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TK

Bewertungen

Insgesamt 108 Bewertungen
Bewertung vom 14.03.2023
Wolfskinder
Buck, Vera

Wolfskinder


sehr gut

"Immer brav schweigen, wenn man überleben will"

Eine scheinbar idyllische Bergwelt, in der doch immer wieder junge Frauen verschwinden, eine religiös abgeschottete, unzugängliche Siedlung auf einem Berg, fernab von Zivilisation und Modernität, die aus der Zeit gefallen scheint - ideale Voraussetzungen für das Setting dieses Thrillers.

Die Handlung wird aus der Sicht verschiedener Akteure erzählt, wodurch das Leben in Jakobsleiter als auch das in der "echten Welt", und die Bilder und Meinungen, die beide jeweils voneinander haben, sehr eindrücklich zu erleben sind.
Zu Anfang wirken vor allem die Polizei- und Pressecharaktere eher karikiert, aber im Laufe der Geschichte werden die Figuren realistischer. Vor allem die Kinder aus Jakobsleiter sind beeindruckend charakterisiert, besonders Edith, deren anerzogene Sicht auf die Welt eine tief verstörende Wirkung hat.

Die Dramaturgie der Handlung ist absolut geschickt und kunstvoll aufgebaut. Während man sich anfänglich durch die verschiedenen Charaktere und die Logistik des Settings erst einmal in die Geschichte hineinfinden muss, wird sie dann zunehmend spannender und schneller, packt den/die Lesende/n und lässt nicht mehr los.

Bewertung vom 14.03.2023
Leonard und Paul
Hession, Rónán

Leonard und Paul


sehr gut

Stille Wasser

Ich frage mich, wieso aus dem originalen Hungry Paul in der Übersetzung nur ein Paul geworden ist? Allerdings habe ich auch in der Originalversion vergeblich nach einer Antwort darauf gesucht, warum Paul denn so Hungry ist...
Diese Frage hat mich die ganze Lektüre über leicht irritiert, meine Theorie ist, dass es ein ironischer Spitzname ist, da Paul so gar nicht hungrig auf das scheint, was das Leben vielleicht zu bieten haben könnte, sondern vielmehr genügsam das annimmt, was das Leben ihm gibt.

Die Geschichte von Leonard und Paul jedenfalls erzählt auf sympathische Weise von Freundschaft und Familie, Erwachsenwerden und Älterwerden, und den alltäglichen, kleinen Dingen, die ein einfaches, ruhig glückliches Leben ausmachen. "Enjoy the little things" wurde in den vergangenen Jahren gründlich überstrapaziert, aber das ist eine Kunst, die Leonard und Paul tatsächlich gut beherrschen. Sie mögen etwas merkwürdig, etwas weltfremd sein, aber vor allem sind sie still, nicht weil sie nichts zu sagen hätten, sondern weil man nicht immer etwas sagen muss, weil andere Menschen schon mehr als genug sagen. Auch sind sie nicht antriebslos oder unambitioniert, weil sie nicht nach Höherem, Aufregenderem streben. Sie geben sich nicht zufrieden, sondern sie sind zufrieden, mit sich selbst und mit dem was sie haben. Daher sind sie so bereit, das Neue und Gute anzunehmen, das in ihr Leben tritt.

Zwei sehr charismatische, gar nicht heldenhafte, Helden, in einer gar nicht überschwänglichen, sehr zurückhaltenden Feel-Good-Geschichte.

Bewertung vom 05.03.2023
Nackt in die DDR. Mein Urgroßonkel Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat
Boks, Aron

Nackt in die DDR. Mein Urgroßonkel Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat


gut

Faszinierende Person, gewöhnungsbedürftiger Zugang

Eine Biographie über die Persönlichkeit Willi Sitte, von dem ich zugegebenermaßen bisher sehr wenig wusste, und dessen Rolle in der Geschichte der DDR, sowie in der Familiengeschichte, aus der Sicht seines Urgroßneffen entdeckt - ein sehr spannendes Konzept, dass ich direkt äußerst interessant fand.

Von einem zugegebenermaßen recht naiv-ahnungslosen Ausgangspunkt eines Nachwendegeborenen (sage ich als jemand, der gerade einmal 10 Jahre älter ist) lässt sich sehr gut der Weg der Recherche des Autors verfolgen, ruft allerdings auch etwas Verwunderung hervor – spricht die Vereinfachung und Offensichtlichkeit (muss beispielsweise wirklich erklärt werden, wer Hermann Göring war?) einiger der Fußnoten und Anmerkungen vor allem für den Kenntnisstand der angedachten Zielgruppe oder den des Autors? Für Lesende, die nicht sozusagen nackt und völlig ohne Vorwissen in die DDR starten, ist hier einiges redundant; wie es auf Lesende der nachfolgenden Generation wirkt kann ich nicht einschätzen.


Die Selbstreflektion des Autors "…und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat" und sein Blick über den Bubble-Rand sowie die persönlich erzählte Annäherung an das unbekannte Familienmitglied Willi Sitte, inklusive zum Teil doch sehr subjektiver Beschreibungen der Gesprächspartner und besuchten Orte, hätte wahrscheinlich als Podcast, Reportage, Vlog oder in einem ähnlich informellerem Medium sehr gut funktioniert und wäre auch äußerst interessant gewesen, in einem Buch, welches ein ausgewachsenes Sachbuch mit Fußnoten sein möchte, wirkt sie leider etwas fehl am Platz.
Zu Herangehensweise und Sicht des Autors konnte ich nicht leicht Zugang finden; für meine Wahrnehmung hat seine eigene Einschätzung, noch nicht genug zu wissen, um Aussagen zu treffen - "Als wäre man ein Typ, der gerade sein erstes Wochenende in Berlin wohnt und gleich einem Haufen Freunden "seine Stadt zeigen soll", dabei aber doch nur völlig überfordert über den Alexanderplatz irrt und es für eine gute Idee hält, stundenlang vorm Berghain anzustehen, um am Ende natürlich doch nicht reinzukommen." - durch die Lektüre hinweg leider größtenteils gefehlt. Dazu kommen einige unangenehme Anklänge von Mansplaining und Youthsplaining gegenüber den Gesprächspartnerinnen aus der Familie. Vor dem gefühlten Bestreben, "journalistisch harte" Fragen zu stellen, wurde eine Offenheit und Unvoreingenommenheit gegenüber den Antworten vernachlässigt.


Was ich aber wirklich nicht verstehe - für mich der größte Kritikpunkt am Buch - ist wie eine Künstlerbiographie mit dem Fokus darauf, wie sich die Bildsprache und künstlerische Ausdrucksweise im Spiegel von gesellschaftlichen, historischen und politischen Ereignissen und Einflussnahmen entwickelt und verändert hat, gänzlich ohne Abbildungen der besprochenen Werke veröffentlicht wird. Eine Darstellung und Gegenüberstellung der jeweiligen Bilder, die in der DDR-Öffentlichkeit für so viel Aufregung gesorgt haben, hätte die Geschichte Sittes und die vielen zitierten Meinungen doch sehr viel nachvollziehbarer gemacht.

Auch ein Lebenslauf und ein Stammbaum der Familie Sitte wäre eine hilfreiche Ergänzung gewesen, um bei den verschiedenen Geschwistern und Generationen sowie einigen Zeitsprüngen und Ortswechseln den Überblick besser zu behalten.

Interessantes, gut recherchiertes Portrait eines faszinierenden Künstlers und Menschen, sowie ein spannender Einblick in die Kunst- und Kulturgeschichte und –politik der DDR, allerdings mit einigen Schwächen in der Umsetzung.

Bewertung vom 27.02.2023
Ein Geist in der Kehle
Ní Ghríofa, Doireann

Ein Geist in der Kehle


sehr gut

Ein weiblicher Text

"Ein Geist in der Kehle" ist ein Roman, in dem in der äußeren Handlung gar nicht viel passiert: Eine Mutter schafft sich kleine Freiräume, um zwischen der täglich wiederkehrenden Hausarbeit und Kinderversorgung das alte irische Klagelied Caoineadh Airt Uí Laoghaire zu übersetzen und mehr über dessen Verfasserin Eibhlín Dubh Ní Chonaill und ihr Leben herauszufinden.

Auf der tieferen Ebene entsteht daraus ein faszinierend vielschichtiges Bild, das viele verschiedene Themen berührt.
Die Erzählerin gibt ein ungeschöntes, sehr ehrliches Bild der Mutterschaft, die Erfüllung und Glück verspricht, aber, gerade mit kleinen Kindern, auch Selbstaufgabe und Aufopferung bedeutet und aus einer Reihe von immer gleichen Tagen mit immer gleichen Aufgaben besteht, in der man sich leicht verlieren kann.

Die Suche der Protagonistin nach dem Leben von Eibhlín Dubh in männlichen Texten, vor allem der männlichen Geschichtsschreibung, in der Frauen über Jahrhunderte höchstens am Rande erwähnt wurden, als Mutter oder Schwester eine Nebenrolle spielten, zeigt wie wenig die Worte und die Sicht von Frauen, die eher wörtlich weitergegeben werden, in der Geschichte Beachtung finden. Genau das macht das Caoineadh so faszinierend, weil dieses Gedicht selbst erst wieder aus den einzelnen Strophen, an die sich irgendwo noch irgendwer erinnern konnte, und die sich zwischendurch selbst verändert hatten, zusammengetragen und rekonstruiert werden musste - und doch hat es durch die Zeit hindurch Bestand. Auch das was über die Dichterin im 18. Jahrhundert herausgefunden werden kann, ist kulturgeschichtlich sehr interessant und bildet ein spannendes, wenn auch tragisches Leben ab.

Nicht nur dem Gedicht selbst und den großen bewegenden Themen von Liebe, Tod, Verlust und Schmerz verleiht Autorin Doireann Ní Ghríofa eine unglaubliche Poesie, sondern auch all den kleinen Alltäglichkeiten, den alltäglichen Kleinigkeiten.

Den Hunger der Erzählerin, den Spuren von Gedicht und Verfasserin zu folgen, konnte ich sehr gut nachvollziehen, mir ihr selbst konnte ich mich allerdings leider nicht gleichermaßen identifizieren. Sie und ihre eigene Familie bleiben gegenüber der historischen Familie, der sie sich annähert, seltsam farblos und abwesend, was jedoch auch davon zeugt, wie sehr sie sich aufgibt, um das Leben von Eibhlín Dubh weiterzugeben.

Eine faszinierende Lektüre mit wunderschöner Sprache und vielen Denkanstößen.

Bewertung vom 27.02.2023
Der König der Federträger / Mitternachtskatzen Bd.3
Laban, Barbara

Der König der Federträger / Mitternachtskatzen Bd.3


sehr gut

^-^ Spannendes Katzenabenteuer ^-^

Ein Buch das richtig Spaß macht zu lesen: spannende Handlung, ein Erzählstil mit gut verständlichen Beschreibungen, mit genau der richtigen Kapitellänge und Schriftgröße zum Vorlesen oder Selbstlesen, oder zum in kürzester Zeit Durchschmökern, je nach Alter und Lesestand des Publikums.

Das Highlight der Geschichte sind natürlich die verschiedenen Katzencharaktere, die den Lesenden begegnen. Diese sind sehr unterschiedlich, und alle so, wie man sich als Katzenfreund und -kenner sehr gut vorstellen kann, was Katzen sagen und denken würden, wenn man sie als Mensch tatsächlich verstehen könnte.
Auch die menschlichen Figuren sind mit ihren verschiedenen Seiten und Eigenschaften sehr realistisch und glaubhaft charakterisiert.

Das Buch sticht durch seine tolle Gestaltung heraus, jede einzelne Seite ist mit Ornamenten verziert, dazu finden sich im Buch immer wieder schöne ganzseitige, sehr gut zur Handlung passende Bilder.

Das Cover ist ebenfalls wirklich sehr schön und einladend gestaltet mit den Illustrationen und Goldelementen und übt eine große Anziehungskraft auf den Betrachter aus.
Allerdings fühlt sich (zumindest für uns) die Beschichtung des Covers sehr unangenehm an. Auch hat das Buch einen recht starken chemischen Geruch, wodurch leider die Lesefreude ein kleines bisschen getrübt wird.

Obwohl uns Teil eins und zwei noch nicht bekannt sind, war der Einstieg in die Geschichte sehr einfach möglich und alles war gut verständlich. Die vorherigen beiden Bände stehen jetzt auf jeden Fall auch auf der Leseliste!

Bewertung vom 27.02.2023
Aus ihrer Sicht
Céspedes, Alba de

Aus ihrer Sicht


sehr gut

Zeitlos und kraftvoll

Für ein Buch, das zuerst 1949 in Italien veröffentlicht worden ist, bietet "Aus ihrer Sicht" eine absolut aktuelle, zeitlose und unmittelbar emotional nachvollziehbare Geschichte einer jungen Frau.
In einer Gesellschaft, in der ihr von allen Seiten vermittelt wird, dass man als Mensch, aber besonders als Frau, gar nicht darauf zu hoffen braucht, im Leben zufrieden und glücklich zu sein, möchte sich die Protagonistin Alessandra damit nicht abfinden. Auch die von einer patriarchalisch bestimmten Welt vorangenommene Rolle einer (Ehe-)Frau und die vorbestimmten Einschränkungen, die sie selbst in der Ehe mit ihrem eigentlich modern eingestellten Mann erfährt, kann und will sie nicht akzeptieren. Ihre starken Überzeugungen bringen sie schließlich dazu, aktiv im antifaschistischen Widerstand zu kämpfen.

Der Roman ist eine recht anspruchsvolle Lektüre, denn die Erzählung ist sehr detailreich und lang - "Sie ist tatsächlich sehr lang, denn auch das kurze Leben einer Frau ist, Tag für Tag und Stunde um Stunde, unendlich lang, und selten gibt es nur einen einzigen Grund, der sie zu einem plötzlichen Aufbegehren zwingt." - und nicht in Kapitel oder deutliche Abschnitte aufgeteilt, und der Spannungsbogen der Handlung und Ereignisse nimmt erst in der zweiten Hälfte des Buches zunehmend Geschwindigkeit auf, aber auf jeden Fall eine sehr bewegende und lohnende Lektüre:
Ein kraftvolles Portrait einer Frau und einer Zeit, mit sehr viel umfassenderen und universellen Botschaften.

Bewertung vom 25.02.2023
Young Mungo (eBook, ePUB)
Stuart, Douglas

Young Mungo (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Schmerzhaft, unter die Haut, und hoffnungsvoll

"Young Mungo" erzählt eine Geschichte, für die so ziemlich jede Triggerwarnung notwendig ist, die man sich vorstellen kann. Doch so schmerzhaft Mungos Lebensgeschichte auch ist, so viel Herz und Willen und Humor beweist sie auch, so dass trotz allem ein Gefühl oder ein Wunsch der Hoffnung zurückbleibt.

Douglas Stuart ist mit Mungo ein unglaublich eingehender Protagonist gelungen, der in den prekären Verhältnissen eines Glasgower Arbeiterviertels der 90er Jahre, wo Härte und Gewalt zum Überleben notwendig scheinen, einfach zu weich, zu schön und zu gut ist.

In einer Lebenswelt und gesellschaftlichen Prägung, aus der es kaum jemand schafft zu entkommen, von unbeschadet entkommen ganz zu schweigen, kann Mungo schlicht nicht anders, als genau der zu sein und zu bleiben, der er ist.

Seine Stimme und seine Erfahrungen sind so packend und ehrlich, dass ich mich kaum von der Geschichte losreißen wollte - ein absolut empfehlenswerter, unter die Haut gehender Roman!






Zur deutschen Version:
Da ein großer Teil der Persönlichkeit des Romans auch über das sehr spezielle, aber auch sehr sympathische schottische Englisch erzeugt wird, bin ich sehr froh, "Young Mungo" in der originalsprachigen Hörbuchversion von Chris Reilly gehört zu haben, denn die deutsche Übersetzung des Dialektes sagt mir nicht so zu - allerdings ist passende Dialektübersetzung auch ein schwieriges Unterfangen und zwangsläufig weniger authentisch.

Das auf manchen Ausgaben verwendete Coverbild eines Jungengesichtes halb unter Wasser finde ich sowohl in Bezug auf die tatsächliche Handlung als auch symbolisch passender und auch ansprechender, weil es Mungos Erfahrung nicht allein auf seine Homosexualität reduziert.

Bewertung vom 17.02.2023
Ruhm und Verbrechen des Hoodie Rosen
Blum, Isaac

Ruhm und Verbrechen des Hoodie Rosen


ausgezeichnet

Sympathischer Protagonist in einer überraschend zugänglichen Welt

Mit Hoodie Rosen ist Isaac Blum ein unglaublich sympathischer Protagonist gelungen, dessen Stimme, Humor und Sicht auf die Welt mich wirklich angesprochen haben und mir eher bekannt als fremd vorkamen, obwohl sie aus einer ganz eigenen, parallelen Gesellschaft kommen.

Hoodies Geschichte hat mich an mehr als einer Stelle überrascht, vor allem wie amüsant und leichtfüßig sie auf einer Seite ist, und wie dramatisch und berührend auf der anderen Seite.
Ich war überrascht, wie locker Hoodie seine Jugend und sein Familienleben mit seinen herrlich schrägen Schwestern auch in einer orthodoxen jüdischen Gemeinde wahrnimmt und beschreibt, allerdings beruht die Überraschung hier wohl eher auf klischeebehaftetem Denken meinerseits, schließlich sind Teenager vor allem Teenager, auch wenn oder gerade weil sie in einer Gemeinschaft mit strengen Regeln aufwachsen. Außerdem ist Hoodie im Vergleich zu seinen Freunden wohl auch tatsächlich eine Ausnahme in seiner Gemeinschaft.

Sehr spannend fand ich, dass er nicht rebelliert oder sich gegen Familie und Glaubensgemeinschaft auflehnt, sondern vielmehr durch den ihnen entgegengebrachten Antisemitismus, eine zufällige Freundschaft und seinen Wunsch zu helfen in eine Situation gebracht wird, in der er trotz guter Absichten gegen die Regeln des Talmud verstößt.
Erwachsenwerden und einen eigenen Platz in der Familie, der Gesellschaft und der Welt zu finden ist für jeden jungen Menschen schwierig, aber die Vielzahl an Regeln, Auslegungen und Interpretationen zu navigieren macht es wirklich nicht einfacher.

Das Buch bietet einen klug geschriebenen, gut verständlichen und sehr zugänglichen Einblick in eine eher unbekannte Lebenswelt, die man durch die liebenswerten Charaktere sehr persönlich erlebt.

Bewertung vom 06.02.2023
Gleißendes Licht
Sinan, Marc

Gleißendes Licht


sehr gut

poetische, alptraumhafte Spirale in die Dunkelheit

Eine sehr spannende, häufig verstörende Auseinandersetzung mit der türkischen Geschichte und dem türkischen Wesen, dem Völkermord an den Armeniern, und der über Generationen weitergegebenen Schuld, dem Wunsch nach Rache, Vergeltung, Vergebung.

Der Wechsel zwischen den Szenen, den Generationen, Handlungsorten, erlebter und erzählter Vergangenheit sowie der Handlungswelt und der Gedankenwelt des Protagonisten ergibt ein faszinierendes, aber nicht einfach zu verarbeitendes Gesamtbild.
Der Protagonist Kaan ist eine problematische, häufig sehr unsympathische Figur, die sich immer mehr in wahnhaft-zwanghaftem Drang nach Rache und alptraumhaften Szenen, die nicht mehr in der Realität verankert sind, verliert.
Der in Deutschland aufgewachsene, musisch, unpatriachalisch und unmachistisch erzogene Kaan, dem man seine türkischen Wurzeln auch äußerlich nicht ansieht, erhielt doch in den Ferien bei seinen Großeltern in der Türkei immer wieder die gesamte Last der Familiengeschichte und ein männliches Bild von Stärke und Gewalt aufgeladen. In einer Kultur, in der alle mächtigen männlichen Rollenbilder von Kaan Dede, Großvater, genannt werden, vom tatsächlichen Großvater über mythologische Anführer bis hin zum Präsidenten, überrascht es nicht, dass die Überwindung der Vergangenheit zu einem persönlichen Erbe, einer persönlich empfundenen, alles übersteigenden Pflicht wird.

Den musikalischen Hintergrund des Autors merkt man der Komposition der Szenen, der Wiederholung, Spiegelung und Variation von Themen und Motiven, deutlich an, noch dazu mit dem Wissen, dass dieser Stoff tatsächlich zuerst in einem musikalischen Oratorium verarbeitet wurde. Ebenso ist es der autobiographische Hintergrund, der die Geschichte eine solch starke Wirkung entfalten lässt.

Keine leichte, erst recht keine schöne Geschichte, allerdings eine poetisch, literarisch sehr beeindruckende, in der auf der einen Seite das titelgebende gleißende Licht steht, auf der anderen Seite die "ewige Verbindung von Tätern und Opfern", die "Spirale [...], die uns seit Jahrhunderten in die Dunkelheit zieht".

Bewertung vom 03.02.2023
Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?
Weber, Sara

Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?


sehr gut

Arbeiten am Rande des kollektiven Burnouts

Dieser Titel wird nach den Erfahrungen und Belastungen der letzten Jahre viele Menschen ansprechen, den er trifft genau den Zeitgeist einer Kultur von Erschöpfung und Burnout, die langsam in Frage gestellt wird.
Arbeit sollte nicht der alles bestimmende Teil des Lebens sein, wirtschaftlich ist dies weder nötig noch logisch, von den Auswirkungen auf Menschen, Gesellschaft, Gesundheit und Klima einmal ganz abgesehen.
Diese Auswirkungen sowie mögliche Schlussfolgerungen und Lösungsmöglichkeiten beschreibt Sara Weber in ihrem Buch sehr schlüssig argumentiert, gut recherchiert und mit vielen eindrücklichen, persönlichen Fallbeispielen.

Diese reportageartigen Portraits von Menschen, die für eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedinungen kämpfen, haben insgesamt den größten Eindruck auf mich gemacht. Der Rest der Erläuterungen hatte einige Längen, vielleicht aber auch, weil mir die allgemeinen Informationen und Zusammenhänge der heutigen dysfunktionalen Arbeitswelt durch eigene Auseinandersetzungen sowie durch Blogs, Artikel etc. bereits bekannt sind.

Auf jeden Fall ist das Buch ein sehr zugänglicher und wichtiger Schritt zu der allgemeinen Erkenntnis, dass Arbeit in der Form wie wir sie kennen keine Naturgewalt, sondern menschengemacht ist, und dass wir nicht an unserer gestörten, dysfunktionalen Beziehung zu ihr festhalten müssen.