff auf die Schüler.

Im II. Akt tritt eine bisherige Nebenfigur ins Rampenlicht. Sie relativiert alles bisher Geschehene. Die bisher aufgetretenen Personen werden als Konstrukte entlarvt. Die Wahrnehmungsebenen werden vermischt, die Wirklichkeit wird als „Theater“, d. h. als Simulation enttarnt, und als Leser weiß man nicht mehr, welchen Wahrnehmungen man Glauben schenken darf, v. a. auch deshalb, weil sie die Erzählerin als unzuverlässig entpuppt.

Eines aber wird dem Leser klar: diese Person erlebt sich als Opfer und ist schwer traumatisiert. Sogar in der Sprache spürt sie Doppeldeutigkeiten und dem Verhältnis von Täter und Opfer nach. Überhaupt versichert sie sich ständig der Wirklichkeit, wie sie sich daran erinnert, indem sie Begriffe präzise definiert.

Die Autorin spielt hier souverän mit dem Wesen des Theaters: der Erzeugung von Illusion. Dieses Spiel mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen ist durchaus kunstvoll, aber für den Leser sehr schwierig. Er kann das bisher Gelesene nicht überprüfen, aber er muss es vollständig in Frage stellen. Damit wird der Leser so wie die Schüler einer besonderen Form von Vertrauensübung unterzogen.

Zugleich wird der Leser einer Geduldsübung unterzogen. Akribisch lange Beschreibungen bringen die Handlung nicht voran, und der Roman hätte durch rabiate Kürzungen nur gewinnen können.

Was aber bleibt, ist ein wirres Spiel von sexuellen Beziehungen unterschiedlichster Intensität, die Manipulation von Heranwachsenden und v. a. der nach wie vor existente Machtmissbrauch in hierarchischen Strukturen.