Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
gst
Wohnort: 
pirna

Bewertungen

Insgesamt 201 Bewertungen
Bewertung vom 29.07.2021
Das Wanderkind
Aude

Das Wanderkind


ausgezeichnet

Das Geheimnis der Zwillinge

Hans und Benoît sind sehr unterschiedliche Zwillinge. Der eine groß und kräftig, der andere klein, zierlich und kränklich. Aus diesem Grund wird er auch nur „der Kleine“ genannt. Dass er lebt, ist überhaupt ein Wunder. Die Ärzte hatten Mutter Corinne schon prophezeit, dass eines der Kinder tot zur Welt kommt. Doch der Kleine ist zäh und entpuppt sich in vielen Situationen sogar stärker als der große Bruder. Er ist derjenige, der die Familie zusammenhält.

Mich hat dieses Buch, in dem die Interaktion der Familie und das enge Verhältnis der Brüder beschrieben ist, tief beeindruckt. Der Stil der Autorin ist reduziert auf das Wichtigste. Kein Wort ist zuviel, um ein deutliches Bild vor dem geistigen Auge entstehen zu lassen.

Claudette Charbonneau alias AUDE wurde 1947 in Montreal geboren und gilt als eine der wichtigsten Figuren der frankokanadischen Literaturszene. Sie war sieben Jahre alt, als die Mutter starb. Sie kam in ein Kinderheim und schrieb zwei Jahre später erste Geschichten. Nach dem Studium unterrichtete sie in Québec Kreatives Schreiben und Literaturtheorie. Nach einer Phase des düsteren Erzählens über Wahnsinn und Tod wandte sie sich mit „L‘enfant migrateur“ einer hoffnungsfrohen Weltsicht zu. Ihr gesamtes Werk ringt mit der Schwierigkeit des Seins, was sie selbst auf den frühen Verlust der Mutter zurückführte. AUDE starb 2012 an Leukämie.

Für mich war „Das Wanderkind“ ihr erstes Buch, doch es wird nicht das letzte sein. Auf jeden Fall kann ich es voller Überzeugung empfehlen.

Bewertung vom 02.07.2021
Der Brand
Krien, Daniela

Der Brand


ausgezeichnet

Aus dem Leben gegriffen

Ein Brand hat das ursprünglich anvisierte Feriendomizil eines in die Jahre gekommenen Ehepaares zerstört. Stattdessen fahren sie in die Uckermark, um für drei Wochen das Haus und die Tiere einer Freundin zu hüten.
Rahel und Peter machen in ihrer Ehe gerade eine schwierige Zeit durch. Die Kinder sind aus dem Haus und die Gemeinsamkeiten des Literaturprofessors und der Psychologin sind weniger geworden; die Partner fühlen sich vom jeweils anderen nicht mehr richtig wahrgenommen. Der Urlaub soll nun zeigen, wie es weitergehen kann.
Daniela Krien beschreibt akribisch jeden einzelnen Tag dieser drei Wochen. Dabei beobachtet sie genau und erweckt ihre Protagonisten und deren Verhalten zum Leben. Sie flicht Gedanken übers Älterwerden ein und hat einen Roman geschaffen, der geprägt ist von Rücksicht, Vertrauen, Trauer um Verlorenes und Hoffnung auf die Zukunft.
Dieser Roman voller reifer Gedanken war nach „Die Liebe im Ernstfall“ mein zweites Buch von Daniela Krien. Es hat mich überzeugt und ich freue mich schon auf weiteren Lesestoff dieser Autorin.

Bewertung vom 18.06.2021
Auf der Insel das Meer
Buck, Bernhard

Auf der Insel das Meer


ausgezeichnet

Die Hindernisse eines menschlichen Umgangs mit Flüchtlingen

„Wir vergasen sie nicht. Wir lassen sie ertrinken“ (Seite 23)


Max Stain ist Bürgermeister auf einer Insel, die früher gern von Touristen besucht wurde. Doch seit immer mehr Flüchtlinge aus Afrika dort anlanden, bleiben sie aus. Im Gegensatz zu den Bewohnern und der Lagerleitung versucht Max Stain, das überfüllte Lager menschlich zu gestalten. Dabei hat er genug private Probleme: seine tote Frau fehlt ihm und seine einzige Tochter braucht dringend ein Spenderherz.

Dieser Roman aus dem Jahr 2019 hat 2021 nichts von seiner Aktualität verloren. Seenotretter werden behindert und Flüchtlingslager sind hoffnungslos überfüllt. Der Autor bringt all die Probleme zur Sprache und das in einem angenehm zu lesenden Stil. Er zeigt, wie schwer es denjenigen gemacht wird, die sich für mehr Menschlichkeit einsetzen und wie andere ihren Profit aus der Situation ziehen. Kurz: Er benennt alle Aspekte der Migration. Gleichzeitig lässt er das Leben seiner Protagonisten nicht zu kurz kommen, so dass ein runder Roman entstanden ist.

Ich habe das Buch sehr gern gelesen, obwohl mich das düstere Cover anfänglich etwas abgeschreckt hat. Voller Überzeugung empfehle ich es weiter und wünsche ihm noch viele LeserInnen.

Bewertung vom 18.06.2021
Ein Leben mehr
Saucier, Jocelyne

Ein Leben mehr


ausgezeichnet

Übers Alter

„Ted war ein gebrochener Mann, Charlie ein Naturbursche und Tom ein Draufgänger. Die Tage vergingen, und sie wurden gemeinsam alt. Sehr alt. Sie hatten alles hinter sich gelassen. Keiner von ihnen wollte zurück in sein früheres Leben, sie wollten einfach morgens aufstehen, den neuen Tag begrüßen, der nur ihnen selbst gehörte, und sich von niemandem in irgendetwas reinreden lassen.“ (Seite 49)


Eine namenlose Fotografin macht sich auf die Suche nach Ted, der allgemein unter dem Namen Boychuck gekannt ist. Er war zur Legende geworden, da er als Jugendlicher die großen Brände in Kanada überlebt hatte. Ganz einfach war für sie nicht, die Einsiedelei zu finden, in die er sich zurückgezogen hatte. Und als sie ankommt, ist der Gesuchte bereits unter Erde. Sie trifft auf den Brummbär Charlie, der früher Fallen aufgestellt hat und zu jedem seiner Felle eine Geschichte zu erzählen weiß. Der schlaksige Frauenheld Tom dagegen versucht, sie zu beeindrucken. Dank dieser beiden gelingt es ihr, die Recherchen über Boychucks Leben zu ergänzen.

Nachdem Bruno, der für die alten Männer Einkäufe erledigt, seine Tante Gertrude aus dem Pflegeheim entführt hat und sie in den Wald bringt, verändert sich das Leben der Männer. Sie entdecken ihre fürsorgliche Seite, während der Tod ständig dabei steht und zuschaut.


Jocelyne Saucier, Jahrgang 1948, ist eine kanadische Schriftstellerin französischer Sprache. „Ein Leben mehr“ erschien 2011 und wurde für 14 Literaturpreise nominiert. Seit 2015 liegt der Roman auf Deutsch und in anderen Sprachen vor.


Dieses Buch hat mich von Anfang an so in seinen Bann gezogen, dass ich es kaum aus der Hand legen konnte. Die Autorin erzählt unaufgeregt, humorvoll und einfühlsam. Nach und nach wird das Leben von Boychuck deutlich, der als Jugendlicher seine Eltern und Geschwister im Feuer verloren hat. Seine Geschichte zieht sich durch den gesamten Roman. Obwohl die alten Männer nach Freiheit und Unabhängigkeit streben, sind sie in der Lage, sich an veränderte Gegebenheiten anzupassen – so als begänne noch einmal ein neues Leben.

Dies war nach "Was dir bleibt" mein zweites Buch von Jocelyne Saucier und wird nicht das letzte bleiben.

Bewertung vom 18.06.2021
Vom Ende eines Sommers
Harrison, Melissa

Vom Ende eines Sommers


gut

Edie erzählt

Sommer 1934 in England. Die 14jährige Edie ist die Jüngste von vier Geschwistern. Bücher sind ihr wichtiger als andere Kinder. Sie lebt ein armseliges Leben auf der Farm ihrer Eltern, wo sie sich freut, wenn sie der Arbeit entkommt.

In diesem Buch wird das Leben auf dem Bauernhof geschildert. Es gibt mit Dialogen und Beschreibungen Einblicke in die damalige Zeit. Es geschieht nichts aufregendes, doch wenn Vögel auf dem Feld vor den Pferdehufen gerettet werden, liest sich das ganz nett.

Constanze, die junge Journalistin, die sich selbst als Sufragette bezeichnet, ist extra aus London hierher gereist, um über das bäuerliche Leben zu berichten. Sie freundet sich mit Edie an, idealisiert in ihren Artikeln das Leben auf dem Land und versucht gleichzeitig dem Mädchen Selbstbewusstsein zu vermitteln.

Edie ist auf dem Weg erwachsen zu werden und fühlt sich dabei alleingelassen. Ihre Schwester Mary, mit der sie sich früher ein Bett geteilt hat, ist inzwischen verheiratet und mit ihrer eigenen Familie beschäftigt. Die Mutter weiß vor lauter Arbeit nicht, wo sie zuerst beginnen soll. Nur die Großmutter scheint Edie anzusehen, wenn sie der Schuh drückt.


Das Buch beginnt sehr ruhig und endet mit einem Paukenschlag. Ich brauchte lange um mich einzulesen. Mir fehlte ein aktiver Handlungsstrang. Tagesabläufe werden zwar ausführlich beschrieben und geben einen guten Einblick in das damalige Leben, doch bis auf den Schluss passiert einfach nichts. Vielleicht wollte die Autorin gerade dieses ruhige Leben darstellen, hat mich damit jedoch nicht erreicht. Dass ich trotzdem drei Sterne vergebe, liegt einzig und allein an der wirklich angenehmen Sprache.

Bewertung vom 07.06.2021
Im Reich der Schuhe
Wise, Spencer

Im Reich der Schuhe


ausgezeichnet

Der Erbe

Alex muss die Schuhfabrik seines Vaters übernehmen. Die ist in China, weil dort so preisgünstig produziert werden kann. Fedor und Elsa haben ihren Sohn nach jüdischem Vorbild erzogen, doch er versucht die Konventionen hinter sich zu lassen. Das ist nicht einfach, da der Vater die Zügel nicht aus der Hand gibt.

„Ich starrte geradeaus, aber ich spürte, dass Dad mich von der Seite ansah. Ich wusste genau, was er dachte: Ich habe dich erschaffen. Wie die alten Rabbis sich aus Lehm einen Golem formten, damit er ihre Befehle ausführte – ich glaube ernsthaft, das bedeutete Vaterschaft für meinen Dad.“ (Seite 81)

Alex ist mit einer Angestellten der Firma befreundet. Die Chinesin hat 1989 das Massaker auf dem Tian‘anman-Platz miterlebt und kämpft seitdem für bessere Lebensbedingungen ihrer Landsleute. Alex, hin- und hergerissen zwischen Profit und Sozialverträglichkeit, versucht ihr dabei zu helfen.

Der Autor, 1970 in Boston geboren, hat selbst Erfahrungen in China gesammelt. So schreibt er glaubhaft über chinesische Verhältnisse, in denen einfache Arbeiter ausgebeutet werden. Er macht die Leser mit chinesischen Weisheiten („Das Leben ist wie eine Vergewaltigung – wenn du es nicht verhindern kannst, genieße es“) und Bräuchen (Leichenträger bringen Verstorbene in ihren Heimatort zurück) bekannt. Auch die Unterdrückung durch korrupte Politiker wird thematisiert.

Das fand ich als Leserin alles sehr informativ. Was mir aber nicht zugesagt hat, war die erste Hälfte des Buches, in dem der Autor zu viel unterbringen wollte. Seine Erzählweise war sprunghaft und ich konnte kaum folgen, geschweige denn im Buch versinken. Ich musste mich regelrecht zwingen, nicht aufzugeben – was sich im Endeffekt gelohnt hat. Denn etwa ab der Hälfte des Romans konzentrierte sich der Autor auf das titelgebende Thema, einen Aufstand in der Schuhfabrik.

Fazit: Die viel zu lange Einleitung langweilt und nimmt die Lesefreude.

Bewertung vom 28.05.2021
Halbmond über Heinde
Hayat, Sarina

Halbmond über Heinde


ausgezeichnet

Jugendbuch mit vielen einschlägigen Themen

Aysha stammt aus Syrien. Wegen der Krieges musste sie die Heimat verlassen. Auf der Flucht wird sie von allen Familienmitgliedern getrennt und kommt allein nach Deutschland, wo sie bei einer Pflegefamilie lebt.

Ihre Flucht mit den traumatischen Erlebnissen wird sehr kurz abgehandelt, was mich persönlich etwas gestört hat. Erst als ich entdeckte, dass ich ein Jugendbuch in der Hand hielt, konnte ich die weitgehend ausgesparten Emotionen verstehen.

Nachdem die begabte Aysha sehr schnell Deutsch gelernt hat, beginnt sie übungsweise Tagebuch zu schreiben. Die für sie neue Welt mit ihren Augen zu sehen, hat mir gefallen und mich auf die Idee gebracht, dieses Buch als Schullektüre für für 11 bis 13jährige zu empfehlen. Gerade weil es so kurz ist, verzweifeln Kinder nicht so schnell am Lesestoff. Schließlich sollen sie ja erst zu Leseratten werden!

Das Buch, das sehr plakativ geschrieben ist, bietet viel Diskussionsstoff. Auf nur 120 Seiten behandelt es zahlreiche Themen wie Fremdheit, weibliche Stärke, Solidarität, Religion, Vorurteile, Hilfsbereitschaft, Freiheit, Heimat und viele mehr. Für ältere Jugendliche kann ich es mir weniger vorstellen, denn es geht meiner Meinung nach nicht genug in die Tiefe.

Bewertung vom 28.04.2021
Die Beichte einer Nacht
Philips, Marianne

Die Beichte einer Nacht


ausgezeichnet

Kein einfaches Leben

Die Protagonistin ist die älteste von zehn Geschwistern. Aus einem anfangs noch unbekannten Grund ist sie im Irrenhaus gelandet, wo sie einer Krankenschwester innerhalb von zwei Nächten ihr ganzes Leben erzählt.
Als Leser taucht man tief ein in ihre Vergangenheit. Die Erstgeborene hatte die Aufgabe, sich um die jüngeren Geschwister zu kümmern. Schon früh verließ sie die Familie für ein eigenständiges Leben. Der äußere Schein war ihr sehr wichtig, was sie mir schon bald unsympathisch machte.
Doch ein Buch sollte nicht nach Sympathie für die Figuren beurteilt werden, sondern nach dem Können des Autors, der Autorin. Auch nach dem, was er oder sie zu berichten hat. Und die Art der Berichterstattung.
Letzteres langweilte mich über weite Strecken des Buches so, dass mir beim Lesen immer wieder die Augen zufielen. So ein ewig langer Monolog ist einfach eintönig, da kann das Erzählte noch so interessant sein. Die Erlebnisse der Protagonistin, deren Name kaum mal erwähnt wird, so dass ich ihn nicht mehr parat habe, sind sehr ausführlich beschrieben. Da erfährt man wie aus der jungen Frau aus armseligen Verhältnissen eine mondäne Dame wird, die soviel Geld zur Verfügung hat, dass sie ihre Ursprungsfamilie unterstützen kann. Man erfährt aber auch, dass Geld allein nicht alles ist. Mehr darf ich nicht erzählen, um den Lesern des Buches nichts vorweg zu nehmen. Ich möchte nur verraten, dass im letzten Drittel ein hohes Spannungsniveau aufgebaut wird, indem die Protagonistin sehr tief in ihr Inneres blicken lässt.
Genau dieser Blick ins Innerste einer Frau war 1930, als das Buch erschien, äußerst ungewöhnlich. Marianne Philips (1886 – 1951) schreib das Buch im Rahmen einer Therapie, bei der sie sich selbst besser kennenlernen wollte. Einmal auf den Geschmack gekommen, veröffentlichte sie bis 1940 sechs Romane. Danach war ihr das Publizieren als Jüdin untersagt. Einiges hier erzählte nähert sich dem tatsächlichen Leben der Autorin an, die ebenfalls mit dem Nähen Geld verdiente und eigentlich nach Höherem strebte, wie dem von ihrer Enkelin verfassten Nachwort zu entnehmen ist. Judith Belinfante, die Enkelin, war es auch, die diesen Roman nun neu auflegen ließ.

Bewertung vom 30.03.2021
Die Vögel
Vesaas, Tarjei

Die Vögel


ausgezeichnet

Ein wunderbarer norwegischer Klassiker

Mattis und Hege leben in einem armseligen Häuschen am Waldrand. Die Dorfbewohner bezeichnen Mattis als Dussel. Hege, 40 Jahre alt, sorgt liebevoll für den drei Jahre jüngeren Bruder. Das Geld zum Leben verdient sie mit Strickarbeiten, während Mattis vor sich hin sinniert und zu keiner Arbeit taugt.
Der Autor spürt Mattis Gedanken über die Schnepfe nach, die nachts über das Haus fliegt – bis sie einem jungen Jäger vor die Flinte geriet. Er beobachtet genau und fühlt sich tief in Mattis hinein; so dass auch der Leser die Spannung spürt, die Mattis umtreibt. Vesaas schreibt sehr intensiv und schildert lebendig die Gegend, in der Mattis und Hege zu Hause sind. Auch wenn man lange das Gefühl hat, dass nicht viel geschieht, bahnt sich fast unmerklich ein schreckliches Unglück an.

Tarjei Vesaas wurde 1897 als ältester Sohn eines Bauern im norwegischen Vinje geboren. 1923 debütierte er mit dem Roman Menneskebonn (Menschenkinder). In den zwanziger und dreißiger Jahren bereiste er Europa. Nach Hause zurückgekehrt wehrte er sich gegen die Tradition, als ältester Sohn den elterlichen Hof zu übernehmen. Vesaas schrieb Romane, Dramen, Kurzprosa und Gedichte. International gefeiert galt er als Anwärter auf den Nobelpreis. Gemeinsam mit Knut Hamsun zählt er zu den bedeutendsten norwegischen Romanciers des 20. Jahrhunderts und geriet nach seinem Tod 1970 hierzulande in Vergessenheit. Umso schöner, dass er nun dank des Übersetzers Hinrich Schmidt-Henkel neu aufgelegt wurde.

Bewertung vom 24.03.2021
Der ehemalige Sohn
Filipenko, Sasha

Der ehemalige Sohn


ausgezeichnet

Abstecher nach Weißrussland

Franzisk lebt bei seiner Großmutter Elvira, die nur das Beste für ihn will. Als ganz normaler Jugendlicher ist ihm das Fußballspiel mit Freunden wichtiger als das ständige Üben für die Schule. Eines Tages verabredet er sich für ein Konzert, bei dem ein Gewitterregen eine Massenpanik auslöst. 54 Tote sind zu beklagen, Franzisk hat Glück gehabt und ist „nur“ ins Koma gefallen.


Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein weißrussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satire-Show und Fernsehmoderator. ›Der ehemalige Sohn‹ ist nach ›Rote Kreuze‹ sein zweiter Roman, der auf Deutsch erscheint. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fußballfan und lebt in St. Petersburg.


Sein Roman beginnt ruhig und macht uns mit 16jährigen Jungs bekannt. Erst nach dem Unglück entwickelte der Roman für mich einen regelrechten Sog. Während die Ärzte am liebsten die lebenserhaltenden Maßnahmen abbrechen würden, kämpft die Großmutter, die sonst niemanden hat, um Zisks Weiterleben. Sie ist überzeugt, dass er wieder aufwachen wird. Unterstützt von seinem Freund Stassik erklärt sie dem Enkel jeden Tag die Welt, so dass auch wir Leser einen Überblick erhalten.

Nach zehn Jahren erfüllt sich die Weissagung der Großmutter und Zisk wacht wieder auf. Dass er relativ schnell wieder wie ein Gesunder am Leben teilhat, ist vielleicht ein Kritikpunkt, aber nur so ist es möglich, die Spannung weiter aufrecht zu erhalten. Fast ausschließlich von Egoisten umgeben, ist es nicht so einfach für ihn, sich in der Realität wieder zurechtzufinden.

Nun ändert sich die Erzählweise des Autors. Sind mir schon vorher Spitzen aufgefallen wie:

„In der Stadt der mittelmäßigen Architekten regnete es. Die Dächer und Kirchturmspitzen wurden nass. Es änderten sich die politischen,ökologischen und futtertechnischen Bedingungen. Die Vögel flogen fort. Ohne Visum und Stempel im Pass. Alle aufs Mal, nach vorheriger Absprache“

erfuhr ich nun, wie sich die Ärzte über die Zweisprachigkeit des Kranken lustig machten:

Sie „waren sich beim Grasrauchen im Ärztezimmer einig, dass Franzisk im Gegensatz zum Präsidenten alle Chancen habe, eines Tages wieder grammatikalisch richtig zu sprechen.“


Der Autor, der im weiteren Kontext das Koma als Allegorie auf das Land nimmt, hat seine Kritik an den Zuständen in Weißrussland in unterhaltsame Worte gepackt. Ich hatte das Glück, diesen Roman ohne viel Vorkenntnisse in die Hand zu bekommen und konnte mich so von den Wendungen überraschen lassen. Auf jeden Fall lohnt sich diese Lektüre, die uns die Nachrichten über Weißrussland so bildhaft näher bringt.

Schon „Rote Kreuze“, der erste ins Deutsche übersetzte Roman des Autors, hat mich beeindruckt, doch dieser hat mich nach den einführenden Seiten nicht mehr losgelassen, was sicher auch ein Verdienst der Übersetzerin ist.