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Bücherbummler

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Insgesamt 104 Bewertungen
Bewertung vom 02.06.2022
Graue Bienen
Kurkow, Andrej

Graue Bienen


sehr gut

Sergej Sergejitsch lebt in Malaja Starogradowka in der Grauen Zone, dem Puffergebiet zwischen der Ukraine und dem Dombass. Das Dorf ist mittlerweile verlassen, die Bewohner tot oder geflüchtet. Die Kriegsfront ist in Hörweite, ab und zu verirrt sich ein Geschoss in das Wohngebiet. Außer Sergejitsch ist nur noch Pascha geblieben, der alte Feind aus Schulzeiten, mit dem es sich jetzt, in der neuen Situation, aber leidlich auskommen lässt. Pascha und Sergejitschs Bienen, die in ihren Stöcken Winterruhe halten.
Doch als der Frühling kommt, beschließt Sergejitsch, dass er seine Bienen an einen friedlicheren Ort bringen muss, damit sie in Ruhe Nektar und Pollen sammeln können. Darum macht er sich auf den Weg, erst in die Ukraine, später auf die von Russland besetzte Krim. Wo er auch hinkommt, sind die Folgen des Krieges spürbar. Misstrauen und Vorurteile herrscht überall, Willkür und Machtmissbrauch sind an der Tagesordnung. Aber dasselbe gilt für Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit.

Meine erste Begegnung mit dem Werk Andrij Kurkows war vor einigen Jahren bei einer Lesung zu seinem Roman „Picknick auf dem Eis“ – leider nicht in Anwesenheit des Autors, aber trotzdem so amüsant, dass ich mir das Buch gleich am nächsten Tag besorgt habe. Ich erinnere mich nicht mehr an die Details, aber ich weiß noch, dass ich am Rest des Romans nicht halb so viel Freude hatte, wie an der Lesung.

Auch bei der Lektüre von „Graue Bienen“ war mein Lesevergnügen des Öfteren gedämpft. Ich schiebe das auf den Stil Kurkows, der sich gerne in Details und Wiederholungen ergeht. Was nicht grundsätzlich schlecht sein muss, sich hier aber komplett in bedrückendem Mangel an Signifikanz verliert.

Ein zweiter Punkt, über den ich immer wieder gestolpert bin, ist die Gestaltung des Protagonisten. Sergej Sergejitsch soll, laut eigener Aussage, Ende 40 sein. Aber trotz dieses Wissens und gezielter Anstrengung ist es mir nicht gelungen, ihn mir als solchen vorzustellen. Vor meinen geistigen Augen sah er die ganze Geschichte durch aus wie über 70. Mindestens. Die Art zu sprechen, sich zu bewegen, zu denken…. - 70! Mindestens!

Aber das alles beiseite lassend ist „Graue Bienen“ ein wirklich lesenswerter Roman. Gerade durch die aktuellen Ereignisse neigen wir oft dazu, zu vergessen, dass in Teilen der Ukraine schon seit acht Jahren Krieg herrscht. Und Kurkow erzählt davon. Nicht, indem er die großen Ereignisse erwähnt, sondern er berichtet von den Menschen, die dem Geschehen hilflos ausgeliefert sind. Deren Welt von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt wird, und die trotzdem weiter leben müssen, irgendwie. Er zeigt, wie der Krieg alle betrifft, Bewohner der Grauen Zone, Soldaten beider Seiten, Bewohner eines ukrainischen Dorfes, die ihre Männer im Krieg verlieren oder die Tataren auf der Krim. Und wie auf der anderen Seite TROTZ des Krieges und dem Schicksal, das alle verbindet, nicht alle gleich behandelt werden. Dass auch im Krieg, oder vielleicht gerade dann, die Feindschaft zwischen verschiedenen Menschengruppen nicht unbedingt relativiert wird, auch wenn sie auf derselben Seite der Front leben. Kurkow legt hier seinen Finger in mehr als eine Wunde.

Ich kann nicht behaupten, dass ich „Graue Bienen“ mit voller Begeisterung gelesen hätte. Ich hatte ungeduldige Momente bis hin zur Langeweile. Trotzdem habe ich es nicht bereut, dieses Buch gelesen zu haben. Wenn es mir auch nicht viel Aufklärung über die politischen Hintergründe gegeben hat, so doch einen tiefen und beeindruckenden Blick in das Leben der Menschen dort und die Menschlichkeit in Kriegszeiten an sich. Und viel Stoff zum Nachdenken. Darum wünsche ich diesem Buch unbedingt viele Leser.

Bewertung vom 28.05.2022
Unser Sommer am See
Huppertz, Nikola

Unser Sommer am See


schlecht

Nach der Scheidung ihrer Eltern leben Agda, Nick und Jula Emmerich bei der Mutter, aber diesen Sommer dürfen sie drei Wochen allein mit ihrem Vater Claus in Bayern verbringen. Das abgelegenste Haus auf dem Krähenriegel hat Claus ausgesucht, um seinen Kindern die Natur näher bringen zu können und die Ruhe zu genießen. Aber von Ruhe kann keine Rede sein. Gleich zu Beginn bricht sich Claus den Fuß, Jula findet eine verzauberte Katzenmumie, Nick wird von Felix, einem Jungen aus dem Dorf, auf mehrere Mutproben geschickt, um zu beweisen, dass er dazu geeignet ist, mit Felix auf eine Schatzsuche zu gehen, während Agda überlegt, ob eben jener Felix wirklich so ein öder Bauerntrottel ist, wie sie erst dachte. Und dann stellt sich auch noch die Frage, ob die Emmerichs wirklich allein auf dem Krähenriegel sind…

„Unser Sommer am See“ ist das Neueste in einer langen Liste von Büchern der Autorin Nikola Huppertz. Fast ebenso lang ist die Liste der Nominierungen und Preise, die sie für ihre Werke bekommen hat. Die Rezensionen zu diesem Buch, die ich bisher gesehen haben, waren durchweg Fünf- oder Viersterner.

Das möchte ich gerne vorwegschicken, bevor ich sage: Dieses Buch war eine ziemliche Herausforderung für mein Durchhaltevermögen. Ausgesucht habe ich es, weil ich durchaus gerne ab und an Kinderbücher lese. Vor einigen Jahren hatte ich eine Phase, in der meine Lektüre fast ausschließlich aus diesem Genre bestand. Und besonders mag ich gerade jene Bücher, die einen die Freiheit und Sorglosigkeit der eigenen Kindheit, die Wärme und Abenteuerlust der Sommerferien, wiederfinden lassen. Aber „Unser Sommer am See“ konnte ich nichts davon spüren. Ich habe mich einfach nur gelangweilt.

Das lag zum einen am Stil, den ich extrem ausladend und wiederholungslastig fand. Ich hätte gerne mehr Tempo und Pfiff gesehen. Mir ist es wirklich schwergefallen, weiterzulesen, ohne genervt zu sein. Aber auch die Figuren fand ich in ihrer Durchschnittlichkeit ziemlich uninteressant bis einschläfernd, und das durch die Reihe weg. Nebenbei habe ich mich gefragt, für welche Altersklasse das Buch überhaupt gedacht ist. Die Emmerich-Kinder sind altersmäßig so weit auseinander, dass ich mich als Kind für mindestens eines von ihnen null interessiert hätte.

Bliebt noch die Geschichte an sich. Sie und der idyllische Ort des Geschehens hatten durchaus das Potenzial, ein schönes Kinderbuch herzugeben. Aber für mich fielen die oben genannten Punkte so schwer ins Gewicht, dass alles andere darin ertrunken ist.

Ich kann mich nicht erinnern, ob ich das in einer Rezension schon mal getan habe, aber heute fühle ich mich genötigt, den moralischen bzw. ethischen Zeigefinger zu heben. Dass ein kleines Mädchen mit einer mumifizierten Katzenleiche herumrennt… Na, meinetwegen. Dass dieses Mädchen Tiere sammelt und aus ihrem natürlichen Habitat in ein anderes umsiedelt, ohne dass das thematisiert wird… Wollen wir mal drüber hinwegsehen, welches Kind tut das nicht. Aber dass es als großes Abenteuer und sogar Heldentat hingestellt wird, wenn ein kleiner Junge loszieht, um einen Fisch zu angeln und zu erschlagen… Das kann sich ein Tom Sawyer noch erlauben, aber in unseren Zeiten sind wir in Sachen Natur- und Tierschutz wirklich an einem Punkt, wo man mehr erwarten könnte.

Man errät es womöglich, dieses Buch und ich sind keine besten Freunde geworden. Aber für eine versöhnliche Note am Ende möchte ich noch erwähnen, dass mir Cover und Haupttitelseite von Elsa Klever gut gefallen. Und allen Lesern meiner Rezension empfehle ich, sich auch mit den guten Bewertungen des Buches zu beschäftigen. Denn so allein, wie ich bisher auf weiter Flur mit meiner Meinung dastehe, möchte ich nicht verantworten, dass jemand sein großes Leseerlebnis dieses Sommers verpasst.

Bewertung vom 22.05.2022
Die Diplomatin
Fricke, Lucy

Die Diplomatin


sehr gut

Als Fred ihre Stelle als Konsulin in Montevideo antritt, scheinen ihre Aufgaben überschaubar. Die Planung eines Festes zum Tag der Deutschen Einheit ist vorerst die größte Herausforderung, die sie erwartet. Doch dann verschwindet eine junge Deutsche. Und nicht nur irgendeine, sondern die Tochter einer einflussreichen Medienvertreterin. Konsequenzen müssen folgen, und so wird Fred von ihrem Posten abgezogen und, nach einer kurzen Zwischenstation in Bonn, in das Konsulat in Istanbul versetzt. Hier ist die politische Lage eine ganz andere, als in Uruguay. Regierungskritikern wird die Ausreise verboten, sie landen in Gefängnissen oder verschwinden spurlos. Auch solche mit deutscher Staatsangehörigkeit. Und so gerät Fred schnell an die Grenzen ihrer legalen Befugnisse und muss eine Wahl zwischen ihrem diplomatischen Auftrag und den eigenen Werten treffen.

Zu Beginn hat mich „Die Diplomatin“ von Lucy Fricke ziemlich begeistert. Die Möglichkeit, einen Blick hinter die Kulissen diplomatischer Vertreter werfen zu können, war für mich etwas ganz Neues. Und Fred eine interessante Protagonistin mit ihrer ironisch bis sarkastischen Art, die einen fühlen lässt, wie ihr Beruf sie im Laufe ihrer Karriere ernüchtert hat.

Erstaunlicherweise hat meine Begeisterung schnell Dellen bekommen, nachdem Fred in der Türkei angekommen war. Die weitere Geschichte hat mich nicht mehr wirklich erreicht. Ich fand sie emotional flach, sehr dramaturgisch gewollt und auch der subtile Humor schien zu verblassen. Besonders die Affäre, die Fred nun eingeht, hat mich nicht überzeugt. Es kam mir eher so vor, als wäre sie alleine zu dem Zweck eingebaut worden, weil die meisten nun mal gerne über Liebesbeziehungen lesen. Den Konflikt, in dem sich Fred befunden haben muss, weil sie in gewisser Weise den sich in Gefahr befindenden Menschen nur helfen konnte, indem sie ihren eigenen Berufsethos hintergeht, konnte ich so gut wie gar nicht fühlen.

Sehr gut gefallen hat mir die Interpretation von Bettina Hoppe, die die Hörbuchversion so passend eingelesen hat, dass man meinen könnte, die Rolle der Fred wäre für sie geschrieben worden. Prinzipiell ziehe ich das gedruckte Buch immer vor, aber in diesem Fall muss ich zugeben, der Griff zur digitalen Version lohnt sich.

Insgesamt ist „Die Diplomatin“ ein Roman, dem wohl gerade sein vielversprechender Anfang zum Verhängnis geworden ist. Ohne diesen hätte ich den weiteren Verlauf der Geschichte vielleicht als weniger mangelhaft empfunden. Aber alles in allem durchaus ein lesenswertes Buch – mit Abstrichen.

Bewertung vom 21.05.2022
Der Zopf
Colombani, Laëtitia

Der Zopf


gut

Badlapur, Uttar Pradesh, Indien. Smita gehört zu den Dalit, den Unberührbaren. Jeden Tag muss sie in ihrem Dorf die Aborte der Einwohner leeren, einen Beruf, den sie von ihrer Mutter übernommen hat. So ist es vorgesehen, die Geburt bestimmt das Schicksal unwiderruflich. Trotzdem wünscht sich Smita für ihre Tochter Lalita etwas anderes. Sie soll zur Schule gehen, lernen, einen anderen Beruf ergreifen können. Doch Smitas Versuch, Lalita in der örtlichen Schule unterzubringen, scheitert. Und ihr wird klar, dass nur die Flucht aus der Heimat etwas an Lalitas Schicksal ändern könnte.

Über 6300 km entfernt kämpft Giulia im sizilianischen Palermo um das Überleben des Familienunternehmens. Seit ihr Vater durch einen Unfall im Koma liegt, durchschaut Giulia erst, wie schlecht es um die Firma, die das Haar sizilianischer Frauen verarbeitet, steht. Ihr ist klar, dass nur der Bruch mit den alten Traditionen und ein neues Konzept das Geschäft und damit den Lebensunterhalt ihrer Familie retten kann.

Weitere 6800 km weiter in Montreal, Kanada, gerät Sarahs Leben aus den Fugen. Die dreifache Mutter und sehr erfolgreiche Anwältin steht kurz vor dem Höhepunkt ihrer Karriere, wird als Nachfolgerin des Chefs der bekannten Kanzlei, in der sie arbeitet, gehandelt. Doch dieses Ziel, auf das sie ihr ganzes Leben, auch zum Nachteil ihrer Familie, ausgerichtet hat, scheint vor ihren Augen zu zerbrechen, als bei ihr Brustkrebs diagnostiziert wird. Die Sorte Krebs, an der schon ihre Mutter gestorben ist.

Man kann es sich schon denken, Laetitia Colombanis Roman „Der Zopf“ kommt sehr konstruiert daher. Als Leser kennt man die Geschichte im Prinzip von Anfang an, Unerwartetes steckt höchstens im Detail. Ähnlich ist es auch mit ihren Protagonistinnen, auch sie schaffen es weder durch ihre Reaktionen, noch durch ihre Entwicklung einen Weg einzuschlagen, der nicht vorhersehbar wäre. In der Regel wäre das für mich ein großer Minuspunkt. Wenn ich im Voraus schon alles weiß, brauche ich ein Buch ja gar nicht erst zu lesen. Was die Situation für Colombani aber halbwegs rettet, ist, dass sie die Kulturkreise ihrer drei Frauen gut zeichnet. Diesen parallelen Verlauf dreier Schicksale unter so völlig anderen Bedingungen fand ich nicht uninteressant. Und das gilt auch für die Grundidee des Buches, diese ganz unterschiedlichen Leben durch einen Gegenstand, den Zopf, zu verbinden. Natürlich weiß man, dass die Dinge, die uns umgeben, durch viele andere Hände gegangen sind. Hände, die alle zu Menschen mit ihren eigenen Geschichten gehören. Aber sich dessen wirklich bewusst macht man sich selten und dieses Gedankenspiel hat mir schon Spaß gemacht.

Weniger Spaß hatte ich an Colombanis Stil. Sie tanzt für meinen Geschmack zu dicht am Grat des Banalen, und das ist schade, denn ein weniger durchschnittlicher Schreibstil hätte dem Roman eine ganz neue Qualität geben können. Dafür lässt sich das Buch aber leicht und flott weglesen, was ja durchaus nicht unbeliebt ist.

Insgesamt stufe ich „Der Zopf“ in die Kategorie „Kann man lesen, muss man aber nicht“ ein. Ich würde nicht ausschließen, irgendwann auch Colombanis andere Romane zu lesen, aber ohne jede Dringlichkeit. Und meine große Werbetrommel bleibt dieses Mal im Schrank.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.05.2022
Die Winde des Ararat
Zypkin, Leonid

Die Winde des Ararat


sehr gut

Die Sowjetunion in den 1970er Jahren. Boris Lwowitsch, Jurist jüdischer Abstammung aus Moskau, und seine Frau Tanja machen in einer armenischen (und damals zur Sowjetunion gehörenden) Grenzstadt mit Blick auf den in der Türkei liegenden Ararat Urlaub. Die Nähe der unüberwindbaren Grenze und der dahinterliegenden Freiheit ist dem Ehepaar bewusst, aber ein Thema, über das man nicht spricht. Boris und Tanja spulen mit den übrigen Touristen ihr Programm ab, bis ihr Urlaub einen jähen Abbruch findet, als sie wegen des angeblichen Endes ihrer Buchungszeit aus ihrem Hotel ausquartiert werden. Ein Versuch Boris’, sich für diese entwürdigende Behandlung an der Hoteldirektorin zu rächen, bringt kaum Befriedigung. Und dann wartet Zuhause in Moskau noch eine Veränderung, die Boris’ und Tanjas Leben für immer verändern wird.

Leonid Zypkin macht es den Lesern seiner autobiografisch beeinflussten Erzählung „Die Windes des Ararats“ nicht leicht. In einem dahinplätschernden Strom folgen wir Boris durch seine Gedanken, springen mit ihm durch Themen und Zeiten bis hin zur Kreuzigung Jesu und zur Massenvernichtung der Juden während des Zweiten Weltkrieges. Oder zumindest nehmen wir an, dass wir das tun. Denn mit der Nennung von Namen, Orten und Ereignissen ist Boris bzw. Zypkin mehr als sparsam. Als Leser muss man sich entweder auskennen, schlaumachen oder gleichgültig bleiben.

Sparsam ist Zypkin auch mit seiner Punktierung. Als ich einmal eine Lesepause einlegen wollte, habe ich sechs Seiten nach dem nächsten Punkt gesucht. Ohne Erfolg. Ab da habe ich mehr oder weniger wahllos Wörter mitten im Text markiert, wann immer ich eine Unterbrechung gebraucht habe. Ich weiß nicht, ob es an diesem Punktierungsgeiz oder am Stil lag, aber es war mir fast unmöglich, mich auf den Text zu konzentrieren. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal beim Lesen so konsequent abgeschweift bin, wie bei dieser Erzählung.

Eigentlich habe ich keine guten Gründe, „Die Winde des Ararats“ gemocht zu haben. Abgesehen von den oben erwähnten Problemen hat mir die Geschichte auch sonst wenig von dem gegeben, was ich normalerweise in einer von mir als gut bezeichneten Lektüre suche. Die Geschichte war – ich würde nicht sagen, nicht vorhanden, aber definitiv nicht spannend oder auch nur unterhaltend. Eine tiefere Aussage hat sich mir zumindest nicht erschlossen, auch wenn sie bestimmt irgendwo vorhanden war. Es hat sich für mich nur wenig an neuen Perspektiven und Gedanken aufgetan. Und vor allem war alles so in der Schwebe, dass ich keine Aussage machen könnte, ohne mich zu fragen, ob ich einfach nur fleißig hineininterpretiere.

Und trotzdem hat mich etwas im Nachhinein auf positive Weise mit diesem Roman verknüpft. Etwas, was ich schwer benennen kann, hat sich bei mir eingepflanzt und lässt mich mit mehr Begeisterung an dieses Buch zurückdenken, als ich beim Lesen tatsächlich empfunden habe. Vielleicht ist es die Figur des Boris Lwowitsch, seine Menschlichkeit in allen Facetten. Vielleicht die Atmosphäre, die Zypkin zu schaffen weiß. Vielleicht eine tiefere Wahrheit, die nicht genannt, aber empfunden wird.

Leonid Zypkin, der nach der Ausreise seiner Frau und seines Sohnes in die Staaten seinen Doktortitel aberkannt bekam und in seinem Beruf als Mediziner herabgestuft wurde, schrieb zu seinen Lebzeiten fast ausschließlich für die Schublade. Kein sowjetischer Verlag war bereit, etwas von ihm zu veröffentlichen, so dass er seinen bekanntesten Roman „Ein Sommer in Baden-Baden“ außer Landes schmuggeln musste, der nur eine Woche vor seinem Tod in einer Emigranten-Zeitung in New York veröffentlicht wurde. Vielleicht ist dieses für sich schreiben, für seine Zeit schreiben, für seine Situation schreiben der Grund, dass mir das Lesen so schwergefallen ist. Trotzdem bin ich mir sicher, dass es für die literarische Welt ein Segen ist, dass sein Werk letztendlich doch seinen Weg an die Öffentlichkeit gefunden hat und in Deutschland zu den neu aufgelegten Wiederen

Bewertung vom 10.05.2022
Eine Laune Gottes
Laurence, Margaret

Eine Laune Gottes


ausgezeichnet

Kanada in den 1960ern. Rachel Cameron ist Anfang 30, Lehrerin und lebt mit ihrer Mutter über dem Bestattungsinstitut, das ihrem Vater gehört hat, nach dessen Tod aber verkauft wurde. Rachel hat sich in ihrem Leben eingerichtet. Ihre Tage bestehen in erster Linie aus ihrer Arbeit und Fernsehabenden oder Kinobesuchen mit der Mutter, die sich Rachels Aufmerksamkeit durch emotionale Erpressung sichert. Bridg-Abende, an denen Rachel die Aufgabe zukommt, die Freundinnen ihrer Mutter zu bedienen, und gelegentliche Einladungen bei ihrem Chef oder einer Kollegin – viel mehr Abwechslung gibt es nicht und scheint Rachel auch nicht zu wollen. Das ändert sich, als sie zufällig ihrem alten Schulkameraden Nick begegnet, ein Treffen, das ihr Leben auf viele Weisen umkrempeln kann.

„Eine Laune Gottes“ ist der zweite von Margaret Laurences fünf Romanen, die in dem fiktiven Manawaka spielen, einer Kleinstadt, die von Laurences Heimatstadt Neepawa inspieriert wurde. Was mir als Erstes auffiel, war, wie erfrischend sie ihre Protagonistin gezeichnet hat. In letzter Zeit habe ich öfter Bücher über „alte Jungfern“ gelesen – ich denke da an Eleanor Oliphant aus „Eleanor Oliphant ist completely fine“ von Gail Honeyman oder Molly Gray aus „The Maid“ von Nita Prose – in denen die Heldinnen sehr liebenswert, aber auch immer etwas verschroben und extrem naiv waren. Rachel ist das nicht. Nach außen benimmt sie sich, wie es die Gesellschaft von ihr erwartet, höflich und wohlerzogen, aber sie beobachtet ihre Umwelt sehr genau und urteilt scharf bis zur Bösartigkeit. Sie hat Ecken und Kanten, ist vielschichtig und tiefgründig auf einer sehr bewussten Ebene. Und vor allem geraten ihre charakterlichen Stärken auch mal ins Wanken, zeigen deutlich die Spannung zwischen inneren Wünschen und äußeren Erwartungen, denen Frauen in den 1960ern noch um einiges mehr ausgesetzt waren, als heute.

Ein interessanter Kniff der Autorin ist, dass sie Rachels Wunschträume so in den Text einfließen lässt, dass man oft nicht sofort erkennen kann, ob das Geschilderte Realität oder eben reine Traumvorstellung ist. Sehr schön verdeutlicht fand ich auch den Kampf der Protagonistin zwischen ihren Hoffnungen und dem Wissen, dass diese keine reelle Existenzberechtigung haben.

Ich erwähne Übersetzer oder Übersetzerinnen viel zu selten, vor allem, weil ich meistens das Gefühl habe, dass ich nicht beurteilen kann, wie gelungen die Übertragung ist, wenn ich nicht das Original kenne. Aber dieses Mal möchte ich Monika Baark hervorheben, die „Eine Laune Gottes“ so frisch übersetzt hat, dass das Buch ungemein an Aktualität gewinnt und einen nicht in den Glauben verfallen lässt, als moderne Frau wäre man vor Geschichten wie der Rachels gefeit.

Alles in allem ein gelungenes Buch, dass ich nicht direkt verschlungen, aber sehr gerne gelesen habe und ebenso gerne weiterempfehle. Es wird bestimmt nicht meine letzte Lektüre von Margaret Laurence gewesen sein.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.05.2022
Die Lüge
Franko, Mikita

Die Lüge


ausgezeichnet

Miki ist erst drei, als seine Mutter an Krebs stirbt. Ab da lebt er bei seinem homosexuellen Onkel Slawa und dessen Partner Lew. Am Anfang ergeben sich wenig Probleme, aber als er in die Schule kommt, muss er lernen, um sich herum eine Scheinwelt aufzubauen, in der es nur einen alleinerziehenden Vater gibt. Niemand darf die Wahrheit wissen, nicht nur wegen der Vorurteile, sondern weil die reelle Gefahr besteht, dass Slawa dann seine Erziehungsberechtigung verliert. Für Miki wird es immer belastender, diesen Lügenpalast aufrechterhalten zu müssen, und als er ins Teenageralter kommt, entwickelt er Depressionen, Angstzustände und den Drang zu Selbstverletzungen. Komplett aus dem Gleichgewicht gerät er, als er merkt, dass er sich von Jungen angezogen fühlt. Dem Vorurteil, homosexuelle Eltern würden homosexuelle Kinder großziehen, in die Hand gespielt zu haben, ist für ihn Versagen und nah einem Verrat an seinen Vätern.

Ich habe „Die Lüge“ von Mikita Franko geliebt. Punkt.

Dieses Buch ist so vielseitig, liebenswert, schrecklich, bewegend, wütend machend, amüsant, rührend, intelligent… Und dabei immer überzeugend, nie ins Kitschige driftend, nicht konstruiert oder manipulierend. Er fühlt sich einfach real und wahrhaftig an.

Franko selbst soll gesagt haben, dass er sich bewusst sei, dass sein Roman nicht perfekt ist. Ich habe das zu keinem Zeitpunkt so empfunden. Davon abgesehen, dass perfekt ein extrem dehnbarer und nicht wirklich erreichbarer Begriff ist, war für mich einfach alles rund und stimmig. Wird die Geschichte Homophobie umstimmen? Sicher nicht, aber ich glaube auch nicht, dass das das Anliegen des Autors war. Meiner Meinung nach ist es auch nicht nur ein Buch über Homosexualität, sondern vor allem die Erzählung eines jungen Menschen über seine Suche nach seiner Individualität und deren Akzeptanz. Ein ungeschönter Coming-of-Age-Roman, der auch Themen aufgreift, die ich so in anderen Büchern des Genres so noch nicht gefunden habe.

Ich bin mir bewusst, dass nicht jeder den gleichen Enthusiasmus für „Die Lüge“ aufbringen wird, wie ich. Vielleicht wird der Roman sogar polarisieren. Aber auch das würde mich nur noch mehr von ihm überzeugen, weil nicht nur das Thema an sich schon für hitzige Gemüter sorgt, sondern auch die Frage, wie man es präsentieren und aufarbeiten sollte. Und meiner Meinung hat Franko da einen guten Weg gewählt, indem er einfach authentisch und ehrlich bleibt, und das bis zu einem Punkt, der auch mal weh tut. Ich bin jedenfalls ziemlich sicher, einen meiner Top Ten Romane des Jahres 2022 gefunden zu haben. Ein mutiges Buch und eine riesige Leseempfehlung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.04.2022
Butter (MP3-Download)
Yuzuki, Asako

Butter (MP3-Download)


weniger gut

Rika ist eine junge Journalistin, die den Ehrgeiz hat, von der wegen mehrfachem Mordes an ihren Verehrern angeklagten Manako Kajii ein Interview zu bekommen. Manako stimmt einem Treffen schließlich zu, aber nur unter der Voraussetzung, dass nur über ihre Kochkunst, nicht über den Fall gesprochen wird. Während der Treffen im Gefängnis gerät Rika immer mehr in den Bann der charismatischen Frau, fängt an, ihr nachzueifern und Aufgaben zu erfüllen, die Manako ihr stellt. Erst als Rika durch ihre Recherchen beginnt, hinter die Fassade Manakos zu blicken, hat sie eine Chance, sich aus deren Bann zu lösen. Und sich selbst neu zu definieren.

Asako Yuzuki ist in Japan nicht unbekannt. Einige ihrer Romane wurden verfilmt und sie wurde mehrfach für literarische Preise nominiert. Alleine für den Naoki-Preis war sie fünfmal gelistet. Was das qualitativ über sie aussagt, ist mir allerdings unklar. Wikipedia erklärt den Naoki-Preis zum populär-unterhaltsamen Gegenstück des Akutagawa-Preises, der wiederum der Prix Goncourt Japans sein soll. Ihr Roman „Butter“, der lose auf der wahren Geschichte einer Frau namens Kanae Kijima basiert, erhielt jedenfalls eine solche Nominierung.

Diesen halbherzigen Ausflug über Yuzukis Bekanntheitsgrad und Anerkennung mache ich nur, weil mir sonst nicht viel Positives zu diesem Roman einfällt. Als leidenschaftliche Nicht-Köchin war ich wohl von Anfang an nicht die passendste Leserin für dieses Buch.

Schon bei der Thematik ist mir nicht wirklich klar, was die Autorin im Sinn hatte. Eine Gesellschaftskritik zur Rolle der Frau in Japan? Einen Krimi? Einen Selbstfindungsroman? Ein Kochbuch? Es spricht ja überhaupt nichts dagegen, mehrere Themen in einen Roman zu packen, aber dann muss es auch funktionieren. Bei Yuzuki ertrinkt alles im wahrsten Sinne des Wortes in Butter. Die Geschichte dümpelt wenig aussagekräftig vor sich hin, etwa zur Hälfte denkt man, jetzt kommt Fahrt rein, jetzt wird es spannender, aber schon plätschert es weiter mit unbekanntem Ziel. Auch die Figuren bleiben, vielleicht mit Ausnahme von Manako Kajii, farblos und langweilig. Ohne Namen hätte ich sie vermutlich nicht auseinanderhalten können. Und schließlich die Verknüpfung des Ganzen mit kulinarischen Aspekten, das hat für mich gar nicht funktioniert. Es hat die Geschichte nur noch mehr verwässert, andere Themen, die für sich durchaus interessant, wenn nicht sogar spannend hätten sein können, verdrängt.

Die Hörbuchversion wurde von Madiha Kelling Bergner eingelesen. Und auch hier kann ich leider nicht aufhören, zu kritisieren. Abgesehen davon, dass die Stimme viel zu jung war, fand ich das Vorgelesene auch eintönig und den Tonfall merkwürdig gequetscht. Amüsanter Weise wurde dadurch meine Einstellung zum Buch durchaus unterstrichen. Also doch irgendwie passend.

„Butter“ und ich haben sich also nicht gesucht und gefunden. Und ich bedaure das wirklich, weil ich fand, dass Yuzuki sehr spannende Ansätze bietet. Die Manipulation Rikas durch Manako, der Druck auf Frauen, für die die Wahl zwischen schlank sein oder genießen und einsam bleiben zu liegen scheint, die vielen Schichten der Figur Manakos, bei der nicht immer klar ist, was Realität und was ihre Erfindung ist, ihre Härte und gleichzeitige Verletzbarkeit... Das alles hätte wirklich fesseln können. Und tut es andere Leser vielleicht auch. Aber bei mir reicht es bedauerlicherweise nicht für eine Lese- bzw. Hörempfehlung.

Bewertung vom 28.04.2022
Der Tag des Opritschniks
Sorokin, Vladimir

Der Tag des Opritschniks


sehr gut

2027. Russland hat eine riesige Mauer um sein Gebiet gezogen und unterhält nur mit China noch zwischenstaatliche Beziehungen. So von dem Rest der Welt abgeschottet macht sich der Alleinherrscher, der Gossudar, daran, seine Feinde innerhalb der Mauer auszurotten. Die Intelligenzija, Journalisten, Künstler, Aufständische… Kurz, jeder mit einer abweichenden Meinung wird unschädlich gemacht. Während die Technik sich weiterentwickelt hat, sind die Methoden der Regierung ins Mittelalter zurückgefallen. Folter, Vergewaltigungen und Morde sind an der Tagesordnung. Während gleichzeitig Religion und Gleichheit aller Menschen propagiert wird. Der Staat ist streng nach Hierarchie aufgebaut, eine Hierarchie, in der Frauen praktisch nicht vorkommen.

In seinem 2006 in Russland erschienenen Roman „Der Tag des Opritschniks“ lässt Vladimir Sorokin Andrej Danilowitsch Komjaga, ein ranghohes Mitglied der Opritschnina, einen anscheinend normalen Tag seines Lebens im unbeschwerten Plauderton beschreiben. Die Opritschnina, das ist die Organisation, die dem Gossudaren direkt unterstellt ist und seine Probleme aus dem Weg räumt. Stolz sind sie, die Opritschniks. Sie haben Macht, sie haben Einfluss, sie haben Privilegien… Und Sonderrechte, die die Doppelmoral des Staates mehr als deutlich machen. Wir Leser folgen also Komjaga durch einen seiner Tage, der damit beginnt, seinen Dienstwagen mit dem täglich frischen Hundekopf zu schmücken. Ein Tag, an dem er foltern, morden und vergewaltigen wird, zum Wohle des Staates selbstverständlich. An dem er aber auch an Drogenexzessen und Orgien teilnimmt, die allem widersprechen, was dem Volk an Werten und Regeln aufgezwungen wird. Auch das auf Befehl der Vorgesetzten.

„Der Tag des Opritschniks“ ist eine verwirrende Lektüre. Was natürlich durch die aktuelle politische Lage verstärkt wird, in der man sich noch mehr versucht fühlt, das Szenarium des Buches mit der Realität und möglichen Entwicklungen zu vergleichen. Letztendlich hat sich mein Innerstes geweigert, Sorokins düstere Dystopie als vorstellbar zu akzeptieren. Aber ein kleiner nagender Zweifel ist spürbar geblieben, und das hat das Buch so besonders für mich gemacht. Nach dem Lesen fühlt man sich überrollt, entsetzt, angewidert. Und muss sich doch dem Wahrheitsgehalt stellen. Es ist mir aber wichtig, festzuhalten, dass der Roman für mich keine pure Russland-Kritik war. Die Themen, die Sorokin anspricht, sind viel zu universal, um ein Blame-Game daraus zu machen.

Ein großes Lob auch an den Übersetzer Andreas Tretner, der einige von Sorokins Büchern ins Deutsche übersetzt hat. Ich bin leider nicht in der Lage, sie im Original zu lesen, aber sie zu übersetzen kann nicht einfach gewesen sein. Chapeau!

Trotzdem ich das Buch sehr gut fand, zögere ich, eine komplett uneingeschränkte Leseempfehlung auszusprechen. Die Geschichte ist brutal, zermürbend sinnfrei, absurd… Und dann doch im Rahmen dessen wozu Menschen fähig sind. Wenn man sich dem stellen möchte, ist Sorokin wohl das Beste, was einem passieren kann.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.