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Volker M.

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Insgesamt 374 Bewertungen
Bewertung vom 22.12.2023
Japanische Backkunst
Ventura, Ai

Japanische Backkunst


ausgezeichnet

Fun Fact gleich am Anfang: So etwas wie japanische Backkunst gibt es gar nicht! In Japan wurde Weizen erst nach dem Zweiten Weltkrieg in signifikanten Mengen angebaut und verzehrt, und das japanische Gebäck, das man heute überall im Land kaufen kann, ist ausnahmslos eine Adaption aus Europa und den USA. Das würde die Autorin natürlich nie zugeben, aber nur das aus Klebreismehl gefertigte Wagashi ist originär japanisch, gehört im engeren Sinn jedoch nicht zum Backwerk, denn es wird gekocht und kalt gegessen.

Ai Ventura ist Japanerin und hat in Japan selbst die Konditorenkunst gelernt, bevor sie mit ihrem Mann nach Schweden auswanderte. Dort eröffnete sie ein japanisches Café und buk vor allem für heimwehkranke Japaner, was sich bald herumsprach. Mittlerweile ist ihre Backkunst auch bei den Schweden sehr beliebt und wer einmal original japanisches Gebäck probiert hat, der weiß warum. Jedes Mal, wenn wir in Japan sind, wandert ein erheblicher Teil des Budgets in die dortigen Bäckereien, auf ein Frühstück im Hotel verzichten wir meistens. Auch wenn ich anfangs ketzerisch behauptet habe, es gäbe keine japanische Backkunst, stimmt das natürlich nicht ganz, denn die handwerkliche Perfektion und die außergewöhnlichen Zutaten machen japanisches Gebäck einzigartig und zum optischen und kulinarischen Genuss.

Die Rezepte, die Ai Ventura vorstellt, sind absolut typisch für Japan, indem sie klassische Biskuit- und Mürbeteige mit japanischen Topings oder Zutaten veredelt. Manches Rezept erinnert an heimisches Gebäck, aber oft gibt es Abweichungen im Detail. Machta-Teepulver färbt den Teig grün und gibt ihm einen herben Geschmack, rote Bohnenpaste (Azuki) ist eine wunderbar aromatische, süße Füllung und selbst, wenn „Melon Pans“ wie Streuselbrötchen aussehen, sind sie von einer luftigen Leichtigkeit, dass jedes Streuselbrötchen dagegen wie ein Backstein wirkt. Leichtigkeit und Frische sind die Charakteristika japanischen Gebäcks, das man am besten auch ganz frisch verzehrt. Die Kombination mit herzhaften Zutaten, ebenfalls typisch japanisch, fehlt allerdings im Buch, während einige Wagashi-Rezepte die Grundlagen der originär japanischen Backkunst vermitteln.

Alle Rezepte sind sehr präzise beschrieben, nicht nur durch Zutatenlisten, sondern mit detaillierten Anweisungen, wie man die Torten und Teilchen handwerklich perfekt herstellt. Teilweise gibt es dazu illustrierende Fotoserien, was sehr hilfreich ist, denn Perfektion ist in Japan genauso wichtig wie der Geschmack. Mich hat immer sehr beeindruckt, wie völlig identisch eine japanische Bäckereiauslage aussieht. Genauso perfekt wie die Fotos im Buch. Es ist ein richtiges Deja-vu, das mir sofort das Gewässer in den Mund schießen lässt. In der Einleitung werden Werkzeuge und Zutaten vorgestellt, worunter aber nichts ist, was man nicht auch hier im Online-Asiahandel bekommt, die Geräte gibt es im normalen Haushaltsbedarf.

Im Bahnhof von Ueno-Osaka gibt es eine Bäckerei, über deren Tresen ein großes Gütesiegel prangt: „Meisterstück – Gästeglück“ steht darauf. Auf Deutsch. Ich bin sehr froh, dass sich die kulinarische Befruchtung jetzt auch wieder zurück nach Deutschland vollzieht, denn japanische Backkunst ist eine echte Bereicherung. Sowohl optisch als auch kulinarisch.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.12.2023
Iris & Lens
Narula, Ken

Iris & Lens


ausgezeichnet

Ken Narula ist nicht nur Fotograf, sondern er sammelt alles, was mit seiner bevorzugten Kamera zu tun hat: Leica. Einen geradezu legendären Ruf genießen Leica-Objektive, deren Herstellpräzision und Vergütung unerreicht sind. Narula besitzt eine der größten Leica-Sammlungen weltweit, aber seine Objektive sind eben nicht nur Sammelobjekte, sondern Arbeitswerkzeuge. Wie Andreas Kaufmann im Vorwort richtig anmerkt: Ein Formel-1-Fahrer wird auch in einem VW Golf herausragend fahren, aber zur Geltung kommen seine Fähigkeiten erst in einem technisch ausgereiften Rennwagen.

Die beiden Bände im Schuber sind thematisch streng separiert: Einer präsentiert ausgewählte Objektive vor einem neutralschwarzen Hintergrund, der andere zeigt Outdoor-Fotografien Narulas, die mit eben diesen Linsen gemacht wurden. Wer sich ein bisschen auskennt, oder in den einschlägigen Sammlerforen etwas recherchiert, stellt schnell fest, dass Narulas Objektivauswahl in die Kategorie „High-End-Rennwagen“ gehört. Es sind die Spitzenprodukte der Firma Leica und nicht zufällig sehen sie fast alle aus, als kämen sie gerade aus der Produktion. Wer solche Linsen sein Eigen nennt, behandelt sie wie ein rohes Ei. Man kann Narulas Auswahl getrost als Einkaufsliste für höchste Qualität ansehen.

Die Fotografien im zweiten Band stammen aus verschiedenen europäischen Städten und Landschaften, sie zeigen Menschen im Portrait oder in Gruppen. Allen Bildern gemeinsam ist die brillante Ausgewogenheit von Kontrast und Durchzeichnung, die geradezu klassische Bildaufteilung und ein perfekter gestalterischer Einsatz von Schärfe und Unschärfe. Je nach Absicht des Fotografen entsteht intime Nähe oder beobachtende Distanz, die Dargestellten werden im besten Sinn „psychologisiert“, ohne dass Narula die rote Linie überschreitet und voyeuristisch würde. Jede Situation wird individuell erfasst, aber der Moment, dem der Auslöser klickt, den steuert das Unterbewusstsein aus der Erfahrung des Künstlers.
Das genaue Gegenteil sind die Abbildungen der Leica-Objektive: Sie erinnern sicher nicht zufällig an die Werbefotografien auf der Leica-Webseite, wie schwarzglänzende Rennboliden in Hochglanzmagazinen. Kein Stäubchen stört die klaren Linien, das matte Schimmern auf den schwarzen Gehäusen, die Reflexe auf den Blendenringen meißeln die technischen Wunderwerke wie Bildhauerarbeiten aus dem tiefschwarzen Hintergrund. Beste Werbefotografie, aber da fast alle Objektive nicht mehr hergestellt werden, nur die dankbare Hommage eines professionellen Verwenders und keine verkappte Werbung. Ohne Leica wäre Narula immer noch ein hervorragender Fotograf, aber dank Summicron und Summilux fotografiert er in der Formel 1.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.12.2023
Bitte lächeln!
Sedaris, David

Bitte lächeln!


ausgezeichnet

David Sedaris ist wirklich zu beneiden. Seit dreißig Jahren hat er eine literarische Quelle, die nie versiegt: Seine eigene Familie. Sie ist fast so etwas wie ein Modell für den amerikanischen Individualismus, mit sehr ausgeprägten Charakteren, sehr ausgeprägten Meinungen und der bemerkenswerten Fähigkeit, an Krisen nicht zu zerbrechen, egal wie schlimm sie sind. David und die Seinen sind Stehaufmännchen (und -weibchen) wie sie im Buche stehen, was auch dieses Mal wieder von Vorteil ist, denn Florence steht vor der Tür und reißt gleich das halbe Haus mit. Ein Hurrikan dieses Namens zerstörte 2018 das geliebte Familiendomizil an der Küste von North Carolina und dann kam auch noch Corona. Natürlich verarbeitet David selbst die Seuche komisch-literarisch, sei es mit einer Anleitung zum Hamsterkauf oder mit Tipps, wie man die Zeit in seinen eigenen vier Wänden totschlägt, wenn man gewöhnlich auf Lesereisen unermüdlich um die Welt jettet und das auch noch gerne tut. Manchmal habe ich den Eindruck, die Sedaris besitzen auf jedem Kontinent selbstgenutzte Immobilien, außer in der Antarktis. Aber ich bin sicher, da findet sich auch noch ein gemütliches Fleckchen.

Richtig glücklich macht mich an David Sedaris‘ Büchern seine rundherum positive Lebenseinstellung und der Optimismus, den er ausstrahlt. Ich kenne ihn nicht persönlich, aber ich glaube sein Geheimrezept gefunden zu haben. Nein, er verrät es in seiner „Rede vor Hochschulabsolventen“ ohne ein Geheimnis daraus zu machen: Sei gegenüber jedermann freundlich! Er ist wahrscheinlich der einzige Schriftsteller von Rang, der sämtliche Fanpost persönlich beantwortet und sich bei jedem Veranstalter mit einem Brief bedankt. Hat er das nötig? Nein, aber vielleicht kommt der Tag, an dem er es nötig haben wird und dann hängen bei Tausenden seiner Freunde Briefe von ihm hinter Glas gerahmt an der Wand. Außerdem ist das sein Naturell. So schafft man es vom drogenabhängigen Raumpfleger zum internationalen Bestsellerautor. Nun ja, Talent gehört leider auch noch dazu, sonst würde ich morgen damit anfangen, Dankesbriefe zu schreiben. Außerdem bin ich kein Raumpfleger.

Schon in „Calypso“ war eine gewisse Altersmilde erkennbar geworden, die sich in „Bitte lächeln“ fortsetzt, ohne dass ich sagen könnte, dass mir die detaillierten Schilderungen von Davids jugendlichen Ausschweifungen besonders fehlen. Das war manchmal schon etwas heftig - eine Szene in einem Darkroom will mir bis heute nicht aus dem Kopf - aber es war zumindest ehrlich und lustig. Jetzt, mit über 60, stellt David allerdings fest, dass die Verfallszeit langsam abläuft, selbst wenn sein Vater 96 wurde und die Gene ihm vielleicht gnädig sein werden. Amy bekommt graue Haare und David verzichtet neuerdings auf ein Portraitfoto auf dem Buchumschlag. Dennoch bietet ihm das Leben noch genügend Anregung, so dass mir zumindest für das nächste Buch noch nicht bange ist. Sedaris hat seinen unverwechselbaren Tonfall behalten, diese Mischung aus absurd komischen Assoziationen, ein bisschen Boshaftigkeit und einer leisen Melancholie, die er wie niemand anders zu dosieren weiß: „Der einzige Nachteil ist, dass Corona in den USA 900 000 Tote gefordert hat und ich mir keinen davon aussuchen durfte“. Genau das meine ich. Ganz der Alte.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 20.12.2023
Doc Martin - Die komplette Serie
Clunes,Martin/Catz,Caroline/Atkins,Eileen/+

Doc Martin - Die komplette Serie


ausgezeichnet

Ich kann es kaum glauben, aber Doc Martin hat mich 18 Jahre lang begleitet. Mit ihm habe ich ein halbes Medizinstudium absolviert, weiß, dass ein Pickel niemals ein Pickel ist und dass ich wiederkommen soll, wenn die Beschwerden anhalten. Außerdem bin ich ein Fan vom idyllischen Portwenn geworden, das in Wirklichkeit Port Isaac heißt und das ich bei meiner ersten Cornwall-Reise, die noch aussteht, ganz sicher besuchen werde. Aber mit Doc Martin ist jetzt leider unwiderruflich Schluss, auch wenn nach der 9. Staffel, die ja bereits ein dramaturgisches Ende war, dann doch noch eine Ehrenrunde mit 9 neuen Folgen gedreht wurde. Diesmal bekommt der Doc ein Angebot, das er nicht ausschlagen kann: Er soll die medizinische Fakultät am Imperial College leiten, in London, und das bringt nicht nur Mrs. Tishell zur Verzweiflung.

Ich weiß, dass „Doc Martin“ purer Eskapismus ist. Alle Probleme sind beherrschbar, niemand ist von Grund auf bösartig, es gibt keine Gewaltätigkeit (es sei denn, sie ist satirisch gemeint), die Dorfgemeinschaft ist trotz einzelner Spannungen intakt und das soziale Gefüge ebenso. Also genau das Gegenteil unserer Gegenwart. Das ist der Grund, warum ich es 18 Jahre lang genossen habe, in dieses Erwachsenen-Bullerbü abzutauchen, die seichten Passagen mit mildem Lächeln quittiert und darauf vertraut habe, dass schon wieder alles ins Lot kommt. Ich bin diesbezüglich 18 Jahre lang nie enttäuscht worden.

In der 10. Staffel (plus einstündiger Weihnachtsfolge) kommen viele alte Bekannte noch einmal auf die Besetzungsliste und dürfen sich offiziell verabschieden - ein Wiedersehen mit ein bisschen Wehmut, weil der Zuschauer weiß, dass es das letzte Mal sein wird. Absolut sehenswert ist übrigens das Making-of, in dem nicht nur die Mitglieder des Casts zu Wort kommen, sondern man auch viel über Portwenn und die Auswirkungen auf den realen Ort Port Isaac erfährt. Es liegt buchstäblich am Ende der Welt und wurde durch Doc Martin weltberühmt. Man kann sich ungefähr vorstellen, was das bedeutet. Und der Aufwand, der für einzelne Szenen getrieben wurde, ist unglaublich. Alleine Mrs. Tishells Apotheke...

Die Box hätte ein Booklet verdient, oder zumindest eine Seite mit einem Episodenguide , denn die einzelnen DVDs sind nur mit der Staffelnummer beschriftet, die Kapitel werden dagegen ausschließlich auf der jeweiligen Startseite angezeigt. Man muss also jede Scheibe einlegen, wenn man etwas sucht. Wir haben z. B. die zweiteilige Sonderfolge „Am Rande des Wahnsinns“ vermisst und sie dann durch Zufall auf der DVD Staffel 3/1 gefunden.

Schade, dass es vorbei ist. Aber schön, dass mir mit der Gesamtbox niemand mehr den Doc nehmen kann, selbst dann nicht, wenn den Aktivisten irgendwann auffällt, dass die Serie vom woken Irrsinn völlig unbeeindruckt geblieben ist. Danke dafür.

(Diese DVD-Box wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.12.2023
Jahrmarkt der Eitelkeit. Roman ohne Held   William Thackerays vergnügliche Charakterstudie neu und zeitgemäß übersetzt
Thackeray, William Makepeace

Jahrmarkt der Eitelkeit. Roman ohne Held William Thackerays vergnügliche Charakterstudie neu und zeitgemäß übersetzt


ausgezeichnet

Es ist zwar nicht die erste, aber doch eine der ersten Soap Operas der Literaturgeschichte: „Jahrmarkt der Eitelkeit“ erschien als Fortsetzungsroman über anderthalb Jahre im „Punch“, bevor es 1848 in London erstmals in Buchform erschien. Die Geschichte war unmittelbar ein Erfolg und gilt noch heute als einer der bedeutendsten Romane Englands, indem er mit spitzer Feder die vorviktorianische Gesellschaft aufs Korn nimmt, gespickt mit Ironie und unschlagbarem Wortwitz. Jane Austen besaß in Teilen einen ähnlich beißenden Sarkasmus, perfektioniert hat den Stil aber William Makepeace Thackeray, der mit Charles Dickens in inniger Feindschaft verbunden war. Beide waren DIE Erfolgsautoren ihrer Zeit, beide sind Titanen der englischen Literatur, aber sie waren sich bis an ihr Lebensende nicht grün. Persönlich ziehe ich Thackeray vor, der im Gegensatz zu Dickens keinerlei Hang zur Rührseligkeit hat und auch nicht so aufdringlich moralisch ist. Der Untertitel „Roman ohne Held“ lässt es schon durchblicken, dass es bei ihm keine Menschen gibt, die ausnahmslos gut sind. Doch, ein paar gibt es schon, aber die sind meist dumm, schnell verarmt und bald darauf tot. Thackeray ist ein subtiler Moralist, während Dickens stets das Happy End im Ärmel hat. Bei Thackeray sollte man sich besser nicht darauf verlassen.

Die Neuübersetzung von Hans Christian Oeser ist von einer Eleganz, dass man beim Lesen oft vergisst, dass es sich um eine Übersetzung handelt. Ihm gelingt es, einen zeittypischen Tonfall anzuschlagen, ohne dass der Text zu irgendeinem Zeitpunkt angestaubt oder mühsam klingt. Die Leichtigkeit, mit der Thackeray seine Charaktere zeichnet, die pointierten Dialoge und präzisen Milieuschilderungen, all das überträgt Oeser glasklar und mit gleicher Leichtigkeit ins Deutsche. Es ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass ein fremdsprachiger Roman durch die Übersetzung im Abstand einer Generation wieder neues Leben eingehaucht werden kann, eine Gelegenheit, die dem Original auf immer versagt bleibt. Harry Rowohlt, selber ein begnadeter Übersetzer aus dem Englischen, hat es einmal so formuliert: „Lesen Sie die Übersetzung, im Original geht viel verloren!“.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.12.2023
Same as Ever
Housel, Morgan

Same as Ever


ausgezeichnet

Die Welt ist komplex. Gerade in den letzten Jahren hat man das Gefühl, dass sich außergewöhnliche Ereignisse wie z.B. die Finanz- und Eurokrise, die Corona-Pandemie, der Krieg in der Ukraine immer mehr überschlagen. Im Gegensatz zu früher (z.B. vor 100 Jahren) ist unsere Welt heute globaler geworden und Nachrichten gehen in Sekundenschnelle um die Welt. Das hat viele Vorteile. Dennoch sollten wir uns nicht wundern, wenn wir seit einigen Jahren das Gefühl haben, dass unsere Welt auf einen Abgrund zusteuert. Dieses Gefühl wird sich in Zukunft noch verstärken. Aber es ist trügerisch - wir nehmen nur mehr denn je wahr, was schon immer geschehen ist.

Morgan Housel will diesen Teufelskreis in seinem Buch „Same as Ever“ durchbrechen und zeigt dem Leser, Vorhersagen nicht nur auf bestimmte Ereignisse, sondern auf typische Verhaltensmuster der Menschen zu stützen. Man kann nicht vorhersagen, was in 50 Jahren sein wird, aber man weiß heute schon, dass die Menschen auch in 50 Jahren noch stark von Gier, Angst, Chancen, Ausbeutung, Risiken, Unsicherheit, Stammesdenken und sozialem Druck beeinflusst sein werden. In seinen „23 Geschichten über Dinge, die sich nie ändern“ beschreibt Housel auf unterhaltsame, verständliche und nachvollziehbare Weise menschliche Verhaltensweisen, die sich nie ändern werden. Er versucht dadurch, Resilienz zu schulen und „nicht in Vorhersagen, sondern in Vorbereitung zu investieren“. Und ein bisschen Lebenshilfe ist auch dabei, wenn der Autor z. B. rät, dass Zufriedenheit vor allem von den eigenen Erwartungen abhängt und man lernen muss, mit Optimismus und Pessimismus richtig umzugehen.

Natürlich kann Housel mit seinem Buch die Komplexität der Welt und der hereinbrechenden Ereignisse nicht reduzieren. Aber es gelingt ihm, dem Leser die Angst davor zu nehmen und Vorhersagen von Experten wie „Crash-Propheten“ nicht allzu wörtlich zu nehmen. Niemand kann in die Zukunft blicken, aber das Wissen um das menschliche Verhalten, das sich nie ändern wird, hilft, Aussagen besser einzuschätzen und die eigene Resilienz zu verbessern.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.12.2023
DK Kulturgeschichte. Das alte Rom
Aitken-Burt, Laura;Feeney, Kevin;Antoniou, Alex

DK Kulturgeschichte. Das alte Rom


gut

Kürzlich habe ich mit großer Begeisterung den Band „Altes Ägypten“ aus der Visuelle-Geschichte-Reihe gelesen und halte ihn weiterhin für ein didaktisches (und inhaltliches) Meisterstück. Meine Erwartungen waren dementsprechend hoch, als ich mich jetzt an das Alte Rom gemacht habe, aber ich wurde leider enttäuscht. Die Autoren wollen auf der einen Seite zu viel, auf der anderen haben sie erhebliche Probleme, Themen sauber zu strukturieren und es wimmelt in Text und Bildmaterial vor sachlichen Fehlern und Ungenauigkeiten. Da wird Papyrus mit Lotos verwechselt, vor Christus und nach Christus vertauscht, die Herstellung von römischem Glas falsch beschrieben, Idealportraits werden als gesicherte Zuschreibungen dargestellt, oder Behauptungen aufgestellt, die einfach falsch sind („Die Große Kamee von Frankreich ist die letzte erhaltene römische Kamee“). Schön und übersichtlich sind die Rekonstruktionszeichnungen aus Roms Zentrum, nur passen sie überhaupt nicht zur Zeitstellung des Kapitels (da liegen fast 200 Jahre zwischen). Die Liste lässt sich noch verlängern. Einige Einzelthemen werden in mehrere Häppchen zerschnitten, die über das ganze Buch verteilt sind, aber alles wird immer nur ganz kurz und manchmal zu stark vereinfacht angerissen, genau wie die Auswahl der römischen Kaiser, die ein eigenes Kapitel bekamen, für mich willkürlich erscheint. Augustus, Vespasian oder Hadrian haben keines, Claudius dagegen wohl. Nie vergessen wird dagegen die Kolonialismuskritik, die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht und manchmal etwas penetrant wirkt. Weit weniger enthusiastisch wird dagegen diskutiert, warum das römische Klientelsystem über 1000 Jahre (wenn man Ostrom dazu zählt, fast 2000 Jahre) so stabil war.

Ich will das Buch nicht vollständig verdammen, denn es gibt schon einen ordentlichen Überblick über die römische Geschichte und auch grundlegende Informationen zu Gesellschaft und Alltag, nur wirkt es in weiten Teilen unzusammenhängend, ganz anders als der Band zum Alten Ägypten, der aus einem Guss ist. Außer Frage steht, dass die Autoren fachlich qualifiziert sind, sie gehören zu den Spitzenforschern unserer Generation, aber ganz offenbar gab es niemanden, der in dem Kollektiv von insgesamt 9 Personen die Gesamtverantwortung übernehmen wollte und am Ende noch einmal gründlich lektoriert hat. Wenn es doch geschah, dann ist derjenige jedenfalls aus meiner Sicht gescheitert. Und der latent woke Unterton mit der moralischen Überlegenheitgeste der Gegenwart ist wirklich unnötig.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 15.12.2023
Prestigesache

Prestigesache


sehr gut

Seide war über viele Jahrhunderte ein Luxusprodukt, das aufwendig aus China importiert wurde und zunächst nur dem Adel zugänglich war. Im 18. Jahrhundert überflügelt die europäische Seidenindustrie dann technologisch die Qualität chinesischer Produkte, die Stoffe wurden günstiger hergestellt und damit auch für ein wohlhabendes Bürgertum erschwinglich. Eine Hochburg der Textilproduktion (und des Handels) in Deutschland war Krefeld, das sich bis heute als Textilstadt darstellt, obwohl fast alle Unternehmen verschwunden sind, aber ihr Wohlstand basierte historisch auf dieser Industrie.

„Prestigesache“ ist der Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung, der die Entwicklung der Seidenindustrie im Europa des 18. Jahrhunderts zum Thema hat, mit besonderem Fokus auf der Bedeutung Krefelds. Die Einzelbeiträge zeigen die Vielfalt der hochentwickelten Webtechniken, von broschierter Seide bis zum schimmernden Damast und wie sie im Stoffdesign zum Einsatz kamen. Die äußerst reichhaltige Sammlung des Textilmuseums Krefeld liefert die entsprechenden Belegstücke, aber auch historisches Medienmaterial. Illustrierte Zeitschriften, die gerade erst aufkamen, erwiesen sich als sehr effektive Multiplikatoren, um Moden schnell auf dem ganzen Kontinent (und in England) zu verbreiten, was sie bis heute zu unübertroffenen Quellen macht, um Stile und Kleidungstypen korrekt zuzuordnen und zu datieren. Dies ist das zweite Thema, das mit hoher Eindringtiefe behandelt wird: Die Stilentwicklung der Schnitte, aber vor allem der Web- und Stickmuster. Wie die Autorinnen wiederholt anmerken, haben sich zwar Dekore und Accessoires in rascher Folge geändert, nicht jedoch die Kleidertypen und -schnitte, die durch die Hofetikette vorgegeben und oft über Jahrzehnte unverändert blieben. Das Bürgertum hatte zwar größere Freiheiten, orientierte sich letztlich aber am Adel.

Die einzelnen Kapitel sind sehr gut strukturiert und so trennscharf abgestimmt, dass es kaum Redundanzen in den Texten gibt. Das Bildmaterial ist umfangreich und gut gewählt, auch wenn ich mir bei einigen Mustern noch höher aufgelöste Detailfotos gewünscht hätte, um die Herstellweise besser zu verstehen. Die Autorinnen verwenden durchgehend die textiltechnologische Fachsprache, wobei sie einzelne Begriffe anfangs kurz (aber nicht immer allgemeinverständlich) erklären und sie dann in der Folge als bekannt voraussetzen. Ein Glossar oder besser noch ein illustriertes Verzeichnis der Webtechniken hat mir persönlich gefehlt, zumal das Zielpublikum nicht die Fachwelt, sondern die Allgemeinheit ist. Der Variantenreichtum der Techniken und die Virtuosität der Weber im 18. Jahrhundert ist bemerkenswert und ich hätte gerne mehr dazu erfahren.

Sehr aussagekräftig und gut verständlich sind dagegen die stilkundlichen Kapitel, sowie die stadtgeschichtlichen Hintergrundinformationen zum Textilgewerbe in Krefeld und seinen bedeutendsten Protagonisten. Auch die gesellschaftlichen Querbeziehungen zwischen Mode und sozialem Stand werden gut herausgearbeitet, wobei der Fokus auf dem Adel und dem gehobenen Bürgertum liegt. Die Quellenlage für das einfache Volk ist weitaus schlechter, aber auch die Frage, wo genau ein spezifischer Stoff hergestellt wurde, ist oft nicht zu beantworten. Die Beiträge zeigen jedenfalls sehr deutlich, wie international damals bereits Modeströmungen und der Textilhandel waren.

Bis auf die nicht immer ganz transparente technologische Fachsprache ist der Band anschaulich geschrieben und gibt einen guten kulturgeschichtlichen Überblick über die Seidenindustrie im 18. Jahrhundert, der über Länder und soziale Grenzen hinweg reicht.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 13.12.2023
Marvel Comics Library. Spider-Man. Vol. 2. 1965-1966
Ross, Jonathan

Marvel Comics Library. Spider-Man. Vol. 2. 1965-1966


ausgezeichnet

Der zweite Band der aufwendig produzierten Spider-Man-Reprints umfasst die Jahrgänge 1965 und 1966, inklusive des 72-seitigen Special Annuals von 1966. Die letzte Ausgabe brachte einen Umbruch, der dieses Datum tatsächlich zu einem Epochenwechsel machte: Steve Ditko, der kongeniale Zeichner und Erfinder von Spider-Man, verließ den Verlag und wurde durch John Romita ersetzt, der den Stil auf seine Weise fortführte. Aber Steve war eben mehr als nur der Zeichner von Spider-Man. Wie Stan Lee, der offizielle Texter in einem späteren Interview zugab, war Ditko auch maßgeblich an der Entwicklung der Stories und vor allem der großen Erzählbögen beteiligt. Die ersten vier Spider-Man Jahre gelten daher vielen Fans bis heute als der absolute Höhepunkt der Serie.

Jonathan Ross, die britische Instanz für Populärkultur und Spider-Man Sammler seit frühen Kindertagen, breitet in seinem ausgezeichneten Vorwort eine Chronologie der Ereignisse aus, die sowohl den dramaturgischen Kniffen und Wendungen der Geschichte als auch den Interna bei Marvel viel Raum gibt. Spider-Man reift in diesen zwei Jahren vom Teenie zum jungen Mann und seine privaten Beziehungen werden zunehmend von seinen Aufgaben als Verbrechensbekämpfer beeinträchtigt. Immer noch bewahrt er sein Inkognito und offenbart sich niemandem, was ihn zunehmend in Gewissenskonflikte bringt. Auch tauchen neben den bereits beim Publikum beliebten Schurken noch ein paar neue Kandidaten auf und es gibt auch wieder Cross Over Marketing mit anderen Marvel Serien, in denen Ditko den Stift führt. Diese Querverbindungen sind schon ganz früh im Marvel Universum (das ja nicht zufällig so heißt) angelegt, werden aus meiner Sicht in unseren Tagen aber etwas überstrapaziert. In den Sechzigern war das Marketing noch deutlich dezenter.

Witzig sind übrigens Jonathan Ross‘ Entdeckungen bei den Leserzuschriften, die als Feedback Board in jeder Spider-Man Ausgabe zu finden waren. Die Rückmeldungen beeinflussten nicht selten die Storylines, aber vor allem finden sich bei den Zuschriften einige Namen, die später bei Marvel große Tiere wurden, sei es als Künstler oder in der Administration. „You have to get them early“ bewahrheitet sich auch hier wieder mal.

Die drucktechnische Qualität ist wie immer hervorragend, genau wie die Bindung, die mit dem Folioband spielend fertig wird. Gegenüber den originalen Erstausgaben ist das Format minimal verkleinert (um böse Buben nicht auf Gedanken zu bringen...), das Papier ist voluminös und so robust, dass es beim Umblättern der großen Seiten keine Unfälle gibt. Der Taschen Verlag ist bekanntermaßen Spezialist für Großformate.

In den beiden Jahren legen Steve Ditko und Stan Lee die Grundlage für mindestens das nächste Jahrzehnt der Spider-Man Geschichten. Sie stellen Weichen, die sich als Erfolgsgarant erweisen werden, obwohl sie damals völlig gegen den Trend der Superhelden-Industrie anschrieben. Spider-Man bleibt stets Mensch, mit seinen Sorgen und Nöten und sozialen Bindungen. Er ist verletzlich, aber ihn zeichnen die Eigenschaften aus, die ihn dann doch zum Helden machen: Selbst wenn er am Boden liegt, gibt er niemals auf. Das hat in den Sechzigern das Publikum angesprochen und es erobert auch die heutige Generation.

Jonathan Ross hofft in seinem Schlusswort, dass Taschen die Serie fortsetzt. Dem schließe ich mich an.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 12.12.2023
Die Diamantlinse (Steidl Nocturnes)
O'Brian, Fitz-James

Die Diamantlinse (Steidl Nocturnes)


ausgezeichnet

Der irisch-amerikanische Autor Fitz-James O’Brien ist hierzulande fast unbekannt, obwohl er in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit seinen Erzählungen in den USA großen Erfolg hatte. Auch die drei Geschichten in der Steidl Nocturnes Reihe sind meines Wissens nach bisher nicht auf Deutsch erschienen, gehören aber zum Einflussreichsten, was O’Brien geschrieben hat. Stilistisch gehört er zur phantastischen Literatur, mit Anklängen an den englischen Gothic Horror und frühen Elementen des Science-Fiction-Genres. Er wurde gerne mit Edgar Alan Poe verglichen, aber dessen Bedeutung erreicht er dann doch nicht ganz, war Poe doch ein Meister der kurzen Schlusspointe, die bei O’Brien generell etwas zu lang gerät.

Der Band enthält „Die Diamantlinse“, „Von Hand zu Mund“ und „Das entschwundene Zimmer“, drei Geschichten mit völlig unterschiedlichen Erzählweisen und vielen phantasievollen Einfällen, die oft an Motive von deutlich später entstandenen Erfolgsromanen erinnern. So ließ die kreative, surreale Umgebung in „Von Hand zu Mund“ mich sofort an das Jahre später erschienene „Alice im Wunderland“ denken, wo bedrohliche Situationen ebenfalls durch verspielte Ideen und entwaffnende Selbstironie gebrochen werden. Überhaupt ist O’Brien ein Meister der Selbstironie, was der Leser besonders bemerkt, wenn er die kurze Biografie am Ende gelesen hat. Man sollte sie aus dem Grund vielleicht an den Anfang stellen. O’Brien betrachtet Teile seines eigenen Lebens durch einen Zerrspiegel, der die Realität zum phantastischen Kosmos erweitert, mit teilweise märchenhaften Zügen, aber einer durch und durch erwachsenen Sicht. Ein bisschen wie E. T. A. Hoffmann unter milden Drogen. H. P. Lovecraft, der wohl kreativste Autor phantastischer Horrorgeschichten, schätzte O’Brien sehr und es gibt tatsächlich viele stilistische und inhaltliche Ähnlichkeiten (bis hin zum schwelgerischen Gebrauch von Adjektiven), nur mit dem Unterschied, dass zwischen den beiden Autoren ein halbes Jahrhundert liegt. Es ist nicht übertrieben, wenn man O’Brien in vielen Aspekten als visionär bezeichnet.

Andreas Nohl, der schon in seiner neuen Übersetzung des „Dracula“ den Tonfall des 19. Jahrhunderts sehr stilsicher getroffen hat, ohne die gute Lesbarkeit zu beeinträchtigen, gelingt das Kunststück auch in diesem Sammelband wieder hervorragend. Fitz-James O’Brien ist es jedenfalls wert, als kreativer und innovativer Wegbereiter der phantastischen Literatur neu entdeckt zu werden.

(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)