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Buchstabenträumerin
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Hier blogge ich über Jugendbücher und Romane der verschiedensten Genres: https://buchstabentraeumerei.wordpress.com.

Bewertungen

Insgesamt 170 Bewertungen
Bewertung vom 24.03.2019
Lanny
Porter, Max

Lanny


ausgezeichnet

Der Klappentext von "Lanny" machte mich unglaublich neugierig auf den zweiten Roman von Max Porter. Eine mythische Gestalt, ein abgelegenes Dorf, ein einschneidendes Ereignis - all dies wird angedeutet, nichts konkretisiert. Wundervoll! Ich wollte mich ins Ungewisse stürzen und mehr wissen. Wer ist dieser Altvater Schuppenwurz, von dem die Rede ist? Was geschieht in dem Dorf? Und vor allem: Wer ist Lanny? Letztendlich ist "Lanny" ein Roman für Träumer, für diejenigen, die sich nicht davon abschrecken lassen, nicht alles zu verstehen und alles zu durchschauen. Denn es geht weniger um eine greifbare und realistische Handlung, sondern vielmehr um Gefühle, Ahnungen und nicht logisch nachvollziehbare Ereignisse.

So wenig greifbar "Lanny" bisweilen auch sein mag, es werden viele Themen aufgegriffen, die aus dem Leben gegriffen sind: Das Dorfleben, die Integration von Fremden in einer Dorfgemeinschaft, die Macht von Klatsch und Tratsch, Familie, Elternschaft, Freundschaft, Kunst, Kindesmissbrauch, Verlust eines Kindes, Trauer und die Aufdringlichkeit der Medien angesichts persönlicher Tragödien. Und mit all dem verwebt Max Porter die mystische Erscheinung von Altvater Schuppenwurz. Er ist so etwas wie ein Naturgeist, ein Gestaltwandler, der den Bewohnern lauscht, sich durch die Straßen und Häuser bewegt, und die Worte aufsaugt. Seine liebste Stimme ist die von Lanny, ein Junge, den eine besondere Naturverbundenheit auszeichnet. Er lebt in seiner eigenen Welt, singt und summt sonderbare Lieder vor sich hin, entschwindet in den Wald, bleibt dort für sich. Und eines Tages kommt er nicht nach Hause.

Was ist geschehen? Hat ihm jemand etwas angetan oder hat er nur - typisch Lanny eben - die Zeit vergessen, um am nächsten Tag vor der Tür zu stehen, als sei nichts gewesen? Seine Mutter und sein Vater sehen sich mit einem Verlust konfrontiert, den sie zu Beginn gar nicht recht für sich einschätzen können. Sie haben Lanny nie verstanden, stets fragten sie sich, was in seinem Kopf bloß vor sich geht. Fast könnte man meinen, dass gar keine richtige Bindung zwischen ihnen besteht. Doch mit jedem Tag, der ohne Lanny vergeht, nehmen sie deutlicher wahr, was ihnen eigentlich verloren gegangen ist.

Was mit Lanny geschehen ist, bleibt lange Zeit im Verborgenen. Zuerst fällt der Verdacht auf den eigenbrötlerischen, "irren" Pete, wie die Dorfbewohner ihn nennen. Die Dorfbewohner zerreißen sich das Maul, Polizei und Medien glauben, den Fall gelöst zu haben. Doch letztendlich ist alles ganz anders. Und hier entwickelt die Geschichte unverhofft einen starken Sog, der bis zur Auflösung am Ende anhält.

Nicht nur die Geschichte hat mich überzeugt, auch - oder besonders - stilistisch ist "Lanny" äußerst überraschend. Für Altvater Schuppenwurz reiht Max Porter aufs wunderlichste Wörter aneinander, sie erzeugen eine ganz eigentümliche Stimmung. Schuppenwurz hört den Dorfbewohnern zu und auf der Seite verwandeln sich ihre Stimmen in wellenbewegte Zeilen, Satzfetzen reihen sich aneinander, sie verschwimmen ineinander, als schwebten sie wie Wolken über dem Dorf. Später ist die Erzählung unterteilt in einzelne Absätze, wer spricht, lässt sich nur erahnen. Es ist ein einziges verworrenes Sprachgewirr und doch ergibt es Sinn, es entspricht dem Chaos, das um die Familie von Lanny herum ausbricht.

Fazit

"Lanny" von Max Porter ist kein Buch für Zwischendurch. So kurz es auch ist, bedarf es doch der ganzen Aufmerksamkeit des Lesers, denn wenig ist hier offensichtlich, vieles bleibt im Verborgenen, mystisch und geheimnisvoll. Es geht um Lanny, einen besonderen Jungen mit einer besonderen Verbindung zur Natur. Es geht um seine Eltern, die Zugang zu ihrem Sohn suchen, es geht um den alten Pete, der in Lanny einen Freund findet. Und es geht um Altvater Schuppenwurz, ein Wesen wie ein Gestaltwandler oder ein Geist, der das Dorf und seine Bewohner beobachtet und beeinflusst. Klingt sonderbar? Ist es auch. Aber auf die schönste Weise sonderbar, intensiv und mit

Bewertung vom 04.02.2019
Kuss
Meier, Simone

Kuss


sehr gut

Das fröhlich-verspielte Cover von „Kuss“ von Simone Meier täuscht über den Inhalt hinweg. Dieser Roman ist weit mehr als ein leichtes Beziehungsdrama, es offenbart sich stattdessen ein Blick auf die dunklere Seite der menschlichen Seele. Er fördert Sehnsüchte, Begierden, Zweifel und erotische Fantasien zutage, die im Licht des Tages betrachtet geradezu irrsinnig erscheinen, und die dennoch in den Protagonisten Gerda, Yann und Valerie schlummern.

Valerie, spröde und zynisch, ist überzeugt, den Rest ihres Lebens nicht noch einmal mit einem Mann teilen zu wollen. Zu sehr liebt sie ihre Freiheit und ihre Unabhängigkeit. Oder ist es auch Verletzlichkeit, die durch ihre standhafte Verweigerung von Gefühlen und Nähe zum Ausdruck kommt? Gewinnt man vielleicht doch mehr, als man verliert, wenn man sich auf einen anderen Menschen einlässt? Gerda und Yann sind von außen betrachtet ein Vorzeigepaar – er hat einen guten Job, sie versucht sich unfreiwillig, aber nicht minder zufrieden, in der Rolle der Hausfrau, die das frisch bezogene Haus einrichtet und gestaltet. Ideale Voraussetzungen für die Familiengründung also. Doch was bleibt danach noch im Leben, wenn das Knistern des Neuen längst der Vergangenheit angehört? War es das? Und was, wenn dieses Fehlen, dieses Loch in einem selbst, einen dazu antreibt, sich anderen zuzuwenden. In der Fantasie, in Träumen. Und was, wenn dadurch etwas in Gang gesetzt wird, was unwiderruflich ins Unglück führt?

„Kuss“ geht an die Substanz. Er hat mich gefordert, vor allem zu Beginn, denn meine Erwartungen waren ganz anderer Natur. Ich erwartete Konflikte, durchaus, aber nicht in dieser Klarheit und, ja, regelrechten Besessenheit. Anstatt sich einander zuzuwenden und das gemeinsame Lebensglück zu genießen, driften Yann und Gerda zunehmend voneinander weg. Impulsiv und triebhaft legen sie es darauf an, ihr Glück zu zerstören. Gesteuert von Verlangen hinterfragen sie ihre Beziehung, sich selbst und ihren Partner. Sie wenden sich anderen zu, erlauben sich Gedankenspiele, geben ihren Sehnsüchten und Wünschen nach. Kaum jemals konkret, aber immer so intensiv gefühlt, dass es immer auch einem Betrug gleichkommt.

Interessant fand ich, dass Erfahrungen in der Kindheit wichtige Treiber dieser Entwicklung sind. Gerda, die von ihrer Mutter immer niedergemacht wurde, die nie Anerkennung oder Lob erfuhr. Valerie, die ihrer Großmutter und den Besuchen in ihrem Haus hinterhertrauert, deren Leben entzaubert wurde, ein Zauber, der sich in ihren Augen nicht wieder zurückholen lässt. Yann, der in einer perfekten Familie aufwuchs, der Zusammenhalt erlebt und sich fragt, ob es noch mehr gibt, als dieses ideale Familienbild.

Fazit

Dieser Roman von Simone Meier ist gleichzeitig anstrengend und faszinierend, betörend und abstoßend. Ich kann ihn loben und zur gleichen Zeit kritisieren. Was mir gefiel, waren die scharfen Beobachtungen, die ungefilterten Emotionen und der schonungslos direkte Schreibstil. Was mir nicht gefiel, waren die manischen, krankhaft übersteigerten Sehnsüchte. Gerda wirkte wie wahnsinnig, verloren in ihrer Welt. Ich würde sagen, „Kuss“ ist Geschmackssache, bietet aber auf jeden Fall äußerst viel Stoff zum Nachdenken und Diskutieren.

Bewertung vom 06.01.2019
What If It's Us
Albertalli, Becky;Silvera, Adam

What If It's Us


gut

Eine Kooperation von Becky Albertalli, Autorin von „Simon vs. the Homo Sapiens Agenda“, und Adam Silvera, Autor von „They both die at the End“, ist für viele Leser ein „match made in heaven“. Was kann dabei schließlich anderes herauskommen als ein phänomenal gutes Jugendbuch? „What If It’s Us“ ist tatsächlich in vielerlei Hinsicht eine wundervolle Geschichte, voller Wärme und Witz. Allerdings gibt es in meinen Augen auch Schwachstellen, die der Geschichte nicht erlauben mehr zu werden, und über eine süße Unterhaltung hinauszuwachsen. Mehr zu meinen Pros und Contras erfahrt ihr hier.

Beide Autoren erlaubten schon in ihren früheren Werken stets einen tiefen Einblick in die Psyche ihrer Charaktere. So auch hier: Albertalli und Silvera lassen den Leser sowohl an Arthurs als auch an Bens Leben, Erfahrungen und Emotionen hautnah teilhaben. Dazu trägt insbesondere der Schreibstil bei, der denkbar locker ist, da Ben und Arthur jeweils aus der Ich-Perspektive erzählen. Die Geschichte liest sich daher gut und schnell, da kaum rhetorische oder stilistische Mittel verwendet werden.

Reizend ist natürlich auch, wie sich Arthur und Ben ineinander verlieben. Eine erste große Liebe oder eine besonders intensive Liebesgeschichte berühren einfach. So fieberte ich auch hier mit, wie sie zueinander finden, welchen Schwierigkeiten sie begegnen und wie sie diese umschiffen. Ohne spoilern zu wollen, möchte ich auch das Ende positiv hervorheben. Becky Albertalli und Adam Silvera haben ein Glück nicht in die Kitsch-Kiste gegriffen, sondern sie bleiben realistisch, ohne die Romantik und die Hoffnung aus den Augen zu verlieren. Eine gute Gratwanderung, die das Buch zu einem guten Abschluss bringt.

Daneben gibt es jedoch leider auch einiges, das mir weniger gut gefällt. Zum einen geht meiner Meinung nach der Geschichte das besondere Etwas verloren, das wirklich guten Romanen innewohnt, da Albertalli und Silvera weitestgehend umgangssprachlich schreiben. Andere Romane stechen durch ihre Sprache, durch ihre Bildhaftigkeit und durch einen einprägsamen Schreibstil hervor und bleiben so in Erinnerung. Sie nehmen den Leser mit in eine eigene Welt. „What If It’s Us“ hat das bei mir nicht geschafft, da es sich viel mehr anfühlt, als hätte ich ein Gespräch zwischen Freunden in einer U-Bahn mitgehört. Für den Moment schön und interessant, darüber hinaus aber nicht lange in meinem Kopf lebendig.

Und geht es inzwischen in Jugendbüchern nicht mehr ohne übertriebene Dramen? Auch hier gibt es zahlreiche Komplikationen und Differenzen in den Freundeskreisen von Ben und Arthur, die sich im Verlauf des Buches zuspitzen und am Ende alle fein säuberlich aufgedröselt werden. Das war mir zu unrealistisch, es wirkte insgesamt zu konstruiert und einzig und allein zu dem Zweck vorhanden, um die Beziehung zwischen Arthur und Ben ins schlingern zu bringen.

Ein letzter Kritikpunkt, der mich persönlich gestört hat, sind die häufige Referenzen auf Harry Potter. Ab und an ist das okay, doch auf Dauer wurde es mir zu viel des Guten. Zwar las ich die Reihe gerne, doch ein „Potterhead“ bin ich gewiss nicht. Alle, die Harry Potter nicht gelesen haben (davon gibt es bestimmt einige), werden mit den Andeutungen nicht viel anfangen können.

Fazit

„What If It’s Us“ von Adam Silvera und Becky Albertalli ist eine süße Liebesgeschichte, die ihren besonderen Reiz aus der Chemie zwischen Arthur und Ben bezieht. Die Gespräche, das Nerdtum, die Annäherung, die Unsicherheit, das Anwachsen der Gefühle – all das wird ziemlich reizend zu Papier gebracht. Der Schreibstil ist äußerst locker, was zusätzlich dazu beiträgt, dass sich dieses Jugendbuch sehr zügig lesen lässt. Allerdings bietet die Geschichte keine Überraschungen, dafür aber sehr viel – in meinen Augen – konstruiertes und überflüssiges Drama. Positiv hingegen wieder ist das realistische Ende. Meine Empfehlung: Ein prima Buch für zwischendurch.

Bewertung vom 11.12.2018
To Keep You Safe
Müller, Judit

To Keep You Safe


sehr gut

Ich stütze mich auf den Boden. Vertrocknete, verbrannte Erde. Überall Asche. Und wenn wir einen Flecken aschefreies Land gefunden haben, ist da nur Gras. Da ist nichts anderes mehr. Nichts Schönes. (S. 12)

„To Keep You Safe“ von Judith Müller ist ein post-apokalyptischer Roman, der von einer Gruppe junger Menschen erzählt, die durch eine von Naturkatastrophen gezeichnete Welt wandern. Immer auf der Suche nach einem sicheren Ort zum leben, einem Ort zum ankommen. Bis dahin werden sie getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben, auf einen Neubeginn. Doch ihr Weg birgt viele Gefahren, die sie an ihre persönlichen Grenzen treiben. Sie werden verfolgt, bedroht und verletzt. Eine beängstigende Stimmung, die sich durch den gesamten Roman zieht und die Handlung vorantreibt. Spannend erzählt und eine Geschichte, die zum nachdenken anregt.

Die Welt, wie sie nach der Katastrophe existiert, lernen wir aus den Augen von Judy kennen. Sie ist siebzehn Jahre alt, hat ihre Eltern verloren und muss sich um ihre jüngeren Geschwister Hope und Luke kümmern. Die kleine Hope ist traumatisiert, spricht nicht mehr und muss dazu gezwungen werden, Nahrung aufzunehmen, da sie selbst jeden Lebenswillen verloren zu haben scheint. Luke versucht, seine Angst zu verbergen und seine ältere Schwester so gut es geht zu unterstützen. Judy selbst bricht beinahe an der Last der Verantwortung zusammen. Sie ziehen durch das Land, immer auf der Suche nach Nahrung und einem sicheren Schlafplatz. Doch sie begegnen zunehmend größeren Gefahren, bis sie bei Raphael Unterschlupf finden. Er und sein junger Begleiter Joe sind die ersten Menschen, die ihnen freundlich begegnen. Prompt schließen sie sich zusammen, doch anstatt in Frieden miteinander leben zu können, geraten sie in eine noch gefährlichere Situation.

Was mich besonders angesprochen hat ist, dass weder Judy noch Raphael als Helden dargestellt werden, die jede Situation im Griff haben. Sie zweifeln und verzweifeln, sie können nicht mehr und machen dennoch weiter, weil es schlicht nicht anders geht. Diese emotionale Last hat Judit Müller eindringlich in Worte gefasst. Ich konnte die Panik nachempfinden, die Judy immer wieder überfällt, ich konnte förmlich fühlen, wie jeder der Kinder und Jugendlichen jeden Tag die Zähne fest zusammenbeißt, um nicht völlig den Verstand zu verlieren. Es ist ein trostloses Bild, dass sich dem Leser bietet. Wofür soll man leben, wenn fast alle Menschen, die einem lieb waren, gestorben sind? Wenn die Welt kaum noch wiederzuerkennen ist? Die Antwort ist natürlich: Liebe. Eine aufkeimende Liebe ist Teil dieser Geschichte, wirkt allerdings nicht aufgetragen oder erzwungen, sondern sie entwickelt sich tatsächlich sehr natürlich und realistisch (und frei von Kitsch).

Sprachlich hat mich Judit Müller da abgeholt, wo ich sein wollte – in Judys Gedanken und ihrer Gefühlswelt. Ich mag es sehr, wenn jemand das schafft, ohne eine allzu poetische Sprache zu bemühen. Das hätte auch kaum zu der Welt gepasst, in der Judy sich befindet. Keine Schönheit in der Welt, also auch keine Schönheit in der Sprache. Diese Gleichung ging für mich absolut auf. Stattdessen: Klare Worte, die genau beschreiben, was Judy empfindet.

Fazit: Mich hat „To Keep You Safe – Warum wir leben“ von Judit Müller überzeugt. Die Handlung ist spannend, realistisch und herzzerreißend traurig. Zwar bietet der grundlegende Plot kaum Überraschungen, dennoch bietet diese Dystopie einiges, für das es sich lohnt zum Buch zu greifen. Die Charaktere werden in einer wunderbaren Tiefe dargestellt und die Story ist frei von jeglichem Kitsch oder übertriebenem Heldentum. Alle haben Schwächen, alle haben starke Momente. Damit mausert sich dieses Buch zu einer Empfehlung für Leser, die Dystopien oder spannende Romane mögen.

Bewertung vom 05.12.2018
Gefesselt
Avelle, Elenor

Gefesselt


ausgezeichnet

Geister nannten sie sie. Sie waren nur noch Hüllen ohne Seele. Man hatte ihnen ihre Persönlichkeit genommen. (Seite 9)

Elenor Avelle hat mit „Gefesselt – Der Anfang“ einen beklemmenden Roman mit einem erschreckend realistischen Szenario geschrieben. Ich war begeistert von der Kreativität der Autorin. So viele Ideen, so viele ungeahnte Wendungen! Gleichzeitig lässt sie sich für ihre Erzählung Zeit, nichts wirkt überstürzt abgehandelt, alles folgt einem beständigen Rhythmus. Worum geht es: Rebecca und ihre Zwillingsschwester Gabriella sind hochintelligent und zahlreiche Unternehmen buhlen darum, sie als Mitarbeiter zu gewinnen. So auch Genetics. Gabriella genießt den vermeintlichen Ruhm und beginnt, für Genetics zu arbeiten, doch es dauert nicht lange, ehe sie spurlos verschwindet. Was kann bloß passiert sein? Rebecca beginnt mit der verzweifelten Spurensuche.

„Gefesselt – Der Anfang“ hat zwei parallel verlaufende Handlungsstränge. In einem begleiten wir Rebecca bei ihrer Suche nach Gabriella, im anderen lernen wir Gill kennen, der eine militärische Laufbahn einschlägt, um der Übermacht seines kontrollsüchtigen Vaters zu entkommen. Beide Handlungsstränge bewegen sich unaufhaltsam aufeinander zu und sind gleichermaßen spannend und unterhaltsam. Wer nun mit einer aufkeimenden Romanze rechnet, wird enttäuscht – für mich ein klarer Pluspunkt. Im gesamten ersten Teil des Prequel Spin-Offs zu „Infiziert“ sind schwärmerische Gefühle absolut nebensächlich. Im Mittelpunkt stehen stattdessen die Zuneigung zwischen Geschwistern, Genetik, Forschung, illegale Machenschaften innerhalb eines Unternehmens und die schrecklichen Folgen.

Besonders überzeugt hat mich, wie bereits angedeutet, der Einfallsreichtum von Elenor Avelle. Die Protagonistin einen geradlinigen Weg nach Schema F laufen lassen? Nicht mit ihr. Rebecca muss einige Hürden überwinden, ehe sie den Gründen für das Verschwinden von Gabriella auf die Spur kommt. Sie zweifelt an der Welt und sie zweifelt an sich, denn die Tragweite der Beeinflussung und Einmischung von Genetics ist immens. Ich war erstaunt, was alles im Bereich des Möglichen ist, wenn Menschen mit Geld und Einfluss es darauf anlegen. Trotzdem gelingt es der Autorin, niemals den Bogen ins Unglaubwürdige zu überspannen. Jedes Szenario ist so ungeheuer realistisch, dass es mir eine Gänsehaut den Rücken hinunter jagte.

„Was ist mit den Leuten dahinten?“, fragte Gill.
Fletcher schnitt eine Grimasse, die Gill nicht deuten konnte und schüttelte den Kopf. Bell schluckte schwer und sah Gill mit weit aufgerissenen Augen an. (Seite 376)

Die schlüssige Darstellung wird zudem dadurch verstärkt, dass die Autorin nichts übereilt. Wir erleben Rebecca und Gill über den Verlauf mehrerer Jahre hinweg in verschiedenen Stationen ihres Lebens und ihrer Karriere. Sie lernen, sie wachsen an Herausforderungen, sie scheitern, und das macht sie zu greifbaren und authentischen Charakteren mit individuellen Zielen.

Das Tüpfelchen auf dem I ist der Schreibstil der Autorin, der hervorragend zum Inhalt der Geschichte passt. Keine übertriebenen Ausschmückungen, sondern eine klare Sprache, die einen Seite um Seite umblättern lässt, um endlich schlau zu werden aus den Heimlichkeiten von Genetics. Und eines kann ich versprechen: Was dann kommt, macht definitiv Lust auf Teil 2!

Fazit

Eine beklemmende Geschichte, die mit Ideenreichtum, glaubwürdigen Charakteren und einem durchweg angenehmen Schreibstil punktet. Genetische Forschung trifft auf skrupellose Wissenschaftler und schon nimmt das Drama seinen Lauf. Doch trotz des brisanten Themas entwickelt sich die Story glaubwürdig: Alles in „Gefesselt – Der Anfang“ ist im Bereich des Möglichen. Von mir eine absolute Leseempfehlung für alle, die Dystopien, post-apokalyptische Romane und Thriller gerne lesen.

Bewertung vom 13.11.2018
Hör auf zu lügen
Besson, Philippe

Hör auf zu lügen


ausgezeichnet

Ich stehe zu dem, was ich bin. Gewiss nur still. Doch in entschlossener Stille. Stolz. (Seite 22)

Philippe Besson erzählt in „Hör auf zu Lügen“ eine ganz besondere Geschichte, nämlich seine eigene. Er erzählt von seiner großen Jugendliebe Thomas, einem Jungen, der in dem Glauben aufwächst, Homosexualität sei etwas, das nicht richtig ist. Ein widernatürlicher Drang. So verleugnet Thomas sich selbst, seine Bedürfnisse und Wünsche, und kämpft für den Großteil seines Lebens dagegen an. Besson erzählt von ihrem Kennenlernen und wie er sich unmittelbar in Thomas verliebte, in seine stille Art, seine Wortkargheit. Er, der seine Homosexualität nicht an die große Glocke hängt, sie aber auch nicht bewusst verheimlicht, der dazu steht und nichts unnatürliches daran findet, begegnet einem jungen Menschen, der ganz anders damit umgeht. Wie kann sich unter diesen Umständen eine Liebesgeschichte entfalten? Dieser wundervolle Roman erzählt davon.

Das Gefühl der Liebe erfüllt mich, beglückt mich. Doch es verbrennt mich auch, tut so weh wie jede unmögliche Liebe mit all ihren Schmerzen. (Seite 25)

Man spürt, welchen Wert diese Erinnerungen für den Autor haben, er hütet sie wie einen Schatz. Jeder Blick, jeder Gedanke, jedes Gefühl, das er beschreibt – alles ist wie aufgeladen von der Energie dieser heimlichen Liebe. Über Umwege und sehr vorsichtig finden sie zueinander, doch letztendlich fasst Thomas Vertrauen und beginnt, sich zu öffnen. Mit einem Anflug angenehmer Nostalgie liest sich die zögernde, aber unvermeidbare Annäherung, „Hör auf zu lügen“ ruft gleichzeitig Freude und Traurigkeit hervor. Denn, wer den Lebensweg von Philippe Besson kennt ahnt, dass diese Liebe keine Zukunft hat.

Abseits dieser Liebesgeschichte geht es um viel mehr. In seiner Rückschau befasst sich Philippe Besson reflektierend und analysierend mit Fragen, die ihn möglicherweise bis heute umtreiben. Das tut dem Roman gut, denn dadurch wird er mehr als „nur“ eine Liebesgeschichte. Es geht um die Frage, wie Familie uns prägt, wie sie uns mitunter zu diktieren vermag, was richtig ist und was falsch ist. Es geht um die Frage, ob man aus diesem Käfig ausbrechen kann und wenn ja, zu welchem Preis. Es geht aber auch darum, wie sehr ein Mensch leiden kann, wenn er sich selbst verleugnet und sein Leben auf Lügen aufbaut. Was macht das mit den Menschen um einen herum, mit der eigenen Familie, mit Freunden? Und schlussendlich geht es darum, wie man es schaffen kann, mit seiner ersten großen Liebe abzuschließen. Ist ein jähes Ende ohne Aussprache überhaupt ein Ende?

Ich bilde mir ein, dass er mir ein Zeichen gibt, es anders völlig unmöglich ist, dass die Erinnerung an die verschmolzenen Körper seinen Widerstand brechen wird. (Seite 45)

Philippe Besson hängt diesen Erinnerungen nach, er spürt der Intensität der Emotionen nach, der Sorglosigkeit angesichts einer ungewissen Zukunft, den Zweifeln. Er bannt alles auf die Seiten, damit sie ihm niemals verloren gehen. Oder versucht er, auf diese Weise einen Abschluss zu finden? Gut möglich. Auf jeden Fall geriet ich in den Bann dieser Geschichte, die so liebevoll, hingebungsvoll und vermissend geschrieben ist, und werden sie so schnell nicht wieder vergessen.

Fazit

Philippe Besson erinnert sich in „Hör auf zu lügen“ an seine erste große Liebe, seine Jugendliebe Thomas. Es ist eine heimliche Liebe, denn Thomas verleugnet seine Homosexualität vor dem Rest der Welt. Der Roman ist äußerst gefühlvoll, der Autor schwelgt in seinen Erinnerungen und den Gefühlen von damals. Gleichzeitig wirkt der Roman wie ein Abschied, ein Schlussstrich unter einer Beziehung, die sein Leben prägte, wenngleich sie gar nicht richtig beginnen konnte. Wundervoll geschrieben.

Bewertung vom 05.11.2018
Wildnis ist ein weibliches Wort
Andrews, Abi

Wildnis ist ein weibliches Wort


weniger gut

Island, Grönland, Kanada, Alaska – das sind allesamt Orte der Welt, die ich bereisen möchte. Absolute Sehnsuchtsorte. Ein Roman, in dem eine junge Frau genau diese Länder bereist, ist daher ein Roman, den ich ohne Wenn und Aber lesen muss. In „Wildnis ist ein weibliches Wort“ von Abi Andrews begibt sich Erin hinaus in die Welt, sie will beweisen, dass Frauen genauso Entdecker sein können, wie Männer. Sie will nicht an Heim und Herd gebunden sein, sie will ihren Horizont erweitern und sich selbst an ihre Grenzen bringen. Erleben, wozu sie fähig ist, und gleichzeitig die Kraft der Natur erfahren. „Into the Wild“, aber eben aus Sicht einer Frau. Ein großartiges Thema! Doch leider dämpfte die Umsetzung meine Begeisterung erheblich.

Doch von Anfang an. Während der ersten Seiten war ich fasziniert von Erins Plan und ihren Gedanken. Sie nimmt Bezug auf Christopher McCandless, dem aus „Into the Wild“ bekannten Aussteiger, der in der Wildnis Alaskas lebte, ehe er dort starb. Und sie spricht von Jon Krakauer, dem Autor des Buches, der selbst aktiver Bergsteiger ist. Beides Menschen, die ihr in gewisser Weise ein Vorbild sind. Gleichzeitig aber steht sie der männlichen „Entdecker-Domäne“ sehr skeptisch gegenüber. Sie hinterfragt, weshalb es stets die Männer sind, die Neues entdecken, während die Frauen zuhause bleiben. Dabei seien laut Tests beispielsweise Frauen sogar eher dafür geeignet, in den Weltraum zu fliegen, als Männer.

Diese gedanklichen Exkurse reichern die Geschichte an – gleichzeitig sind sie es aber auch, die mich ungeduldig werden ließen. Wann fängt denn nun endlich Erins Abenteuer an? fragte ich mich immer öfter. Wann wandert sie vollkommen auf sich alleine gestellt durch die Wildnis? Tatsächlich ist sie nämlich sowohl auf ihrem Weg nach Island, als auch dem nach Grönland nicht alleine. Sie wird einerseits begleitet von einer Bekannten, die Erin auf der Überfahrt nach Island kennenlernte, sowie von einigen anderen Menschen – vornehmlich von Männern. Diese Tatsache erstickte die Spannung ein wenig im Keim, denn wie soll eine Protagonistin unter Beweis stellen, wozu Frauen in der Wildnis fähig sind, wenn sie ständig in Begleitung ist? Gewiss, dies ändert sich, sobald sie in Kanada eintrifft, doch letztendlich dauerte es mir bis dahin zu lange.

Darüber hinaus streift die Autorin zahlreiche Themen – wissenschaftliche Erkenntnisse, historische Begebenheiten, sie kommt auf Persönlichkeiten aus der Forschung zu sprechen, etc. Diese flicht sie in die Geschichte ein, aber für meinen Geschmack nicht so, dass sie dieser einen Mehrwert liefern, sonder so, dass sie den Fluss der Geschichte ständig unterbrechen. Jedes Mal, wenn ich mich wieder auf Erin und ihren Weg konzentrieren konnte, wurde ich mit einem gedanklichen Exkurs konfrontiert, der mir teils doch sehr zusammenhangslos erschien. Vielleicht denke ich auch nicht wissenschaftlich genug. Vielleicht gehen bei „Wildnis ist ein weibliches Wort“ Erwartung und tatsächlicher Inhalt der Geschichte zu weit auseinander. Für viele ist das Werk von Abi Andrews sicherlich eine aufregende und anregende Lektüre, für mich war es leider überhaupt nicht das richtige.

Fazit

„Wildnis ist ein weibliches Wort“ von Abi Andrews liest sich wie eine Mischung aus Abenteuerroman und wissenschaftlicher Arbeit. Erin begibt sich auf eine aufregende Reise in die Wildnis Alaskas und passiert auf ihrem Weg Island, Grönland und Kanada. Sie lernt Menschen dieser Länder kennen, sie lernt die Länder kennen. Es geht um Natur, den Einfluss des Menschen auf die Natur, um Forschung und Wissenschaft, Aussteiger, Abenteurer und Feminismus. Eine bunte Mischung, von der ich mir viel versprach. Leider war die Umsetzung nicht nach meinem Geschmack, mir fehlte ein durchgehender Erzählfluss. Der Roman liest sich zu abgehackt, zu häufig werden gefühlt wahllos Informationen zu Land und Leuten eingestreut, denen ich nichts abgewinnen konnte. Schade, denn an und für sich ist das Thema großartig.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.10.2018
Das Leuchten in mir
Delacourt, Grégoire

Das Leuchten in mir


weniger gut

An „Das Leuchten in mir“ von Grégoire Delacourt hat mir einiges gefallen, vieles hingegen nicht so sehr. Das Thema war spannend, die Einblicke in das Seelenleben einer erwachsenen Frau und Mutter auch, doch ich wurde nicht warm mit der Art und Weise, auf die diese Geschichte erzählt wird. Sie ist mir zu französisch, zu schwülstig und schwermütig, die Protagonistin zu intensiv und exzentrisch.

Emmanuelle, genannt Emma, ist verheiratet und hat drei Kinder, vermeintlich führt sie also ein glückliches und erfülltes Leben. Doch als sie Alexandre in einem Bistro begegnet, weiß sie, was ihr fehlt. Das Verlangen, die Lust, der Rausch. Sie kann an nichts anderes mehr denken, als an ihn. Mich interessierte dieser Zwiespalt, in den Emma unversehens katapultiert wird und die Fragen, die sie beschäftigen müssten. Gibt sie der Versuchung nach oder nicht? Wie werden die Kinder diese Veränderung verkraften und wie begleitet Emma sie durch diese turbulente Zeit? Doch genau hier enttäuschte mich der Roman am allermeisten.

Denn (und hier folgt ein ganz kleiner Spoiler, mit dem ich aber nicht viel vorwegnehme) tatsächlich nimmt Emma keinerlei Rücksicht auf ihre Kinder. Sie verlässt kompromisslos nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre Kinder. Sie geht einfach. Von jetzt auf gleich. Sie sagt: Sie sollen Verständnis haben für die Situation, in der sie sich befinde. Sie sollen dieses Verlangen verstehen, diesen Durst nach Beachtung, den Wunsch, sich in den Augen eines Mannes wieder schön zu fühlen. Diesen Egoismus und vor allem die Kompromisslosigkeit konnte ich nicht verstehen. Als Mutter ist mir nichts wichtiger als das Wohl meines Kindes. Das könnte nichts verändern. In dieser Hinsicht wurde mir die Protagonistin leider vollkommen unsympathisch.

Erzählt wird die Geschichte ähnlich eines Tagebuchs. Emma blickt zurück, sie schaut auf die Vergangenheit, greift manchmal vor, lässt ihren Gefühlen und Gedanken freien Lauf. Dabei gibt sie sich oft philosophischen Überlegungen hin, sie begibt sich auf eine Reise in ihr intimstes Innerstes. Diese Momente der Reflexion beschreibt Delacourt wunderbar poetisch. Überhaupt überwiegt in den letzten beiden Dritteln eine melancholische, trunkene und weinselige Stimmung, deren Ton perfekt zum Geschehen passt. Das gefiel mir gut, auch wenn es gelegentlich zu viel wurde, regelrecht erschöpfend auf mich wirkte.

Eher am Rande werden weitere interessante Themen aufgegriffen. Was bedeutet es Mutter und Ehefrau zu sein und wie kann man gleichzeitig Frau bleiben? Oder schließt das eine das andere aus, wie es in „Das Leuchten in mir“ zu sein scheint? Emma fühlt sich gefangen und so ist dieser Roman ein einziger großer Ausbruch, ein niederreißen und zerschmettern von Zuhause, Familie und Ordnung. Hier ist der Drang, die Versuchung frei und begehrt zu sein, größer und mächtiger als die beständige Zuneigung der Familie. Doch was bleibt davon am Ende der Gier? Dieser Frage widmet sich Delacourt in seinem Roman.

Fazit

„Das Leuchten in mir“ ist ein Roman über eine Frau, die einer Sehnsucht nachgibt. Sie sucht, sie findet und sie verliert. Grégoire Delacourt beschreibt in aller Deutlichkeit und Intimität, wie eine Frau mittleren Alters sich in den geordneten Bahnen des Familienlebens verliert, wie sie nach Freiheit dürstet, wie sie sich nimmt, wonach sie sich sehnt und welche Folgen das hat. Ein spannendes Thema! Mir war jedoch die Protagonistin Emma leider nicht sympathisch, ihre von Kompromisslosigkeit und Egoismus geprägten Handlungen stießen bei mir auf wenig Verständnis. Auch der Schreibstil war nicht immer mein Fall, oft war mir Delacourt zu schwermütig, zu melancholisch, zu intensiv.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.10.2018
Mein Ein und Alles
Tallent, Gabriel

Mein Ein und Alles


ausgezeichnet

Ich hasse diese Geschichte. Ich hasse es, dass der Waffenbesitz, der in den USA möglich ist, und die damit einhergehende Waffengewalt, eine so große Rolle in „Mein Ein und Alles“ spielen. Gleichzeitig aber liebe ich diese Geschichte, denn Gabriel Tallent hat mit Turtle und Martin Charaktere erschaffen, die ganz tief fühlen, die unglaublich falsch denken, die sich verlaufen haben, die orientierungslos und verzweifelt sind und die sich in kranker Liebe aneinender binden. Es tut weh, diesen Roman zu lesen, der mich abstieß und gleichzeitig anzog. „Mein Ein und Alles“ ist eine einzige faszinierende Herausforderung.

Wie also einen Roman rezensieren, dem ich so zwiegespalten gegenüberstehe? Der einerseits so abscheulich ist, andererseits so bittersüß und zart? Lasst mich ein wenig von Turtle und Martin erzählen, deren Beziehung das Zentrum der Handlung bildet. Vater und Tochter leben zusammen in einem heruntergekommenen Hof, abgelegen und isoliert. Einzig Turtles Großvater lebt noch in einem schäbigen Wohnwagen auf dem Grundstück. Waffen, Pistolen, Gewehre und Schrotflinten sind ständige Begleiter der kleinen Familie. Tägliche Schießübungen und das Reinigen der Waffen sind die Freizeitbeschäftigungen von Turtle. Selbst in der Schule, wo sie als Außenseiterin dem Unterrichtsstoff nur schwer folgen kann, trägt sie stets eine Waffe. Die Stimmung ist dadurch von Beginn an bereits angespannt, geladen, explosiv, und der Vater wird intuitiv zu einer bedrohlichen Figur.

Wie bedrohlich er wirklich ist, zeigt sich in kurzen Episoden und Erinnerungen, oft nur Andeutungen, die Turtle aber weitestgehend verdrängt, als Leser wird man ihrer kaum gewahr, vieles spielt sich im Kopf ab. Als sie jedoch durch Kontakte zu anderen diese andere, normale Welt kennenlernt, wird ihr immer mehr bewusst, wie falsch ihr Alltag mit dem Vater ist, wie falsch das ist, was er mit ihr macht. Dass die Liebe zwischen Vater und Tochter, wo wie sie sie erlebt, nicht richtig ist. Mit dieser Erkenntnis beginnen zwei Kämpfe – der Kampf, den Turtle in ihrem Inneren ausficht, und der Kampf zwischen ihr und ihrem Vater.

Turtle auf ihrem Weg zu begleiten, hat mich unendlich traurig gemacht. Sie ist ein starkes, liebenswertes Mädchen, dass sich nichts anderes wünscht, als ihren Vater glücklich zu machen und von ihm geliebt zu werden. Zu erkennen, dass beides nicht möglich ist und ihr Leben kaum mehr ist als eine verquere Illusion, erschüttert. Was bedeuten angesichts der Abgründe, die sich auftun, Loyalität, Liebe und Familie? Was ist wichtig, was ist schützenswert, was nicht? Was ist Turtle bereit, aufzugeben, um ein anderes Leben zu führen und noch viel wichtiger: schafft sie es?

Hier beginnt der Teil des Buches, bei dem mir des Öfteren flau wurde. Der zweite Kampf, der zwischen ihr und Martin, ist blutig und brutal. Er überschreitet Grenzen, die ich eigentlich lieber nicht überschritten hätte. Doch irgendwie ist auch dieser Kampf stimmig, denn die Beziehung von Martin und Turtle ist derart intensiv, ihr Schicksal ist so sehr ineinander verzahnt, dass eine andere Form der Auseinandersetzung kaum heftig und wirksam genug sein würde. Die einzig denkbare Form der Loslösung ist die Auslöschung.

Fazit

„Mein Ein und Alles“ von Gabriel Tallent ist eine Geschichte mit zwei Seiten. Sie ist extrem, krank und abartig, Turtle hingegen ist liebenswert, zerbrechlich und ihr Schicksal geht zu Herzen. Ich las das Buch und liebte und hasste es in gleichem Maße. Es wird das Bild einer Vater-Tochter-Beziehung gezeichnet, die so nicht existieren dürfte, sie ist in jeglicher Hinsicht falsch. Möchte ich so ein Thema empfehlen? Nein, nicht wirklich. Doch der Prozess des Erkennens seitens Turtle, ihre Entwicklung, ihr Kampf um Eigenständigkeit und Freiheit, diese Aspekte der Geschichte sind herzergreifend und hervorragend geschrieben. Sie schreien förmlich danach, gelesen zu werden. Daher kann ich nur jedem ans Herz legen, Turtle kennenzulernen.

Bewertung vom 16.10.2018
Sofia trägt immer Schwarz
Cognetti, Paolo

Sofia trägt immer Schwarz


sehr gut

„Die Frau mit den zwei Gesichtern“, erwidert Marta. „Siehst du das? Nicht nur das Auge, sondern auch die Braue, der Mundwinkel und diese kleine Narbe an der Wange – dein Gesicht ist total asymmetrisch.“
„Und so soll ich sein? Asymmetrisch?“. (Seite 138)

Es gibt ein abstraktes Kunstwerk, an das ich beim Lesen von „Sofia trägt immer Schwarz“ von Paolo Cognetti denken musste. Metallsplitter hängen wie in der Bewegung erstarrt in der Luft, in ihrer Mitte ein leerer Raum. Anfangs meinte ich, das Metall sei das zu beurteilende Kunstwerk, doch letztendlich war der Raum die Essenz von allem. Der Raum ist es, worauf es ankommt, die Metallsplitter erfüllen nur den Zweck, diesen Raum sichtbar zu machen. Ganz ähnlich erging es mir mit Sofia. Sie ist kaum greifbar, sie ist wandelbar und flüchtig. Nirgends wird sie sesshaft, ihre Gedanken und Gefühle behält sie unter Verschluss. Stattdessen sind es die Menschen, denen sie im Verlauf der Geschichte begegnet, die durch ihre gemeinsamen Erlebnisse eine Art „Sofia-Raum“ entstehen lassen und auf diese Weise den Kern von Sofias Wesen erfassen.

Du schleppst deine beiden Identitäten mit dir herum wie streitsüchtige Schwestern: Eine zerrt an dir und will weiterkommen, während die andere die Absätze in den Boden rammt. (Seite 139)

Da wären ihre Eltern, ihre depressive Mutter, der schwerkranke Vater, die patente Tante sowie diverse Bekanntschaften und Liebhaber. Alle erzählen in kurzen Episoden von ihrer Begegnung mit Sofia. Sie zeichnen ein Bild von diesem Mädchen, später von Sofia als erwachsene Frau, offenbaren Charakterzüge und Eigenheiten, die sie so speziell machen. Das ist auch das Besondere an diesem Buch: Niemals ist es Sofia selbst, die von sich aus der Ich-Perspektive erzählt. So bleibt sie bis zu einem gewissen Grat stets rätselhaft und undurchdringlich.

Paolo Cognetti gibt die Aufgabe, Sofia und ihre Lebensgeschichte zu verstehen, an den Leser ab. Soll er sich einen Reim auf seine Protagonistin machen, scheint er sich zu denken. Inwiefern hat ihre Kindheit mit der depressiven Mutter Sofia geprägt? Oder der häufig abwesende Vater? Was treibt sie an? Was erhofft sie sich vom Leben? In gewisser Weise ist „Sofia trägt immer Schwarz“ ein weißes Blatt. Denn letztendlich sind die bruchstückhaften Episoden nur kurze Zeitfenster in Sofias Leben. Was geschah in der Zwischenzeit? In diese Lücken setzt jeder Leser seine eigene Interpretation. Voraussetzung ist natürlich, dass man sich darauf einlassen kann und möchte. Für alle, die konkrete Antworten suchen, ist dieser Roman nicht der richtige. Für alle, die ihre Gedanken treiben lassen möchten, hingegen umso mehr.

Vor der Kamera verwandelte sich Sofia wieder in die Kellnerin am Fluss: Sie bewegte sich in ihrer Rolle, als wäre der Film das Leben und alles andere reine Imitation. (Seite 211)

Fazit

„Sofia trägt immer Schwarz“ von Paolo Cognetti schenkt dem Leser viel Freiraum zur Interpretation. In einzelnen Episoden schildern unterschiedliche Charaktere ihre Begegnung mit Sofia, einer Protagonistin, die es nicht einfach hat im Leben und die es sich nicht einfach macht. Sie fordert andere heraus und ist stets auf der Suche. Nach was? Das lässt sich nur erahnen und womöglich findet jeder Leser seine eigene, ganz persönliche Antwort auf diese Frage. Kein einfacher Roman, aber einer, der sich zu lesen lohnt.