BenutzerTop-Rezensenten Übersicht
Bewertungen
Insgesamt 612 BewertungenBewertung vom 22.04.2017 | ||
![]() |
Caren schreibt als Journalistin für den britischen „The Independent“ und ist auf dem Weg zu einer Reportage über die Terroranschläge von Paris. Am Flughafen Heathrow verzögert sich zuerst ihr Abflug, dann wird das Gate zum Flug nach Paris mit allen Passagieren abgeriegelt. Caren hat bereits die Terroranschläge von New York und Boston durch außergewöhnliche Zufälle überlebt. Man könnte vermuten, dass sie die Zuwendung ihrer Schutzengel endgültig verbraucht hätte und kein drittes Mal davon kommen würde. Anzeichen einer unbehandelten Angststörung begleiten sie seit den damaligen Ereignissen. Der Eindruck verstärkt sich, dass Caren in der Gegenwart erst mit Verzögerung wegen der Anschläge aus der Bahn geworfen werden könnte, denen sie nur knapp entging. Während offizielle Stellungnahmen nur Allgemeinplätze zur Situation in Heathrow von sich geben, entwickelt sich ein Gespräch zwischen Caren und einem älteren Mann, den sie wegen seiner Reiselektüre spaßhaft Wittgenstein nennt. Der Unbekannte befasst sich mit Zufällen, sinnt nach über das Erzählen von Geschichten und was sich wohl auf der Rückseite von Geschichten verbergen könnte. Im klassischen Szenario einer Begegnung Fremder, die sich nie wieder sehen werden, entwickelt sich eine unerwartete Dynamik. Caren muss sich plötzlich damit auseinandersetzen, dass Menschen nicht das sind, was wir gern in ihnen sehen möchten. |
|
Bewertung vom 22.04.2017 | ||
![]() |
In Frau Höppners Deutschunterricht trifft das reale Leben in Form eines Grillenzirpens auf „Die Grille und die Ameise“ als Aufsatzthema. Erik reagiert beschwingt auf das sommerliche Aufsatzthema, passt dessen Leichtigkeit doch perfekt zu seinem Selbstbild als Frauenversteher. Erik wirkt wie der klassische Held eines Coming-of-Age-Romans, der noch nicht weiß, ob er sich im richtigen Körper befindet und was überhaupt von ihm erwartet wird. Von neun Schülern einer elften Klasse berichtet John von Düffel; über Stanko, dessen Eltern vor dem Jugoslawienkrieg flüchteten, Emily, der eloquenten Jahrgangssprecherin im Kampf gegen das Schul-Catering-Unternehmen, Beatrice, der eine Essstörung unterstellt wird, und Annika, die bisher verbergen konnte, dass sich zuhause niemand um sie und ihren Bruder kümmert. Nachdem alle Figuren aufgetreten sind, scheint es, als würde es im Buch mehr Identitäten als Personen geben. Lenny (Lennart) jongliert in seiner eigenen Gamer-Welt mit verschiedenen Leben und schreibt sein persönliches Skript ins Handy – bei ihm wunderte es nicht, wenn auch sein Avatar mit am Esstisch sitzen würde. Wenn im Internet virtuelle Identitäten geschaffen, Profile gestohlen, umgearbeitet und von anderen benutzt werden können, muss die Zahl der Identitäten offen bleiben und vermutlich auch, wer real und wer virtuell erzeugt ist. Alle Schüler haben offenbar ein besonders inniges Verhältnis zu Frau Höppner. Eine Weile habe ich angenommen, dass es sich um eine Förderklasse problematischer Jugendlicher handeln könnte. Meine Vermutung, warum Frau Höppner mitten im Schuljahr überraschend von einem anderen Lehrer abgelöst wird, musste ich mehrmals neu ein-norden. Bis dahin ging es u. a. um Perspektivwechsel, den Frau Höppner offensichtlich besser beherrschte als der neue Lehrer Herr Tretner. Von ihr kann ich mir jedenfalls vorstellen, dass sie akzeptiert, wie ein Gamer Aufsätze schreibt oder ein begabter Comic-Zeichner wie Stanko. Der arme Herr Tretner muss einem geradezu leidtun, weil er nur eine Form von Realität wahrnehmen kann. In Eriks Klasse gibt es jedoch eigene, fremde, gemeinsame, virtuelle und gestohlene Formen von Realität – mindestens. Die einzelnen Stories verselbstständigen sich, beginnen ein Eigenleben zu führen. Nicht alle Schüler kann John von Düffel seinen Lesern gleichwertig nahebringen. |
|
Bewertung vom 08.04.2017 | ||
![]() |
Die Geschichte der Bienen / Klima Quartett Bd.1 Die Landarbeiterin Tao aus China, der Naturwissenschaftler William aus England und der amerikanische Bienenzüchter George sind die Hauptfiguren in Maja Lundes Roman, der auf drei Kontinenten und in drei Epochen spielt. Im China des Jahres 2098 sind durch den Klimawandel, Pestizide und Monokultur längst die Lebensbedingungen für Bienen zerstört. Darum müssen Landarbeiterinnen alle Obstbäume von Hand bestäuben. Bildung ist überflüssig geworden, weil in Taos postapokalyptischer Welt nur geschickte, gehorsame Landarbeiter benötigt werden. Fleisch kann nicht mehr erzeugt werden, weil es nicht zu schaffen ist, die Futterpflanzen auch von Hand zu bestäuben. Tao will sich mit den Verhältnissen nicht abfinden und erhofft sich für ihren kleinen Sohn Wei-Wen ein besseres Leben. Als Wei-Wen plötzlich erkrankt und vom System in aller Heimlichkeit fortgebracht wird, wächst Tao auf der Suche nach ihrem Kind über sich hinaus. |
|
Bewertung vom 26.03.2017 | ||
![]() |
Der alte Mann nimmt seine Kindheitserinnerungen mit einem Tonbandgerät auf. Die Erinnerungen umfassen die Zeit von der Einschulung bis zum ersten Studienjahr des Romanistikstudiums in Istanbul. Er lebt einsam in Istanbul mit Blick auf den Bosporus; seine Frau hält sich schon länger im Ausland auf. Der Icherzähler nähert sich jeden Tag ein Stückchen weiter dem Tod, fühlt, dass er bald sterben wird. Vermutlich durch Auswirkungen einer frühen Demenzerkrankung wird er in Gedanken wieder zum Kind, fühlt sich seiner Mutter näher als zuvor. Seine Mutter starb, als er 6 Jahre alt war, und lange hat man ihm verheimlicht, dass sie sich das Leben genommen hat. Eine Frau, die keine Spur hinterließ, die keine Familie hatte und vom Vater direkt aus dem Waisenhaus geheiratet wurde. Durch eine unbedachte Bemerkung seines Rektors glaubt der Junge lange, er sei Schuld am Tod der Mutter, hätte ihr das Leben genommen, weil er selbst weiterlebt. - ... Zum Ende der Grundschulzeit kommt der Junge ins Internat eines angesehenen französischsprachigen Gymnasiums in Istanbul. Der Vater entledigt sich förmlich seines Sohnes. Überlässt ihn der Institution und einer traditionellen Drangsalierung und Erniedrigung durch ältere Schüler, von der gern behauptet wird, sie hätte der Generation zuvor nicht geschadet. Über Besuche, Briefe, auch nur das geringste Interesse an seinem einzigen Kind erfährt man nichts. Nach Istanbul wird später Paris Fluchtpunkt des Mannes. - Der Erzähler hat eine Mission. Erstaunlich, dass er so genau trennen kann, was sein kindliches Erleben war und was er aus heutiger Sicht beurteilt. Er will unbedingt, dass jüngere Zuhörer seine Auseinandersetzung mit dem leiblichen Vater verstehen werden. Unverblümt richtet sie sich auch an seinen Staat und den Staatspräsidenten, der sich anmaßt, seinen Bürgern wie ein Vater Anweisungen geben zu können. Sein Erzählfluss mäandert in orientalischer Erzähltradition zu patriotischen Liedern, Gedichten oder bildhaften Spitznamen. Schon früh lernt der Junge, dass Anspielungen hinter Wortbedeutungen verschiedener Sprachen versteckt werden können. Die Grenzen dessen, was sich gehört, überschreitet der Sprecher einige Male, wenn er sein Hühnchen mit persönlichen Gegnern rupft. Mit der abnehmenden geistigen Leistungsfähigkeit ist es evtl. nicht so schlimm wie befürchtet. Vielleicht meint der alte Herr, dass er aufgrund seiner Krankheit keine Rücksichten mehr darauf nehmen muss, was politisch gerade opportun ist. - Nedim Gürsel ist 1951 geboren; seine Erzählerfigur gehört seiner eigenen Generation an. Die Ereignisse der frühen Kindheit enden mit der Beteiligung des Vaters am Militärputsch von 1960. Sehr direkt setzt sich der türkische Autor mit der brisanten Frage auseinander, wie ein Land seine Kinder erzieht und wie besonders die Söhne später ihre Kinder erziehen werden. Über sonderbare Rollenbilder muss sich niemand wundern, der diesem Aufwachsen in Institutionen mit strenger Geschlechtertrennung gefolgt ist. Wer sich für die kindliche Entwicklung und die Sozialisierung von Männern interessiert, wird hier fündig. Gürsel beantwortet manche Frage, die man sich zur aktuellen Situation in der Türkei stellen könnte. Die Antworten sind für Leser außerhalb der Türkei im Koordinatensystem von Fakten und Fiktion nicht einfach einzuordnen; sie sind sehr persönlich, direkt und verstörend. |
|
Bewertung vom 26.03.2017 | ||
![]() |
Philipp kam mit einem Werkvertrag des Nationalmuseums auf die Faröer Inseln, um ein Chorgestühl zu restaurieren. Irgendwie blieb er auf Streymoy hängen und lebt nun mit der Ärztin Johanna und ihrer kleinen Tochter zusammen. Zunächst ist unklar, was der Icherzähler auf der Insel genau tut; denn die Hausarbeit übernimmt Johanna. Philipp wirkt fremd dort, ich hatte den Eindruck, dass ich ihm besser nicht trauen sollte. Während Johanna arbeitet, betreut Philipp die kleine Rannvá, ein phantasievolles, genügsames Kind. Rannvá scheint nichts zu benötigen, um sich zu beschäftigen. So wird aus Moosflecken auf Steinen eine Landkarte, über der Mann und Kind sinnieren, wie es anderswo sein könnte. Philipp passt sich Rannvás Interessen an, sie kann in ihrem Tempo die Welt in sich aufnehmen. 1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich. |
|
Bewertung vom 26.03.2017 | ||
![]() |
Der Asteroid ist noch das kleinste Problem Yuri trägt einen Anzug, Oberhemd und schwarze Schuhe. Er ist weder der Azubi noch eine Servicekraft in der Kantine. Mit 17 ist der junge Russe bereits promovierter Physiker. Doch jemandem mit dem Bartwuchs eines 14-Jährigen nimmt das bei der amerikanischen Raumfahrtbehörde niemand ab. Yuri ist als Experte zu Hilfe gerufen worden, um die Erde vor dem Zusammenstoß mit einem riesigen Asteroiden zu retten, der sich direkt auf Nordamerika zu bewegt und vermutlich einen Tsunami auslösen wird. Gemeinsam mit einem Spezialisten-Team soll Yuri die Flugbahn des Asteroiden exakt berechnen, damit er rechtzeitig abgeschossen werden kann. Die Kollegen sind dreimal so alt wie Yuri und in ihrem Denken nicht gerade flexibel. Dafür ist Yuri überzeugt davon, dass er exzellente Chancen hat, für seine Arbeiten über Antimaterie einmal den Nobelpreis zu erhalten. Doch als Luna Collum in Yuris Leben auftaucht, stellt sich ein unerwartetes Problem: Was wird mit dem Asteroiden passieren, wenn Yuri urplötzlich seine verlorene Kindheit nachzuholen beginnt und gemeinsam mit Luna so richtig versackt? Yuri muss sich entscheiden, ob er die Welt retten will, die Liebe entdecken oder vielleicht doch lieber seine Arbeit in Russland aus den gierigen Fingern seines unfähigen Kollegen retten, ehe der alle Verdienste für sich beansprucht. Der Countdown läuft. Noch 17 Tage, noch 11 Tage … Und dann setzen sich die NASA-Kollegen zu allem Überfluss in den Kopf, als Russe wäre Yuri ein Sicherheitsrisiko. |
|
Bewertung vom 26.03.2017 | ||
![]() |
Zu Beginn der Fastenzeit hatte ich mich gefragt, ob es nicht höchste Zeit wäre, statt Autofasten oder Handyfasten einmal bewusst sorgfältiger mit Sprache umzugehen. In den unterschiedlichsten Medien schien das Ende jeglicher Gesprächskultur eingeläutet worden zu sein. Vermutungen wurden zunehmend als Tatsachen verbreitet, Diskussionspartner persönlich diskreditiert. Schließlich brachte mich die um sich greifende manipulative Verpackung von Provokationen und Unterstellungen in Frageform auf die Palme, vom Fragesteller anschließend damit verharmlost, er/sie hätte ja nur eine Frage gestellt und wäre demnach völlig unschuldig an der folgenden Entgleisung der Diskussion. In dieser Ausgangssituation erhoffte ich mir Aufklärung von Daniel-Pascal Zorn, was genau in "Diskussionen" abläuft. |
|
Bewertung vom 20.03.2017 | ||
![]() |
Wenn das Eis bricht / Profilerin Hanne Bd.1 Im Haus des wohlhabenden Textilkaufmanns Jesper Orre wird kurz vor Weihnachten die übel zugerichtete Leiche einer Frau gefunden. Für die Ermittler stellt sich die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen dem Mord und einer kürzlichen Brandstiftung auf Orres Grundstück besteht und wer die Tote überhaupt ist. Erzählt wird der übertrieben gehypte Roman von drei Icherzählern: dem Kriminalbeamten Peter Lindgren, Orres Angestellter Emma Bohmann und Hanne Lagerlind, einer Profilerin, die früher einmal mit Lindgrens Abteilung zusammengearbeitet hat. Während die Ermittlungen am Tatort zunächst in den Hintergrund treten, erzählt Emma in mehreren Schritten in Form von Rückblenden aus ihrem Leben. In schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen, hat sie die Schule abgebrochen und arbeitet nun als Textilverkäuferin in einem von Orres Läden. Der Textilkönig hat wegen seiner Frauengeschichten einen schlechten Ruf und ist zudem wegen der Arbeitsbedingungen in seinen Läden ins Kreuzfeuer der Presse geraten. Seit kurzem hat Emma eine Beziehung mit Jesper, die allerdings anders verläuft, als Emma sich das vorgestellt hat. |
|
Bewertung vom 20.03.2017 | ||
![]() |
Wilhelm Samuel, Besitzer einer Kette von Schuhgeschäften, ist in erster Linie Deutscher und Patriot; dass er als Nachkomme polnischer Schtetl-Juden auch Jude ist, empfindet er eher als Zufall. Orthodoxes Judentum ist ihm peinlich und dennoch zieht die Mainzer Familie privat eine feine Linie und ist hauptsächlich mit Juden befreundet. Anders als in Berlin muss es in den 30ern des vorigen Jahrhunderts in Mainz weniger oder weniger öffentlich sichtbare Juden gegeben haben. Gudrun Samuel (* 1920/21) interessiert sich als Kind nur für Sport und würde am liebsten Akrobatin werden. Mit 12 schwimmt sie als geübte Schwimmerin im Fluss und macht sich einen Spaß daraus, sich im Strom an Schleppkähnen hochzuziehen und ein Stück mitnehmen zu lassen. Wie auch die Persönlichkeit ihres älteren Bruders Ralph weicht Gudruns für die damalige Zeit höchst eigenwillige Entwicklung weit von den Träumen ab, die ihre bürgerlichen Eltern für ihre Kinder hatten. Mit 13 raucht Gudrun regelmäßig und verliebt sich in Martin, einen einige Jahre älteren Jungen aus armer katholischer Familie - eine für die Eltern unakzeptable Verbindung für eine Tochter, die einmal eine gute Partie sein wird. Für die Moralvorstellungen jener Zeit reichlich unrealistisch, treffen die jungen Leute sich regelmäßig. Ralph verkehrt bei Samuels und stellt sich in der Schule sogar als Gudruns Freund vor, der ihre umfangreichen Wissenslücken füllen möchte. |
|
Bewertung vom 20.03.2017 | ||
![]() |
Geld ist ein faszinierender Gegenstand, mit dem eine Reihe von Emotionen verknüpft ist. Selbst Kinder, die den Geldwert noch nicht kennen, wissen bereits, dass man mit realem Geld umsichtig umgehen sollte. Zunächst dient das Zahlungsmittel als Versprechen, später damit konkrete Gegenstände oder Dienstleistungen kaufen zu können, die wir uns wünschen. Geld hat große Macht über unser Handeln, es zwingt uns zum Handeln. Doch die Motive, die Kaufentscheidungen steuern, sind selten rational. Warum wir uns darüber ärgern, wenn ein Billigflug sich als alles andere als preiswert herausstellt, ist ein Beispiel für die raffinierte Psychologie des Geldes. Geld spricht unser Belohnungssystem an und könnte darum als psychologische Droge definiert werden. Mit dieser Verhaltensökonomik befasst sich Claudia Hammond und zitiert dabei aus insgesamt 263 Studien. - Eine entscheidende Wende im Umgang mit Geld brachte ein Zahlungsversprechen, das durch Zahlung per Bank- oder Kreditkarte abgegeben wird. Welch unterschiedliche Emotionen Barkäufe im Gegensatz zu Kartenkäufen auslösen, darauf geht die Autorin ausführlich ein und gibt am Ende des Buches konkrete Tipps für den Umgang mit Geld. Zuvor geht es um unsere mentale Haushaltsplanung (den psychologischen Geldbeutel), die uns je nach „Fach“, dem wir Geld entnehmen, einen Kauf intuitiv als teuer oder preiswert empfinden lässt. Die zitierten Effekte sind alle ausgiebig erforscht. Teils liegen die zitierten Studien jedoch fast 40 Jahre zurück, was die Frage aufwirft, ob sie auf moderne Märkte mit Onlineshoppen und Online-Bezahlsystemen so einfach übertragbar sind oder ob Erhebungen zu Kaufverhalten von US-Amerikanern überhaupt auf europäische Verhältnisse übertragbar sind. 1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich. |
|