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anushka

Bewertungen

Insgesamt 140 Bewertungen
Bewertung vom 08.10.2017
Heimkehren
Gyasi, Yaa

Heimkehren


ausgezeichnet

Beeindruckendes Buch mit toller Konstruktion

Ghana, Ende des 18. Jahrhunderts: Effia und Esi sind Halbschwestern, die sich nie kennenlernen werden. Die eine lebt bei den Fante, die andere bei den Asante, verfeindete Völker, die immer wieder im Krieg liegen. Obwohl gemeinsames Blut in ihren Adern fließt, verlaufen ihre Lebenswege komplett unterschiedlich. Während Effia den mit Sklaven handelnden britischen Gouverneur des Fort Cape Coast heiratet, wird ihre Halbschwester versklavt und nach Amerika verschifft. Generation für Generation, bis in die Gegenwart, kämpfen die Linien der Familie ums Überleben und einen Platz in der Welt.

Das Debüt dieser Autorin ist wirklich ganz bemerkenswert. Braucht man am Anfang noch etwas Zeit um sich in den Aufbau des Buches einzufinden, weiß man diese ungewöhnliche Konstruktion schon bald zu schätzen. Generation für Generation wird das Leben eines Nachkommens von Effia und Esi eine Zeit lang begleitet. Dadurch taucht man in die jeweilige Lebensrealität ein. In Esis Familie ist diese Jahrhunderte lang von Versklavung, Rassenhass und Diskriminierung geprägt. Effias Nachkommen tragen ebenfalls schwer an ihrem Erbe der Stammesfehden und als Sklavenhändler. Dieses Buch ist möglicherweise frustrierend für Leser, die für Geschichten einen klaren Abschluss brauchen, denn das ist bei den einzelnen Schicksalen nur selten gegeben, auch wenn sie von nachfolgenden Generationen noch thematisiert werden. Aber man bleibt nie lange bei einer einzelnen Figur, sondern muss diese oft verlassen, wenn man gerade eine Verbindung zu ihr aufgebaut hat. Und trotzdem ist es möglich, mit diesen Figuren mitzufiebern und mitzuleiden.
Die Autorin zeichnet nach, dass die Diskriminierung der Afro-Amerikaner noch längst nicht vorbei ist und es auch nicht war, als die Sklaverei abgeschafft wurde. Sie zeigt beeindruckt und erschreckend, dass sich stattdessen neue Wege fanden, um die Ungleichheit aufrecht zu erhalten. Und auf der anderen Seite des Ozeans hat die Familie von Effia ebenfalls kein leichtes Leben. Besonders erschreckend ist dargestellt, wie sich verfeindete Völker eines Kontinents gegenseitig an eine Besatzungsmacht ausgeliefert und verkauft und somit ihr eigenes Schicksal besiegelt haben. Nicht zuletzt ist das Buch auch dadurch großartig, weil es von hoher politischer Aktualität ist und die noch heute wirkenden Nachwirkungen und deren Entstehung verständlich und berührend nachzeichnet.

Für mich ist dieses Buch ein Meisterwerk. Es ist toll konstruiert, sprachlich ansprechend und anspruchsvoll und wirkt sehr authentisch. Jedes Schicksal ist einzigartig, wirkt aber nie übertrieben oder unrealistisch. Das Buch hat mich in seinen Bann gezogen und mit den Figuren mitleben und mitleiden lassen. Es ist ein sehr kluges Buch, dessen Bedeutungsebenen man gar nicht auf einmal erfassen kann und das einen dadurch noch längere Zeit begleitet und beschäftigt. Auch wenn das Buch keine Wohlfühlgeschichte erzählt und kein rosarotes Happy End präsentiert, habe ich das Lesen sehr genossen und das Buch geliebt. Für mich ist es definitiv ein Highlight, das noch lange nachwirkt. Es hat mich tief beeindruckt und berührt.

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Bewertung vom 28.09.2017
Underground Railroad
Whitehead, Colson

Underground Railroad


sehr gut

Bedrückende Geschichtsstunde

Georgia, Anfang des 19. Jahrhunderts: Cora ist schon als Sklavin auf der Baumwollplantage der Randalls geboren. Als Cesar sie bittet mit ihm zu fliehen zögert sie zunächst. Doch dann hört sie von einem Netzwerk, das Sklaven bei der Flucht hilft, der Underground Railroad, und entscheidet sich um. Nach den Grausamkeiten, die Cora auf der Farm erlebt hat, sowohl durch den Besitzer und die Aufseher, wie auch durch andere Sklaven, lernt sie nun die Gesellschaft dahinter kennen, die es mit ihren obskuren Ansichten zur natürlichen Ordnung der Rassen überhaupt erst ermöglicht hat, dass Weiße Schwarze entführen, besitzen und aufs Grausamste quälen. Sie lernt aber auch ein anderes Amerika kennen: Menschen, die diese Ansichten in Frage stellen und entlaufenen Sklaven helfen wollen. Dabei lernt sie unterschiedliche Modelle kennen und gelangt trotzdem immer wieder zur schmerzlichen Einsicht, dass Menschen dunkler Hautfarbe in Amerika als minderwertig betrachtet werden. Während Cora sich unter anderem monatelang auf einem Dachboden vor ihren Mitmenschen und einem hartnäckigen Sklavenjäger versteckt, führt ihre Geschichte dem Leser vor Augen, was für bedauernswerte und schreckliche Schicksale hunderttausende entwurzelte Menschen ertragen mussten und welche Zustände auch untereinander herrschten, die fast jeden Funken Menschlichkeit erstickten.

Colson Whitehead hat meiner Meinung nach zu Recht den Pulitzer Preis für dieses Buch bekommen. Er legt die Wurzel der auch heute noch existierenden Diskriminierung der farbigen Bürger Amerikas frei und beleuchtet sie schonungslos. Dieser Schonungslosigkeit kann sich der Leser nur wenig entziehen und so muss man dabei sein, wenn Sklavenhälter ihren Sadismus ausleben und sich möglichst abschreckende Misshandlungen ausdenken und sie umsetzen. Etliche Gewaltszenen waren schwer zu ertragen; noch schwerer, wenn man sich vorstellt, dass solche oder ähnliche Dinge wirklich passiert sind. Durch Perspektivenwechsel werden auch die fehlgeleiteten Ansichten deutlich, die die Sklaverei überhaupt erst ermöglichten. Gleichzeitig wird Whitehead für meinen Geschmack an manchen Stellen zu plakativ. Dadurch, dass er die Metaphern des Fluchtnetzwerks wörtlich umsetzt, bekommt die Geschichte einen fantastischen Hauch, der meiner Meinung nach nicht zu ihr passte. Auch hätte ich mir ein Nachwort des Autors dazu gewünscht, ob es die verschiedenen Modelle der verschiedenen Staaten, mit (entlaufenen) Sklaven umzugehen, so wirklich gegeben hat.

Der Stil ist eher distanziert, und doch ist die Geschichte dadurch nicht weniger unmittelbar. Whitehead vermag, den Leser direkt auf die Plantagen Georgias und zwischen die Hütten der Sklaven zu versetzen. Der Stil bewirkt dabei den Eindruck die Greueltaten in ihren Auswirkungen durch die Augen von Menschen zu sehen, die nach und nach abgestumpft und innerlich erloschen sind. In anspruchsvoller Sprache lässt der Autor die Zeit bildgewaltig wiederauferstehen und beschönigt dabei nichts: das Leben unter Sklaven ist genau so ein Überlebenskampf wie auf den Feldern ringsherum und auch hier herrscht Gewalt, was ich bislang selten thematisiert gesehen habe in Bücher zu diesem Thema. Wenig passend zum literarischen Stil fand ich die eher thrillerartige Wendung und zusammen mit der manchmal fehlenden Subtilität führt das in meiner Wahrnehmung des Buches zu kleinen Abstrichen. Insgesamt ist das Buch jedoch empfehlenswert, zumindest für Leser, die die ein oder andere Schilderung von Grausamkeiten ertragen können. "Underground Railroad" ist ein sehr gut lesbarer Pulitzer-Preisträger.

Bewertung vom 03.08.2017
Als die Träume in den Himmel stiegen
McVeigh, Laura

Als die Träume in den Himmel stiegen


gut

Streckenweise berührend, aber streckenweise auch enttäuschend

Samar reist mit ihrer Familie in der transsibirischen Eisenbahn. Sie sind auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit in Afghanistan. Während der Zugreise schreibt Samar ihre und die Geschichte ihrer Familie auf: wie sie nach dem Rückzug der Russen aus dem gelben Haus mit dem Mandelbaum flüchten mussten und in ein Bergdorf im Hindukusch kamen. Und davon, wie sie auch dort nicht vor den Taliban und deren Gedankengut sicher sind, in einem Flüchtlingslager und schließlich in der transsibirischen Eisenbahn landen ...

Samars Geschichte ist dramatisch und einiges ist nicht so, wie es zunächst scheint. Im Fokus steht ganz klar das junge Mädchen Samar, das viele Schicksalsschläge verkraften muss und Stärke entwickeln und vor ihrer Zeit erwachsen werden muss. Manches Mal fragt man sich, wie ein Mensch, vor allem ein Kind, an dem Erlebten nicht zerbrechen soll. Samars Geschichte zeichnet die Entwicklung Afghanistans in den letzten Jahrzehnten nach, obwohl nie so richtig greifbar wird, um welchen Zeitraum es sich eigentlich handelt. Manche Jahreszahlen kann man sich anhand geschichtlicher Ereignisse erschließen (wie beispielsweise dem Abzug der Russen), doch gerade Samars Alter wird nie konkret genannt und das macht es immer wieder schwierig, Samars Verständnis des Geschehens einzuordnen oder überhaupt ein Bild von ihr zu bekommen.

Anfangs hat mich der Schreibstil irritiert, der einerseits leicht zu lesen ist, aber gerade am Anfang auf mich auch verkitscht wirkte. Das ändert sich, wenn die ersten ernsthaften Szenen aufkommen, bis dahin hatte ich dem Buch solche Szenen nicht mehr zugetraut. Mich hat aber auch die Fülle der Themen des Romans gestört: es werden viele Handlungsstränge aufgemacht, die teilweise thematisch auch weit auseinander liegen und die letztlich am Ende nicht aufgelöst werden. Beinahe wirkt es, als wäre eine Fortsetzung geplant.

Trotz der nicht unerheblichen Kritik an dem Buch hat es mich streckenweise aber auch immer wieder berührt. Auch wenn beispielsweise das Flüchtlingslager sehr kurz abgehandelt wird, werden die unmenschlichen Zustände dort doch sehr deutlich und die Tragik von Samars Leben wird immer wieder nachfühlbar.

Insgesamt war ich von dem Buch aber eher enttäuscht. Meiner Meinung nach hält es dem Vergleich mit dem "Drachenläufer" nicht stand, auch wenn es thematisch ähnlich ist. Für mich dringt es zu wenig in die Materie ein und verzettelt sich in Nebenschauplätzen, sodass das Ende für mich unbefriedigend ausfiel.

Bewertung vom 26.07.2017
Und Marx stand still in Darwins Garten
Jerger, Ilona

Und Marx stand still in Darwins Garten


sehr gut

Ein sehr ruhiges Buch, das vom Sprachstil und der Liebe zur Wissenschaft lebt

England, 1881: Charles Darwin ist bereits im hohen Alter von 72 Jahren und er treibt seine Forschungen weiter voran. Die Fahrt mit der Beagle und die Evolutionstheorie sind lange her, doch Darwin interessiert sich weiterhin dafür, wie die Natur funktioniert. Allerdings ist seine Gesundheit stark angegriffen. Seine Frau macht sich Sorgen, dass er nicht rechtzeitig den Weg zu Gott zurückfindet, während Darwin mit seinem Arzt seine Theorien und sein Leben erörtert. Es stellt sich heraus, dass der Arzt auch den schwer kranken Exilanten Karl Marx behandelt. Er kommt mit ihnen über die Theorien des jeweils anderen ins Gespräch und es wird deutlich, dass beide alte Männer viel Ballast mit sich herumtragen. Darwin wollte sich niemals gegen die Kirche stellen und auch nicht zu ihrer Abschaffung beitragen. Er fühlt sich missverstanden. Trotzdem genießt er Respekt und veröffentlicht weiterhin Bücher. Marx dagegen leidet sehr unter seinem Exil, das ihn in die Armut stürzt, obwohl er gern die Vorteile des Geldes genießt und er verzweifelt schier an den Manuskripten zu den Folgebänden des "Kapitals". Beide Männer haben vieles gemeinsam, doch ihr einziges Treffen endet im Streit.

Ilona Jerger hat in ihrem Debütroman ein Szenario entwickelt, was passiert wäre, hätten sich Darwin und Marx im wahren Leben getroffen. Tatsächlich haben sie das nie, obwohl sie gar nicht weit voneinander lebten und bekannte Persönlichkeiten ihrer Zeit waren. "Und Marx stand still in Darwins Garten" ist ein sehr ruhiges Buch, das von der Begeisterung für die Wissenschaft und den wissenschaftlichen Diskurs lebt. Darwins Experimente und Theorien werden ausführlich, aber gut verständlich, dargelegt. Darwin als Mensch wird plastisch und man kann ihn sich in den verschiedenen Szenen förmlich vorstellen wie er auf den vielen Bildern gezeigt wird; ein gutmütiger alter Mann mit weißem Rauschebart. Hinzu kommt eine Prise Humor und eine interessante Analyse von Marx' Gesellschaftstheorien.
Marx hingegen ist nicht unbedingt ein Sympathieträger. Seine Theorien muten deutlich revolutionärer und der ganze Mann gröber an. Aber auch seinen Ausführungen kann man gut folgen und man kann diesen Schlagabtausch mit dem Doktor als Verbindungsmann richtiggehend genießen in einem Wettstreit der Ideen und Denker.

Auch wenn es dem Buch vielleicht etwas an "Spannung" mangelt und ein Großteil der Handlung einfach aus Gesprächen, vor allem zwischen dem jeweiligen Patienten und dem Arzt besteht, hat mich das Buch doch in seinen Bann gezogen. Ich hatte das Gefühl, zwei der ganz Großen persönlich kennenzulernen. Sie waren sehr lebensecht dargestellt und die Erläuterungen ihrer Theorien und Studien brachten für mich noch einen Erkenntnisgewinn. Viel Spaß hat mir auch die Sprache bereitet, die die Liebe zur Wissenschaft stark vermitteln konnte. Auch wenn es kleine Abstriche gibt, bspw. dass Darwin und Marx sich nur ein einziges Mal persönlich treffen, haben mir die vielen kleinen historischen Details (Marx hat Darwin tatsächlich ein signiertes Exemplar des "Kapitals" geschickt) und die Fabulierkunst der Autorin gut gefallen.

Bewertung vom 10.07.2017
Swing Time
Smith, Zadie

Swing Time


sehr gut

Viele Denkanstöße, aber nicht durchweg fesselnd

Bereits im Klappentext wird die Protagonistin nur als "die andere" bezeichnet. Diese bis zum Schluss namenlose junge Frau erzählt ihre Geschichte, die in einem Problemviertel in London beginnt und sie über die USA bis nach Afrika führen wird. Während der Grundschulzeit lernt die gemischtrassige Erzählerin die ebenfalls gemischtrassige Tracey kennen und beginnt mit ihr gemeinsam den Tanzunterricht. Allerdings ist nur Tracey darin wirklich begabt. Traceys Wahrheiten und Stimmungen bestimmen das Leben der Anderen. Doch mit dem jungen Erwachsenenalter ist plötzlich Schluss mit dieser Freundschaft und nur langsam wird aufgedeckt warum.

"Swing Time" ist sehr schwer einzuordnen. Es ist kein Buch nur über Freundschaft. Auch stehen Musik und Tanz nicht dauerhaft im Fokus. Unter anderem geht es auch um Identität, Herkunft und Wurzeln, Rasse, das Pop-Business, falsch verstandene Wohltätigkeit, Familie und Verantwortung. Es geht auch um manipulative Menschen und solche, die sich ausnutzen lassen. Das eigentliche, zentrale Thema lässt sich schwer einfangen. Viel zu viele Themen werden dafür angerissen und auch kaum eines abschließend zuende gebracht. Das Ende ist sehr offen für Interpretationen.

Stilistisch ist das Buch anspruchsvoll, aber nicht immer packend. Es ist vielschichtig und nicht immer einfach. Einiges an Sozialkritik lässt einen zustimmend nicken, an anderen Stellen hat man als weiße Leserin vielleicht nicht so umfangreiche Vorkenntnisse. Das Buch bietet an diesen Stellen gute Einblicke und Denkanstöße. Auf jeden Fall ist "Swing Time" keine herkömmliche Freundschaftsgeschichte und keine seichte Unterhaltung.

Die Protagonistin ist wie ein blanker Spiegel für die anderen Figuren des Romans. Sie selbst vertritt keine eigenen Interessen und begnügt sich damit, Spielball ihrer Umgebung zu sein. Das ist beim Lesen manchmal frustrierend, da diese namenlose Figur genauso wie ihr nicht vorhandener Name ungreifbar bleibt und somit wenig Identifikationsfläche bietet. Vielmehr erlebt der Leser seine Empörung dadurch noch potenziert, dass die Protagonistin sich nie zur Wehr setzt und der ewige "Sidekick" bleibt. So endet das Buch auch für sie profillos und für mich leicht enttäuschend, da sie für mich am Ende letztlich verschwand und förmlich mit dem Hintergrund verschmolz, ohne dass ich das Gefühl hatte, dass daraus etwas Großes entstanden sei. Insgesamt ist das Buch trotzdem aufgrund seiner vielen Anregungen und denkwürdigen Themen empfehlenswert, gerade auch, weil Zadie Smith schon eine der Großen der Gegenwartsliteratur ist,was sie auch hier wieder beweist.

Bewertung vom 21.06.2017
Das Haus der schwarzen Schwäne
Behnert, Jelle

Das Haus der schwarzen Schwäne


gut

Düster, mystisch, zum Ende hin surreal

Dänemark, 1693: Die junge Falka muss im Wattenmeer Würmer sammeln, damit die Familie genug zu essen hat. Nachdem der Vater und der Verlobte auf hoher See verschollen gehen, beschwört Falka ein mystisches Wesen, ihr die beiden zurückzubringen. Dass sie dazu den Kerzenhalter aus der Kirche verwendet, macht den ketzerischen Akt noch schlimmer. Sie wird von der Insel verstoßen und nach Tondern in eine Spitzenfabrik gebracht. Für Kost und Logis klöppelt sie dort 16 Stunden am Tag weiße Spitze.Falka entdeckt ihre Liebe zum Spitzenklöppeln. Während die schrecklichen Arbeitsbedingungen die Arbeiterinnen Gesundheit und sogar Leben kosten, arbeitet Falka an ihrer Rache am Fabrikbesitzer. Sie beginnt, schwarze Trauerschleier zu klöppeln, die eine düstere, mystische Magie auf ihre Besitzerinnen ausüben. Falkas ultimatives Ziel ist ein Mädchenreich ...

"Das Haus der schwarzen Schwäne" ist im frivolen Rokkoko angesiedelt. Tondern-Spitze genießt ein hohes Ansehen unter den Bürgern und macht den Fabrikbesitzer und seine Familie reich. Aus lauter Langeweile und Jahrzehnte langem Frieden wünscht man sich als Abwechslung Krieg. Man könnte nun einen unterhaltsamen, oberflächlichen, trivialen Roman erwarten. Doch beim Lesen merkt man schnell, dass dieses Buch anders ist. Schon der Schreibstil wirkt antiquiert, aber eigentlich lebt er völlig in der Zeit. Statt den Dingen moderne Namen zu geben und dem Leser den Aberglauben zu sezieren, ist auch der Schreibstil durchwachsen von mystischen Phänomen und zur Zeit passenden Worteigenkreationen. Spannend beschrieben sind Herstellung von und Handel mit Spitze. Auch die historischen Ansichten sind anschaulich und überzeugend dargestellt, wie beispielsweise der Aberglaube und der religiöse Fanatismus. Es wird sehr greifbar, dass die Hexenverfolgung noch nicht lange her ist. Über die ersten zwei Drittel war dieses Buch sehr glaubhaft und mit einem guten Spannungsaufbau. Neben den Lebensumständen von Spitzenklöpplerinnen, Bürgern und Adel spielt auch die Weltpolitik eine Rolle.
Die Protagonistin driftet immer weiter ab in den Mystizismus und Aberglauben. Geisterglaube und der Glaube an übersinnliche Phänomene ist noch groß. So glaubt Falka selbst, dass sie Wünsche und Bedürfnisse in die Schleier klöppeln kann. Dass die jungen Mädchen in ihrer Abschottung irgendwann eine eigene, ketzerische "Religion" entwickeln, ist unter Betrachtung der Epoche und des Alters des Mädchen noch halbwegs glaubhaft. Leider driftet das Buch im letzten Drittel dann aber sehr stark ins düstere Surreale ab. Das fehlende Nachwort ermöglichte es dann auch nicht, Fiktion und historische Fakten aufzudröseln, was sehr schade ist. Gerade bei diesem Buch hätte ich mir ein paar Zusatzinformationen gewünscht. Zumal man über die Geschichte Tonderns nicht allzu viele Informationen findet.

Lange Zeit hat mir dieses Buch gut gefallen und die brutalen Szenen, die von einigen Leser/innen kritisiert wurden, haben mich nicht sonderlich gestört. Aber als das Buch dann immer stärker ins Surreale abdriftete, konnte ich ihm nicht mehr so gut folgen. Diese Vermischung war mir einfach zu stark und die "Realität" nicht mehr gut erkennbar. Ich hätte mir tatsächlich noch mehr historisch gesicherte Handlung gewünscht, auch wenn die Handlung, so wie sie hier verläuft, wichtige Dinge, wie die Rolle der Frau und die fließenden Grenzen zwischen Gut und Böse thematisiert. So hundertprozentig konnte mich dieses Buch leider nicht abholen.

Bewertung vom 17.05.2017
Das geheime Leben des Monsieur Pick
Foenkinos, David

Das geheime Leben des Monsieur Pick


sehr gut

Crozon, Frankreich: Angelehnt an den Roman "Die Abtreibung" von Richard Brautigan und die tatsächlich existierende Brautigan Library eröffnet der Bibliothekar eines französischen Provinznestes eine "Bibliothek der abgelehnten Manuskripte". Für die Pariser Lektorin Delphine ist das ein Kuriosum, das sie ihrem Schriftsteller-Freund bei einem Heimaturlaub zeigen möchte. Beim Stöbern entdecken sie ein Manuskript mit Potential und es wird der Überraschungserfolg der Saison. Nicht zuletzt wegen der Geheimnisse, die sich um seinen Autor ranken. Wer ist der verstorbene Henri Pick, Pizzabäcker des Ortes? Wie kann er einen solchen Roman schreiben, wenn er nach Aussage seiner Familie in seinem Leben noch nie ein Buch gelesen hat? Die Aufregung um Picks Roman wirbelt den Ort und das Leben seiner Bewohner gehörig durcheinander ...

Mit einem deutlichen Augenzwinkern erzählt Foenkinos aus einem kleinen französischen Dorf, aber auch der großen weiten Buch- und Verlagsbranche, die mit allen Mitteln um den nächsten Bestseller kämpft. Mit Liebe sind die Figuren gezeichnet, wenn sie auch manchmal ein wenig einfach (um nicht zusagen: einfältig) wirken. "Das geheime Leben des Monsieur Pick" ist kein wirklicher Pageturner, obwohl es schon die ein oder andere Überraschung bereithält. Es ist eher ein poetisches, aber auch leichtes (aber nicht seichtes!) Buch der ruhigen Art, obwohl manche Szenen auch an Slapstick erinnern und einiges überzeichnet ist. Die Lebensgeschichten der einzelnen Figuren holen manchmal etwas weit aus und ich empfand sie an manchen, wenigen Stellen als etwas ermüdend. Gleichzeitig fühlt man sich dadurch den Figuren verbunden und bekommt einen guten Eindruck des Dorflebens. Und über allem steht natürlich das große Rätsel um Picks Roman, dessen Auflösung meiner Meinung nach toll geglückt ist, weil am Ende noch einmal, mit den Worten des Verlages, "Gewissheit[en] [...] auf den Kopf gestellt [werden]".

Immer wieder erwähnt Foenkinos die bretonische Herkunft seiner Figuren. Die Bretonen seien ein ganz eigenes und spezielles Völkchen mit ihren ganz sonderbaren Eigenheiten, wird immer wieder betont. Das kann ich nicht gut beurteilen, da ich mich mit Frankreich wenig auskenne. Ich denke, dass es hier noch eine weitere Bedeutungs- oder auch Humorebene gibt für diejenigen, die davon Ahnung haben. Was auf jeden Fall klar wird ist, dass die Figuren alle etwas Exzentrisches haben.

Insgesamt finde ich die Beschreibung des Verlags ziemlich passend: das Buch wirkt "typisch" französisch("-charmant"), leicht, beschwingt und humorvoll. Und bietet nebenbei noch eine tolle Handlung für alle Buchbegeisterten.

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Bewertung vom 26.02.2017
Sein blutiges Projekt
Burnet, Graeme Macrae

Sein blutiges Projekt


ausgezeichnet

Culduie, Schottland, 1869: Der 17-jährige Roderick Macrae läuft blutüberströmt die Straße hinunter. Er bestreitet nicht, drei Menschen brutal getötet zu haben. Doch was trieb den jungen Bauernsohn dazu? Auf Anraten seines Anwalts bringt er die Ereignisse zu Papier, die das raue Leben in einer kleinen Ortschaft darstellen, die Handvoll Familien, die dort leben, beherrscht von einem machtbesessenen Sheriff. Das Leben wird nach dem Tod der Mutter für Roderick und seine Geschwister Stück für Stück unerträglicher, bis die Ereignisse schließlich in der Bluttat kulminieren. Ergänzt werden Rodericks Schilderungen durch einen Bericht des Gefängnisarztes Thomson, der seine psychologische Begutachtung und deren Schlüsse zu Rodericks Schuldfähigkeit nüchtern, aber keineswegs neutral darlegt. Gerade diese Passage ist eine glaubhafte und interessante Darstellung der Anfänge der Kriminalpsychologie, samt der Ideologie und des Menschenbildes, die dahinterstehen. Viele der Feststellungen muten heute sehr krude an und wühlen in ihren mitunter offensichtlichen Fehlschlüssen beim Lesen auf. Abschließend wird der Gerichtsprozess mittels einer Zusammenfassung von Zeitungsberichten erzählt und stand im ersten Teil um die Morde der Ausgang bereits fest, so lebt hier die Spannung von verschiedenen Wendungen und der Ungewissheit des Ausgangs bis zum Schluss. In diesem Teil kam eine fast schon greifbare Spannung auf, die Anspannung im Gerichtssaal liegt beim Lesen knisternd in der Luft.

Die Geschichte ist sehr gekonnt konstruiert und vermittelt den überzeugenden Eindruck eines True-Crime-Berichts. Neben der Behauptung, in den Highland Archiven ein Manuskript von Roderick Macrae gefunden zu haben, liegt ein besonderer Kniff in der Namensähnlichkeit zwischen Täter und Autor. Hat man diese einmal bemerkt, spielen noch ganz andere Erwartungen in die Rezeption der Geschichte mit hinein (die ich leider aus Spoilergründen nicht näher benennen kann). Das Buch kommt ganz im Stile eines True-Crime-Berichts mit einer gewissen Trockenheit daher und ebenso mit einer gewissen Sachlichkeit. Der Autor spielt geschickt mit dem Leser und stiftet gekonnt Verwirrung darüber, ob diese Ereignisse wirklich stattgefunden haben, da ja gleichzeitig bekannt ist, dass das Buch für den Man Booker Prize nominiert war. Empfindet man nach dem schriftlichen Geständnis vielleicht noch Mitgefühl mit Roderick, vielleicht auch manches Mal Befremden (aber schließlich ist Roderick mit 17 wahrscheinlich auch noch in der Pubertät), so ist man später ob der Widersprüche seines Berichts mit den Zeugenaussagen keineswegs mehr sicher, wem man glauben soll und ob Roderick das Mitgefühl überhaupt verdient hat.

Mir hat zugegenermaßen an manchen Stellen ein wenig die Spannung gefehlt, dafür bin ich zum Ende hin geradezu durch die Seiten geflogen. Alle Figuren waren authentisch dargestellt und die Arroganz des Gefängnisarztes absolut zu Zeit und Tätigkeit angemessen. Burnet hat über die bislang erwähnten Punkte unterschwellig auch die Moral angesprochen und die auch heute noch aufkommenden Zweifel, ob nicht jeder, der so eine Tat begeht, eigentlich unzurechnungsfähig ist und inwiefern es gerecht ist, solche Taten ungesühnt zu lassen. Über allem aber steht die Technik des Autors und sein Können darin, den Leser in die Irre zu führen und Wahrheiten zu präsentieren, die möglicherweise keine sind.

Bewertung vom 21.01.2017
Die Spionin
Coelho, Paulo

Die Spionin


gut

Frankreich, 1917: In Paris wird eine Frau von einem Erschießungskommando hingerichtet. Es handelt sich dabei um die skandalumwitterte Tänzerin Mata Hari, die in den höchsten Kreisen verkehrte und schließlich der Doppelspionage angeklagt und für schuldig befunden wird.
In diesem Buch, verfasst Mata Hari kurz vor ihrer Hinrichtung einen (fiktiven) Brief an ihren Anwalt und schildert ihre Sicht der Ereignisse und Entwicklungen. Dabei erfährt man viel aus ihrer Biografie; wie sie sich in ihrer holländischen Heimat langweilte, deshalb einen britischen Offizier heiratete und mit ihm nach Java ging. Doch diese Ehe war geprägt von Gewalt und so verlässt die damals noch Marghareta genannte junge Frau ihren Mann und ihr Kind und beginnt ohne Ausbildung eine Karriere als Tänzerin. Ihre freien Interpretationen exotischer Tänze, die wenig Authentizität und dafür viel nackte Haut beinhalten, verhelfen ihr zu Berühmtheit. Sie prahlt in ihrem Brief mit ihren unzähligen Liebschaften und legt dabei sowohl Arroganz als auch Naivität an den Tag. Leider bleibt Mata Hari in diesem Abschnitt sehr schematisch. Es wirkt oft wie eine Aneinanderreihung von biografischen Fakten, oft fehlte mir dabei die Emotionalität und Nähe zur Figur. Zudem scheint der Autor damit spielen zu wollen, dass Mata Hari auch im Ruf einer Lügnerin stand und oft viel zu ihrer Geschichte dazu erfand. Das erfährt man jedoch erst im Nachwort oder bei weiteren Recherchen im Internet. Im Buch selbst ist ein solches Verwirrspiel leider nicht gut gelungen, weil es nicht deutlich genug herausgestellt oder in Widerspruch zu anderslautenden Aussagen gestellt wird. Als einziges relativierend wirkt der anschließende (fiktive) Brief von Mata Haris Anwalt, doch auch das ist nicht ausgearbeitet genug und dient wahrscheinlich eher dazu, die Abläufe zu schildern, die außerhalb Mata Haris Wissen lagen. Leider bleibt auch Mata Haris Spionagetätigkeit schwammig und wenig greifbar oder verständlich. Der Meinung der Buchfigur nach seien gar keine Informationen geflossen bzw. ist von der Weitergabe von Klatsch die Rede, nur dass nie deutlich wird, was und an wen Mata Hari geliefert hat. Deutlich wird nur, dass Mata Hari in ihrer Selbsterhöhung und ihrem Geltungsdrang dumme und naive Dinge getan hat und sich möglicherweise in eine Situation manövriert hat, deren Bedeutung sie gar nicht erfassen konnte. Auch wird deutlich, wie gefährlich eine Frau wahrgenommen hat, die die Geliebte vieler einflussreicher Männer war und schließlich mindestens für ihre Unkonventionalität mit dem Leben zahlen musste.

Mata Hari wird auch weiterhin eine Faszination auf mich ausüben, dieses Buch wird jedoch wenig zu meinem Bild von ihr beitragen. Der Schreibstil ist zugegebenermaßen ansprechend und durchaus poetisch, konnte mir aber zu keiner Zeit irgendeine Emotion vermitteln, was ich wirklich bedauerlich fand. Auch die biografischen Details wurden für mich nicht bildhaft genug. Meiner Meinung nach wurde hier einiges an Potential der Geschichte verschenkt. Ich hatte ein ergreifenderes Buch erwartet, nicht zuletzt aufgrund Mata Haris tragischem Ende und etlicher Ungerechtigkeiten, die ihr wiederfahren sind. So kann ich nur sagen "Kann man lesen, muss man aber nicht unbedingt".