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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Desiree
Wohnort: 
Wanne-Eickel

Bewertungen

Insgesamt 104 Bewertungen
Bewertung vom 20.03.2023
Keine gute Geschichte
Roy, Lisa

Keine gute Geschichte


ausgezeichnet

Arielle hat Depressionen, obwohl sie es scheinbar geschafft hat. Ihr Gepäck versteckt sie ziemlich erfolgreich: eine in der Kindheit verschwundene Mutter, keinen Vater, aber offensichtlich seine Gene; sie ist bindungsunfähig, hat eine lieblose Großmutter und einen Backround, dem sie auf nimmerwiedersehen entfliehen wollte. Kurz nach dem sie aus der Psychiatrie entlassen wurde, kehrt sie zurück nach Essen Katernberg, weil Großmutter Varuna sie braucht. Dort wartet nicht nur Varuna, sondern auch ehemalige Mitschülerinnen, ihr altes Zimmer und die Geschichte ihrer Mutter auf sie.
Zwei verschwundene Mädchen, Nacktkatzen, Menschen mit Migrationshintergrund und gesellschaftliche Konventionen, die aufgebrochen werden, sind noch das Salz, das diesen Roman abrundet.
„Keine gute Geschichte“ von Lisa Roy hat sich bereits als eines meiner absolutes Jahreshighlights entpuppt und das nicht nur weil ich ein Ruhpottkind bin und gerade mal 1,5 km von dessen Mittelpunkt entfernt lebe. Ihre Sprache ist typisch Pott, direkt, frech und ungeschönt. Das Terrain in dem sie sich bewegt, ist mir nur allzu gut bekannt. Arielle ist mir herrlich unsympathisch und macht im Roman eine Entwicklung durch, die absolut stimmig ist. Ich konnte es gar nicht aus der Hand legen. Es passiert so viel, aber alles gehört zur Geschichte, hat seine Daseinberechtigung. Ich flog nur so durch die Seiten. Außerdem ist es nicht nur ein klassischer Roman; es ist auch ein bisschen Krimi, ein bisschen Coming-of-Age.
Ihre Beschreibungen, ob nun von den heruntergekommenen Assi Gegenden oder den Menschen in der Bahn passen wie Faust aufs Auge und generell lässt sie eine Welt entstehen, die sich vor meiner Haustür abspielen könnte.
Lisa Roy setzt nicht nur das Ruhrgebiet auf die literarische Landkarte wie es hintern auf dem Buch steht, sondern ist wieder ein gutes Beispiel, für absolut frische, weibliche Stimmen, die nicht überlesen werden sollten! Ich bin jetzt schon Fan.

Bewertung vom 19.03.2023
Prägung
Dittloff, Christian

Prägung


gut

Ein Mann, der selbstkritisch und, ja ich sage es einfach, feministisch über Männlichkeit und Patriarchat nachdenkt, geht das überhaupt? Für „Prägung“ von Christian Dittloff lautet mein Antwort: Jein.

Vorausschickend muss ich sagen, dass ich das Buch im Rahmen einer Leserunde gelesen habe und mich mit vielen tollen Frauen austauschen durfte, die mir ganz neue Denkansätze geboten und mich kritischer haben werden lassen.

Dittloff steigt zurück in die Vergangenheit. Als studierter Autor macht er das rein fachlich gut, aber ich hadere noch mit der Gattung dieses Werks. Es ist kein Sachbuch und auf der dem Text vorgesetzten Seite steht eingerahmt „Roman“, aber das ist es auch nicht, denn ich als Leserin identifiziere den Autor direkt mit dem lyrisch Ich. Vielleicht eine zusammenhängende Essaysammlung?

Jedenfalls kehrt er zurück in Kindheit und Jugend, die meiner nicht unähnlich war, aufgewachsen in den 90 und 2000 kann ich mich noch gut an den vorherrschende Sexismus erinnern, der mir heute die Galle die Speiseröhre hinauftreibt. Er beschreibt, wie er dazugehören wollte, aber dann auch wieder nicht. Er versucht zu reflektieren, was aber oft in einer Rechtfertigung endet, die er eigentlich vermeiden wollte. Er legt eine Pick-Me-Mentalität an den Tag, die wir von Frauen (leider) gewohnt sind und muss sich eingestehen, dass er gleich doppelt vom Patriarchat profitiert, einerseits direkt, andererseits, weil er sich davon abgrenzt.

Brauchen wir tatsächlich eine männliche Sicht auf „Smash the Patriarchy“, die eigentlich nur reproduziert, was viele intelligente Frauen predigen? Anscheinend schon, denn es besteht die Möglichkeit, dass Dittloff allein aufgrund seines Geschlechts gerade die erreicht, die sich singend und feixend die Ohren zuhalten, wenn Frauen davon sprechen. Vielleicht werden diese Männer dann mal selbst nachdenken und etwas verändern.

Bewertung vom 16.03.2023
Dein Taxi ist da
Guns, Priya

Dein Taxi ist da


ausgezeichnet

Damani ist Fahrerin. Sie nimmt jede Fahrt mit, tut was sie kann und kommt trotzdem nicht über die Runden. Die Rechnungen stapeln sich und die Unzufriedenheit wächst - nicht nur bei ihr. Die Stadt ist in Aufruhr, Communities verdichten sich und gehen auf die Straße, doch die große Veränderung lässt auf sich warten. Zwischen dem Aktionismus ihrer Freund*innen und der Pflege ihrer Mutter, fehlt Damani die Energie, aber vor allem die Möglichkeit etwas zu verbessern, obwohl sie die Voraussetzungen dafür mitbringt, denn sie ist gebildet.
Als sie Jolene begegnet, verliebt sie sich nicht nur Knall auf Fall, sondern sieht auch, was es heißt Privilegien zu haben, doch davon profitieren kann sie nicht, denn Jolene missbraucht ihr Vertrauen.
„Dein Taxi ist da“ von Priya Guns ist so wie Literatur sein soll: ins Gesicht schlagend und unfassbar gut. Damani ist eine harte Frau. Alle Frauen in dem Roman sind stark, sogar Jolene, die verdienterweise eher ein Abziehbild einer privilegierten Weißen ist. Die unter den festgefahrenen Machtstrukturen erstarrte Stadt ist der passende Schauplatz für eine Dystopie, die keine ist. Ich weiß nicht, wie viel echt ist, denn vieles hat sich real angefühlt. Weit von Damanis Welt sind wir jedenfalls nicht mehr entfernt und in Vielem sind die Verhältnisse schon erreicht.
Manchmal war ich etwas verwirrt, weil Damani widersprüchlich ist, denkt, handelt, aber genau das macht sie noch greifbarer. Ihre Müdigkeit überträgt sich, ihre Wut wird zur eigenen Wut. Weiße Privilegien werden überzeichnet, weil sie von uns (Weißen) nicht als Privilegien gesehen werden, dafür ist Jolene das perfekte Beispiel. Es ist ein Buch, dass uns zwingt, endlich die Augen nicht mehr vorm strukturellen Rassismus zu verschließen. Und dazu noch eine queere Liebesbeziehung. Einfach ein unfassbar gelungener Roman!
Das ist erst Priya Guns’ Debüt, was soll da noch kommen?

Bewertung vom 11.03.2023
Immer am Meer entlang
Jebens, Franziska

Immer am Meer entlang


ausgezeichnet

Josi ist Polizistin und hat bereits seit Kindheitstagen einen großen Traum: Mit dem Bulli durch Europa zu reisen. Dafür spart, plant und arbeitet sie. Paul steckt in seinem Bürojob und Leben fest. Ein Vortrag über das Reisen in einem umgebauten Jeep gibt ihm den Schubs den er gebraucht hat.
Josi und Paul machen sich auf den Weg und begegnen sich schon ganz am Anfang in Frankreich. Das soll aber nicht die letzte Begegnung sein. Sie werden ganz besondere Reisegefährten, dessen Wege sich immer wieder kreuzen. Beide genießen ihre jeweiligen Abenteuer und haben eine zentrale Gemeinsamkeit: das Meer und die (Sehn)sucht danach.
Franziska Jebens „Immer am Meer entlang“ ist ein richtiger Sehnsuchtsroman, der mir im grauen Winter in Deutschland Lust aufs Meer gemacht hat, auf Sonne, Urlaub und Leichtigkeit. Dabei schneidet Franziska Jebens aber auch schwierige Themen an, wie die Lebensrealität von Frauen und ihre Ängste, die Suche nach Sinn im Leben und wie man die schwierigen Zeiten meistert, die jedem mal widerfahren.
Josi und Paul sind total unterschiedlich, haben aber beide schon nach kurzer Zeit mein Herz gewonnen, so wie alle Charaktere, die noch vorkommen. Sie erleben schönes, aber auch nicht so tolles, obwohl so ein Roman geradezu einlädt, verklärt zu sein. Das was sich zwischen den beiden entwickelt ist voraussehbar, aber trotzdem wunderbar zu lesen. Allerdings hat es nach hinten raus ein paar Längen und ich wartete nur noch aufs Finale.
„Immer am Meer entlang“ entführt die Leserschaft in den Sommer, in eine Auszeit und macht Spaß. Die Beschreibungen der Natur und des Meeres sind toll und die Geschichte, die in dieser Kulisse spielt, ebenso. Wer einen guten Sommerroman (den man durchaus auch schon im Winter lesen kann) lesen möchte, macht hier nichts falsch. Aber eine kleine Warnung: Man bekommt sofort Lust ins Auto zu steigen und ans Meer zu fahren.

Bewertung vom 04.03.2023
Wovon wir leben
Birnbacher, Birgit

Wovon wir leben


sehr gut

Julia kehrt in das Dorf ihrer Kindheit zurück; in das Haus, in dem sie aufwuchs und in dem der Vater nun allein lebt, verlassen von der Mutter. Freiwillig tut sie das nicht, sie war gern Krankenschwester, aber in dem Beruf kann sie nicht bleiben und aus der Wohnung in der Stadt muss sie auch ausziehen. Die alten Strukturen, aus denen die Mutter erst vor kurzem ausgebrochen ist und die vom Patriachiat geprägt sind, nehmen ihr die Luft und als dann auch noch der Städter Oskar auftaucht, der ein ebenso Gestrandeter ist, nur freiwillig in das Dorf kommt, passt das zu Julias Ziellosigkeit.
„Wovon wir leben“ von Birgit Birnbacher handelt genau davon. Wovon man leben soll, was das Leben ausmacht, welchen Beruf man ausübt, worin man Sinn sieht. Julia ist mit ihrem bisherigen Weg gegen eine Mauer gerannt und weiß nicht weiter. Alles fühlt sich schwer an und das Dorf in das sie zurückkehrt, welches von arbeitslosen Männern bewohnt wird, die es gewohnt sind, dass eine Frau sich kümmert, nimmt ihr fast den Atem, der eh schon knapp ist. Oskar ist ihr Gegenpol, ihm fällt alles leicht, nach der Devise, schließt sich eine Tür, öffnen sich zwei neue. Er mag das Dorf. Er will bleiben, obwohl er nicht muss - Julia will weg, muss aber bleiben.
„Wovon wir Leben“ ist gleichzeitig rau und sanft. Birgit Birnbachers Sprache fließt, dann stockt sie wieder. Anfangs kam ich etwas schwer rein, später wurde es einfacher, aber Julias springende Gedanken sind anstrengend. Die Strukturen, denen sie sich einerseits entziehen will, anderseits aber wieder fügt, ermüden. Aber ist nicht genau so das Patriarchat und das Leben der Frauen darin.
Das Ende lässt mich etwas zwiegespalten zurück. Es kam irgendwie plötzlich, fast unerwartet und gibt mir das Gefühl, dass die Geschichte noch nicht auserzählt ist oder ich etwas verpasst habe.
Trotzdem ist der Roman ein gutes Beispiel für „Frauenliteratur“ im besten Sinne. Es erzählt unsere Lebensrealität in einer von Männern dominierten Welt und sollte unbedingt gelesen werden.

Bewertung vom 25.02.2023
Morgen, morgen und wieder morgen
Zevin, Gabrielle

Morgen, morgen und wieder morgen


ausgezeichnet

„Morgen, morgen und wieder morgen“ von Gabrielle Zevin ist in vielerlei Hinsicht ein besonderer und überaus komplexer Roman.
Sadie und Sam werden durch das Zocken in der Kindheit Freunde, doch das hält nicht lang. Erst zu Unizeit finden sie wieder zueinander. Sie werden unzertrennlich und beginnen zusammen zu Arbeiten. Sie erschaffen Spielewelten, die ihnen aus den Händen gerissen werden und mit Marx, Sams Mitbewohner, gründen sie Unfair Games. Beruflich läuft es super, aber die Freundschaft nicht aus den Augen zu verlieren, ist nicht leicht.
Wie soll ich dieses Buch knapp zusammenfassen? Ich lasse es einfach, lest es selbst. Jede*r, der*die auf Gaming steht, auf Spiele, in den 90ern Kind war oder einfach einen unterhaltsamen, aber auch tiefgreifenden Roman lesen möchte, sollte genau zu diesem Buch greifen. Er enthält nicht nur einen unfassbar komplexen Plot, der durch seine Gradlinigkeit besticht und dadurch einfach zu verfolgen ist, er wird auch von unzähligen und vielseitigen Charakteren bewohnt, die zu einer symbiotischen Gruppe werden. Mit Konflikten und Liebe wird nicht gespart, Kitsch sucht macht aber vergebens und das in einer Welt mit der sich jede*r Mittdreißiger*in identifizieren kann.
Es ist interessant mehr über Spieleentwicklung zu erfahren und Gabrielle Zevin spricht Themen an, die heute in aller Munde sind, damals jedoch noch sehr kontrovers betrachtet wurden. Zevins Stil ist klar, fast schnörkellos, was mitreißend ist.
Am spannendsten sind Sadie und Sam selbst. Beide Protagonist*innen sind einzeln betrachtet faszinierend und haben schnell jeweils eine Fanbase, aber gemeinsam sind sie unschlagbar - nicht nur in der Spieleentwicklung. Sie, ihre Freundschaft, aber vor allem die Schwierigkeiten, die diese mit sich bringt, machen dieses Buch zu einem absoluten Highlight.
Er so komplex, dass er geradezu zu einem Reread einlädt. Ich bin schon gespannt, wie es filmisch umgesetzt wird, denn die Rechte sind bereits verkauft.

Bewertung vom 23.02.2023
Malvenflug
Wiegele, Ursula

Malvenflug


sehr gut

Ursula Wiegeles „Malvenflug“ ist eine Familiengeschichte, in denen die Frauen im Mittelpunkt stehen sollen. Gerade Vater Pavel, ein regelrechter Hallodri, kommt dabei schlecht weg; er macht nur das, worauf er gerade Lust hat. Mutter Emma ist allerdings nur einen Deut besser, denn sie kümmert sich auch nicht selbst um die vier Kinder, Helga, Alfred, Lotte und Fritz, sondern ist nach Davos gegangen um zu Arbeiten. Sie will die Schulden abbezahlen und genug verdienen, um den Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen. Das ist zur Zeit des zweiten Weltkrieges, wo der erste Teil des Romans spielt, nicht leicht. Einblicke in die Leben der Kinder wechseln mit denen der Eltern. Die Schwere und Unsicherheit der Zeit wird deutlich. Im zweiten Teil rekapituliert die älteste Tochter Helga die Erlebnisse nach dem Krieg.
„Malvenflug“ ist die Geschichte einer Familie, die aus Trennung und darauffolgende Wiedervereinigung beruht, zumindest für die Geschwister. Aspekte, die in einer Zeit, die vom Krieg beherrscht wurde und in der Zerrissenheit an der Tagesordnung war, nicht verwunderlich sind. Daher war auch der Roman nicht überraschend. Die gepriesenen starken Frauenfiguren waren zwar vorhanden, aber Standen nicht so im Mittelpunkt, wie ich erwartet und erhofft hatte, denn im Grunde war das Verhältnis ausgeglichen. Auch der Charakter der Mutter war für mich schwierig, denn sie hat zwar ihre Kinder aus gutem Grund verlassen, ihre Rückkehr aber immer weiter nach hinten geschoben und dadurch viel verpasst. Ihrer Meinung nach sollte Helga als Älteste ihre Position einnehmen.
Sprachlich war es gut, aber nicht außergewöhnlich. Zwar bin ich über die ein oder andere Formulierung gestolpert, aber das ist so als Deutsche bei österreichischer Lektüre. Den Lesefluss hat das nicht gestört.
„Malvenflug“ ist ein solider Roman, aber nicht verblüffend. Wer eine gut konstruierte Familiengeschichte während des zweiten Weltkrieges lesen möchte, macht hier nichts falsch, aber mehr sollte man auch nicht erwarten.

Bewertung vom 23.02.2023
Ohne mich
Schüttpelz, Esther

Ohne mich


ausgezeichnet

„Ohne mich“ ist Esther Schüttpelz überaus gelungenes Debüt. Über ein Jahr begleiten wir die Erzählerin. Dieses Jahr ist besonders, denn es ist ihr Trennungsjahr. Den Ehemann hatte sie eher aus einer Laune heraus geheiratet und jetzt, wo sie wieder allein ist, weiß sie nicht so recht, wohin. Nebenher macht sie ihr Referendariat, denn sie studiert Jura. Das hält sie nicht davon ab, feiern zu gehen und jede nur mögliche Ablenkung mitzunehmen. Natürlich bleibt da das ein oder andere emotionale Loch nicht aus und am Ende steht eine Erkenntnis - wie es sich für einen guten Roman gehört.
Mir hat „Ohne mich“ außerordentlich gut gefallen, denn ich konnte mich oft mit der Erzählerin identifizieren. Zwar bin ich etwas älter, glücklich verheiratet und keine Juristin, aber das Gefühl „lost“ zu sein, kenne ich sehr gut (davor ist wohl auch niemand gefeit). Oft habe ich gedacht, dass Esther Schüttpelz genau die Worte gefunden hat, die mir so oft fehlen. Und hat mir gleich noch einen neuen Liebesbegriff beigebracht, die „Welpenliebe“.
Der Roman spielt im Hier und Jetzt; er ist mit den neuen Generationen verhaftet, das macht ihn nahbar, spürbar. Das wird wohl nicht nur mir so gehen. Zudem enthält er Themen wie Feminismus und Sinnsuche, aber fast wie nebenbei und nicht aufdringlich, was auch vielen gefallen könnte, die mit diesen Dingen eher Schwierigkeiten haben.
Zentral ist die Erzähltechnik des Gedankenstroms, die ich sehr mag und die Esther Schüttpelz hervorragend beherrscht. Natürlich kann das auch anstrengend sein, aber diese moderne Interpretation hat nichts altbackenes oder mühsames. Es ist unvermittelt und ich hatte das Gefühl, dass manche Gedanken auch meinem Gehirn hätten entsprungen sein können.
Am Ende hält sie noch eine kleine Wendung parat, die man so nicht hat voraus ahnen können.
Alles in Allem, ist es wirklich ein wunderbares Debüt, das man mit seinen 206 schnell zur Hand nehmen kann. Ich hoffe, es ist erst der Anfang von Esther Schüttpelz als Schriftstellerin.

Bewertung vom 14.02.2023
Macht
Furre, Heidi

Macht


sehr gut

Liv führt scheinbar das perfekte Leben. Sie ist Pflegerin und hat zwei Kinder, um die sie sich gemeinsam mit ihrem Partner kümmert. Sie lebt in einem schönen Haus und kennt keine Geldsorgen. Doch da ist die Tat, die in Livs Vergangenheit liegt. Lange will sie es sich nicht eingestehen, obwohl sie in einer Notfallambulanz war. Sie will auch das Wort nicht aussprechen: Vergewaltigung. Sie will ihm keinen Raum geben, nur gelingt es nicht. Immer wieder wird sie darauf gestoßen. Sie ist Eine von Zehn. Sie kann die Gedanken, die immerzu darum kreisen, nicht abstellen.
Als ein Mann, der der Vergewaltigung beschuldigt wurde, in ihr Berufsleben tritt, bricht die so sorgfältig fabrizierte und gepflegte Fassade auf und Liv gerät ins Trudeln. Sie stellt sich dem Verbrechen, das an ihr verübt wurde und das ihr ganzes Leben prägt.
„Macht“ von Heidi Furre handelt von einem Thema, das oft unter den Teppich gekehrt wird. Sie zeigt auf, wie sehr und vor allem unterbewusst eine solche Tat das Opfer beeinflusst und über lange Zeit mürbe machen kann. Es ist ein wichtiges Thema und so empfinde ich auch solche Bücher als enorm wichtig, trotzdem bin ich mit dem Roman und der Aufarbeitung nicht warm geworden. Als ich endlich dachte, ich hätte einen Zugang zu Liv gefunden, hab ich ihn auch schon wieder verloren. Manches war mir zu wirr und es kreiste ausschließlich darum, dass sie kein Opfer sein will, worüber sie sich aber zu definieren schien. Es wurde zusehends anstrengender und ich habe viele ihrer Handlungen nicht nachvollziehen können - sie waren mir zu widersprüchlich.
Natürlich weiß ich, dass Menschen, die Opfer wurden, unterschiedlich reagieren und verarbeiten, aber als Protagonistin hat Liv für mich zu wenig Substanz, was ich sehr schade finde, denn wie gesagt, finde ich das Thema außerordentlich wichtig und die Sicht der Opfer wird zu oft hinten an gestellt. Sprachlich war es gut, aber das hat nicht ausgereicht, um mich langfristig zu fesseln. Ich habe leider mehr erwartet.

Bewertung vom 26.01.2023
Frankie
Köhlmeier, Michael

Frankie


weniger gut

Frank, der keinesfalls Frankie genannt werde will, ist fast 14 als sein Opa nach 18 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird. Franks Mutter kümmert sich anfangs um den Opa, der schnell in eine eigene Wohnung zieht. Sie hat Angst vor ihm, verrät Frank aber nicht, was der Opa getan hat. Eigentlich will Frank auch gar nichts mit ihm zu tun haben, denn der Opa bezeichnet sich selbst als ‚Arschloch‘ und verhält sich auch so. Das färbt, gewollt oder ungewollt, auf Frank ab. Als der Opa weg will, schließt sich Frank kurzerhand und unüberlegt an.
Bei Michael Köhlmeiers „Frankie“ habe ich mit einem Opa-Enkel-Roadtrip gerechnet, aber weit gefehlt, denn der Trip geht nur bis zur übernächsten Raststätte. Auch sonst hat mich der Roman enttäuscht. Ich fand nicht nur keinen Zugang zu Michael Köhlmeiers Sprache, die für meinen Geschmack etwas zu dialektbehaftet ist, vor allem fand ich keinen Zugang zu Frank. Ich mochte ihn nicht. Normalerweise stört mich das nicht, aber ich war zusehends von diesem Rotzbengel genervt, der einerseits Gedankengänge hatte, die eher einem Kind entsprachen als einem Vierzehnjährigen, andererseits die eines Erwachsenen, was für mich einfach nicht stimmig war. Auch die Rollen der Männer in Franks Leben sind für mich schwierig: dem Großvater folgt er trotz allem; dem Vater, der ihn verlassen hat, als er noch klein war, rennt er plötzlich hinterher; den neuen Freund der Mutter mag er, dann aber wieder nicht. Doch die Mutter, die sich kümmert, ist die Böse, aber er weiß sie auch irgendwie zu schätzen. Da ist immer eine Ambivalenz, die ich nicht nachvollziehen kann, Pubertät hin und her. Ich verstehe Frank einfach nicht, genauso wenig wie das Ende.
Es wirkt alles irgendwie gewollt und nicht gekonnt. Es sollte aus der Sicht eines Vierzehnjährigen erzählt werden, jugendlich, hipp, aber es war nicht stimmig. Es sollte eine spannende Geschichte erzählt werden, mit einem Knast-Opa und einer Pistole, wirkte aber zu bemüht. Ich habe von einem Bestseller-Autor wirklich mehr erwartet.