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sleepwalker

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Insgesamt 467 Bewertungen
Bewertung vom 13.02.2023
Als die Welt zerbrach
Boyne, John

Als die Welt zerbrach


ausgezeichnet

Vor einigen Jahren habe ich John Boynes „Der Junge im gestreiften Pyjama“ gelesen. Jetzt erschien mit „Als die Welt zerbrach“ eine Art Fortsetzung, die ich als Hörbuch gehört habe. Für mich ein Werk, das mich zwiegespalten zurücklässt. Einerseits finde ich das Thema Schuld/Schuldgefühl sehr gut bearbeitet, andererseits ist der Schluss ein Paukenschlag, der für mich vieles ad absurdum führt.
Aber von vorn. Gretel Fernsby ist eine äußerst rüstige Dame über 90, verwitwet, hat einen über 60jährigen Sohn und mehrere Ex-Schwiegertöchter. In direkter Nähe zum Hyde Park lebt sie ein beschauliches Leben in finanzieller Sicherheit, ihre Tage drehen sich um Spaziergänge, Bücher und ihre leicht demente Nachbarin Heidi. Nachdem der Nachbar in der Wohnung unter ihr verstirbt, zieht eine Familie mit elfjährigem Sohn ein. Gretel freundet sich mit Henry an und nimmt ihm gegenüber eine Art Großmutter-Rolle an. Seine Mutter Madelyn, eine sehr hübsche ehemalige Schauspielerin scheint in ihrer Ehe mit dem Filmproduzenten Alex nicht glücklich zu sein und auch Henry ist kein unbeschwertes Kind. Bei Gretel schrillen Alarmglocken, spätestens, als sie bei dem Jungen erst einen gebrochenen Arm und später blaue Flecke sieht.
Soweit könnte das Buch ein Krimi sein. Oder ein Familiendrama. Aber weit gefehlt. Denn Gretel lebt mit einem dunklen Geheimnis. Gretel – die war sie schon immer gewesen. Der Rest ihrer Vita ist allerdings eine Lüge, ihren Mädchennamen und ihren Lebenslauf hat sie sich ausgedacht. Ihr Vater war seinerzeit Kommandant in Auschwitz gewesen, die Familie hatte in unmittelbarer Nähe zum Lager gelebt (wer „Der Junge im gestreiften Pyjama“ kennt, weiß das). Gretel blickt auf ihr Leben zurück. In Gedanken durchlebt sie die Zeit der Flucht vor den Alliierten und ihr gemeinsames Leben mit ihrer Mutter in Frankreich. Sie denkt an ihren Umzug nach Australien, wo sie ausgerechnet auf Kurt, ihren Jugendschwarm und grausamen Nazi traf. In England fasste sie schließlich Fuß, traf ihren Ehemann und wurde Mutter. Und damit treffen die beiden Erzählstränge aufeinander. Denn das Zusammentreffen Gretels mit Henry, der sie so sehr an ihren im Konzentrationslager verschwundenen Bruder Bruno erinnert, weckt bei ihr die alten Erinnerungen und stellt ihr Leben auf den Kopf. So gerne hätte sie das alles, was vor über 70 Jahren passiert war, vergessen. Oder es weiterhin verdrängt und so getan, als würde sie das alles nicht betreffen.
Aber das gelingt ihr nicht mehr. Und dem Autor gelingt ein Buch über Schuld und Schuldgefühle, Verdrängen und Vergessen und ob man manche Verbrechen jemals vergeben können sollte. Und er zwingt sein Publikum zum Nachdenken. Denn nichts an der Geschichte ist einfach – so sehr Gretel sich das auch wünschen würde. Ob sie zu menschlich und ihre Rolle im Holocaust zu harmlos dargestellt werden? Ich kann es nicht sagen. Was ich aber sagen kann, ist, dass es ein Buch ist, das lange und heftig nachhallt und das man, wie auch „Der Junge im gestreiften Pyjama“ oft nur schwer ertragen kann. Zu präsent sind (zumindest bei mir) auch die Gedanken an die eigenen Großeltern, die etwa in Gretels Alter wären und auch die Frage, wie ich selbst an ihrer oder Gretels Stelle gehandelt hätte. Ein schwieriges Buch, das einem viel abverlangt. Der Schluss ist allerdings für mich zwar eine Mischung aus an den Haaren herbeigezogen und Paukenschlag (näher kann ich aus Spoiler-Gründen nicht darauf eingehen), aber er ist stimmig. Elisabeth Günther liest das Buch hervorragend, einfühlsam und gekonnt fängt sie die alte Dame aus 2022 genauso ein wie die junge Frau um 1950.
Mich hat das Buch auf jeden Fall tief berührt. So viel abgrundtief Böses und so schreckliche Geheimnisse hinter harmlosen Fassaden – das alles hat mich sehr nachdenklich gemacht. Ich vergebe fünf Sterne.

Bewertung vom 13.02.2023
Brecht und die Frauen
Hörner, Unda

Brecht und die Frauen


ausgezeichnet

Bert Brecht und ich, das ist eine eher spezielle Geschichte, die mit einem verkorksten Deutsch Leistungskurs endete. Aber „Brecht und die Frauen“ von Unda Hörner hat ihn mir nähergebracht, wobei ich sagen muss, dass er mir nicht übermäßig sympathisch wurde. 2023 wäre der Schriftsteller 125 Jahre alt geworden und in diesem Buch stehen die Frauen in seinem Leben (und davon gab es zahlreiche) im Mittelpunkt. Frauen, ohne die er ganz sicher nicht der geworden wäre, der er war, oder wie die Autorin es ausdrückt: „Der Anteil all dieser Frauen an Brechts Lebenswerk ist kaum zu überschätzen.“

Aber von vorn.
Eugen Berthold Friedrich Brecht war eigentlich rein optisch kein Frauentyp, ich denke, so viel kann man getrost sagen. Und dennoch hatte er eine anziehende Wirkung auf das weibliche Geschlecht. So war er zwar nur zweimal verheiratet (mit Marianne Zoff und mit Helene Weigel), aber er fuhr beziehungstechnisch meist mehrgleisig, schwängerte mal die eine, mal die andere – mehrere Kinder entstanden, es gab aber auch Fehlgeburten und Abtreibungen. Brecht will keine der Frauen aufgeben und wenn schon heiraten, dann am liebsten alle. Eine bürgerliche Konvention wie Monogamie lehnte er offenbar ab („Polygamie in der Beziehung ist für sie kein Grund zur Aufregung“ – das erwartete er offenbar auch von den Frauen). Die Frauen spielten das Spiel mit. Dabei waren sie keine farblosen Mäuschen und Heimchen am Herd. Einzig seine Jugendliebe Paula Banholzer, genannt Bi, ergriff den bürgerlichen Beruf der Erzieherin. Die anderen Damen in Brechts Leben kamen aus der Künstlerszene: Helene Weigel, Marianne Zoff und Ruth Berlau waren bekannte Schauspielerinnen, Elisabeth Hauptmann und Margarete Steffin Schriftstellerinnen. Viele von Brechts Werken wären ohne die Frauen in seinem Leben inhaltlich und technisch gar nicht möglich gewesen.
Sie waren ihm Musen und hielten ihm den Rücken frei, organisierten seinen Schreibkram, seine Notizen und sein Leben. Vermutlich wäre auch sein Leben im Exil (er ging erst in die Schweiz, dann nach Dänemark, Schweden und Finnland und zuletzt in die USA) nicht so möglich gewesen, hätten sie es ihm nicht möglich gemacht. Und sie nahmen es hin, für ihn nie DIE Einzige zu sein, selbst neben den im Buch erwähnten Damen gab es sicher noch weitere Liebschaften in Brechts Leben.

Eingeordnet in das allgemeine Zeitgeschehen schreibt Unda Hörner also über Vielecksbeziehungen im Hause Brecht, niemals wertend, immer biografisch-neutral. Wie man als Leser:in dieses Leben finden mag, sei jedem selbst überlassen. Ich fand es interessant, wie dieser „spindeldürre kleine Mann“ so einen Erfolg bei den Damen haben konnte und wie devot diese sich teilweise seinen Lebensvorstellungen unterwarfen. Nur durch sie konnte er das Leben des Lebemannes führen und sie waren diejenigen, die seinen Erfolg erst möglich machten. Alles in allem für mich ein interessantes und informatives Buch, sprachlich ansprechend geschrieben und sehr gut zu lesen. Von mir daher fünf Sterne.

Bewertung vom 23.01.2023
Der Mondmann - Blutiges Eis (eBook, ePUB)
Haskin, Fynn

Der Mondmann - Blutiges Eis (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ausgerechnet nach Grönland wird der dänische Profiler Jens Lerby in Fynn Haskins Thriller „Der Mondmann – Blutiges Eis“ strafversetzt. Er, der Eis und Schnee hasst, landet in der eisigen und schneebedeckten Einöde der (fiktiven) Gemeinde Illokarfiq. Das Setting allein hat ja schon enormes Potenzial. Und die drei Morde, in denen er ermitteln soll, bringen nicht nur Spannung mit sich, sondern auch eine Menge Informationen über Leben und vor allem Traditionen und Glauben der Inuit. Und diese Kombination ist es, die das Buch für mich zwar nicht einzigartig, aber dennoch sehr besonders macht.
Aber von vorn.
Drei Tote werden in einem verlassenen Wohncontainer gefunden, getötet durch Perforation mit „einem konisch geformten Gegenstand von etwa vierzig Zentimetern Länge und wenigstens fünf Zentimetern Durchmesser.“ Unter den Einheimischen verbreitet sich schnell das Gerücht, ein Amarok sei der Täter. Fallanalytiker Lerby weigert sich allerdings, dieses mythische Mischwesen aus Walross und Wolf als Täter zu sehen und beginnt seine Ermittlungen in der Gemeinde an der Südostküste der Insel. Er lehnt Grönland und die Einheimischen mindestens genauso sehr ab, wie diese ihn und hat es daher schwer, Unterstützung bei seiner Arbeit zu finden. Die junge Ethnologin Pally, die Enkelin des örtlichen Schamanen, ist eine der wenigen, die ihm freundlich gegenüberstehen und hilft ihm, die Sitten und Gebräuche besser zu verstehen. Und nach und nach wird allen klar, dass sich hinter dem mystischen Wesen kein Dämon verbirgt, sondern ein Killer aus Fleisch und Blut. Aber da ist es auch schon fast zu spät.
„Der Mondmann“ ist nicht mein erster Grönland-Thriller (wer Thriller dieser Art mag, dem seien an dieser Stelle auch die Bücher von Mads Peder Nordbo ans Herz gelegt), aber er kann auf jeden Fall mit den anderen problemlos mithalten. Klar, der Autor hat das Rad nicht neu erfunden. Die Geschichte wurde so oder so ähnlich schon oft erzählt, aber das macht nichts, denn Fynn Haskin versteht sein Handwerk hervorragend und schaffte es schnell, mich zu fesseln. Die Spannung braucht zwar eine Weile, bis sie sich aufbaut, aber erstmal in Fahrt gekommen, ist der Spannungsbogen sehr hoch. Der Schreibstil ist locker und flüssig zu lesen, weshalb ich das Buch praktisch in einem Rutsch durchgelesen habe.
Die Charaktere, die Fynn Haskin seiner Leserschaft serviert, sind gut ausgearbeitet. Auf der einen Seite ist der unangepasste, unbequeme und raue Ermittler, mit 50 Jahren mitten in der Midlife-Crisis mit Eheproblemen und einer tiefsitzenden Abneigung gegen Eis und Kälte (er mag nicht mal Eis im alkoholischen Getränk). Auf der anderen Seite sind die frisch verlassene junge Ethnologin Pally und, vor allem, der herrische und traditionelle Schamane. Ich hatte von allen direkt ein Bild vor Augen. Aber wirklich gepackt hat mich die Beschreibung des Settings. Die Landschaft ist so dicht und atmosphärisch geschildert, dass man die Kälte fast körperlich fühlen kann. Und auch der Klimawandel und die Einheimischen und die Probleme, die ihnen die Kolonialisierung durch Dänemark gebracht hat, kommen nicht zu kurz. Angesprochen werden sowohl die hohen Selbstmordraten und die vielen Menschen mit Alkoholproblemen, viele kämpfen also mit ganz anderen, sehr viel realeren Dämonen, als einem Tupilaq oder Amarok. Aber die grönländische Mythologie, der Glaube der Ureinwohner und der Versuch, wieder eine eigene Identität zu finden, sind sehr spannende Themen, die Fynn Haskins Buch für einen Thriller sehr gut und sensibel beschreibt.
Alles in allem war „Der Mondmann – Blutiges Eis“ ein hochspannender Thriller, der so viele Nebenthemen anpackt, dass die Ermittlungen fast zur Nebensache wurden und der Schluss für mich vorhersehbar und fast Beiwerk war. Aber ich habe das Buch praktisch verschlungen und hoffe vom Autor auf weitere Bücher dieser Art. Von mir eine klare Lese-Empfehlung und fünf Sterne.

Bewertung vom 16.01.2023
Was wir verbergen / River Delta Bd.2
Tuominen, Arttu

Was wir verbergen / River Delta Bd.2


ausgezeichnet

Nach „Was wir verschweigen“ ist „Was wir verbergen“ der zweite Teil der Delta-Reihe des finnischen Autors Arttu Tuominen. Das Buch behandelt mit einem homophob motivierten Anschlag auf einen Nachtclub ein völlig anderes Thema (Band 1 handelte von einem Mord aus Rache), ist aber nicht minder spannend und auch in diesem Teil kommt die psychologische Komponente nicht zu kurz. Man kann das Buch lesen, ohne den ersten Teil zu kennen. Aber warum sollte man? Sie sind beide echte Pageturner.
Aber von vorn.
Im Club „Venus“, einem bei Homosexuellen beliebten Nachtclub explodieren zwei Handgranaten. Fünf Menschen sterben, viele werden teils schwer verletzt. Ein Bekennervideo zeigt einen selbsternannten „Gesandten“, der für die Tat religiöse Motive angibt. Kommissar Henrik Oksman von der Kripo in Pori übernimmt zusammen mit seinen Kollegen die Ermittlungen und bringt sich in eine Bredouille: er war selbst kurz vor dem Anschlag in dem Club. Da er aber ungeoutet lebt, darf davon niemand wissen, zumal er mit blonder Perücke und einem roten Kleid dort war. Die Ermittlungen führen ihn und die Kollegen in verschiedene Richtungen, zumal die Granaten aus dem Bestand der finnischen Armee stammen. In den Fokus rückt schnell die Neonazi-Organisation White Order deren Mitglieder den Anschlag feiern („Ich kann tatsächlich nicht behaupten, dass es mich besonders mitnimmt, wenn ein paar Schw***teln abkratzen. Ehrlich gesagt hat mich seit Langem nichts so gefreut.“). Der Anschlag spaltet die Bevölkerung in diejenigen, die ihn verurteilen auf solche, die ihn gutheißen, ja sogar befürworten. Und als dann noch ein Vater und sein Sohn als vermisst gemeldet werden, die die Zeitschriften der Zeugen Jehovas verteilen wollten, in deren aktuellen Ausgaben lange Artikel über Homosexualität enthalten sind, sieht Oksman als einziger einen möglichen Zusammenhang. Langsam läuft den Ermittlern die Zeit davon.
Wie gesagt, das Buch hat mich gefesselt und ich habe es innerhalb kürzester Zeit durchgelesen, mit der traurigen Erkenntnis am Schluss, dass ich nun eine ganze Weile auf die Fortsetzung warten muss. Sei’s drum. Sprachlich topp, Übersetzung gelungen. Konzeptionell hervorragend und rasant spannend. Die beiden Erzählebenen beinhalten sowohl die Ermittlungen als auch die Perspektive des „Gesandten“, in Gegenwart und in Vergangenheit. Man lernt ihn besser kennen und erkennt die Motive hinter seiner Tat, erfährt aber erst am Schluss, wer er ist. Die Charaktere (dieses Mal steht mit Henrik Oksman ein anderer Polizeibeamter im Mittelpunkt als in Teil 1) sind sauber ausgearbeitet, ebenso das Setting in der eigentlich ruhigen Hafenstadt, die plötzlich von einer Welle aus Gewalt und Gegengewalt überrollt wird. Wie schon in „Was wir verschweigen“ gelingt es Arttu Tuominen nicht nur, einen packenden Krimi zu konstruieren, er schafft es auch, ein aktuelles Thema darin so zu verarbeiten, dass es ein politischer Krimi wird, ohne zu politisieren. Er nimmt auch die Gesellschaft unter die Lupe: die Frömmler, die Neonazis und die aus anderen Gründen Homophoben. Am Beispiel von Pfarrer Mikael Fredriksson zeigt er, dass nicht alle Pfarrer Homosexualität verurteilen. Außerdem legt er ein Augenmerk auf die Scheinheiligkeit derer, die sich auf die Bibelstelle „Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel“ beziehen, denen aber „du sollst nicht töten“ egal ist. Während Hendrik Oksmans Doppelleben (ob er nun Crossdresser oder Transvestit ist, wird nicht aufgeklärt) ein essenzieller Teil der Handlung ist, sind Ausflüge in Jari Paloviitas Privatleben eher Verschnaufpausen fürs Publikum.
Vielleicht bin ich als ebenso wie Hendrik Oksman Betroffener voreingenommen. Mich hat das Buch tief ins Herz getroffen und es wird noch lange nachhallen. Was Erziehung, Fanatismus und Hass anrichten können, ist erschreckend und mir „ein Gräuel“. Das Buch ist für mich ein echtes Highlight und eine klare Lese-Empfehlung. Fünf Sterne.

Bewertung vom 16.01.2023
Kuckuckskinder / Erica Falck & Patrik Hedström Bd.11
Läckberg, Camilla

Kuckuckskinder / Erica Falck & Patrik Hedström Bd.11


sehr gut

Interfamiliäres Drama kostet auch noch Jahrzehnte später die Leben Unschuldiger. So würde ich Camilla Läckbergs neues, lange erwartetes Buch „Kuckuckskinder“ kurz zusammenfassen. Fünf Jahre nach „Die Eishexe“ hat sie den elften Teil ihrer Fjällbacka-Serie um Autorin Erica Falck und ihren Mann, den Polizisten Patrik Hedström, vorgelegt. Obwohl ich ein großer Fan der Serie bin, muss ich sagen, dass mich das Buch etwas zwiegespalten zurücklässt. Es ist wie eine Achterbahnfahrt mit (zu) langen flachen Passagen, die gegen Ende rasant spannend wird.
Aber von vorn.
In Fjällbacka laden Henning Bauer und seine Frau Elisabeth zur Feier ihrer goldenen Hochzeit ein. Ein rauschendes Fest mit viel Alkohol und Tanz – das Paar ist ja nicht irgendwer. Henning ist ein berühmter Autor und als möglicher Literaturnobelpreisträger im Gespräch und Elisabeth ist eine erfolgreiche Verlegerin. Noch während die Gesellschaft feiert, wird in der Stadt ein Freund des Paares, der Fotograf Rolf Stenklo, in seiner Galerie ermordet. Er war dabei, eine Ausstellung vorzubereiten, die eine Reise in die Vergangenheit darstellen sollte. Während Patrik und seine Kollegen in dem Mordfall ermitteln, stößt Erica auf einen mysteriösen Todesfall in Rolf Stenklos Vergangenheit und stellt ihre eigenen Recherchen für ein neues Buch an. „Lola“ ist der Name, der immer wieder auftaucht, eine trans Frau und Mutter, die 1980 zu Tode kam. Während sie erschossen wurde, kam ihre sechsjährige Tochter Julia, genannt Pytte, bei einem Feuer in der Wohnung ums Leben. Wie Lola und Rolf, aber auch Henning und Elisabeth zusammengehören, ist für Erica lange ein Rätsel. Während sie entwirrt, wie die Fäden bei „Blanche“, einem elitären „Kulturverein“ zusammenlaufen, passieren in Fjällbacka weitere schreckliche Morde und Patrik stößt an seine Grenzen.
Die Idee hinter dem Buch ist gut, sprachlich ist es (bis auf einen ärgerlichen Rechtschreibfehler auf der letzten Seite) ebenfalls gut und sehr leicht zu lesen. Der Spannungsbogen verläuft allerdings wie exponentiell: er steigt sehr langsam und schleppend, ist er aber dann mal in Fahrt, dann steigt er stark an, das Buch wird packend und man möchte es nicht mehr aus der Hand legen. Die Themen, die Camilla Läckberg aufgreift, sind unter anderem Familientragödien und LGBTQ+. Verarbeitet werden diese sensibel, vor allem das Thema trans Frau als Mutter, aber alles in allem für meinen Geschmack ein wenig zu stereotyp. Leider war der Schluss für mich zu vorhersehbar und das Buch wurde insgesamt nicht zu dem Highlight, das ich mir gewünscht hätte.
Alles andere ist, wie man es aus den anderen zehn Teilen der Serie gewohnt ist: Patrik zeigt in den Ermittlungen wieder Kompetenz und Überblick und ist der ruhende Pol unter den Kollegen. Erica recherchiert für ihr neues Buch so, wie sie es sonst auch macht. Etwas planlos, impulsiv und – wie immer erfolgreich. Wer die Serie kennt, freut sich unter anderem über ein Wiedersehen mit Polizeichef Bertil Mellberg und seiner Lebensgefährtin Rita (sie müssen mit Ritas Krebsdiagnose klarkommen), den Polizisten Gösta Flygare, Paula Morales, Martin Molin und Ericas Schwester Anna. Ebenso ist die Leserschaft auch parallel erzählte Handlungsstränge von der Autorin gewöhnt, die zum Schluss stimmig verflochten werden. Da bildet auch dieses Buch keine Ausnahme. Die Langatmigkeit der Erzählung kannte ich von der Autorin jedoch nicht. Für mich brauchte die Geschichte zu viel Zeit, um in Fahrt zu kommen. Der Umgang mit dem Thema trans Menschen ist meiner Meinung nach gelungen.
Insgesamt hat das Buch zu viele Längen, die aber durch die spannenden Passagen und den sensiblen Umgang mit dem Thema trans Menschen und dem hohen Spannungslevel gegen Ende wettgemacht werden. Ich empfehle, die anderen Bände (oder wenigstens ein paar davon) vorher zu lesen um ein paar Vorkenntnisse bezüglich der Ermittler und ihres Umfelds zu haben. Aber natürlich ist das Buch auch ohne diese lesenswert und verständlich. Von mir gibt es vier Sterne.

Bewertung vom 11.01.2023
Was wir verschweigen / River Delta Bd.1
Tuominen, Arttu

Was wir verschweigen / River Delta Bd.1


ausgezeichnet

„Was wir verschweigen“ ist der erste Teil von Arttu Tuominens auf sechs Teile angelegte Delta-Reihe. Das Buch wurde 2020, meiner Meinung nach völlig zu Recht, als bester Kriminalroman Finnlands ausgezeichnet. „Kriminalroman“ steht auf dem Cover, aber es ist so viel mehr als ein reiner Krimi. Natürlich geht es um einen Mord, aber im Hintergrund beinhaltet das Buch noch eine psycho-soziale Komponente, die für mich die Mordermittlungen fast zur Nebensache gemacht hat. Die ethisch-moralischen Fragen „Wie weit würdest du gehen, um ein Leben zu retten. Was würdest du um einer alten Freundschaft Willen tun?“ sind ein elementarer Teil des Buchs und machten es für mich zu einem absoluten Pageturner.

Aber von vorn.

In einem Wochenendhaus im finnischen Küstenort Pori trifft sich eine Gruppe Menschen zu einem ausufernden Saufgelage. Am Ende ist einer der Teilnehmer tot. Erstochen mit mindestens sechs Messerstichen in Rücken und Hals. Nach unbefriedigenden Befragungen möglicher Augenzeugen (sie können sich nicht erinnern, sind verkatert und unkooperativ, sogar beleidigend), finden die Ermittler mit Antti Mielonen einen Verdächtigen mit blutiger Kleidung im Wald. Der vorübergehende Leiter der Mordkommission Kommissar Jari Paloviita übernimmt die Ermittlungen eher widerwillig. Er ist in seiner neuen Position nicht glücklich und noch dazu kriselt es in seiner Ehe. Als er dann noch feststellt, dass der einzige Verdächtige im Fall sein bester Freund aus der Schulzeit ist, sieht er sich in einem Dilemma: wie weit darf seine Loyalität gehen, schließlich hat er Antti vor gut 30 Jahren ewige Freundschaft geschworen. Und schließlich ist auch das Opfer Rami Nieminen für ihn kein Unbekannter.

Da Finnisch wirklich nicht meine Sprache ist, tue ich mich zugegebenermaßen mit den Namen im Roman ein bisschen schwer. Generell brauche ich bei finnischen Büchern etwas länger, um mich „einzulesen“, auch wenn die Übersetzung sehr gut ist. Dennoch kann ich bei „Was wir verschweigen“ nur sagen, dass mich das Buch schlichtweg gefesselt hat. Die Spannung baut sich kontinuierlich auf und wird nur durch die Ausflüge ins Privatleben der Ermittler unterbrochen. Wobei die schwierige Ehe von Jari Paloviita und das exzessive Sportprogramm von Hendrik Oksman zu keiner Zeit Langeweile aufkommen lassen, eher willkommene „Verschnaufpausen“ sind. Die Charaktere Jari Paloviita, Linda Toivinen und Hendrik Oksman fand ich gut ausgearbeitet und die Geschichte hervorragend konzipiert. Die beiden Zeitebenen, auf denen der Autor sie erzählt, sind klar voneinander abgegrenzt, man weiß als Leser:in immer, wo man sich befindet.

Was mich neben dem angenehm ruhigen, fast sachlichen Schreibstil des Autors aber wirklich beeindruckt hat, ist die Tiefe, mit der er die ethischen Fragen von Schuld, Freundschaft und Loyalität behandelt. Die Zwickmühle, in der sich Jari Paloviita befindet, war für mich fast körperlich fühlbar. Seine Zerriebenheit zwischen Pflichterfüllung seinem Arbeitgeber gegenüber und Verbundenheit mit dem Freund aus Kindertagen brachte mich immer wieder zum Nachdenken und zur Frage „Was hätte ich an seiner Stelle gemacht“. Dazu kommen noch weitere Aspekte, die dem Buch noch mehr Facetten verleihen, wie beispielsweise die unterschiedlichen soziale Schichten, aus denen Protagonisten kommen. Jari kommt aus einer Akademikerfamilie und lebt auch jetzt in vermeintlichem Wohlstand. Antti hingegen kommt aus einem gewalttätigen Elternhaus mit einem sehr aggressiven Vater und wurde als Jugendlicher aus der Familie genommen, womit auch die Freundschaft zu Jari endete.

Trotz der Vielzahl der Themen schafft Arttu Tuominen es, das Buch zu einem stimmigen Ganzen zu verarbeiten, einem Buch, das Lust auf mehr macht. Von mir ganz klare fünf Sterne und eine Lese-Empfehlung für alle, die Krimis mit einem gewissen Extra mögen.

Bewertung vom 02.01.2023
Wir zerstören dich / Roy Grace Bd.15
James, Peter

Wir zerstören dich / Roy Grace Bd.15


gut

„Wir zerstören dich“ ist bereits der 15. Teil der „Roy- Grace-Reihe“ von Peter James und das erste, das ich aus der Serie gelesen habe und auch die Verfilmungen sind mir jetzt erst aufgefallen. Das Thema „Love Scamming“ interessiert mich sehr, deshalb habe ich mich auf das Buch gefreut. Insgesamt kam es für mich aber nur sehr schleppend in Fahrt und durch eine Vielzahl an Charakteren auf unterschiedlichen Seiten fand ich es lange etwas verworren und auch Spannung kam nur langsam auf. Insgesamt kein schlechtes Buch, ganz sicher aber für mich auch kein gutes.
Aber von vorn.
Selbstmorde, die keine sind. Liebe, die keine ist. Menschen, die auf die große Liebe hoffen. Identitäten, die es so nicht gibt und enorme Summen Geld, die ergaunert werden. Das sind die Hauptthemen, mit denen sich DSI Roy Grace befassen muss. Denn er ermittelt in einem Fall von Liebesbetrug oder „Love Scamming“, der weite Kreise zieht. Und irgendwie hängt alles mit allem zusammen, nach und nach werden weitere Fälle von Liebesbetrug bekannt und die Opfer werden von den Profibetrügern nicht selten in den völligen finanziellen Ruin getrieben. Aber nicht nur Roy Grace und seine Kollegen ermitteln gegen die beiden ghanaischen Verbrecher – geprellte Opfer versuchen sie ebenfalls zur Strecke zu bringen. Und dann taucht auch noch ein ziemlich durchgeknallter Killer auf, der die beiden Gauner aus ganz anderen Gründen ebenfalls lieber tot sehen möchte.
Alles in allem könnte das Buch so gut sein. Und wenn Peter James ein Neuling im Geschäft wäre, würde man gönnerhaft nicken und „er übt noch“ sagen. Aber er ist ein alter Hase und ich kann nicht verstehen, wieso er einen Krimi mit so viel Leerlauf am Anfang geschrieben hat. Für mich brauchte das Buch fast bis zur Mitte, bis es endlich in Fahrt kam – dann aber so richtig. Aber da hatte ich schon fast den Spaß daran verloren und wollte nur endlich wissen, wie es ausgeht. Ich fand es auch insgesamt ein wenig überladen: zu viele Themen, zu viele Schauplätze und, vor allem, zu viele Charaktere.
Der Spannungsbogen war gegen Ende sehr hoch und konstant, zu Anfang praktisch nicht vorhanden. Die Charaktere waren zu zahlreich und bis auf die Protagonisten eher zweidimensional ausgearbeitet. Allein die psychologische Komponente konnte bei mir voll umfänglich punkten. Wie leicht Menschen auf Internet-Betrüger hereinfallen können, ist erschreckend. Die kriminelle Energie der Täter ebenso. Also ganz abgesehen von der Krimi-Verbrecherjagd-Geschichte und dem bisschen Persönlichem von Roy Grace (Privatleben mit Frau und Kindern und Auseinandersetzungen mit seinem Chef) hat das Buch durchaus einen aufrüttelnden Effekt und regt dazu an, wachsamer zu sein. Denn wie die Scams funktionieren, ist ja jedem theoretisch klar. Dass aber auch gebildete Menschen mit reichlich Lebenserfahrung nicht davor gefeit sind, auf Verbrecher reinzufallen, zeigt die Statistik deutlich. Riesige Geldsummen werden nach vorsichtigem Vorfühlen an falsche Identitäten (oft mit gefakten Bildern) transferiert, weil die den Opfern ewige Liebe vorgaukeln. Ein heißes und aktuelles Thema, aber als Krimi, geschweige denn, als Thriller, konnte das Buch bei mir nur mittelmäßig punkten, daher vergebe ich drei Sterne.

Bewertung vom 29.12.2022
Mein Lieblingstier heißt Winter
Schmalz, Ferdinand

Mein Lieblingstier heißt Winter


gut

Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Damit kann ich getrost das Buch „Mein Lieblingstier heißt Winter“ von Ferdinand Schmalz für mich zusammenfassen. Denn ich hatte mir unter dem Buch etwas anderes vorgestellt und für die Charaktere im Buch läuft auch sehr viel völlig anders als geplant. Fest steht für mich aber, dass das Buch und ich nicht zusammenpassen.
Aber von vorn.
Doktor Schauer ist an Krebs erkrankt und er hat einen Plan: er möchte mit drei Schlaftabletten intus in seiner eigenen Kühltruhe erfrieren. Nach seinem Freitod in „erhabener Entschlossenheit“ statt des langsamen Siechtums an der Krankheit soll der fahrende Tiefkühlwarenverkäufer Franz Schlicht seine Leiche „aussetzen“ und den Suizid zum Happening machen. Aber als Schlicht den toten gefrorenen Schauer abholen möchte, ist die Kühltruhe leer und der Suizident weg. Eine wilde Suche beginnt.
Ich bin ein großer Freund von sprachlichen Experimenten. Ich bin auch ein großer Freund ungewöhnlich geschriebener Bücher. Aber das Buch hat meinen Toleranzrahmen gesprengt und ich konnte mit dem Stil des Autors nicht warmwerden. Manche Aspekte und Passagen haben mich wirklich begeistert, seine bildhafte Sprache und die Tatsache, dass die Namen der Charaktere pointiert und unglaublich gut gewählt sind, hat mich beeindruckt. Philosophische und morbide Fragen, schwierige Themen wie Suizid, gelungene literarische Bezüge und Querverweise – es hätte so gut sein können. Aber in der Masse hat mich das Buch eher erschlagen und ich hätte es beinahe aufgegeben, nachdem ich manche der wild zusammengeschachtelten Sätze viermal oder öfter lesen musste. So kam für mich kein Lesefluss zustande und keine Lesefreude auf. Leider, ich hätte das Buch sehr gerne gemocht.
Daher vergebe ich drei Sterne.

Bewertung vom 20.12.2022
Ginsterhöhe
Caspari, Anna-Maria

Ginsterhöhe


ausgezeichnet

Die Wüstung Wollseifen und die ehemalige Ordensburg Vogelsang gehören zu meinen liebsten Ausflugszielen in der Eifel. Nirgends werde ich so nachdenklich wie dort, wo die Geschichte so greifbar ist. „Ginsterhöhe“ von Anna-Maria Caspari ist ein Roman basierend auf der wahren Geschichte des Ortes, erzählt anhand der Schicksale mehrerer dort lebender fiktiver Menschen. Ein bewegendes Buch, das stark nachhallt.
Aber von vorn.
1919 kommt Jungbauer Albert Lintermann als einer der letzten Heimkehrer aus dem 1. Weltkrieg zurück ins Eifeldorf Wollseifen. Der Krieg hat ihm neben seinem halben Gesicht auch seinen besten Freund, dem Schmied Hennes, genommen. „Sei froh, dass sie dich nicht im Sarg nach Hause gebracht haben. Alles andere richtet sich schon von selbst“, damit hält er sich aufrecht, als seine Frau Bertha sich bei seinem Anblick voller Entsetzen abwendet. Wichtig ist ja sowieso eher, dass er anpacken kann, wie früher und noch alle Gliedmaßen hat. Albert hat es nicht leicht, die steigende Inflation ist noch eines seiner geringsten Probleme. Sein Sohn Karl wird in der Schule gehänselt und im Ort werden Witze auf Alberts Kosten gemacht, weil er, der früher sehr gutaussehend war, nun so entstellt ist, „dass die Milch sauer wird“. Daher lässt er sich das Gesicht so gut wie möglich operativ wiederherstellen.
„Hier im Dorf kommt so langsam alles wieder in Tritt, und wenn man sieht, wie geschäftig alle ihrem Alltag nachgehen, sollte man beinahe meinen, das Kriegsgeschehen sei nur ein böser Traum gewesen“ schreibt der Lehrer Martin Faßbender. Und das stimmt. Das Leben geht weiter. Kinder werden geboren, andere werden beerdigt. Und dennoch zeigt sich, dass im Dorf ein neuer Wind weht. Denn schon bald zieht mit dem Gutsherren Johann Meller einer ein, der „nationalistischen Parolen“ schwingt und „ein bisschen zu viel von Rasse“ redet. Meller ist natürlich Feuer und Flamme, als direkt gegenüber von Wollseifen auf dem Erperscheid die „Nazi-Ordensburg“ Vogelsang gebaut werden soll und ein Flugplatz auf dem Walberhof geplant wird. Nach und nach greift das nationalsozialistische Gedankengut um sich, auch der Pastor malt sich die „Zukunft mit dem Bauvorhaben in leuchtenden Farben aus“.
Der Rest ist Geschichte. Die Alliierten beschießen Wollseifen in der Endphase des 2. Weltkrieges, Ende 1944/Anfang 1945 wird ein Großteil des Dorfes zerstört. Ende eines Traums. Ende eines Dorfes. Aber nicht das Ende der Geschichte. Gerade hatten die Bauern ihre Felder wieder bestellt, da mussten sie das Dorf innerhalb von zwei Wochen zum 1. September 1946 räumen. „Wir müssen uns fügen, dachte Albert bitter. Immer ist da jemand, dem wir gehorchen müssen“ - sie gehorchten in der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr und wurden enttäuscht. Das Dorf und die Umgebung wurden zum Sperrgebiet erklärt und dann als Truppenübungsplatz genutzt, keiner der ursprünglichen Bewohner durfte zurückkehren. Heute kann man die Überreste besichtigen, die zerstörte Kirche und das Erdgeschoss der Schule wurden wieder aufgebaut.
„Ginsterhöhe“ ist nicht nur ein Buch über die Geschichte von Wollseifen und die Zeit des Nationalsozialismus. Es ist ein Buch über Generationenkonflikte, wo die jeweils Älteren die Jüngeren ausbremsen und die Jüngeren alles besser zu wissen glauben. Über Zeitenwandel, in vielerlei Hinsicht unruhige Zeiten, über Verblendung, verklärte Vorstellungen von Krieg und endgültig zerstörte Träume. Ein Buch, das inhaltlich und formal besticht. Es ist sprachlich ansprechend und punktet durch liebevoll ausgearbeitete Charaktere, anschauliche Landschaftsbeschreibungen und eine perfekt eingefangene Stimmung. Die linear erzählte Geschichte wird durch die Tagebucheinträge des Lehrers unterbrochen, der sehr sachlich und neutral Gedanken, Dorfgeschehen und Zeitgeschichte einordnet. Ein Buch, das als Warnung dienen sollte, wie heute noch Burg Vogelsang nahe am Dorf aufragt, „eine steinerne Mahnung an das, was passiert war.“ Für mich ein echtes Highlight, daher von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 16.12.2022
EAST. Welt ohne Seele / Jan Jordi Kazanski Bd.1
Jensen, Jens Henrik

EAST. Welt ohne Seele / Jan Jordi Kazanski Bd.1


gut

„Oxen“ und „Søg“ sind die Serien, durch die ich den dänischen Autor Jens Henrik Jensen kennengelernt habe und die beiden Reihen haben mir wirklich sehr gefallen. Bereits 1997 hat er sich mit „East. Welt ohne Seele“ am ersten Teil einer Agententhriller-Trilogie versucht, der erst jetzt auf Deutsch erschienen ist. Herausgekommen ist ein Buch, das zwischen Geschichtsbuch, Liebesgeschichte und Spannungsroman mäandert und für mich nur selten den Sprung zum Thriller schafft. Das macht es insgesamt nicht zu einem schlechten Buch, es hat aber eine Menge Luft nach oben (und der Autor hat sich bekanntermaßen ja auch deutlich gesteigert). Daher kann man „East“ getrost als ambitionierten Versuch unter „er übte noch“ verbuchen. Es ist kein kompletter Fehlschlag, aber auch kein Meisterwerk.
Aber von vorn.
Wir schreiben das Jahr 1999 und der ehemalige amerikanische Agent Jan Jordi Kazanski hat alles verloren: seine Frau, seine Tochter und seinen Job bei der CIA. In ein tiefes Loch gefallen, flüchtet er sich mehr und mehr in den Alkohol. Allerdings braucht die CIA seine Expertise wegen seiner polnischen Wurzeln und holt ihn kurzerhand zurück in den Dienst, damit er in Krakau „die Witwe“, eine mysteriöse Informantin und Unterwelt-Chefin findet. Kaum, dass er seinen Fuß auf polnischen Boden gesetzt hat, schwebt er in höchster Gefahr. Mehrere Mordanschläge werden auf ihn verübt, Leichen pflastern seine Wege. Und nicht nur das: schon bei seiner Ankunft im Hotel trifft er auf die Dänin Xenia Pizlo Larsen. Eine ebenso hübsche wie geheimnisvolle Frau. Was verbirgt sie? Und wer will Kazanskis Tod?
Das Buch hätte wirklich sehr viel Potential gehabt. Auch wenn es heute schon „historisch“ und leicht angestaubt wirkt, so sind Thriller mit dem Thema „Ost-West-Konflikt“ auch heute noch (nicht zuletzt wegen des Krieges in der Ukraine) immer noch spannend. Oder könnten es zumindest sein, vorausgesetzt, sie sind gut und packend geschrieben. Und leider hapert es genau daran bei diesem Buch. Der Autor hatte bei dem Werk noch nicht die Reife, die er inzwischen hat. Er schafft es für mich nicht, einen durchgehenden Spannungsbogen zu schaffen. Auch seine Dialoge sind teilweise sehr hölzern und die Charaktere sind, abgesehen vom Protagonisten, nicht wirklich gut ausgearbeitet. Den Protagonisten fand ich allerdings nicht sehr sympathisch und ich wurde mit ihm nicht warm. Seine fast übermenschliche Genialität, die seine ständige Trinkerei (über weite Teile des Buchs ist er durchgehend be- oder zumindest angetrunken) und seinen platten Umgang mit Frauen (er bedient fast jedes Macho-Klischee) fand ich nervtötend. Dazu packt der Autor zwischen reichlich uninspirierte Verfolgungsjagden durch Krakau eine Menge Informationen zum Zeitgeschehen in innere Monologe, was sowohl die Spannung als auch meinen Lesefluss störte.
Sprachlich ist das Buch leicht zu lesen, manchmal etwas derb in der Wortwahl. Die Übersetzung ist sehr gut gelungen, sodass das Buch wirklich gut hätte werden können, wenn der Autor es besser konzipiert hätte. Da hat er inzwischen viel dazugelernt und sich weiterentwickelt. Ich kann es daher nur wirklichen Hardcore-Fans ans Herz legen und verbuche es „East. Welt ohne Seele“ als „Werk ohne Konzept und Erinnerungswert“. Endgültig den Spaß an der Serie hat mir allerdings der Epilog verdorben, der sich an den für mich sehr vorhersehbaren Schluss anschließt. Darin werden wirklich alle losen Enden abgefrühstückt und man bekommt das Gefühl, keinen weiteren Teil der Reihe zu brauchen. Von mir gibt es für die wenigen spannenden Passagen und die vielen historischen Informationen zweieinhalb Sterne, aufgerundet auf drei.