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Irisblatt

Bewertungen

Insgesamt 93 Bewertungen
Bewertung vom 16.09.2021
Die Überlebenden
Schulman, Alex

Die Überlebenden


ausgezeichnet

Was ist uns nur passiert?
Axel Schulman erzählt eine bedrückende Familientragödie. Die Brüder Pierre, Benjamin und Nils verbringen die Ferien mit ihren Eltern in einem Sommerhaus am See. Schnell zeigt sich, dass die Ferienidylle getrübt und die familiäre Situation schwierig ist. Die Kinder unterscheiden sich sehr in ihrem Wesen und reagieren unterschiedlich auf die familiären Herausforderungen. Alles scheint auf ein schlimmes Ereignis hinzusteuern: so einschneidend, dass die Familie danach nie mehr das Sommerhaus aufsuchte. 20 Jahre später kehren die Brüder dorthin zurück, um die Asche ihrer Mutter zu verstreuen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie kaum mehr Kontakt zueinander, haben sich auseinander gelebt. Immer wieder steht die Frage im Raum, was eigentlich passiert ist?
Axel Schulmann erzählt abwechselnd aus der Vergangenheit und der Gegenwart. Durch die chronologisch erzählten Episoden aus der Vergangenheit und die rückwärtsgerichteten Schilderungen der nahen Gegenwart entsteht das Gefühl, dass beide Stränge auf einen alles entscheidenden Punkt zulaufen. Diese Erzählweise hat mir ausgesprochen gut gefallen und passt sehr gut zur Geschichte. Schulmans Schreibweise hat starke Bilder vor meinem inneren Auge erschaffen. Viele Szenen sind von großer Intensität und haben mich unmittelbar in die beängstigenden, bedrückenden, grausamen, manchmal auch schönen und zuweilen auch abgedrehten Erlebnisse der Brüder hineingezogen. Auch die Beschreibungen der Landschaft sind wunderbar atmosphärisch gelungen. Klug konstruiert, konnte mich der Roman immer wieder überraschen. Die Auflösung hat mich mit aller Wucht getroffen und mit diesem Wissen entfaltet sich plötzlich eine ganz neue Lesart. „Die Überlebenden“ haben mich in mehr als einer Hinsicht beeindruckt.

Bewertung vom 15.09.2021
Ritchie Girl
Pflüger, Andreas

Ritchie Girl


weniger gut

Interessantes, wichtiges Thema, aber überhaupt nicht mein Buch
Der US-Militärgeheimdienst bildete im Camp Ritchie von 1942 bis 1945 tausende Männer und auch Frauen für den Nachrichtendienst aus. Darunter waren viele Deutsche und Österreicher wie z.B. auch Klaus Mann, Hans Habe, Georg Kreisler und Stefan Heym, die vor den Nazis in die USA geflohen waren. Aufgrund ihrer Deutschkenntnisse wurden sie u.a. für Verhöre von Kriegsgefangenen eingesetzt. Protagonistin Paula Bloom, Tochter einer deutschen Mutter und eines sehr reichen US-amerikanischen Geschäftsmannes, der gute Verbindungen zu den Nazis pflegte, absolviert ebenfalls ihre Ausbildung dort und ist erst einmal für die Zensur der Feldpost zuständig. Schon bald bekommt sie erste Aufträge als Dolmetscherin bei Verhören.

Nach Kriegsende wird sie in ein Camp bei Frankfurt a.M. geschickt. Dort soll sie unter anderem herausfinden, ob Johann Kupfer, der der USA seine Dienste anbietet, tatsächlich der bekannte Spion „Sieben“ ist, für den er sich ausgibt. Während die Nürnberger Prozesse laufen, ist man im Camp vor allem auch damit beschäftig, einflussreiche Nazis zu schützen, wenn man sie für die eigenen Zwecke gut gebrauchen kann. „Ritchie Girl“ ist eine Mischung aus Fakt und Fiktion. Persönliche Verstrickungen und Verstrickungen großer Firmen mit den Nazis, historische Fakten, militärische Operationen, Massenhinrichtungen und weitere Kriegsverbrechen sowie der Umgang der Überlebenden damit, Täter, Opfer und die Grauzone dazwischen sind alles Themen, die im Roman zu finden sind. Es geht um Doppelmoral, durch den Krieg zerstörte Familien und die Frage, wem man eigentlich noch vertrauen kann. Die unvorstellbaren Grausamkeiten des Krieges werden einmal mehr vor Augen geführt, ebenso wie die bittere Tatsache, dass viele Kriegsverbrecher unbehelligt davonkommen konnten - und das, obwohl bekannt war, was sie getan hatten. Gut fängt der Roman auch das damals gängige Frauenbild ein: Frauen sollen vor allem adrett aussehen und den Mann dadurch erfreuen. Paula hat mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, weil sie sich als berufstätige Frau, zumal beim Militär, gegen das traditionelle Frauenbild stellt. Glücklicherweise ist einer ihrer Stärken Schlagfertigkeit, so dass es ihr meist gelingt, anmaßende Männer in ihre Schranken zu weisen.

All das wäre mehr als genug für einen spannenden und auch historisch äußerst interessanten Roman. Doch leider konnte ich mit der Umsetzung nichts anfangen. Für mich waren es zu viele Fakten, zu viel Namedropping (Albert Einstein, Charlie Chaplin, Otto Dix, Marlene Dietrich, Graham Green und viele mehr) werden einfach mal so eingestreut, ohne wirklich bedeutsam für die Geschichte zu sein. Meine Gedanken schweiften beim Lesen ständig ab, es war mir zu viel Personal ohne Tiefe, zu viel stichwortartige Information, die ich oft gar nicht richtig einordnen konnte. Die Dialoge haben mich gelangweilt in ihrem sehr gleichförmigen Ton. Auch den Protagonisten fehlte es an Substanz. Ich hatte kein lebendiges Bild vor Augen, eher eine blasse Skizze. Ich habe das Eintauchen in eine mir fremde Welt und einen Spannungsbogen vermisst. Sehr schade, dass mich der Roman mit diesem wichtigen Thema nicht berühren konnte.

Bewertung vom 11.09.2021
Kleine Paläste
Moster, Andreas

Kleine Paläste


ausgezeichnet

Unter den Teppich gekehrt
Ich bin froh, Andreas Moster als Autor entdeckt zu haben. Der Beginn seines Romans „Kleine Paläste“ gehört schon jetzt für mich zu den genialsten Romananfängen, die ich je gelesen habe. Dabei sind es die präzise Beobachtungsgabe, die bildgewaltige Sprache, der leicht schwarze Humor, die nachvollziehbaren, zugleich skurrilen Gedanken sowie die Rolle des „Mörderhundes“, die die Anfangsszene, in der Sylvia Holtz stirbt, so einzigartig machen.
Der Roman setzt im Jahr 2018 ein. Sylvia hinterlässt ihren schwer an Alzheimer erkrankten und pflegebedürftigen Ehemann Carl und ihren Sohn Hanno, der vor mehr als 30 Jahren dem elterlichen Haus und der kleinstädtischen Atmosphäre entflohen ist.
Hanno reist an, kümmert sich um die Pflege seines Vaters und trifft auf der Beerdigung Susanne Dreyer, in die er einst verliebt war und die immer noch in unmittelbarer Nachbarschaft zu seinem alten Elternhaus lebt.
Schon bald zeigt sich, dass sich hinter den schönen Fassaden Abgründe auftun. Was passierte damals im Jahre 1986 auf dem Sommerfest? Wer wusste davon und welche Folgen hatte es für die Beteiligten? Die über Jahrzehnte aufrecht erhaltenen Fassaden beginnen zu bröckeln.
Andreas Moster erzählt auf sehr poetische und spannende Weise eine beklemmende Geschichte über Täter, Opfer, Lebenslügen, mangelnde Unterstützung und das Nicht-Sehen-Wollen. Dabei nimmt er ungewöhnliche Perspektiven und Blickwinkel ein. "Kleine Paläste" entfaltet einen Sog, überrascht immer wieder und ist - trotz der immer vorhandenen Beklemmung und Schwere, die diesen Roman durchdringen - ein absolutes Leseerlebnis .

Bewertung vom 08.09.2021
Reise durch ein fremdes Land
Park, David

Reise durch ein fremdes Land


ausgezeichnet

Schmerzhaftes Loslassen
Der nordirische Schriftsteller David Park hat eine äußerst intensive, emotional bewegende und atmosphärische Erzählung geschaffen. Kurz vor Weihnachten macht sich Fotograf Tom auf den Weg, seinen kranken Sohn Luke nach Hause zu holen. Es herrscht Schneechaos, vor unnötigen Reisen wird gewarnt, sämtliche Flüge wurden gestrichen. Nichts ist aber für die Familie wichtiger als Luke sicher zuhause zu wissen und so macht sich Tom mit dem Auto auf den Weg ins mehrere hundert Kilometer entfernte Sunderland, um seinen Sohn aus seinem Studentenzimmer abzuholen. Während der Fahrt durch die monochrome Schneelandschaft blitzen bei Tom Erinnerungen auf: Bilder und Szenen aus vergangenen Tagen - erste Begegnungen mit seiner Frau, die Geburt seines ersten Kindes Daniel, Augenblicke aus dem Familienleben, berufliche Episoden als Fotograf. Seine Gedanken fließen und werden nur durch kurze Zwischenstopps, die Stimme des Navigationsgeräts und Telefonate mit seiner Frau Lorna, seiner Tochter Lilly und Luke unterbrochen. Immer wieder glaubt Tom Daniel, seinen ältesten Sohn, zu sehen. Kaum meint er ihn lokalisiert zu haben, entgleitet er ihm jedoch wieder. Bald drehen sich Toms Gedanken überwiegend um Daniel und kreisen um seine Schuldgefühle. Er glaubt als Vater und Ehemann versagt zu haben. Während der Fahrt wird deutlich, was mit Daniel geschehen ist und warum die Familie daran zu zerbrechen droht.
David Park schreibt wunderbar poetisch. Er erschafft starke Bilder und eine große Nähe zum Ich-Erzähler Tom, dessen Schmerz, Hilflosigkeit, Angst und Verzweiflung sich unmittelbar mitteilen. Doch es geht auch um Zusammenhalt, die Hoffnung auf Vergebung und die fast unmenschliche Aufgabe loszulassen und Frieden mit der Vergangenheit zu schließen. Immer wieder richtet sich der Fokus auch auf Fotografien, ihre Ausdruckskraft, die Komposition und die Essenz eines Bildes. Tom sagt über sein Bedürfnis zu fotografieren: „(…) ich glaube, es ist der Moment dicht unter der Oberfläche oder der Blick auf das Vertraute aus einer anderen Perspektive“, was ich fotografieren will.
Ergänzt wird das Buch durch einen Link zu einer Playlist mit Songs, die Tom auf seiner Fahrt hört: Nick Cave, The National, R.E.M., The Smiths treffen genau meinen Musikgeschmack und sind in der Literatur nicht so häufig anzutreffen. Dafür gibt es von mir einen sechsten Zusatzstern. Wer ein tief emotionales Leseerlebnis mit wenig Handlung, aber starken inneren und äußeren Bildern sucht, ist auf dieser Fahrt durch ein fremdes Land genau richtig.

Bewertung vom 08.09.2021
Fanzi
Schmidauer, Elisabeth

Fanzi


sehr gut

Kriegsverbrechen und Traumata, Schuld und Vergebung
Elisabeth Schmidauer zeigt auf eindringliche Art wie traumatische Kriegserlebnisse Familien noch Generationen später beeinträchtigen.
Franz lebt mit seinem zwei älteren Brüdern und seiner jüngeren Schwester Elfi auf einem Bauernhof in der Gegend um Linz in Oberösterreich. Der Vater war als Soldat im ersten Weltkrieg - immer wieder holen ihn Albträume ein. „Erzähl mir vom Krieg, sagte Franz, er steckt in mir, keuchte der Vater, er steckt immer noch in mir drin“ (S.91). Auch Franz werden die Albträume seines Vaters und seine eigenen Schuldgefühle ein Leben lang begleiten.
Der Roman setzt in der heutigen Zeit ein. Aus der Perspektive von Franz erfahren wir rückblickend von den Geschehnissen in seiner Kindheit. Der zweite Erzählstrang konzentriert sich auf seine Enkelin Astrid, die als Biologin eine wissenschaftliche Perspektive auf die Natur, die Entstehungsgeschichte der Erde und die Rolle des Menschen einnimmt. Außerdem treten durch ihren Blick die Folgen der Kriegszeit auf die nachkommenden Generationen deutlich hervor.
Indirekt im Roman präsent ist Elfi, die geliebte kleine Schwester, die den Namen ihres Bruder Franz lange Zeit nicht aussprechen konnte und ihn Fanzi nannte. Elfis Geschichte und die Umstände ihres frühen Todes werden erst spät im Roman enthüllt und haben mich mit einer solchen Wucht getroffen, dass ich kurz innehalten musste, bevor ich weiterlesen konnte.
Schmidauer fängt die Atmosphäre der Zeit während des zweiten Weltkrieges sehr gut ein. Immer wieder erschafft sie Bilder des Grauens, der Verzweiflung, der Angst, der Hilf- und Sprachlosigkeit. Zwischendurch verwendet sie in der wörtlichen Rede Dialekt. Für Ungeübte ist das nicht immer einfach zu lesen; es verleiht dem Roman aber eine große Authentizität und gibt den Geschehnissen eine Lebendigkeit, die sich unmittelbar überträgt. Interessant ist Astrids Blick auf die Menschheitsgeschichte - aus Perspektive der Biologin ist die Epoche der Menschheit kaum der Rede Wert - und trotzdem kann soviel Leid in einem Menschenleben stecken. Astrid thematisiert Klimawandel, Artensterben und kritisiert die vom Menschen festgelegte Unterteilung in Nützlinge und Schädlinge. Jedes Lebewesen hat seinen Wert und seinen Sinn im biologischen Gleichgewicht und so gilt es das Artensterben nicht nur für die beliebten Kuschel- und Zootiere aufzuhalten, sondern auch für Käfer, Spinnen, Asseln und sonstige Kleinstlebewesen. Hier drängen sich Parallelen zur Nazi-Ideologie auf, in der zwischen unwertem und wertem Leben unterschieden wird.
Schmidauers Sprache bedient sich oftmals Aufzählungen von Nomen, Verben, Adjektiven. Viele dieser Sätze haben mir gut gefallen, da sie dem Text Rhythmus und inhaltlich das Bild um mehrere Facetten erweitern. Manchmal waren mir die Aufzählungen aber auch zu viel. Der Roman beginnt langsam, leise und steigert sich - bis etwa zur Hälfte hatte ich meine Zweifel, ob die erzählte Geschichte mich erreichen kann. Nach etwas mehr als 100 Seiten war ich dann aber eingefangen und die Geschichte von Fanzi und seiner Familie hat mich mit großer Intensität und Wucht getroffen.

Bewertung vom 08.09.2021
Kasi Kauz und die komische Krähe / Kasi Kauz Bd.1
Wnuk, Oliver

Kasi Kauz und die komische Krähe / Kasi Kauz Bd.1


ausgezeichnet

Auf gute Nachbarschaft!
„Kasi Kauz und die komische Krähe“ ist ein gelungenes, kindgerechtes Bilderbuch zum Thema Fremdenangst und der Möglichkeit, diese zu überwinden.
Eines Tages landet ein Papagei im heimischen Wald und versetzt die dort lebenden Tiere in große Unruhe. Diese "komische bunte Krähe" wird als Eindringling wahrgenommen und kommentiert alles mit „Blödmann“ (wahrscheinlich lebte er auf einem Piratenschiff). Die Tiere sorgen sich und wollen nur eines: Der Papagei soll wieder verschwinden. Zum Glück gibt es Kasi Kauz: er redet mit den Tieren, stellt wichtige Fragen und bringt alle zum Nachdenken. Kasi sorgt auf eine vorbildliche, neugierige und unvoreingenommene Art dafür, dass die Tiere über ihren Schatten springen und den Neuankömmling schließlich willkommen heißen. Denn eigentlich wollen wir „alle nur das Eine: glücklich sein und dass uns nichts Böses widerfährt.“
Die Illustrationen von Matthias Derenbach sind kindgerecht und ergänzen den Text von Oliver Wnuk auf wunderbare Weise. Zum Vorlesen ist das Buch auch wegen seiner schönen lautmalerischen Sprache und dem einen oder anderen "Sprachfehler" bestens geeignet. Große Leseempfehlung!

Bewertung vom 08.09.2021
Das Glashotel
Mandel, Emily St. John

Das Glashotel


ausgezeichnet

Von der Anziehungskraft und Macht des Geldes und so vielem mehr ….
Hauptprotagonistin Vincent wuchs in Vancouver Island auf, in einem sehr kleinen Ort, der nur mit Boot erreicht werden kann. Als sie 13 Jahre alt ist, kehrt ihre Mutter nicht mehr von einem Kanuausflug zurück. Vincent wächst fortan bei ihrer Tante in Toronto auf und weiß nicht so recht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Auch ihr Halbbruder Paul, der von einem Musikerleben träumt, ein ernstes Drogenproblem hat, etwas seriöses studiert, für das er sich nicht interessiert, schlingert ohne Halt durch den Alltag. Vincents Leben ändert sich schlagartig als sie als junge Frau zurück zum Ort ihrer Kindheit zieht, um dort in einem Luxushotel aus Glas als Barkeeperin zu arbeiten. Dort trifft sie den wesentlich älteren New Yorker Investor Jonathan Alkaitis, der ihr anbietet, seine „Vorzeige-Ehefrau“ zu werden. Vincent ergreift die Gelegenheit und führt viele Jahre ein Leben in Luxus. Alkaitis’ überaus erfolgreiches Geschäftsmodell ist auf Betrug aufgebaut. Mitten in der Finanzkrise endet der Traum plötzlich. Alkaitis wird verhaftet und zu 170 Jahren Gefängnis verurteilt. Seine Mitwisser, aber auch naive Investoren stehen vor dem Nichts, haben alles verloren und auch Vincent versucht ihr Leben neu zu ordnen, bildet sich fort, findet eine Arbeit auf einem Containerschiff als Köchin bis auch dieser Lebensabschnitt ein abruptes Ende nimmt.
Immer wieder geht es in diesem Roman um ethische Fragen und die Anziehungskraft des Geldes. Finanzielle Betrugssysteme funktionieren nur, weil Beteiligte nicht sehen wollen, was passiert. Alle profitieren und es ist so leicht, sich keine Gedanken über die nächsten Einkäufe oder die nächste Miete machen zu müssen, weil Geld sowieso im Überfluss vorhanden ist. Leicht entsteht eine Art Massenwahn der Geldverliebten. Emely St. John Mandels Roman beschäftigt sich auch mit dem schlechten Gewissen bei moralisch fragwürdigen Handlungen. Sie schreibt sehr interessant über psychologische Komponenten und spürt den inneren Ansprüchen nach, ein Held oder guter Mensch sein zu wollen. Darüberhinaus beschäftigt sich der Roman mit unterschiedlichen Lebensentwürfen im 21. Jahrhundert und fragt, was für ein erfülltes oder zufriedenes Leben notwendig ist. Die Protagonist*innen wirken dabei größtenteils verloren. Die Erfüllung von Träumen, sofern vorhanden, scheitert entweder am fehlenden Geld oder daran, dass finanzielle Sicherheiten nicht aufgegeben werden wollen. Das Glashotel, das mitten in der kanadischen Wildnis steht, und einen atemberaubenden Blick auf dieses ungezähmte Leben freigibt, steht dabei sinnbildlich für viele Protagonist*innen dieses Romans, die in sich selbst gefangen sind. Das echte, das wahre Leben findet sich hinter dem Glas. Doch es gehört Mut dazu, sich dem Leben auszusetzen, sich ohne Schutzpanzer einzulassen und Akteur*in des eigenen Lebens und nicht nur Mitläufer*in oder Beobachter*in zu sein.
Die Autorin erzählt äußerst fragmentarisch: Zeitsprünge und Perspektivenwechsel reihen sich zuweilen in schneller Abfolge aneinander. Einige Handlungsfäden werden nicht fortgeführt und verlieren sich irgendwie im Lauf der Geschichte. Das trifft auch auf manche Protagonist*innen zu, die irgendwann mal zentral und später nur noch eine Randnotiz Wert sind. Emily St. John Mandel spielt auch mit inneren „Was-wäre-wenn-Geschichten“ und auch Verstorbene tauchen als Geister auf. Das Glashotel ist ein eigenwillig komponierter Roman, für den es ausreichend zusammenhängende Lesezeit benötigt - sonst besteht die Gefahr den Überblick zu verlieren. Obwohl einige Geschichten im Roman im Sand verlaufen, ist der Roman stimmig und zentrale Fragen werden zum Ende aufgelöst. Auch wenn die Charaktere überwiegend unnahbar bleiben, mochte ich die Erzählweise und die fragmentarische Dichte des Romans sehr.

Bewertung vom 30.08.2021
Sokrates in Sneakern
Wiss, Elke

Sokrates in Sneakern


ausgezeichnet

Wir brauchen mehr Fragenmacher, weniger Meinungsmacher!
„Sokrates in Sneakern“ führt in die Kunst ein, unvoreingenommen Fragen zu stellen, das eigene Urteil erst einmal zurückzuhalten und tiefe Gespräche mit einer sokratischen Grundhaltung zu führen. Anhand zahlreicher Beispiele werden zunächst im Alltag häufig zu beobachtende kommunikative Fallstricke aufgezeigt. Das Buch motiviert, die eigenen Gesprächs- und Fragegewohnheiten kritisch zu beleuchten. Die Autorin erklärt die Grundlagen einer sokratischen Haltung und verweist überzeugend auf deren Vorteile, wenn es um die Betrachtung von Problemen oder Fragestellungen geht. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit gutem Zuhören, unterschiedlichen Fragearten und Bedingungen, unter denen Fragen zu tieferen Erkenntnissen und einer perspektivischen Gelenkigkeit führen. Außerdem erklärt Elke Wiss wie und unter welchen Voraussetzungen sokratische Gespräche gelingen können.
Das Buch ist praxisnah, alltagsrelevant, inspirierend und aufschlussreich. An zahlreichen Stellen hat es mir klar gemacht, wo die Defizite meiner eigenen Kommunikationskompetenzen liegen. Praktische Übungen laden dazu ein, die sokratische Haltung und das sokratische Denken zu trainieren. Ich empfehle dieses Buch allen, die ihre kommunikativen Fähigkeiten erweitern wollen. Für mich waren einige Abschnitte Augen öffnend und ich werde diesen "Kommunikationstrainer" sicherlich immer mal wieder zur Hand nehmen und versuchen, die Übungen und die Sichtweisen in meinen Alltag zu integrieren.

Bewertung vom 30.08.2021
Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García
Rinke, Moritz

Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García


ausgezeichnet

Die abenteuerlichen Erlebnisse eines Postboten auf Lanzarote
Pedro - Postbote in dritter Generation auf Lanzarote - leidet unter der zunehmenden Digitalisierung des Schriftverkehrs. Ab und zu mal eine Mahnung, eine Rechnung und vor allem Werbesendungen sind ihm für seine tägliche Zustelltour geblieben. Mit seiner Diensthonda fährt er mindestens zweimal in der Woche auf die andere Seite der Insel, um dort einen Café leche zu trinken, schließlich muss er anhand der gefahrenen Kilometer nachweisen, dass er auch weiterhin als Postbote unabkömmlich ist. „Pedro kurvte über die Timanfayastraße auf die gleiche Art, wie wahrscheinlich Charlie Chaplin so eine Honda gefahren hätte. Er liebte es auf geraden Strecken verspielte Bögen und sanfte Schleifen zu fahren (sie brauchten ja auch ein bisschen mehr Zeit und Kilometer), aber er missachtete dabei ständig die durchgezogene Linie“ (S. 84). Seine Kollegen haben sich überwiegend neue zusätzlich Geschäftsfelder erschlossen, doch Pedro möchte davon nichts wissen. „Pedro hatte das mehrfach gelesen und gespürt, dass er von Worten wie E-Postsafe, E-Postscan oder E-Postportal Rückenschmerzen bekam, nicht nur das: Verdauungsstörungen, Übelkeit, Schwindel. Herzrasen, Herzstolpern, Atemnot“ (S. 99). Lediglich WLAN bietet er als neuen Dienst in seiner „Filiale“ an, was im Verlauf der Geschichte noch zu einer wunderbaren Begegnung führt. Pedros Tage plätschern dahin. Er bringt seinen Sohn zur Schule, fährt ein wenig durch die Gegend, trinkt Kaffee, sieht sich regelmäßig Kinofilme an, holt seinen Sohn Miguel von der Schule ab, hilft bei den Hausaufgaben und sortiert die wenigen Postwurfsendungen für den kommenden Tag. Sein beschauliches Leben ändert sich als er seinen alten Freund Tenaro nach vielen Jahren wieder trifft. Tenaro leidet unter der Globalisierung, musst seinen Beruf als Fischer aufgeben - gegen die großen Schiffe mit ihren Schleppnetzen hatte er keine Chance zu bestehen. Temperamentvoll, schnell aufbrausend und immer begeistert von einer neuen Idee, einem neuen Geschäftsfeld wirbelt er Pedros Leben durcheinander: (…) das klang wieder nach so einem wahnwitzigen Tenaro-Projekt“ (S. 315). Die Ereignisse überschlagen sich und Pedro wird von seiner Frau Carlota verlassen, die mit Miguel nach Barcelona zieht. In dieser persönlichen Krise erhofft sich Pedro Hilfe von dem auf Lanzarote lebenden Literaturnobelpreisträger José Saramago. Schließlich hatte ein anderer Nobelpreisträger - Pablo Neruda - im Film „Il Postino“ auch einem Postboten zum privaten Glück verholfen.
Moritz Rinke hat eine äußerst kurzweilige Geschichte voller lebendiger Charaktere geschrieben. Der Roman beschäftigt sich auf eine hintergründige Art mit Problemen der Ausbeutung, Globalisierung, Digitalisierung, Krieg, Rassismus, Flüchtlingen und Schlepperbanden. Geschickt verwebt Rinke auch Geschichtliches in seinen Roman - vor allem der Putsch General Francos, der mit Unterstützung des Deutschen Reichs stattfand, spielt eine große Rolle. Das alles liest sich wunderbar leicht, zuweilen tragisch-komisch und ist eine große Liebeserklärung an Lanzarote, das Kino, die Literatur, die Freundschaft und den Fußball. Ich bin nur so durch die Seiten geflogen - großes Kino!

Bewertung vom 08.08.2021
Der Ratschlag. Eine Mystifikation
Marcus, Hladek

Der Ratschlag. Eine Mystifikation


ausgezeichnet

Suche nach Verlorenem
Marcus Hladek ist mit „Der Ratschlag. Eine Mystifikation“ ein außergewöhnlicher, vielschichtiger und abwechslungsreicher Debütroman gelungen.
Der freiberufliche Theaterkritiker Markus (das Alter Ego des Autors?) begegnet auf der Beerdigung seines Vaters einer ihm bis dahin unbekannten niederländischen älteren Frau, die ihn drängt, unbedingt Kontakt zu ihr aufzunehmen. Sie sei in Besitz wichtiger Informationen bezüglich seines Vaters Ivo, der als junger Mann seine Ausbildung zum Priester abbrechen musste. Markus beschließt mit Unterstützung seiner Geschwister, einem alten Familiengeheimnis auf die Spur zu kommen. Diese Suche führt ihn über Rotterdam, nach Barcelona und schließlich nach Rom. Zur gleichen Zeit geschehen in Rom unglaubliche Dinge: Rund um den Tiber kommt es zu nie dagewesenen Naturphänomenen, vielerorts tauchen etruskische Inschriften auf, die den Experten Rätsel aufgeben und es kommt zu regelrechten Massenhysterien. Viele Geistliche befinden sich im Anflug auf Rom und auch für die katholische Kirche stehen Veränderungen an, die die Welt nachhaltig verändern werden. Hauptprotagonist Markus befindet sich in einer schwierigen Lebensphase: Der Tod seines Vaters belastet ihn sehr, seine Beziehung geht in die Brüche, Markus fällt in ein tiefes Loch. Er befindet sich mitten in einer Krise, hadert mit seinem Beruf, seinen Lebensentscheidungen, seiner nie fertig gestellten Dissertation und dem Verlust von Liebe und Glück. Immer wieder kommt es dadurch zu sehr anstrengenden und fordernden Textpassagen, die für mich fast die Grenze des Zumutbaren überschritten. Wenn er z.B. seine literarische Sammlung über Suizide präsentiert, sich regelrecht in Themen hineinsteigert, fiebernd durch Rom läuft und kein Ende zu finden scheint. Letztendlich gelang es dem Autor aber immer wieder Markus und damit auch mich als Leserin aus diesen Zuständen durch einen geschickten Aufbau, eine unvorhergesehene Wendung, den Kommentar eines anderen Protagonisten oder einem Anflug kritischer Selbstreflexion zu befreien. Ich habe mich über Markus aufgeregt, fand ihn zwischenzeitlich unerträglich, hatte Mitgefühl, habe mich um ihn gesorgt und mich über schöne und glückliche Erlebnisse gefreut. Immer war er authentisch und glaubwürdig, ebenso die zahlreichen Nebenfiguren, die den Roman durch ihre individuellen Persönlichkeiten sehr bereichert haben. Die Kapitel sind sehr unterschiedlich, mal mysteriös und surreal, mal durch ausladende philosophische Gespräche gekennzeichnet. Gedichte finden ebenso einen Platz wie zahlreiche Kritiken zu Aufführungen, die der Protagonist von berufs wegen verfasst. Zahlreiche Zitate aus der klassischen Weltliteratur stehen den Kapiteln voran; insgesamt zeichnet sich der Text durch eine Fülle an Verweisen auf Literatur, Kunst, Kirchengeschichte, Mythologie, Architektur und Politik aus. Neben temporeichen, sehr komplexen Passagen gibt es ruhige, lustige, surreale und spannende Szenen sowie Naturbeschreibungen und Anekdoten, die dem Roman eine erzählerische Substanz verleihen und mir als starke Bilder im Gedächtnis geblieben sind.
„Der Ratschlag“ ist in vielerlei Hinsicht ein fordernder Roman, der Konzentration und auch ein gewisses Durchhaltevermögen verlangt. Die Vielschichtigkeit und Vielseitigkeit hat mich nachhaltig beeindruckt und ich bin mir sicher, dass ich dieses Buch noch einmal lesen werde.