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Bücherfreundin

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Insgesamt 289 Bewertungen
Bewertung vom 26.02.2024
Zeit der Schuldigen
Thiele, Markus

Zeit der Schuldigen


ausgezeichnet

Aufrüttelnder Roman über Recht und Gerechtigkeit
"Zeit der Schuldigen", der neue Roman von Markus Thiele, basiert auf einem wahren Kriminalfall, der sich 1981 im Landkreis Celle ereignete.

November 1981: Die 17-jährige Schülerin Nina Markowski ist abends nach der Chorprobe auf dem Weg nach Hause. Sie verpasst den Bus und stellt sich als Anhalterin an die Straße. Zuhause kommt sie nie an, vier Tage später wird ihre Leiche in einem Waldstück aufgefunden. Die Obduktion ergibt, dass Nina einem brutalen Sexualverbrechen zum Opfer gefallen ist. Bald wird die Polizei auf Volker März aufmerksam, Reifenspuren seines Autos am Tatort und Stofffasern an Ninas Kleidung belasten ihn schwer.
Vor Gericht bestreitet der Angeklagte die Tat, wird aber aufgrund von Indizien zunächst schuldig gesprochen. Einige Monate später hebt der Bundesgerichtshof das Urteil auf, im anschließenden Prozess wird März freigesprochen. Als Jahre später neue Beweise vorliegen, erhebt Hans Larsen, der Vater des Opfers, Zivilklage gegen März und startet danach eine Petition mit dem Ziel einer Gesetzesänderung.

November 2022: Die knapp 50-jährige Polizistin Anne Paulsen versucht aufgrund persönlicher Motive im Alleingang, Volker März zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei überschreitet sie jedoch Grenzen.

Die spannende Geschichte ist in sehr schöner, klarer Sprache auf unterschiedlichen Zeitebenen erzählt und liest sich sehr flüssig. Im Hier und Jetzt begleiten wir Anne Paulsen, in Rückblenden werden Ninas Vergangenheit und die ihres Vaters aufgeblättert. Neben der Polizistin Anne Paulsen lernen wir auch Kriminalhauptkommissar Klaus Margraf kennen, der in der Mordsache ermittelt und noch nach seiner Pensionierung darunter leidet, dass er den Fall nicht aufklären konnte.

Die Charaktere sind sehr bildhaft und authentisch beschrieben. Ich mochte das lebensfrohe Mädchen Nina, das dann so brutal aus dem Leben gerissen wurde, und ich hatte großes Mitgefühl für ihren trauernden und verzweifelten Vater, der über Jahrzehnte gegen die Mühlen der Justiz ankämpfte.

Markus Thiele, der hauptberuflich Rechtsanwalt ist, beschreibt neben den Verfahrensabläufen die damalige und heutige Gesetzeslage präzise und für Laien sehr gut verständlich. Er erklärt, dass Recht und Gerechtigkeit manchmal weit auseinander liegen, und was es bedeutet, den Rechtsfrieden herzustellen. Es ist für mich unfassbar und absolut nicht nachvollziehbar, dass es nicht möglich ist, beim Vorliegen neuer Beweise einen Strafprozess wiederaufleben zu lassen. Ich hoffe sehr, dass es hier doch noch zu einer Gesetzesänderung kommt.

In seinem Nachwort geht der Autor auf den Fall Frederike von Möhlmann ein, der ihn zu diesem Buch inspiriert hat. Er schildert den damaligen Verfahrensablauf und lässt uns wissen, was in seinem Roman frei erfunden ist.

Mir hat das aufwühlende Buch, in dem es neben Recht und Gerechtigkeit auch um Selbstjustiz und Loyalität, Freundschaft und erlittene Traumata geht, sehr gut gefallen. Es hat mich nicht nur betroffen, sondern auch wütend gemacht.

Absolute Leseempfehlung für diesen großartigen Roman, der mich noch lange beschäftigen wird!

Bewertung vom 23.02.2024
Hallo, du Schöne
Napolitano, Ann

Hallo, du Schöne


ausgezeichnet

Emotionale Familiengeschichte
In ihrem neuen Roman "Hallo, du Schöne", der seit seinem Erscheinen im März 2023 auf der Bestsellerliste der New-York-Times steht und von Oprah sowie Barack Obama empfohlen wird, erzählt die amerikanische Autorin Ann Napolitano die Geschichte einer italo- amerikanischen Familie. 

Kurz nach William Waters Geburt erlebt seine Familie eine schreckliche Tragödie, unter deren Folgen William und seine unglücklichen Eltern für den Rest ihres Lebens leiden werden. Sie versorgen ihn, aber darüber hinaus haben sie kaum Interesse für ihren Sohn und behandeln ihn lieblos. Seine einzige Freude ist das Basketballspielen, anfangs allein, später mit anderen Kindern. Er verbessert ständig sein Spiel, wird ein begehrter Mitspieler und verlässt dank eines Stipendiums bald sein Elternhaus.

Am College in Chicago lernt William die ehrgeizige Julia Padavano kennen. Sie ist die älteste von vier Schwestern, die eine enge Beziehung zueinander haben. Julias Eltern Rose und Charlie begegnen William herzlich, und wenige Jahre später heiratet das junge Paar. William, der den Kontakt mit seinen Eltern abgebrochen hat, ist nun Teil der lebhaften und liebevollen Familie Padavano. Julia wünscht sich bald ein Kind und träumt davon, dass William eine Professur anstrebt. Doch William ist nicht glücklich, seine Stärken und Interessen liegen auf einem anderen Gebiet. Als er von den Dämonen seiner Vergangenheit eingeholt wird, gerät das Familiengefüge ins Wanken.

Die emotionale Geschichte, die im Februar 1960 mit Williams Geburt beginnt und im November 2008 endet, hat mich zutiefst berührt und begeistert. Sie ist in wunderschönem und ruhigem Sprachstil erzählt und liest sich sehr flüssig. Der Roman wechselt zwischen den Perspektiven von William, Julia, Sylvia und Alice. Ich konnte eintauchen in das Leben der Familienmitglieder und habe dabei ihre Höhen und Tiefen, ihr Glück, ihre Konflikte und ihre Tragödien erlebt. Neben dem einsamen William und der strebsamen Julia lernen wir die romantische Sylvie kennen, die leidenschaftlich gern liest, sowie die kreative Künstlerin Cecelia und die fürsorgliche Emeline. Die Autorin beschreibt die Charaktere mit all ihren Stärken und Schwächen sehr liebevoll und dabei vollkommen authentisch.
Meine Lieblingsfigur war neben William und seinem Schwiegervater Charlie Sylvie, die es mutig wagt, ihren Weg zu gehen. Die Familiendynamik und das innige Verhältnis der Schwestern zueinander werden mit viel Empathie beschrieben. Sie alle halten an ihren Überzeugungen fest und leben ihr Leben nach ihren eigenen Regeln. Dabei treffen sie Entscheidungen, die von ihrer dominanten Mutter Rose nicht immer akzeptiert werden.

Mir hat das Buch, in dem es nicht nur um Familie, Liebe und Sehnsucht geht, sondern auch um Verlust und Trauer, Depressionen und Kameradschaft, sehr gut gefallen. Es ist tiefgründig und eindringlich, dabei vollkommen kitschfrei, und es hat mich gefesselt und zutiefst berührt.

5 Sterne und absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 19.02.2024
Lil
Gasser, Markus

Lil


ausgezeichnet

Brillant erzählte Geschichte über eine emanzipierte Frau
Im Mittelpunkt des neuen Romans "Lil" des österreichischen Autors Markus Gasser steht die erfolgreiche Unternehmerin Lillian Cutting, die es im New York der 1880er Jahre wagt, entgegen aller gesellschaftlichen Konventionen ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Auf einer zweiten Erzählebene folgen wir im Hier und Jetzt der 40jährigen Journalistin Sarah, einer Nachfahrin Lils. Sie hat gerade eine anstrengende Krebsbehandlung hinter sich, als sie die Nachricht erhält, dass von Bauarbeitern ein Brief gefunden wurde. Dieser Brief wurde im April 1880 an die Rechtsanwältin Colby Sandberg adressiert, ist aber nie abgeschickt worden. Er ermöglicht es Sarah, nun endlich Lils Geschichte niederzuschreiben.

Lil ist gerade 18 Jahre alt, als sie auf einer Zugfahrt den 22 Jahre älteren Augenarzt Chev Cutting kennen- und liebenlernt. Ein Jahr später heiraten die beiden, kurze Zeit darauf übernimmt Lil das Eisenbahnunternehmen ihres Vaters, da dieser schwer erkrankt ist. Sie ist als Unternehmerin sehr erfolgreich und mehrt das Vermögen. Der gemeinsame Sohn Robert ist weniger erfolgreich als seine Mutter, immer wieder muss Chev ihn finanziell unterstützen. Als Lil Anfang Fünfzig ist, stirbt Chev infolge zweier Schlaganfälle, und sie fällt in ein tiefes Loch. Diesen nun schon drei Jahre andauernden Zustand nutzt ihr Sohn während einer Wohltätigkeitsveranstaltung aus, um sie mit einer List in der Nervenklinik von Dr. Fairwell unterzubringen. Der Vater hatte sein Vermögen einzig Lil vererbt, und Robert sieht nun eine Chance, an sehr viel Geld zu kommen ...

Die fesselnde Geschichte ist ganz hinreißend in brillanter Sprache erzählt, sie ist unterhaltsam und teilweise auch humorvoll. Der Autor führt uns in eine Zeit, als es noch keine Gleichberechtigung gab und Frauen für das Wohl ihres Gatten und ihre Kinder zuständig waren. Gelang es einer selbstbewussten Frau, im Geschäftsleben eine erfolgreiche Rolle zu spielen, begegnete man ihr mit Skepsis und Neid, manchmal auch mit Hass. Das bekam auch Lil seitens der "Erlauchten 400" , der New Yorker High Society, zu spüren.

Schonungslos und offen beschreibt der Autor Lils Behandlung und Untersuchungen durch Dr. Fairwell, den Leiter der Nervenklinik. Die Schilderung einer missbräuchlichen Untersuchung war für mich sehr schwer zu ertragen. Als ein Highlight des Buches empfand ich neben Lils Rachefeldzug die zuvor stattfindende Gerichtsverhandlung, in der Stamford Brook, der weise Richter, über Lils Schicksal zu entscheiden hatte.

Nicht nur Lil und Sarah als Hauptfiguren, auch die zahlreichen Nebencharaktere, wie Chev, Libby und Cheng, Colby und Eve sowie Dr. Fairwell, Cora und Robert hat der Autor ganz großartig und bildhaft skizziert. Die beiden Erzählebenen sind gekonnt verwoben, dank Sarahs Hündin Miss Brontë war ein Wechsel immer sofort gut erkennbar, wobei ich allerdings die "Unterhaltungen" zwischen Sarah und ihrem Dobermann recht gewöhnungsbedürftig fand.

Das literarisch anspruchsvolle Buch, in dem es auch um Rassismus, Heimtücke und Dekadenz geht, hat mir sehr gut gefallen.

Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 15.02.2024
Franz Beckenbauer
Bausenwein, Christoph

Franz Beckenbauer


ausgezeichnet

Lesenswertes Buch über einen charismatischen Ausnahmesportler
Franz Beckenbauer war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten in der Geschichte des Fußballs und einer der besten Fußballspieler der Welt. In seinem neu erschienenen Buch "Franz Beckenbauer - Kaiserjahre" bringt uns Christoph Bausenwein nicht nur den Ausnahmesportler, sondern auch den Menschen Franz Beckenbauer nahe. Das großformatige gebundene Buch ist sehr liebevoll und hochwertig gestaltet. Es umfasst 270 Seiten und ist in 6 Kapitel gegliedert. Zahlreiche Fotos ergänzen die Texte.

Christoph Bausenwein beschreibt die Kindheit und Jugend des fußballbegeisterten Franz Beclenbauer und seine Anfänge als Fußballer. Es folgen die weiteren Stationen und zahlreichen Erfolge als Profifußballer. Nach dem Ende seiner aktiven Zeit machte er nicht nur als DFB-Teamchef und Funktionär von sich reden. Er spielte auch eine große Rolle im Zusammenhang mit der Vergabe der WM 2006 an Deutschland und wurde dafür Jahre später scharf kritisiert.

Der Leser erhält auch einen Einblick in das Privatleben Franz Beckenbauers mit seinen Höhen, Tiefen und der Tragödie seines Lebens. Der Autor beschreibt die Person des charismatischen Franz Beckenbauer, seine freundliche und zugewandte Art, seine Hilfsbereitschaft und seinen ausgeprägten Ehrgeiz. Aber auch weniger positive Eigenschaften finden Erwähnung. Kleine Anekdoten und die legendären Sprüche des "Kaisers" bringen den Leser zum Schmunzeln.

Das informative Buch hat mir sehr gut gefallen. Es ist schön geschrieben, spannend und humorvoll, teilweise auch kritisch. Ich habe über das bereits Bekannte hinaus auch viel Neues erfahren, so z.B., dass Franz Beckenbauer einen Kinofilm drehte, dass er in den sechziger Jahren davon träumte, in Italien zu spielen und warum dieser Traum platzte. Besonders interessant fand ich die Kapitel über seine Kindheit und Jugend sowie die Zeit in New York.

Ich kann diese wunderbare Hommage an Franz Beckenbauer jedem Fußballfan nur empfehlen, dank der hochwertigen Ausstattung eignet sich das Buch auch ganz hervorragend als Geschenk.

Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 09.02.2024
Geordnete Verhältnisse
Lux, Lana

Geordnete Verhältnisse


ausgezeichnet

Beeindruckender Roman, der unter die Haut geht
Nach "Kukolka" und "Jägerin und Sammlerin" hat die deutschsprachige Autorin Lana Lux mit ukrainisch-jüdischer Herkunft ihren dritten Roman "Geordnete Verhältnisse" veröffentlicht.

Im Mittelpunkt des Geschehens stehen Philipp und Faina, die sich im Alter von 10 Jahren begegnen. Paul fällt nicht nur wegen seiner leuchtend roten Haare auf, sondern auch, weil er Sommersprossen hat, sehr klein ist und im Gegensatz zu den anderen Kindern ausschließlich schwarze Kleidung trägt. Sein sehnlichster Wunsch, einen Freund zu finden, geht in Erfüllung, als Faina in seine Klasse kommt. Auch sie hat leuchtend rotes Haar, kommt aus der Ukraine und lebt seit 4 Monaten in Deutschland. Der Platz neben Philipp ist frei, Faina setzt sich neben ihn, und die beiden werden zu Freunden. Geduldig bringt Philipp Faina Deutsch bei und sagt ihr, was sie falsch macht.
15 Jahre später, Philipp ist beruflich erfolgreich und bewohnt mit seiner Freundin Romina eine Eigentumswohnung, setzt sich Faina mit ihm in Verbindung. Zwischen beiden war drei Jahre lang Funkstelle, doch nun braucht Faina Philipps Unterstützung. Sie wurde verlassen, ist verschuldet, hat ihr Studium abgebrochen - und ist schwanger ....

Die Geschichte wird in wunderbarer Sprache auf mehreren Zeitebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Dem Ich-Erzähler Philipp folgen wir als kleinem Jungen und als 25-Jährigem im Hier und Jetzt, die Ich-Erzählerin Faina begleiten wir in der Gegenwart. Darüber hinaus gibt es einen allwissenden Erzähler. Die unterschiedlichen Erzählstränge sind der Autorin ganz großartig gelungen, sie ermöglichen es dem Leser, sich noch tiefer in Philipp und Faina hineinzuversetzen und dabei ihren Handlungen zu folgen.

Es hat mich erschüttert, wie sich die Beziehung zwischen Philipp und Faina entwickelte. Hinter beiden liegt eine schwierige Kindheit, Philipp ist kontaktarm und neigt zu Wutausbrüchen, während Faina gesellig ist und unter starken Stimmungsschwankungen leidet. Philipp ist jegliche intime Zuneigung zuwider, Faina ist Männern und Frauen zugeneigt. Für Philipp ist Faina der wichtigste Mensch in seinem Leben, und er liebt sie auf seine ganz spezielle Art. Er überschreitet Grenzen, als er beginnt, sie zu manipulieren und zu kontrollieren. 

Lana Lux hat ihre Charaktere sehr authentisch und bildhaft beschrieben und uns durch ihre klare Erzählweise tief in ihre Gefühls- und Gedankenwelt blicken lassen. Die toxische Beziehung von Philipp und Faina ist sehr gut beschrieben, ich habe mit der jungen Frau mitgelitten und immer gehofft, dass sie einen Ausweg aus ihrer schwierigen Situation findet.
Das intelligent geschriebene Buch hat mir sehr gut gefallen, es ist spannend und fesselnd. Die schockierende Geschichte, in der es auch um Lügen und Gewalt geht, hat mich bis zu ihrem mich vollkommen überraschenden und dramatischen Ende gefesselt und tief bewegt.

Absolute Leseempfehlung für diesen intensiven und beeindruckenden Roman, der unter die Haut geht!

Bewertung vom 06.02.2024
Südfall
Knöppler, Florian

Südfall


ausgezeichnet

Einfühlsame Geschichte über Menschlichkeit und schicksalhafte Begegnungen
In seinem neuen Roman "Südfall" erzählt Florian Knöppler die Geschichte des britischen Soldaten Dave, der im Sommer 1944 mit seinem Fallschirm unverletzt vor der Hallig Südfall landet, nachdem sein Flugzeug über dem nordfriesischen Wattenmeer abgeschossen wurde. Eine ältere Frau nimmt den jungen Mann, der eigentlich Tierarzt ist, mit nach Hause und bietet ihm an, zu bleiben. Er könnte dort das Ende das Krieges abwarten, aber es hält ihn nichts auf der kleinen Insel, er möchte über Dänemark zurück nach England. Bald schon macht er sich auf den Weg und riskiert dabei, festgenommen zu werden ...

Wir begleiten den sympathischen Dave auf seiner Flucht und lernen dabei verschiedene Menschen kennen, die ihm helfen. Da ist zuerst der junge Paul, dem er hilft, ein Schaf zu retten. Paul wurde nach dem Tod seiner Eltern von seiner Tante Anna aufgenommen, die ihren Hof allein führt, seit ihr Mann Friedrich im Krieg kämpft. Dave begegnet auch der ehrgeizigen und wissbegierigen Cecilie und Simon, der eine schwere Krankheit überstanden hat. Sie gewähren dem feindlichen Soldaten Unterschlupf und versorgen ihn mit Nahrung. Mit seiner offenen und ehrlichen Art gewinnt Dave das Vertrauen der Menschen, sie öffnen sich ihm und erzählen von ihren Sorgen, Problemen und Träumen.

Das Buch ist in schöner und ruhiger Sprache geschrieben und liest sich sehr flüssig. In jedem einzelnen der 6 Kapitel sind Daves Begegnungen mit ganz unterschiedlichen Menschen und die tiefgründigen Gespräche, die er führt, voller Empathie beschrieben. Der Autor skizziert seine interessanten Charaktere sehr liebevoll und authentisch. Meine Lieblingsfigur war die mutige Anna, die ich wegen ihrer herzlichen und zupackenden Art gleich ins Herz geschlossen habe.

Mir hat die berührende Geschichte, in der intensive Begegnungen im Mittelpunkt stehen, sehr gut gefallen. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 05.02.2024
Zimmer 55
Kubicek-Boye, Helena

Zimmer 55


gut

Spannender Thriller mit Schwächen
Der Saga Egmont Verlag hat "Zimmer 55", den ersten Band einer neuen Thrillerreihe der schwedischen Autorin Helena Kubicek Boye um die Psychologin Anna Varga, der im skandinavischen Raum bereits 2018 erschienen ist, veröffentlicht.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die junge Psychologin Anna, die eine Stelle in der berühmten rechtspsychiatrischen Klinik in Säter annimmt. Ihre alte Freundin Lina, die dort eine Facharztausbildung absolviert, hat sie dazu überredet. Anna freut sich auf die neue Herausforderung, da sie sich gerade von ihrem Freund Mathias getrennt hat und Stockholm endlich hinter sich lassen kann. Ihre Freude an der neuen Tätigkeit wird getrübt, als sie in ihrem Büro einen Hinweis auf einem Spiegel entdeckt, der auf Zimmer 55 der Klinik hinweist. Wo befindet sich dieses Zimmer, das es offiziell gar nicht gibt? Anna erhält auch anonyme Briefe, die ihr Rätsel aufgeben, und erfährt, dass ihre Vorgängerin Mona spurlos verschwunden ist. Als sie mit eigenen Nachforschungen beginnt, wird ihr geraten, sich aus der Sache herauszuhalten. Bald schon wird ein Patient von Lina tot aufgefunden ...

Der Thriller liest sich sehr flüssig, der Sprachstil ist angenehm. Die Geschichte ist in vielen kurzen Kapiteln aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt und in weiten Teilen spannend. Es gibt einige Verdächtige, und die Autorin führt den Leser geschickt auf falsche Fährten. Ich mag Thriller, bei denen ich lange im Dunkeln tappe. Leider hatte ich bereits nach etwa zwei Dritteln des Buches eine gewisse Vermutung, daher war die Auflösung für mich nicht überraschend. Ich habe es sehr bedauert, dass die berührende Geschichte dahinter relativ kurz abgehandelt wurde. Hier hätte ich gern mehr gelesen.

Die Charaktere sind gut beschrieben, allerdings fand ich die Geschichte stellenweise unglaubwürdig. Auch manche Verhaltensweisen der Figuren habe ich als unrealistisch empfunden. Gut gefallen hat mir, dass das Buch ohne blutiges Gemetzel und Gewaltszenen auskommt.

Bewertung vom 05.02.2024
Demon Copperhead
Kingsolver, Barbara

Demon Copperhead


ausgezeichnet

Beeindruckendes Meisterwerk
In "Demon Copperhead" erzählt die amerikanische Autorin Barbara Kingsolver die Geschichte "David Copperfield" von Charles Dickens neu. Das ist ihr so meisterhaft gelungen, dass sie dafür im letzten Jahr mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. 

Demon Copperhead, der eigentlich Damon Fields heißt, kommt in einem armen Bezirk in Appalachia zur Welt. Seine Mutter ist 18 Jahre alt und drogensüchtig, sein Vater starb bereits vor seiner Geburt. Die kleine Familie lebt in einem gemieteten Wohnwagen auf dem Grundstück der Familie Peggot, deren Enkel Maggot Demon ein enger Freund werden wird. Als die Mutter ihren Freund Stoner heiratet, ist Demon zunehmend dessen Gewalttätigkeiten ausgesetzt. Als er 10 Jahre alt ist, wird er auf einer Farm untergebracht, auf der er das Vieh hüten und bei der Tabakernte helfen muss. Ein Jahr später stirbt seine Mutter an einer Überdosis Oxycontin. Da Stoner kein Interesse an Demon hat, wird dieser bei Pflegefamilien untergebracht.

Demon erzäht uns seine mitreißende Geschichte von der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter mit schonungsloser Offenheit in der Ich-Form. Wir erleben den kleinen Jungen, der nach dem Tod der Mutter in den Pflegefamilien ein trostloses Leben führt, oft Hunger hat und in der Schule die Reste seiner Mitschüler isst. Nachdem er sich Jahre später aufmacht, um seine Großmutter väterlicherseits zu suchen, scheinen sích seine Lebensumstände endlich zu verbessern. 

Die zentralen Themen des Buches sind die Armut, in die viele Kinder hineingeboren werden, und Drogenabhängigkeit mit ihren daraus resultierenden Problemen. Es geht auch um das Schmerzmittel Oxycontin, einem Opiod, das Ende der 1990er Jahre in den Vereinigten Staaten im Rahmen der Opiodkrise bekannt wurde. Die Autorin beschreibt nicht nur sehr detailliert, was Oxycontin mit den Menschen macht, sie setzt sich in diesem Zusammenhang auch kritisch mit der Skrupellosigkeit vieler Ärzte auseinander. Der Roman ist keine leichte Kost, er behandelt auch Themen wie Vernachlässigung von Kindern, Pflegefamilien, Grausamkeit und schmerzliche Verluste.

Demon ist ein fesselnder Charakter, der von seinem Überlebenswillen durch die harte Realität geführt wird. Seine Geschichte. die deutlich mehr Tiefen als Höhen hat, ist meisterhaft in kraftvoller Sprache erzählt und geht unter die Haut. Sie hat mich erschüttert und zutiefst bewegt. Das hoffnungsvolle Ende bildet einen gelungenen Abschluss dieses großartigen Romans.

Absolute Leseempfehlung für dieses beeindruckende Meisterwerk!

Bewertung vom 28.01.2024
Ich liebe dich, weil ich dich brauche
Obuco, Julia

Ich liebe dich, weil ich dich brauche


ausgezeichnet

Aufwühlende und bewegende Geschichte
In ihrem autobiografischen Roman "Ich liebe dich, weil ich dich brauche" erzählt die Schweizer Autorin Julia Obuco mit großer Offenheit und auch selbstkritisch die Geschichte ihrer Beziehung mit Ben, einem jungen Nigerianer.

Ben wächst in Nigeria auf, seine Familie lebt nach den strengen Regeln der Zeugen Jehovas. Seit er mit 10 Jahren zum ersten Mal einen Europäer gesehen hat, träumt er davon, sein eigenes Leben zu leben und nach Europa zu gehen. Ein Onkel finanziert ihm Jahre später die Reise nach Italien, wo er vor die Wahl gestellt wird, entweder in seine Heimat zurückzugehen oder als Drogendealer zu arbeiten. Er bleibt zunächst in Florenz und geht mit 19 Jahren gemeinsam mit seinem Freund Conrad in die Schweiz. Auch dort findet er keine legale Arbeit und verdient sein Geld als Dealer. Bald lernt er die junge Lena kennen, die in einem sehr christlichen Umfeld aufgewachsen ist. Lena gefällt die Zurückhaltung und Höflichkeit des jungen Mannes. Die beiden verlieben sich ineinander und träumen von einer gemeinsamen Zukunft.
Lena ist 18 Jahre alt und konsumiert bereits regelmäßig Marihuana, als sie und Ben heiraten. Schon bald kommt der kleine Kenny zur Welt. Ben unterstützt großzügig seine Familie in Nigeria, während in seiner kleinen Familie das Geld oft knapp ist, was zu Problemen und Streitigkeiten führt. Auf Dauer kann auch Ben den Drogen nicht widerstehen und nimmt immer häufiger Kokain. Die Beziehung der beiden wird auf eine harte Probe gestellt, als die Polizei auf Ben aufmerksam wird ...

Die Geschichte ist in klarer Sprache geschrieben und liest sich sehr flüssig. Sie ist keine leichte Kost und ging mir unter die Haut. Nicht nur Drogen, Sucht und Abhängigkeit sind Themen des Buches, es geht auch um kirchliche Zwänge, um Missbrauch, Manipulation und Schuldgefühle, und es geht auch um Glaube und Hoffnung. Die Autorin schildert sehr eindrucksvoll die Schwierigkeiten, denen Menschen ausgesetzt sind, die hoffen, in Europa ihr Glück und eine neue Heimat zu finden. Die Charaktere sind sehr authentisch und bildhaft gezeichnet, und wir blicken sehr tief in Lenas Gefühls- und Gedankenwelt. Ich habe mitgelitten, als Lena und Ben, die anfangs so viele Träume und Hoffnungen hatten, immer mehr in eine Abwärtsspirale gerieten.

Mir hat das fesselnde Buch sehr gut gefallen. Es ist in zahlreiche Kapitel gegliedert und erzählt die Geschichte abwechselnd sowohl aus Lenas als auch aus Bens Sicht. Ich durchlebte ein Wechselbad der Gefühle, war erschüttert über ein Verbrechen, das an dem 11-jährigen Mädchen verübt wurde, freute mich anfangs mit Lena und Ben, ärgerte mich über ihren Umgang mit den Drogen und war von der tiefen Liebe, die das junge Paar trotz aller Schwierigkeiten miteinander verband, zutiefst berührt.
Auch das Nachwort ist sehr lesenswert. Julia Obuco erklärt darin, weshalb sie ihre Geschichte nicht in der Ich-Form, sondern in der dritten Person geschrieben hat.

Absolute Leseempfehlung für dieses aufwühlende und bewegende Buch!

Bewertung vom 21.01.2024
Leuchtfeuer
Shapiro, Dani

Leuchtfeuer


ausgezeichnet

Der Preis des Schweigens
In ihrem neuen Roman "Leuchtfeuer" erzählt die amerikanische Autorin Dani Shapiro die Geschichte zweier Familien, die auf schicksalhafte Weise miteinander verbunden sind.
 
Avalon, im August 1985: Der 15-jährige Theo Wilf hat noch keinen Führerschein. Mit ihm sitzen seine zwei Jahre ältere Schwester Sarah und deren Freundin Misty im Auto von Theos Eltern Benjamin und Mimi, als ein schrecklicher Unfall passiert. Ben Wilf, Arzt und Vater der beiden Jugendlichen, ist als Erster an der Unfallstelle. Im Bruchteil einer Sekunde ändert sich alles, und die Entscheidungen, die in den folgenden Momenten getroffen werden, werden die Mitglieder der Familie Wilf und ihr weiteres Leben verändern. Was damals passiert ist, bleibt ein Geheimnis, über das die Familie nie wieder reden wird.
Jahre später ziehen die Shenkmans in das Haus gegenüber, und es kommt zu einer besonderen Verbindung zwischen den beiden Familien. 
 
Die Handlung, die sich über einen Zeitraum von 50 Jahren erstreckt, wird auf mehreren Zeitebenen erzählt. Sie beginnt im Jahr 1985 und springt von dort in die Jahre 2010, 1999, 2020, 2014 und 1970. Die Autorin springt zwischen den Zeiten hin und her, diese Zeitsprünge waren ungewohnt und haben mich anfangs etwas irritiert. Sie sind aber sehr gut erkennbar durch die jeweiligen Jahreszahlen am Beginn der Kapitel. Diese sind unterteilt in einzelne Abschnitte, die aus Sicht der unterschiedlichen Personen erzählt werden.
 Neben den Mitgliedern der Familie Wilf lernen wir die Familie Shenkman kennen, die im Haus gegenüber wohnt und aus den Eltern Shenkman und Alice sowie ihrem fast 11-jährigen Sohn Waldo besteht. Waldo ist ein hochintelligenter Junge, der so ganz anders ist als andere Kinder. Er interessiert sich leidenschaftlich für Astronomie und findet in Ben Wilf einen interessierten Zuhörer und Freund. 
 
Das Buch, das auch etwas Mystisches hat, ist in wunderbarer und intelligenter Sprache geschrieben, es fesselte und berührte mich gleichermaßen. Die Autorin zeichnet die Charaktere so tiefgründig, dass der Leser tief in ihre Gefühls- und Gedankenwelt zu blicken vermag. Wir erleben Theo und Sarah im Jugendalter und später als Erwachsene. Theo wird ein ruheloser Meisterkoch, während Sarah als erfolgreiche Drehbuchautorin arbeitet und ein Alkoholproblem hat. Wir sehen ihre Entwicklung und ihre Probleme, erleben ihre inneren Kämpfe und Sorgen. Das alles ist meisterhaft erzählt, die Geschichte ist stellenweise herzzerreißend und hat mich zutiefst berührt. Es geht um viele Themen, um Schuldgefühle und Schweigen, um Liebe und Trauer, Familie und Verbundenheit, und auch um das Älterwerden und Demenz.
 
Ich habe die Charaktere sehr schnell ins Herz geschlossen, ganz besonders den einsamen und von der Magie der Sterne besessenen Waldo, dessen Vater es schwerfällt, die Interessen und Denkweisen seines Sohnes zu akzeptieren. Auch Ben mochte ich sehr, und Mimis nächtliche Suche nach ihren Kindern rührte mich zu Tränen. 
 
Das beeindruckende Buch über die Auswirkungen einer lange zurückliegenden Tragödie auf eine Familie hat mich sehr gefesselt und begeistert. Absolute Leseempfehlung!
 
Der Preis des Schweigens