Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
yellowdog

Bewertungen

Insgesamt 1971 Bewertungen
Bewertung vom 27.08.2024
Egal war gestern
Isermeyer, Jörg

Egal war gestern


ausgezeichnet

Ein politisches Coming-of-Age

Finn ist Schüler, sein Vater Lehrer. An der Schule entsteht immer mehr eine rechte Stimmung, die sich in Schikanen gegen Menschen mit Migrationshintergrund und andersdenkende entwickelt.
Finns Vater fängt an, öffentlich dagegen zu protestieren. Dadurch wird er für manche zum Nestbeschmutzer. Auch Finn bekommt das zu spüren.
Das Jugendbuch beschreibt den Prozess, wie sich die Situation allmählich verschlimmert. Aus anfänglichen Pöbeleien werden massive Drohungen.
Damit eingehend wird auch Finns Entwicklung beschrieben. Er nimmt deutlicher wahr, wie sich die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge ergeben.
Jörg Isermeyer zeigt das anhand verschiedenster Einflüsse und damit erreicht er ein Gesamtbild. Am wichtigsten ist vielleicht, dass deutlich gemacht wird, das Widerstand und Zivilcourage zeigen auch einen Preis einfordert. Für die Familie wird die andauernde Bedrohungslage schließlich zu viel, aber Finn hat gelernt, dass er für das einstehen muss, an das er glaubt.
Großartig, dass ein Roman das so in einer Gesamtheit deutlich machen kann.

Bewertung vom 27.08.2024
Radieschen-Revolution
Müller, Christian Lorenz

Radieschen-Revolution


sehr gut

Machtkampf im Radieschengarten

Das Buch zeigt Gerd, ein Literaturkritiker, der seine Liebe zum Gärtnern entdeckt und seinen Weg zum eigenes gegründeten Gemeinschaftsgarten.
Die Sprache ist überraschend und wirkt im Tonfall wie aus den sechziger Jahren. Gemäßigt wird das durch einige moderne Begriffe.
Den Einsatz des betulichen in der Sprache verstehe ich als eine Art Ironie. Das schließe ich auch aus den drolligen Kapitelüberschriften und den Dialogen. Das wird zum Ende hin immer überdrehter.
Wer für diese Art Ironie etwas übrig hat, wird den Roman amüsant finden.

Bewertung vom 24.08.2024
Nostalgia
Kubiczek, André

Nostalgia


ausgezeichnet

Favorit für die Shortlist
Nostalgia ist eine Familiengeschichte, die in den frühen Achtziger Jahren in der DDR angesiedelt und die trotz des Titels nicht nostalgisch verklärt sondern glaubhaft und echt den Zustand zeigt. Die erlebende Perspektive ist die des Kindes André. Es ist ein autobiografisch gefärbter Text, liest sich aber nicht wie die übliche autofiktionale Literatur. Das liegt auch darin, dass nicht in der ersten Person erzählt wird.
Zentrale Figur ist die der Mutter, die aus Laos stammte und au Liebe in die DDR ging. Diese Herkunft ist manchmal nicht einfach für Andre, zum Beispiel wenn er in der Schule Schlitzauge genannt wird.
Hinzu kommt noch der jüngere Bruder, der geistig behindert ist. Und auch die Mutter wird krank. Es wird schlimmer und damit endet Andres unbekümmerte Jugend schnell. Später wird auch die Perspektive der Mutter gezeigt.
Andre Kubiczek schreibt detailliert, vielleicht manchmal zu ausführlich. Vielleicht erreicht er mit seiner Genauigkeit aber auch erst den Leser.
Es ist ein Text, der einen nicht gleichgültig lässt.

Bewertung vom 23.08.2024
Der Wind weht, wohin er will
Tamaro, Susanna

Der Wind weht, wohin er will


sehr gut

Die Summe eines Lebens

Es ist eine Familiengeschichte und ein Briefroman. Recht ungewöhnlich, Briefe in dieser Ausführlichkeit zu lesen, aber es funktioniert. Sprachlich ist es einfach gehalten, wie man es von Susanna Tamaro kennt. Daran sollte man sich nicht stören, sonst braucht man das Buch nicht erst anfangen.
Eine gewisse Einfachheit wird auch aus dem Leben in einer ruhigen, ländlichen Umgebung in Italien hergeleitet.
Hauptfigur ist die 59jährige Chiara, die diese Briefe an Mitglieder ihre Familie schreibt. An ihren Mann Davide und an ihre zum Teil schon erwachsenen Kinder. Dabei geht sie auch in die Zeit zurück, z.B. ins Jahr 1976 als sie 18 Jahre alt und Schülerin war. Nach einer ersten Liebe findet sie mit David den Mann fürs Leben. Sie adoptierten ein Kind und bekamen weitere.
Die Briefe widmen sich natürlich auch den Adressaten und zeigen ihr Aufwachsen.
Es kristallisieren sich aus dem Ganzen die Erfahrungen eines Lebens.

Bewertung vom 22.08.2024
Der letzte Cimamonte
Melchiorre, Matteo

Der letzte Cimamonte


sehr gut

Adel gegen Moderne

Der letzte Cimamonte ist kein schlechtes Buch, manches ist wirklich gut ausformuliert.
Aber nach einer Weile kommt es mir streckenweise belanglos vor, der Protagonist manchmal zu naiv.
Das Grundproblem Adel gegen Moderne ist vielleicht zu speziell, als dass es mich fesseln konnte. Sprachlich ist es schon gelungen. Es entsteht ein Ton, der dem Buch einen Glanz und eine Stimmung verleiht. Zudem ist das Buch vom Verlag gut gestaltet. Ich mag das Cover. Meine persönliche Wertung: 3,5 von 5 Sterne.

Bewertung vom 22.08.2024
Jones
Smith, Neil

Jones


sehr gut

Buch mit harten Themen

Jonex ist ein ziemlich ungemütlicher Roman des kanadischen Autors Neil Smith.
Ein Antifamilienroman. Die Familie besteht aus dem jugendlichen Eli Jones, seiner Schwester Abi und ihren Vater Pal.  Ich persönlich finde nicht, dass die Figuren außer Eli gut ausgearbeitet sind und lange nimmt die Geschichte kein Tempo auf. Sprachlich ist das Buch okay, teilweise geschickt gemacht.
Eine düstere Haltung kann man dem Text nicht absprechen. Er hat diverse Härten, wie Missbrauch und Drogen. Das wird aber immer nur angedeutet, nicht direkt gezeigt. So ist es umso verstörender.
Die Stimmung ändert sich, als Eli älter wird. Er beteiligt sich an Demos in Montreal für Schwulenrechte. Und schließlich kommen die Geschwister für kurze Zeit wieder zusammen.
Es ist kein schlecht geschriebenes Buch, doch nicht gerade ein Lesegenuss.

Bewertung vom 22.08.2024
Tokio Express
Matsumoto, Seich_

Tokio Express


sehr gut

Spiel mit dem Fahrplan

Tokio Express ist ein klassischer japanischer Kriminalroman mit interessantem Plot.
Stilistisch ist der Roman konventionell gehalten.
Ein mysteriöser Doppel-Selbstmord eines Paares, die am Strand gefunden wurden, wird untersucht. Was steckt wirklich dahinter?
Der Ermittler, Herr Torigai hat Zweifel an den Tatumständen. Unterstützung erhält er von Kommissar Kiichi Mihara. Unter Verdacht gerät der Unternehmer Tatsuo Yasuda.
Die letztliche Aufklärung wird ungewöhnlicherweise durch einen Briefwechsel zwischen Torigai und Mihara erzählt. Man kann daher von einem einigermaßen originellen Kriminalroman und solider Kost sprechen. Man kann auch gespannt sein, ob noch weitere Krimis des japanischen Schriftstellers Seicho Matsumoto folgen werden.

Bewertung vom 21.08.2024
Der Drahtzieher
Pines, Sarah

Der Drahtzieher


sehr gut

Afrikanischer Sonnenaufgang im Hochsauerland

Der Drahtzieher ist Sarah Pines erster Roman. Zuvor hat sie ein Kurzgeschichtenband veröffentlicht.
Der Drahtfabrikant Theodor hat eine Beziehung mit Alba, die aber auch Albert zugeneigt ist. Dazu kommt noch Marthe, die Beziehungen zu Theo und auch Albert hatte.
Latent erinnert mich die Figurenkonstellation und Stimmung an Goethes Die Wahlverwandtschaften.
Der Roman ist anfangs einigermaßen getragen gehalten. Das wird sich später ändern, z.B. spät im Buch bei einer Treibjagd.
Die Figuren sind sich ihrer selbst oft nicht sicher und gehen nur selten aus sich heraus.
Es kommt dennoch zu Auseinandersetzungen zwischen Theo und Alba. Die Autorin scheut keine drastischen Beschreibungen. Diese Abschnitte machen Eindruck. Die Stärke des Romans ist es, innere Bewusstseinszustände zu zeigen.

Bewertung vom 21.08.2024
Das Haus in dem Gudelia stirbt
Knüwer, Thomas

Das Haus in dem Gudelia stirbt


ausgezeichnet

Der Schmerz

Das Haus in dem Gudelia stirbt ist ein intensives Psychodrama, das den Leser emotional anspricht.
Gudelia und Heinz Krol erleiden den Verlust ihres 15jährigen Sohnes Nico. Möglicherweise war es ein Verbrechen aus Hass, denn es wurde behauptet, Nico wäre schwul und wurde möglicherweise von Mitschülern gemobbt.
Für das Paar bricht die Welt zusammen. Die Perspektive liegt bei Gudelia und man kann ihren Schmerz über den Verlust spüren und ihre Wut auf den möglichen Täter.
Thomas Knüwer baut die Handlung geschickt in drei immer wieder wechselnden Zeitebenen auf. 1984 als Nico zu Tode kommt, 1998 als sich Gudelia und Heinz trennen und 2024 als eine Flut kommt und auch das Haus der inzwischen 81jährigen Gudelia erreicht.
Die Intensität des Buches, das mehr als nur ein Krimi ist, bleibt von Anfang bis Ende hoch.

Bewertung vom 19.08.2024
Als wir Schwäne waren
Karim Khani, Behzad

Als wir Schwäne waren


ausgezeichnet

Der Bericht des Schwans
Behzad Karim Khanis zweiter Roman „Als wir Schwäne waren“ ist ein intensiver Text, auch poetisch. Der Autor zeigt die Wut seines Protagonisten, der als 9jähriger aus dem Iran ins Ruhrgebiet einwandert. Hier erlebt er die manchmal lebensfeindlichen Lebensbedingungen und die Gewalt, die er schließlich selbst ausüben wird. Ziemlich am Anfang wird gezeigt wie er einen Mitschüler, der es sicherlich verdient hat, brutal zusammenschlägt. Das löst beim Protagonisten ein Machtgefühl aus. So konsequent beschrieben, liest man das selten. Aber eine gewisse Faszination von Gewalt scheint zu bleiben, möglicherweise auch beim Autor. Etwas mehr Distanz täte auch gut. Ehrlicherweise muss man aber sagen, dass der Erzähler doch auch gereift und reflektierend wirkt.
Es ist nebenbei auch ein Buch über die Eltern, die in Deutschland sozialen Abstieg erlebten. Insbesondere der Vater ist eine melancholische Figur.
Das Buch wirkt wegen der Erzählweise des Berichts so stark.