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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 22.04.2017
Hier sind Drachen
Josten, Husch

Hier sind Drachen


ausgezeichnet

Caren schreibt als Journalistin für den britischen „The Independent“ und ist auf dem Weg zu einer Reportage über die Terroranschläge von Paris. Am Flughafen Heathrow verzögert sich zuerst ihr Abflug, dann wird das Gate zum Flug nach Paris mit allen Passagieren abgeriegelt. Caren hat bereits die Terroranschläge von New York und Boston durch außergewöhnliche Zufälle überlebt. Man könnte vermuten, dass sie die Zuwendung ihrer Schutzengel endgültig verbraucht hätte und kein drittes Mal davon kommen würde. Anzeichen einer unbehandelten Angststörung begleiten sie seit den damaligen Ereignissen. Der Eindruck verstärkt sich, dass Caren in der Gegenwart erst mit Verzögerung wegen der Anschläge aus der Bahn geworfen werden könnte, denen sie nur knapp entging. Während offizielle Stellungnahmen nur Allgemeinplätze zur Situation in Heathrow von sich geben, entwickelt sich ein Gespräch zwischen Caren und einem älteren Mann, den sie wegen seiner Reiselektüre spaßhaft Wittgenstein nennt. Der Unbekannte befasst sich mit Zufällen, sinnt nach über das Erzählen von Geschichten und was sich wohl auf der Rückseite von Geschichten verbergen könnte. Im klassischen Szenario einer Begegnung Fremder, die sich nie wieder sehen werden, entwickelt sich eine unerwartete Dynamik. Caren muss sich plötzlich damit auseinandersetzen, dass Menschen nicht das sind, was wir gern in ihnen sehen möchten.

Während ich zu Caren als Figur die dramatischen Ereignisse hindurch ein distanziertes Verhältnis behalten habe, entwickelten sich in diesem sehr kurzen Roman unerwartete, sehr persönliche Botschaften, beispielsweise die, wie tief Terrorismus uns in unserem Privatleben treffen kann, selbst wenn wir nicht unmittelbar betroffen sind. Ein lesenswertes Kleinod.

Bewertung vom 22.04.2017
Klassenbuch
Düffel, John

Klassenbuch


ausgezeichnet

In Frau Höppners Deutschunterricht trifft das reale Leben in Form eines Grillenzirpens auf „Die Grille und die Ameise“ als Aufsatzthema. Erik reagiert beschwingt auf das sommerliche Aufsatzthema, passt dessen Leichtigkeit doch perfekt zu seinem Selbstbild als Frauenversteher. Erik wirkt wie der klassische Held eines Coming-of-Age-Romans, der noch nicht weiß, ob er sich im richtigen Körper befindet und was überhaupt von ihm erwartet wird. Von neun Schülern einer elften Klasse berichtet John von Düffel; über Stanko, dessen Eltern vor dem Jugoslawienkrieg flüchteten, Emily, der eloquenten Jahrgangssprecherin im Kampf gegen das Schul-Catering-Unternehmen, Beatrice, der eine Essstörung unterstellt wird, und Annika, die bisher verbergen konnte, dass sich zuhause niemand um sie und ihren Bruder kümmert. Nachdem alle Figuren aufgetreten sind, scheint es, als würde es im Buch mehr Identitäten als Personen geben. Lenny (Lennart) jongliert in seiner eigenen Gamer-Welt mit verschiedenen Leben und schreibt sein persönliches Skript ins Handy – bei ihm wunderte es nicht, wenn auch sein Avatar mit am Esstisch sitzen würde. Wenn im Internet virtuelle Identitäten geschaffen, Profile gestohlen, umgearbeitet und von anderen benutzt werden können, muss die Zahl der Identitäten offen bleiben und vermutlich auch, wer real und wer virtuell erzeugt ist. Alle Schüler haben offenbar ein besonders inniges Verhältnis zu Frau Höppner. Eine Weile habe ich angenommen, dass es sich um eine Förderklasse problematischer Jugendlicher handeln könnte. Meine Vermutung, warum Frau Höppner mitten im Schuljahr überraschend von einem anderen Lehrer abgelöst wird, musste ich mehrmals neu ein-norden. Bis dahin ging es u. a. um Perspektivwechsel, den Frau Höppner offensichtlich besser beherrschte als der neue Lehrer Herr Tretner. Von ihr kann ich mir jedenfalls vorstellen, dass sie akzeptiert, wie ein Gamer Aufsätze schreibt oder ein begabter Comic-Zeichner wie Stanko. Der arme Herr Tretner muss einem geradezu leidtun, weil er nur eine Form von Realität wahrnehmen kann. In Eriks Klasse gibt es jedoch eigene, fremde, gemeinsame, virtuelle und gestohlene Formen von Realität – mindestens. Die einzelnen Stories verselbstständigen sich, beginnen ein Eigenleben zu führen. Nicht alle Schüler kann John von Düffel seinen Lesern gleichwertig nahebringen.

Durch die Multiperspektivität in Kombination mit virtuellen Identitäten wirkt der Plot angesichts seiner jugendlichen Figuren künstlich verkompliziert, als hätte John von Düffel ein Tarnnetz über die Handlung gebreitet. Vertraute Probleme junger Erwachsener häufen sich hier zu extremen Extremen auf. Wer sich für Identitäten und Identitätsklau in der virtuellen Welt interessiert und sich nicht daran stört, zwischen den 9 + x Identitäten ab und zu den Faden zu verlieren, liegt hier richtig.

Bewertung vom 08.04.2017
Die Geschichte der Bienen / Klima Quartett Bd.1
Lunde, Maja

Die Geschichte der Bienen / Klima Quartett Bd.1


sehr gut

Die Landarbeiterin Tao aus China, der Naturwissenschaftler William aus England und der amerikanische Bienenzüchter George sind die Hauptfiguren in Maja Lundes Roman, der auf drei Kontinenten und in drei Epochen spielt. Im China des Jahres 2098 sind durch den Klimawandel, Pestizide und Monokultur längst die Lebensbedingungen für Bienen zerstört. Darum müssen Landarbeiterinnen alle Obstbäume von Hand bestäuben. Bildung ist überflüssig geworden, weil in Taos postapokalyptischer Welt nur geschickte, gehorsame Landarbeiter benötigt werden. Fleisch kann nicht mehr erzeugt werden, weil es nicht zu schaffen ist, die Futterpflanzen auch von Hand zu bestäuben. Tao will sich mit den Verhältnissen nicht abfinden und erhofft sich für ihren kleinen Sohn Wei-Wen ein besseres Leben. Als Wei-Wen plötzlich erkrankt und vom System in aller Heimlichkeit fortgebracht wird, wächst Tao auf der Suche nach ihrem Kind über sich hinaus.
William war als junger Mann ein vielversprechender Wissenschaftler, der nach einer kurzen Karriere als Saatguthändler und der Gründung einer kinderreichen Familie nun offenbar an Depressionen erkrankt ist. Als er sich mit der Konstruktion eines Bienenkastens beschäftigt, der ihm die Beobachtung von Bienen ermöglicht, scheint William sich wieder zu fangen.
George ist in den USA mit einer Strukturkrise der Imkerei konfrontiert, die er lange nicht wahrhaben will. Er will sie so wenig wahrhaben wie den Nachfolgekonflikt um seinen Betrieb und plant weitere Investitionen, obwohl er von der Arbeit körperlich längst ausgelaugt ist. Auch wenn Georges Sohn Tom erfolgreich studiert und ein Promotionsstipendium angeboten bekommt, kann George lange nicht von dem Gedanken lassen, dass sein Betrieb nur vom Sohn fortgeführt werden kann und die Fachkenntnisse der älteren Generation nur auf diesem Weg weitergegeben werden können.
Die Bienen als Symbol für das Leben und für funktionierende Öko-Systeme verbinden die drei Schicksale. Am spannendsten fand ich, die von Maja Lunde entwickelten Persönlichkeiten kennenzulernen und herauszufinden, in welchem Verhältnis sie zur Imkerei und zu den Bienen stehen. Anrührend waren für mich die Ähnlichkeiten in der Reaktion von Eltern in allen Epochen. Hier trifft man als Leser Väter, die starrsinnig am Sohn als Nachfolger festhalten, keinen Plan B, keine Kompromisse kennen wollen. Sie verschließen deshalb die Augen davor, evtl. andere fähige Betriebsnachfolger als die eigenen Söhne zu schulen. Letztlich ist es diese Art von Starrsinn der älteren Generation (hier der Väter), der kreative Problemlösungen verhindert und unseren Planeten gerade an den Rand des Abgrunds steuert. Ein kompliziertes Eltern-Kind-Verhältnis besteht auch zwischen Tao und ihrem Staat, der seine Bevölkerung gern auf dem Niveau von Grundschulkindern halten möchte, weil sie so willig ihre Pflicht tun und keinen unerwünschten Träumen nachhängen. Die Vater-Sohn-Konflikte als Nebenhandlung und universeller Stoff für Familien-Romane waren leicht nachvollziehbar und vorhersehbar, so dass ich die folgende Handlung bis zur Auflösung privater und ökologischer Konflikte etwas zu breit ausgearbeitet fand.

Bewertung vom 26.03.2017
Der Sohn des Hauptmanns
Gürsel, Nedim

Der Sohn des Hauptmanns


ausgezeichnet

Der alte Mann nimmt seine Kindheitserinnerungen mit einem Tonbandgerät auf. Die Erinnerungen umfassen die Zeit von der Einschulung bis zum ersten Studienjahr des Romanistikstudiums in Istanbul. Er lebt einsam in Istanbul mit Blick auf den Bosporus; seine Frau hält sich schon länger im Ausland auf. Der Icherzähler nähert sich jeden Tag ein Stückchen weiter dem Tod, fühlt, dass er bald sterben wird. Vermutlich durch Auswirkungen einer frühen Demenzerkrankung wird er in Gedanken wieder zum Kind, fühlt sich seiner Mutter näher als zuvor. Seine Mutter starb, als er 6 Jahre alt war, und lange hat man ihm verheimlicht, dass sie sich das Leben genommen hat. Eine Frau, die keine Spur hinterließ, die keine Familie hatte und vom Vater direkt aus dem Waisenhaus geheiratet wurde. Durch eine unbedachte Bemerkung seines Rektors glaubt der Junge lange, er sei Schuld am Tod der Mutter, hätte ihr das Leben genommen, weil er selbst weiterlebt. - ... Zum Ende der Grundschulzeit kommt der Junge ins Internat eines angesehenen französischsprachigen Gymnasiums in Istanbul. Der Vater entledigt sich förmlich seines Sohnes. Überlässt ihn der Institution und einer traditionellen Drangsalierung und Erniedrigung durch ältere Schüler, von der gern behauptet wird, sie hätte der Generation zuvor nicht geschadet. Über Besuche, Briefe, auch nur das geringste Interesse an seinem einzigen Kind erfährt man nichts. Nach Istanbul wird später Paris Fluchtpunkt des Mannes. - Der Erzähler hat eine Mission. Erstaunlich, dass er so genau trennen kann, was sein kindliches Erleben war und was er aus heutiger Sicht beurteilt. Er will unbedingt, dass jüngere Zuhörer seine Auseinandersetzung mit dem leiblichen Vater verstehen werden. Unverblümt richtet sie sich auch an seinen Staat und den Staatspräsidenten, der sich anmaßt, seinen Bürgern wie ein Vater Anweisungen geben zu können. Sein Erzählfluss mäandert in orientalischer Erzähltradition zu patriotischen Liedern, Gedichten oder bildhaften Spitznamen. Schon früh lernt der Junge, dass Anspielungen hinter Wortbedeutungen verschiedener Sprachen versteckt werden können. Die Grenzen dessen, was sich gehört, überschreitet der Sprecher einige Male, wenn er sein Hühnchen mit persönlichen Gegnern rupft. Mit der abnehmenden geistigen Leistungsfähigkeit ist es evtl. nicht so schlimm wie befürchtet. Vielleicht meint der alte Herr, dass er aufgrund seiner Krankheit keine Rücksichten mehr darauf nehmen muss, was politisch gerade opportun ist. - Nedim Gürsel ist 1951 geboren; seine Erzählerfigur gehört seiner eigenen Generation an. Die Ereignisse der frühen Kindheit enden mit der Beteiligung des Vaters am Militärputsch von 1960. Sehr direkt setzt sich der türkische Autor mit der brisanten Frage auseinander, wie ein Land seine Kinder erzieht und wie besonders die Söhne später ihre Kinder erziehen werden. Über sonderbare Rollenbilder muss sich niemand wundern, der diesem Aufwachsen in Institutionen mit strenger Geschlechtertrennung gefolgt ist. Wer sich für die kindliche Entwicklung und die Sozialisierung von Männern interessiert, wird hier fündig. Gürsel beantwortet manche Frage, die man sich zur aktuellen Situation in der Türkei stellen könnte. Die Antworten sind für Leser außerhalb der Türkei im Koordinatensystem von Fakten und Fiktion nicht einfach einzuordnen; sie sind sehr persönlich, direkt und verstörend.

Bewertung vom 26.03.2017
Der Atem der Vögel
Böldl, Klaus

Der Atem der Vögel


ausgezeichnet

Philipp kam mit einem Werkvertrag des Nationalmuseums auf die Faröer Inseln, um ein Chorgestühl zu restaurieren. Irgendwie blieb er auf Streymoy hängen und lebt nun mit der Ärztin Johanna und ihrer kleinen Tochter zusammen. Zunächst ist unklar, was der Icherzähler auf der Insel genau tut; denn die Hausarbeit übernimmt Johanna. Philipp wirkt fremd dort, ich hatte den Eindruck, dass ich ihm besser nicht trauen sollte. Während Johanna arbeitet, betreut Philipp die kleine Rannvá, ein phantasievolles, genügsames Kind. Rannvá scheint nichts zu benötigen, um sich zu beschäftigen. So wird aus Moosflecken auf Steinen eine Landkarte, über der Mann und Kind sinnieren, wie es anderswo sein könnte. Philipp passt sich Rannvás Interessen an, sie kann in ihrem Tempo die Welt in sich aufnehmen.

Auf der Insel wirkt der Himmel klarer als anderswo. Eine unwirtliche Landschaft hält die Menschen mit Regen und Schneestürmen fest. Man mag kaum glauben, dass Streymoy und die nächste Insel ein Meeresarm trennt, so nah scheint die Nachbarinsel zu sein. Der Himmel wirkt nach jedem Regen wie blank gewaschen. Weil es in seiner beinahe lautlosen Umgebung wenig zu sehen gibt, nimmt Philipp Alltägliches intensiver wahr. In unendlich wirkender Muße öffnen sich hier für Philipp Einblicke in sein früheres Leben. Er scheint immer allein zu sein; ein Mensch, der keine Spuren hinterlässt. Anders wird das nun mit Rannvá, für die Philipps Zuwendung wichtig ist.

Als eine tote Frau im Hafenbecken gefunden wird, entsteht ein Riss in der Idylle, Philipp sieht sich mit der Realität konfrontiert und mit Erinnerungen, die er möglicherweise bisher verdrängt hatte.

Klaus Böldl erzählt feinfühlig und präzise von einem Einzelgänger und lässt seine Leser in brillianten Bildern in den hohen Norden reisen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.03.2017
Der Asteroid ist noch das kleinste Problem
Kennedy, Katie

Der Asteroid ist noch das kleinste Problem


ausgezeichnet

Yuri trägt einen Anzug, Oberhemd und schwarze Schuhe. Er ist weder der Azubi noch eine Servicekraft in der Kantine. Mit 17 ist der junge Russe bereits promovierter Physiker. Doch jemandem mit dem Bartwuchs eines 14-Jährigen nimmt das bei der amerikanischen Raumfahrtbehörde niemand ab. Yuri ist als Experte zu Hilfe gerufen worden, um die Erde vor dem Zusammenstoß mit einem riesigen Asteroiden zu retten, der sich direkt auf Nordamerika zu bewegt und vermutlich einen Tsunami auslösen wird. Gemeinsam mit einem Spezialisten-Team soll Yuri die Flugbahn des Asteroiden exakt berechnen, damit er rechtzeitig abgeschossen werden kann. Die Kollegen sind dreimal so alt wie Yuri und in ihrem Denken nicht gerade flexibel. Dafür ist Yuri überzeugt davon, dass er exzellente Chancen hat, für seine Arbeiten über Antimaterie einmal den Nobelpreis zu erhalten. Doch als Luna Collum in Yuris Leben auftaucht, stellt sich ein unerwartetes Problem: Was wird mit dem Asteroiden passieren, wenn Yuri urplötzlich seine verlorene Kindheit nachzuholen beginnt und gemeinsam mit Luna so richtig versackt? Yuri muss sich entscheiden, ob er die Welt retten will, die Liebe entdecken oder vielleicht doch lieber seine Arbeit in Russland aus den gierigen Fingern seines unfähigen Kollegen retten, ehe der alle Verdienste für sich beansprucht. Der Countdown läuft. Noch 17 Tage, noch 11 Tage … Und dann setzen sich die NASA-Kollegen zu allem Überfluss in den Kopf, als Russe wäre Yuri ein Sicherheitsrisiko.

Wunderkind Yuri ist gleich mehrfach Außenseiter. Während andere Kinder noch spielten, studierte er schon an der Uni. Um von seinen Kollegen ernstgenommen zu werden, ist er zu jung und noch zu ahnungslos, um in den USA nicht anzuecken. In der Begegnung mit Luna und ihrem Bruder entdeckt Yuri, dass andere Jugendliche nicht wie Physiker denken und dass seine Sicht der Dinge eine beträchtliche Spaßbremse sein kann. Sagen Sie nie der Frau, die Sie lieben, ein Planet sei kein Stern …

Yuris Abenteuer sind Unterhaltung für Jugendliche vom Feinsten. Ein Roman, in dem Erwachsene gezwungen sind, mit einem 17-jährigen Experten zusammenzuarbeiten, hat definitiv Charme. Wenn ich als Erwachsener darüber lachen kann, zeigt das, dass Katie Kennedy Leser auf unterschiedlichen Ebenen unterhalten kann. Ihr Stereotyp eines Russen trifft hier auf stereotype Kinder einer Hippiefamilie, in der christliche und staatliche Feiertage zugunsten von Ehrentagen der „Bewegung“ entfallen. Aus „russisches Wunderkind trifft auf amerikanische Highschool-Kids“ wird durch die Dreierbeziehung zwischen den Protagonisten und ihren deutschen Lesern auf charmante Weise “niedlicher Typ sucht seinen Weg durch das interkulturelle Wirrwarr des sonderbaren amerikanischen Alltags“. Yuris Charakterisierung empfand ich nicht immer als rund, er denkt und agiert ab und zu sehr amerikanisch. Dass die Übersetzerin Physiker mit „Nummern“ rechnen lässt, dagegen sollte noch etwas unternommen werden. Yuris Zerschmettern all meiner Illusionen über Aliens war bereits genug Aufregung.

Bewertung vom 26.03.2017
Logik für Demokraten
Zorn, Daniel-Pascal

Logik für Demokraten


ausgezeichnet

Zu Beginn der Fastenzeit hatte ich mich gefragt, ob es nicht höchste Zeit wäre, statt Autofasten oder Handyfasten einmal bewusst sorgfältiger mit Sprache umzugehen. In den unterschiedlichsten Medien schien das Ende jeglicher Gesprächskultur eingeläutet worden zu sein. Vermutungen wurden zunehmend als Tatsachen verbreitet, Diskussionspartner persönlich diskreditiert. Schließlich brachte mich die um sich greifende manipulative Verpackung von Provokationen und Unterstellungen in Frageform auf die Palme, vom Fragesteller anschließend damit verharmlost, er/sie hätte ja nur eine Frage gestellt und wäre demnach völlig unschuldig an der folgenden Entgleisung der Diskussion. In dieser Ausgangssituation erhoffte ich mir Aufklärung von Daniel-Pascal Zorn, was genau in "Diskussionen" abläuft.

Der studierte Philosoph brachte mich wieder auf den Teppich zurück mit seiner Charakterisierung von populistischem und dogmatischem Denken und Argumentieren im Gegensatz zu demokratischem Denken. Zorn warnt, selbst der Begriff Populismus etikettiere; denn er sei keine Eigenschaft, sondern eine Form der Argumentation. Populismus mit daraus folgender dogmatischer Dynamik führe schließlich zu totalitärem Denken, so Zorn. Populistischer Argumentation sei nur etwas entgegenzusetzen, wenn man auch auf das Wie einer Rede achte. Der Begriff falsches Dilemma definiert eine inzwischen verbreitete Haltung, die keine Zwischentöne mehr toleriert: bist du nicht für mich/meine Ansicht, bist du gegen mich. Neben Dogmatischer Setzung, Exzess der Positionierung und Bestätigungsfehler (alles ausblenden, was der eigenen Sicht widerspricht) sei falsches Dilemma eine der Strategien populistischen Denkens. Zorns Charakterisierung dogmatischen und populistischen Denkens mutet angesichts der politischen Entwicklung der letzten Wochen beinahe schadenfroh an; denn wer wird sich nach seiner geduldigen Erklärung von Dogmatismus noch über die Abläufe wundern können?

Für Dogmatiker ist ihr Weltbild völlig logisch, jeder Widerspruch wird deshalb als Provokation empfunden. Dogmatiker würdigen Vertreter anderer Meinungen herab mit pseudomedizinischen Diagnosen, sexistischen oder biologistischen Etikettierungen. Dogmatiker begründen nicht. Dogmatiker sehen sich gern selbst als schweigende Mehrheit, als Opfer/Minderheit. Sie finden stets einen Schuldigen, der eine Entwicklung provoziert habe. Der Schritt zur gefühlten Marginalisierung mit daraus folgender Verschwörungstheorie ist dann meist nicht mehr weit. Dogmatisches Denken verschafft Menschen Sicherheit, dogmatisches Argumentieren soll den Sprecher unangreifbar gegenüber Kritik machen. Doch eine „dogmatische Schleife“ führe dazu, dass sich jemand, der provoziert, um so stärker angegriffen fühlt, je mehr er selbst provoziert. Ähnlichkeiten mit derzeit regierenden Staatsoberhäuptern sind natürlich rein zufällig …

Dass populistische Argumentationsformen und dogmatische Denkweisen keine neuen Erscheinungen in der Folge des Web 2.0 sind, sondern bereits seit der Antike bekannt, ist immerhin eine tröstliche Botschaft. Zorn will mit seiner Analyse von verbreiteten Argumentationsmustern die Strategien derer offenlegen, die die Offenheit in demokratischen Gesellschaften gegen diese Gesellschaften ausspielen. Das ist ihm gelungen. Im Schnittpunkt von Philosophie, Psychologie, Rhetorik und Geschichte hat Zorns Buch mir passende Denkanstöße gegeben – und war mit seinem überschaubaren Umfang für einen Philosophie-Anfänger gut zu bewältigen.

Bewertung vom 20.03.2017
Wenn das Eis bricht / Profilerin Hanne Bd.1
Grebe, Camilla

Wenn das Eis bricht / Profilerin Hanne Bd.1


gut

Im Haus des wohlhabenden Textilkaufmanns Jesper Orre wird kurz vor Weihnachten die übel zugerichtete Leiche einer Frau gefunden. Für die Ermittler stellt sich die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen dem Mord und einer kürzlichen Brandstiftung auf Orres Grundstück besteht und wer die Tote überhaupt ist. Erzählt wird der übertrieben gehypte Roman von drei Icherzählern: dem Kriminalbeamten Peter Lindgren, Orres Angestellter Emma Bohmann und Hanne Lagerlind, einer Profilerin, die früher einmal mit Lindgrens Abteilung zusammengearbeitet hat. Während die Ermittlungen am Tatort zunächst in den Hintergrund treten, erzählt Emma in mehreren Schritten in Form von Rückblenden aus ihrem Leben. In schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen, hat sie die Schule abgebrochen und arbeitet nun als Textilverkäuferin in einem von Orres Läden. Der Textilkönig hat wegen seiner Frauengeschichten einen schlechten Ruf und ist zudem wegen der Arbeitsbedingungen in seinen Läden ins Kreuzfeuer der Presse geraten. Seit kurzem hat Emma eine Beziehung mit Jesper, die allerdings anders verläuft, als Emma sich das vorgestellt hat.

Die Ermittler Peter und Manfred stehen an der Schwelle zum Burnout, weil sie sich als Putztruppe der Gesellschaft erleben und ihre Arbeit nicht genug Anerkennung findet. Hanne hat sich als Wissenschaftlerin intensiv mit Behaviorismus befasst und früher als externe Mitarbeiterin mit Peters Abteilung zusammengearbeitet. Peter möchte sie zu dem Fall hinzuziehen, als sich Verbindungen zu einem Jahre alten Fall ergeben. Privat ist Hanne gerade mit der Diagnose konfrontiert worden, dass sie an einer aggressiv verlaufenden Form von Demenz erkrankt ist. Da ihre Ehe schon länger kriselt, bringt sie ihre Erkrankung in eine schwierige Situation. Schon bald wird sie nicht mehr ohne Hilfe leben können. Ihr Traum von einer Forschungsreise nach Grönland wird wohl Traum bleiben müssen. Die Bilder, die die Icherzähler von sich zeichnen, bringen verblüffende Gemeinsamkeiten der drei Persönlichkeiten ans Licht. Emma zeigte bisher eine klassische Opferpersönlichkeit, die von dominanten, manipulativen Menschen leicht auszunutzen war. Ähnlich empfand sich Hanne von Beginn an in ihrer Ehe, in der ihr Mann den dominanten Part spielte. Peter ist ebenfalls kein sympathischer Zeitgenosse, auch er hat in der Vergangenheit Menschen verletzt und ausgenutzt. Die Charakterisierungen der drei Beteiligten scheinen anfangs von der Tat eher wegzuführen, fügen sich jedoch schließlich zu einem veränderten Bild zusammen, ehe die Handlung in einem dramatischen Storytwist rasant an Tempo gewinnt.

Die Beziehungen zwischen Zeugen, Verdächtigen, Opfern und Ermittlern sind psychologisch raffiniert angelegt. Allerdings hat mich von Anfang an nicht überzeugt, warum Hanne im Plot überhaupt auftreten muss. Zwar wird sie glaubwürdig beschrieben, nicht etwa als vom Schicksal gebeuteltes Supertalent, mir war ihre Rolle jedoch zu deutlich aus plot-taktischen Gründen angelegt. Als durchschnittlichem Schwedenkrimi würde ich dem Buch 3,5 von 5 Punkten geben. Da der Klappentext sehr hohe Erwartungen weckte, die der Text nicht erfüllte, durchschnittliche 3 Punkte.

Bewertung vom 20.03.2017
Das Mädchen im Strom
Bode, Sabine

Das Mädchen im Strom


gut

Wilhelm Samuel, Besitzer einer Kette von Schuhgeschäften, ist in erster Linie Deutscher und Patriot; dass er als Nachkomme polnischer Schtetl-Juden auch Jude ist, empfindet er eher als Zufall. Orthodoxes Judentum ist ihm peinlich und dennoch zieht die Mainzer Familie privat eine feine Linie und ist hauptsächlich mit Juden befreundet. Anders als in Berlin muss es in den 30ern des vorigen Jahrhunderts in Mainz weniger oder weniger öffentlich sichtbare Juden gegeben haben. Gudrun Samuel (* 1920/21) interessiert sich als Kind nur für Sport und würde am liebsten Akrobatin werden. Mit 12 schwimmt sie als geübte Schwimmerin im Fluss und macht sich einen Spaß daraus, sich im Strom an Schleppkähnen hochzuziehen und ein Stück mitnehmen zu lassen. Wie auch die Persönlichkeit ihres älteren Bruders Ralph weicht Gudruns für die damalige Zeit höchst eigenwillige Entwicklung weit von den Träumen ab, die ihre bürgerlichen Eltern für ihre Kinder hatten. Mit 13 raucht Gudrun regelmäßig und verliebt sich in Martin, einen einige Jahre älteren Jungen aus armer katholischer Familie - eine für die Eltern unakzeptable Verbindung für eine Tochter, die einmal eine gute Partie sein wird. Für die Moralvorstellungen jener Zeit reichlich unrealistisch, treffen die jungen Leute sich regelmäßig. Ralph verkehrt bei Samuels und stellt sich in der Schule sogar als Gudruns Freund vor, der ihre umfangreichen Wissenslücken füllen möchte.

Während Ralph das Glück hat, in Argentinien einen Ausbildungsplatz bei einem befreundeten Unternehmer zu finden und Freundin Margot die Ausreise in die USA gelingt, wird Gudrun in Deutschland aus der Schule ausgeschlossen, ihre Beziehung zu Martin gilt fortan als strafbare Rassenschande. Gudruns Versuch vor den Nazis zu emigrieren, endet nach einigen Umwegen in der Emigration in Shanghai. Aus Gudrun wird Judy, die ihren Bezug zum Sport inzwischen als Physiotherapeutin/damals Krankengymnastin nutzen kann. Jahre nach Kriegsende findet sich Judy in London wieder. Mit dem Wissen, dass Sabine Bode renommierte Autorin von Sachbüchern ist über die Auswirkung des Kriegs- und NS-Traumas auf die folgenden Generationen, ahnt man bald, dass Judy und Margot als Verfolgte des Naziregimes noch lange nicht mit ihrer Vergangenheit abschließen können. Ein langer Weg liegt noch vor den inzwischen 40-jährigen Frauen, die sich als „hilflose Helfer“ beide bisher nur um ihre Patienten gesorgt haben.

Sabine Bodes Roman besteht aus drei Teilen, Gudruns Jugend, die Jahre in Shanghai und die Bearbeitung ihres Traumas. Im ersten Abschnitt konnte ich mich mit Gudrun überhaupt nicht identifizieren, weil sie in der prägenden Zeit der Pubertät keine Entwicklung durchmacht. Ob sie 12 oder 18 ist, macht in ihrer Sicht der Dinge keinen Unterschied. Die Laissez-Faire-Haltung ihrer Eltern gegenüber einer frei herumstreunenden Tochter (!), die sich mit ihrem Freund trifft, finde ich für die damalige Zeit völlig unrealistisch. Zahlreiche Zeitzeugen aus Gudruns Generation, die ich gekannt habe, würden vehement bestreiten, dass Gudruns Verhalten möglich gewesen wäre, ohne dass es in der Familie oder in der Schule gehörig gekracht hätte. Der mittlere Teil wirkt auf mich eher als Dokumentation. Das liegt möglicherweise daran, dass Ursula Krechel das Thema Exil in Shanghai bereits erstklassig recherchiert und umfassend dargestellt hat. Der letzte Teil führt zu Sabine Bodes Herzensthema zurück, der Traumatisierung einer ganzen Generation. Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass Sabine Bode Roman als Genre wenig liegt und sie mit den Mitteln der Reportage bei mir keine Identifikation mit der Hauptfigur erreichen konnte. Hätte ich die Wahl, würde ich immer wieder zu Krechels Shanghai fern von wo greifen.

Bewertung vom 20.03.2017
Erst denken, dann zahlen
Hammond, Claudia

Erst denken, dann zahlen


ausgezeichnet

Geld ist ein faszinierender Gegenstand, mit dem eine Reihe von Emotionen verknüpft ist. Selbst Kinder, die den Geldwert noch nicht kennen, wissen bereits, dass man mit realem Geld umsichtig umgehen sollte. Zunächst dient das Zahlungsmittel als Versprechen, später damit konkrete Gegenstände oder Dienstleistungen kaufen zu können, die wir uns wünschen. Geld hat große Macht über unser Handeln, es zwingt uns zum Handeln. Doch die Motive, die Kaufentscheidungen steuern, sind selten rational. Warum wir uns darüber ärgern, wenn ein Billigflug sich als alles andere als preiswert herausstellt, ist ein Beispiel für die raffinierte Psychologie des Geldes. Geld spricht unser Belohnungssystem an und könnte darum als psychologische Droge definiert werden. Mit dieser Verhaltensökonomik befasst sich Claudia Hammond und zitiert dabei aus insgesamt 263 Studien. - Eine entscheidende Wende im Umgang mit Geld brachte ein Zahlungsversprechen, das durch Zahlung per Bank- oder Kreditkarte abgegeben wird. Welch unterschiedliche Emotionen Barkäufe im Gegensatz zu Kartenkäufen auslösen, darauf geht die Autorin ausführlich ein und gibt am Ende des Buches konkrete Tipps für den Umgang mit Geld. Zuvor geht es um unsere mentale Haushaltsplanung (den psychologischen Geldbeutel), die uns je nach „Fach“, dem wir Geld entnehmen, einen Kauf intuitiv als teuer oder preiswert empfinden lässt. Die zitierten Effekte sind alle ausgiebig erforscht. Teils liegen die zitierten Studien jedoch fast 40 Jahre zurück, was die Frage aufwirft, ob sie auf moderne Märkte mit Onlineshoppen und Online-Bezahlsystemen so einfach übertragbar sind oder ob Erhebungen zu Kaufverhalten von US-Amerikanern überhaupt auf europäische Verhältnisse übertragbar sind.
Gesteuert wird unser Handeln vom Endowment-Effekt, der eigenen Besitz wertvoller wirken lässt als den Marktpreis, den man noch dafür erzielen würde, von Bestätigungsfehlern, die uns annehmen lassen, ein teurer Artikel müsste aufgrund des Preises wertvoller oder wirkungsvoller sein als ein preiswerter Mitbewerber oder vom Kompromiss-Effekt, der uns mit einem Artikel aus dem mittleren Preissegment am zufriedensten sein lässt. Diese Zusammenhänge seinen einfach zu durchschauen und deshalb sei unser Verhalten leicht zu verändern, so Claudia Hammond. - Weiter geht es u. a. um Wirksamkeit von Anreiz-Systemen, die eine Verhaltensänderung bewirken sollen. Der Einfluss von Prämien auf den Schulbesuch bildungsferner Schichten, Bereitschaft zu Impfungen, Blutspenden und das Thema Raucherentwöhnung wurden ausführlich erforscht. Anreiz-Systeme können das Gegenteil bewirken und die vorhandene intrinsische Motivation empfindlich stören. Im Zusammenhang mit Bonuszahlungen an Manager und Banker ist das ein höchst aktuelles Thema. ...
Hammond hat Psychologie studiert und ist eine populäre Kolumnistin und Radioredakteurin. Statt der vielen angerissenen Themen und der Vielzahl bereits bekannter Studienergebnisse hätte mir eine Vertiefung weniger Themen mehr zugesagt. Generell fehlt mir im Buch ein Bezug zu Emotionen von Konsumenten von heute, die zwischen mehr Optionen zu entscheiden haben als nur zwischen Bargeld und Karte. Hammonds Buch wirkt populärwissenschaftlich mit Tendenz zum Boulevardjournalismus. Dieser Eindruck entsteht durch umgangssprachliche Ausdrücke (ganz schön, total = sehr), die m. A. die Stilebene eines Sachbuchs verlassen.

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