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Mikka Liest
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⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

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Insgesamt 735 Bewertungen
Bewertung vom 13.03.2018
Aus Syrien geflüchtet
Arsalan, Seif

Aus Syrien geflüchtet


ausgezeichnet

Der Verlag an der Ruhr gibt in seiner Reihe K.L.A.R. reality jungen Menschen eine Stimme und spricht dabei verschiedene wichtige Themen an. Die autobiographischen Geschichten stammen ungefiltert mitten aus dem Leben, so dass jugendliche Leser spüren:

Hey, hier geht es nicht nur um irgendwelches Zeug für die Schule, was eh kein Mensch braucht... Das ist echt. Das könnten meine Freunde sein – das könnte ich sein!

In diesem Buch kommt der junge Seif aus Syrien zu Wort, der dem Leser von seinen Erlebnissen vor, während und nach der Flucht erzählt. Wie ist das, sein Heimatland, Freunde und Familie zurücklassen zu müssen? Wie fühlt sich das an, wenn man in einem überfüllten Schlauchboot übers Meer treibt? Wie lange kann man geduldig und hoffnungsvoll bleiben, wenn es immer wieder heißt: warten, warten, warten... Wenn das Leben erstmal nicht normal weitergehen kann, egal, wie sehr man sich anstrengt?

Die meisten Schüler kennen das Thema Flucht und Migration sicher aus Medien und Elternhaus, werden dabei aber vielfach auf Vorurteile, Misstrauen oder sogar Hass gestoßen sein. Wie oft hört man Behauptungen wie zum Beispiel die, die meisten Flüchtenden wären ja gar nicht wirklich auf der Flucht, sondern wollten sich in Deutschland nur ein leichtes Leben auf Kosten der Steuerzahler machen – oder so arm könnten sie ja nicht sein, wenn sie sogar Smartphones dabei haben!?

Umso wichtiger ist es, dass jemand wie Seif zu Wort kommt, für den die Flucht nach Deutschland wirklich nichts ist, was er sich selber aus freien Stücken ausgesucht hätte, der aber kaum eine andere Wahl hatte. Er will niemandem auf der Tasche liegen, er bemüht sich sehr, Deutsch zu lernen und sich zu integrieren, und einfach ist das alles ganz sicher nicht... Auf der Flucht ist ein Smartphone übrigens kein Luxus, sondern eine unentbehrliche Möglichkeit, mit der Familie in Kontakt zu bleiben!

Seif erzählt sehr sympathisch, man kann sich alles gut vorstellen. Dabei berichtet er zwar nicht detailliert von Gewalt und Grausamkeiten, so dass sich das Buch auch für Kinder ab 12 Jahren eignet, man spürt aber trotzdem, wie schwer das alles für den Jugendlichen ist. Ich konnte zum Beispiel seinen Frust oft sehr gut nachvollziehen, wenn er doch eigentlich nur alles richtig machen will, aber dabei eine Barriere nach der anderen überwinden muss!

Die Geschichte wird in einfacher, klarer Sprache erzählt, mit groß gedruckten Buchstaben und relativ kurzen Sätzen. Denn das Buch soll ja gut lesbar sein für Jugendliche aller Schularten und auch für Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache geeignet sein.

Ich kann es mir sehr gut als Schullektüre vorstellen – vor allem auch (aber nicht nur) in Klassen, an denen junge Flüchtende teilnehmen. Das Buch könnte zu einem wichtigen Dialog führen, ein erster Schritt zur Annäherung sein!

Ich empfinde ganz großen Respekt vor diesem jungen Autor, der von sich aus entschied, seine Geschichte erzählen zu wollen und sich damit an die Autorin Anette Weber wandte.

Bewertung vom 08.03.2018
Die Siedlung der Toten
Landorff, Max

Die Siedlung der Toten


ausgezeichnet

Die Siedlung wurde einst mit hehren Zielen erbaut: ein reges Miteinander sollte die großzügige Architektur ermöglichen, ein gemeinschaftliches Leben ohne Zäune oder andere ausgrenzende Strukturen.

Harmonie, Toleranz, Nachbarschaft? Gutbürgerlich-beschaulich wirkt die Siedlung schnell nur noch nach außen.
Die besten Absichten kommen nicht an gegen die Tendenz des Menschen, die Welt einzuteilen in 'wir' und 'die da', gegen die man sich behaupten muss, um auch ja kein Stückchen abgeben zu müssen von dem, was 'uns' gehört. Landorff zeichnet mit subtilen Nuancen das Bild einer Dreiklassengesellschaft auf kleinstem Raum, in der sich jeder nur zu bewusst ist, wo er steht in der sozialen Hackordnung. Und das fand ich in sich schon erstaunlich faszinierend und spannend.

Vorteile, gegenseitiges Misstrauen und Doppelmoral vom Allerfeinsten regieren das Leben – bis das mit einem Massenmord jäh zum Erliegen kommt.

Ich bin gänzlich ohne Erwartungen an das Buch herangegangen, aber ich war mir nach wenigen Seiten bereits sicher, dass ich es lieben würde. Denn der Schreibstil ist ein Gedicht: klar und ausdrucksstark, abseits inhaltsleerer Phrasen oder klischeebehafteter Bilder. Selbst wenn die Sätze manchmal kurz und schlicht sind, erzeugen sie eine dichte Atmosphäre.

Aber auch abgesehen vom Schreibstil konnte mich das Buch vollends überzeugen:

Die Handlung ist vielschichtig und geschickt konstruiert, mit immer neuen Motiven und überraschenden Wendungen. Dazu kommt noch, dass die Geschehnisse auf mehreren Zeitebenen erzählt werden, wodurch sich der Sinn des Ganzen nur allmählich erschließt. An mehreren Stellen glaubte ich, die Lösung zu kennen, aber stets passierte wieder etwas, das alles auf den Kopf stellte.

Landorff spielt mit den Erwartungen des Lesers und reizt das bis zum Äußersten aus – bis an und über die Grenzen des Glaubwürdigen. Tatsächlich ist die Auflösung am Ende dann ein Geniestreich: wahnsinnig komplex, unerwartet und dennoch in sich schlüssig.

Kommissarin Eva Schnee pflegt ein paar der in der Kriminalliteratur so typischen Ermittler-Probleme, wie eine zerrüttete Ehe oder einen Hang zum Alkohol. Trotzdem fällt sie für mich nicht unter das leidige Klischee, denn sie ist ansonsten eine interessante Protagonistin mit einer ungewöhnlichen Hintergrundgeschichte. (Ich hoffe auf einen Folgeband, in dem man mehr darüber erfährt.) Allerdings fallen ihr manche Dinge etwas zu leicht zu, wenn man bedenkt, dass sich ihr Vorgänger an diesem Fall 20 Jahre lang die Zähne ausgebissen hat!

Dem Leser begegnet eine Vielzahl von Charakteren mit einer Vielzahl von Geheimnissen, die zum Teil ein sehr bedrückendes Bild des Lebens in dieser Siedlung vor dem Massenmord zeichnen.

Sehr präsent ist ein über lange Strecken des Buches nicht namentlich benannter Mann, der mit
eindringlichen Tagebucheinträgen zu Wort kommt und sich dabei mehr und mehr als Erzähler zweifelhafter Zuverlässigkeit entpuppt. Er weiß selber nicht, in wie weit er seiner Erinnerung und seiner Selbstwahrnehmung vertrauen kann, gerade wegen dieser Zwiespältigkeit war er für mich jedoch einer der interessantesten Charaktere des Buches.

Auch andere Charaktere existieren am Rand – am Rand der Gesellschaft, am Rand der Armut, am Rand des Wahnsinns... Bei jedem habe ich mich gefragt: bist du der Tagebuchschreiber? Durch die Geschichte geistert zum Beispiel der "Schenkel Ernsti" mit der Hasenscharte, der fast schon den Status einer lokalen Legende hat und mit dem Eva Schnee es im Laufe der Ermittlungen zu tun bekommt.

Die Spannung ergab sich für mich nicht nur aus der Auflösung der Mordfälle, sondern auch aus dem, was man nach und nach über die Bewohner der Siedlung erfährt.

Bewertung vom 03.03.2018
Sag den Wölfen, ich bin zu Hause
Brunt, Carol Rifka

Sag den Wölfen, ich bin zu Hause


ausgezeichnet

Es gibt Romane, in denen geht man so rettungslos verloren, dass man eine grundlegende Tatsache vergisst: die Charaktere sind nicht mehr und nicht weniger als das – nur Charaktere, in Worte gepresste Fiktion.

Der Verstand weiß natürlich, dass sie genauso wenig 'echt' sind wie ihre Emotionen, aber das Herz spürt dennoch den Widerhall erdachten Glücks und erdachten Leids, wie Vibrationen einer tief tönenden Glocke.

Ich habe mitgefiebert, mitgelitten, mitgehofft, mitgetrauert. Ich habe mich über Ungerechtigkeiten empört. Und ja, ich habe geweint. Bitterlich. Untröstlich. Wenn ich jetzt an bestimmte Szenen denke, spüre ich immer noch das heiße Brennen hinter den Augen.

Wenn eine fiktive Geschichte dermaßen starke Emotionen beim Leser auslöst, dann sind diese mehr als fiktiv – dann nimmt man etwas mit in sein Leben, das bleibt.

Vor allem aber habe ich das Buch geliebt, weil es so unglaublich authentisch ist. Die Emotionen, die es erzeugt, erzeugt es nicht durch billige Effekthascherei. Es drückt nicht mit kitschigem Pathos auf die Tränendrüsen – die Szene, die mich am meisten mitgenommen hat, wird in ruhiger, fast schon schlichter Sprache erzählt.

Auch, wenn das Buch manchmal wehtut, ich würde es nicht umschreiben wollen. So, wie es ist, ist es für mich perfekt.

Obwohl es auf den ersten Blick hauptsächlich um Trauer geht, kristallisieren sich nach und nach andere Themen heraus:Vergebung. Freundschaft. Familienzusammenhalt. Nicht nur für June und ihre Schwester Greta ist es ein Entwicklungsroman, auch die Erwachsenen in ihrem Leben müssen wachsen an dem, was sie erleben. Fast jeder muss Dinge loslassen und sich in anderen Dingen neu erfinden

Und es geht um Aids, denn die Geschichte spielt zu einer Zeit, als man noch kaum etwas darüber wusste. Ich kann mich an diese Zeit erinnern: es gab keine wirksamen Medikamente, die Menschen waren verunsichert, viele glaubten, man könne sich schon durch einen Händedruck anstecken... Manche waren sogar der Ansicht, die Krankheit sei die 'gerechte Strafe' für Homosexuelle.

"...bevor ich mich versah, hatte sie den Mistelzweig hervorgeholt und hielt ihn mit einer Hand hoch. Sie zog damit einen Bogen über unsere Köpfe, als schneide sie die Luft, als halte sie mehr in der Hand als ein Stückchen Ast aus Weihnachtsgrün und Beeren. Finn und ich blickten beide nach oben, und mein Herz zog sich zusammen. Für einen kurzen Augenblick, der vielleicht so lange währte wie ein Sandkorn im Stundenglas oder ein Tropfen in einem undichten Wasserhahn, trafen sich unsere Blicke, und Finn, mein Onkel Finn, durchschaute mich – zack – einfach so. In diesem winzigen Sekundenbruchteil erkannte er, dass ich Angst hatte, und er senkte meinen Kopf leicht nach unten und küssste mich mit einer so sanften Berührung auf den Scheitel, dass es sich eher anfühlte wie ein landender Schmetterling."
(Zitat)

Die Charaktere zeigen mehr und mehr eine große Tiefe. Die Geschichte wird aus Sicht der 14-jährigen June erzählt, die einen erstaunlich feinen Blick auf das Leben hat. In glasklaren Worten erklärt sie sich im Grunde selber ihre Welt, und das liest sich mal poetisch, mal spannend.

Junes Schwester Greta und die Mutter der Mädchen machen es dem Leser manchmal nicht leicht. Ich habe mehr als einmal wütend umgeblättert, aber je besser June ihre Beweggründe versteht, desto deutlicher konnte ich sie nachvollziehen. Die Fassade bricht nach und nach auf, und dahinter zeigen sich alte emotionale Wunden und verletzte Einsamkeit.

Auch, wenn es nach einem Klischee klingt: ich konnte das Buch kaum weglegen. Manchmal hätte ich mir gewünscht, in die Geschichte eingreifen oder die Zeit für die Charaktere zurückdrehen zu können. Für ein paar Stunden waren diese mehr für mich als Zeichen auf Papier - und sogar jetzt ertappe ich mich bei dem Gefühl, Freunde zu vermissen.

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.02.2018
Kreuzschnitt / Bogart Bull Bd.1
Borge, Øistein

Kreuzschnitt / Bogart Bull Bd.1


sehr gut

Cotignac, Südfrankreich im Jahr 1906:

Der Fauvismus, eine zunächst kontrovers diskutierte Stilrichtung der Malerei, erreicht ihren Höhepunkt. Sieben ihrer Vertreter treffen sich zu einem mehrwöchigen Aufenthalt, einer Art Workshop, auf einem ehemaligen Weingut: Georges Roualt, Kees van Dongen, André Derain, Santiago Gaillard, Edvard Munch, Henri Matisse und Othon Friesz.

Eymoutiers, Nouvelle-Aquitaine im Jahr 1943:

Partisanen des Marquis, einer Bewegung der Résistance, planen als Sabotageakt gegen die deutsche Besetzung Frankreichs die Sprengung einer Brücke. Doch der sadistische SS-Obersturmführer Otto Wittmann ist den Maquisards auf der Spur.

Oslo, Norwegen in der Gegenwart:

Nach dem Tod seiner Frau und der gemeinsamen Tochter stürzt Kommissar Bogart Bull ab den Alkoholismus, macht eine Entziehungskur und tritt danach seine Stelle bei der Osloer Kriminalpolizei wieder an. Aber er ist nur noch ein Schatten seiner Selbst und seine Chefin beschließt, dass er zwei Dinge braucht: einen Tapetenwechsel und eine neue Aufgabe als Agent des Europols. Sein erster Fall führt Bull nach Südfrankreich, wo der reiche norwegische Unternehmer Axel Krogh ermordet wurde.

Der Kriminalroman springt zwischen diesen drei Zeitebenen hin und her – nur nach und nach setzen sich die Bruchstücke zusammen zu einem clever konstruierten, komplexen Fall, dessen Wurzeln weit zurückreichen.

Für mich waren es besonders der historische Hintergrund und die gekonnte Verknüpfung der verschiedenen Handlungsstränge, die das Buch originell und spannend machten. Man kann zwar schon früh erahnen, wo (und wann) der Schlüssel des Ganzen wohl liegen muss, aber wie genau alles zusammenhängt, das ist die Frage! Natürlich gibt es da auch die ein oder andere unerwartete Wendung und die Auflösung konnte mich überraschen.

Die Spannung ist in meinen Augen eher eine ruhige, und ein paar Mal wird der Spannungsbogen auch unterbrochen, wenn die Geschichte in eine andere Zeit springt. Manches hätte vielleicht etwas gestrafft werden können, aber ansonsten fand ich die Geschichte durchweg sehr interessant.

Gegen Ende hilft Kommissar Zufall etwas bei der Auflösung, aber das fand ich noch verzeihlich, weil es auf mich nicht zu konstruiert wirkte.

Im ersten Moment hatte ich die Befürchtung, Kommissar Bogart Bull könnte ein furchtbares Klischee sein. Immerhin tummeln sich in der skandinavischen Kriminalliteratur die Ermittler mit Alkoholproblemen nur so, und langsam verliert das an Wirkung. Bogart stellte sich jedoch als die erfrischende Ausnahme heraus. Er ist auf dem besten Weg, sein Leben wieder in die Spur zu bringen und ist auch ein erfreulich umgänglicher Typ, der mit den französischen Ermittlern gut und ohne Egotrips zusammenarbeitet. Ich hätte nichts dagegen, ihm in weiteren Bänden in andere Länder zu folgen! Auf Norwegisch ist ein zweiter Band bereits erschienen, ich hoffe also auf eine deutsche Übersetzung.

Auch die anderen Charaktere fand ich gut geschrieben, glaubhaft und ohne Klischees.

Der Schreibstil ist sehr ansprechend – oft ruhig, mit klaren Sätzen, aber auch mit prägnanten Bildern, die Atmosphäre erzeugen.

Fazit:

In Südfrankreich wird die Leiche eines reichen Norwegers gefunden, mit einem großen eingeschnittenen Kreuz auf dem Rücken. Aus seiner Villa wurde lediglich ein einziges Bild eines unbekannten Malers gestohlen – der sich aber rasch als der berühmte norwegische Maler Edvard Munch identifizieren lässt. Europol-Ermittler Bogart Bull, hinzugezogen aus Oslo, folgt den Spuren, die in die Zeit der deutschen Besatzung Norwegens führen.

Mich hat besonders angesprochen, dass die Handlung sich über mehrere Zeitebenen erstreckt und die Auflösung intelligent konstruiert wurde. Der angenehme Schreibstil und der sympathische Ermittler taten ihr Übriges, um dieses Krimi-Debüt in meinen Augen zu einem Erfolg zu machen.

Bewertung vom 24.02.2018
Persepolis Gesamtausgabe
Satrapi, Marjane

Persepolis Gesamtausgabe


ausgezeichnet

Bei autobiographischen Werken widerstrebt es mir, sie nach meinen normalen Kriterien zu besprechen, wie "Originalität", "Spannungsbogen" oder "Charakterentwicklung" – denn sie sind eben so originell und spannend wie das Leben, und die Charaktere entwickeln sich für gewöhnlich so, wie sie es in Wirklichkeit taten. Wie soll man das objektiv bewerten?

Deswegen möchte ich nur ein paar Gedanken zu diesem Comic mit euch teilen:

"Persepolis" ist ursprünglich zwischen 2000 bis 2003 in vier kürzeren Einzelbänden auf Französisch erschienen. Es folgten Übersetzungen in verschiedene Sprachen sowie diverse Auszeichnungen, 2007 wurde die Geschichte als Zeichentrickfilm umgesetzt.

Auch achtzehn Jahre nach dem ursprünglichen Erscheinen des ersten Bandes ist "Persepolis" in meinen Augen immer noch immens wichtig, denn es ermöglicht dem Leser, hinter die Kulissen des Islamischen Regimes zu blicken. Und dort sieht man zwar auch Menschen, die den Vorurteilen entsprechen – fanatisch oder zumindest sehr rigide in ihren religiösen Ansichten –, aber vor allem Menschen, deren Hoffnungen und Träume ein ganz anderes Bild zeichnen. Eltern, die sich mehr Bildungsmöglichkeiten für ihre Töchter wünschen. Frauen, die als kleiner Akt der Rebellion Jeans unter dem Hidschāb tragen. (Was schon zur Verhaftung führen kann, wenn sie der Sittenpolizei in die Arme laufen.) Kurz gesagt: Menschen, die sich gar nicht mal so sehr von uns unterscheiden, nur leben sie in Umständen, die ihre Freiheit gravierend beschneiden.

Wer zum Zeitpunkt der Revolution von 1979 noch nicht geboren oder sehr jung war, ist sich vielleicht gar nicht bewusst, dass sich die Frauen im Iran nicht immer schon verschleiern mussten. Aber Marjane Satrapi erinnert sich noch gut an eine Zeit, als ihre Mutter westliche Kleidung trug und die Nachbarin sogar vorzugsweise im knappen Minirock herumlief. Marjane war zehn Jahre alt, als sie plötzlich ihre liberale Schule verlassen und in ihrer neuen religiösen Schule Verschleierung tragen musste.

Die kleinen Mädchen, die sich der Gefahr nicht bewusst sind, rebellieren, werfen ihre Kopftücher von sich oder knüpfen sie zu einem Springseil zusammen. Aber es dauert nicht lange, bis sie sich zweimal am Tag Musik anhören müssen, die die "Märtyrer" preist, und sich dabei wiederholt heftig gegen die Brust schlagen. Und das ist erst der Beginn.

Die Autorin schildert ihre Erlebnisse in den folgenden Jahren, während Revolution und Krieg, mit viel Humor, ohne die Tragik zu schmälern, bei der einem manchmal die Luft wegbleibt – auch dann, wenn man den Luxus genießt, in einem freien Land gemütlich mit dem Comic auf dem Sofa zu sitzen. Vor allem bringt sie dem Leser die Menschen näher, die nichts von all dem wollten, aber machtlos waren, es zu stoppen. Die das alles nicht verdient haben, und dazu gehört, dass sie es nicht verdient haben, pauschal als Fanatiker und Terroristen betrachtet zu werden.

Marjane selber ist ein entschlossenes intelligentes Mädchen, manchmal stur, manchmal frech, oft am Rande dessen, was noch sicher ist. Als Teenager kauft sie Musikkassetten und Anstecker auf dem Schwarzmarkt, trägt eine Jeansjacke über dem Schleier oder widerspricht wütend der Propaganda ihrer Lehrerin – was letztendlich dazu führt, dass ihre Eltern sie zu ihrer eigenen Sicherheit aus dem Land schaffen, nach Wien, wo sie sich entwurzelt fühlt und jeden Halt verliert.

Ich rechne es der Autorin hoch an, dass sie ihr eigenes Verhalten mit schonungsloser Ehrlichkeit schildert, ohne Entschuldigungen dafür zu finden. Denn sie ist nicht perfekt, sie tut sogar Dinge, die ich schockierend fand - einmal denunziert sie zum Beispiel einen unschuldigen Mann, um die Sittenwache von sich abzulenken, was in krassen Kontrast zu dem steht, was sie eigentlich denkt und glaubt.

Dieser Comic zeigt, was ständige Angst aus Menschen macht – aber auch, dass es immer Widerstand gibt und dass Liebe und Mitgefühl noch unter schlimmsten Bedingungen treibende Kräfte sind.

Bewertung vom 22.02.2018
Die Gameshow
Chick, Mike

Die Gameshow


gut

Menschenverachtende Gameshows haben im Genre Dystopie Tradition, sei es Stephen Kings "Menschenjagd" aus dem Jahr 1982 oder Suzanne Collins' "Die Tribute von Panem" aus dem Jahr 2008. Auch Mike Chick packt die beiden "S" in seine Version der Zukunft – Schockfaktor und Sozialkritik –, schreckt dabei vor brutalsten Szenen nicht zurück und zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die so erschreckend ist, weil sie nicht gänzlich unmöglich klingt.

Hat mich die Umsetzung der Grundidee also überzeugt? Jein.

In meinen Augen bringt das Buch nur wenig Neues in dieses bewährte Thema, und es ist von Anfang an klar, wohin Matthews Reise ihn letztendlich führen wird.

Dennoch liest sich die Geschichte sehr spannend, keine Frage! Man weiß nicht, wie dieser eher naive Familienvater das alles lebend überstehen soll oder wie es mit der verrohten Gesellschaft weitergehen wird. Für meinen Geschmack gab es jedoch zuviel sadistische Gewalt um der Gewalt willen und zu wenig Hintergrundgeschichte, die dem mehr Bedeutung gegeben hätte. Ich hätte zum Beispiel gerne mehr darüber erfahren, wie sich ein demokratisches Land so entwickeln konnte, dass es keinerlei Konsequenzen hat, wenn ein Gefängniswärter das Gefängnis als seine persönliche Folterkammer betrachtet. Die vorhandenen Erklärungen blieben mir zu sehr an der Oberfläche.

Die Charaktere wirkten auf mich sehr unterschiedlich:

Matthew selber war mir sympathisch und ich habe mit ihm mitgefiebert und mitgelitten, weil er wirklich versucht, ein guter Mensch zu bleiben, dem skrupellosen "Hell" aber auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist, wenn er seine Familie schützen will. Ich fand auch seine Entwicklung glaubhaft, denn so ganz spurlos geht sein neues Leben an ihm nicht vorbei. Er beginnt, Dinge zu rechtfertigen, die er vor kurzem noch unentschuldbar gefunden hätte...

Später im Buch lernt er Thomas kennen, einen komplexen, glaubwürdigen Charakter, der sich schnell zu meinem Liebling entwickelte.

Die bösen Charaktere waren mir allerdings zum Teil zu einseitig böse, besonders der eben erwähnte Gefängniswärter, der nur aus Hass, Wut und Sadismus zu bestehen scheint. Es gibt zwar Andeutungen, warum er so ist, dennoch fand ich ihn zu eindimensional. Andererseits ist er ein Charakter, dem nichts zu grausam ist und der dadurch die Spannung hochtreibt; und als Leser kann man gar nicht anders, als ihn zu hassen.

Der Schreibstil trug viel dazu bei, dass ich das Buch trotz meiner Kritikpunkte gerne gelesen habe: Mike Chick findet wirklich originelle Bilder, schreibt sehr lebendig und baut gekonnt Atmosphäre auf – ich war sehr angetan von seinem Stil!

Für meinen Geschmack endet das Buch zu früh, an einem Punkt, wo es gerade interessant wird, weil Bewegung kommt in die öffentliche Meinung. Sowieso geht am Ende alles sehr schnell, sobald die Geschichte über das hinausgeht, was schon im Klappentext steht, und nicht alles fand ich vollkommen glaubhaft.

Das Buch wird ab 12 Jahren empfohlen, was ich wirklich nicht unterschreiben kann.

Bewertung vom 18.02.2018
Lied der Weite
Haruf, Kent

Lied der Weite


ausgezeichnet

„Plainsong“ heißt das Buch im Original: Choralgesang. Ein sehr passender Titel, in zweierlei Hinsicht.

Der Autor lässt den Leser teilhaben am Leben grundverschiedener Menschen, die sich zwar kennen, weil in der Kleinstadt jeder jeden kennt, die aber ansonsten auf den ersten Blick kaum etwas gemeinsam haben. Er gibt ihnen authentische Stimmen, die sich zunächst nur wenig harmonisch zusammenfügen, als ihre Leben sich auf einmal überschneiden – jeder bringt seine eigenen Missklänge ein in diesen Choral: Einsamkeit. Depression. Das unerfüllte Bedürfnis nach Akzeptanz und Liebe.

Die Annäherung beginnt nur vorsichtig, manchmal misstrauisch, aber man spürt sofort: da ist Resonanz. Da bringt einer im Leben des anderen etwas zum Schwingen.

Die Missklänge verstummen zwar nicht über Nacht, am Ende wird das „Lied der Weite“ jedoch zu einem Choral der Hoffnung und des gegenseitigen Respekts.

Die Schlüsselfigur des Romans ist in meinen Augen die schwangere 17-jährige Victoria, die von ihrer Mutter verstoßen wurde. Das setzt in der Kleinstadt einiges in Bewegung, vor allem unerwartete Hilfsbereitschaft: aufgenommen wird das Mädchen letztendlich ausgerechnet von den Brüdern McPheron, zwei alten Viehzüchtern, die ihr ganzes Leben lang Junggesellen waren und nicht die geringste Ahnung davon haben, wie sie mit einem Teenager umgehen sollen.

Für diese beiden Charaktere allein hätte es sich schon gelohnt, das Buch zu lesen! Sie fühlen sich erst heillos überfordert von ihrer neuen Aufgabe, stürzen sich aber dennoch mit einer so schroffen wie herzzerreißenden Liebenswürdigkeit hinein – als hätten sie genau das ihr Leben lang vermisst. Dabei entbehren ihre Szenen nicht einer gewissen Komik, wenn sie versuchen, sich ihre neue Situation mit Dingen zu erklären, die sie kennen und von denen sie etwas verstehen.

Auch die anderen Charaktere erweckt Kent Haruf zum Leben, mit all ihren Marotten, Wünschen, Stärken und Schwächen – und das, ohne dem Leser jemals unmittelbar ihre Gedanken zu verraten. Man beobachtet ihr Verhalten sozusagen von außen, aber das beschreibt der Autor so prägnant, dass man schnell ein Gefühl für sie bekommt.

Plainsong – plain song – plain

„plain“ kann vieles bedeuten, schlicht, gewöhnlich, klar, pur... Und dies ist der zweite Grund, warum der Titel so passend ist: über lange Strecken erzählt das Buch vom ganz gewöhnlichen Alltag in einer ländlich gelegenen Kleinstadt, ruhig und mit sorgsamer Langsamkeit. Hundert Seiten ziehen am Leser vorbei, ohne dass viel passiert, ohne nennenswerten Spannungsbogen.

Aber das ist nicht trivial, das ist das Leben.

Die Geschichte entwickelt ihre ganz eigene Art von Spannung, denn es ist alles so echt, so lebendig, so berührend.Ich habe in jeder Szene mit den Charakteren mitgefiebert – auch wenn sie nur dabei waren, Zeitungen auszutragen.

Schlicht, klar, pur… Das sind alles Attribute, die auf den Schreibstil von Kent Haruf zutreffen.

Er erzählt in einfachen, bedächtigen Sätzen, die dennoch ihre ganz eigene Poesie entfalten. Sie treffen den Kern der Dinge, das Wesen der Menschen, die der Autor so liebevoll beschreibt.

Am Schluss bleiben einige Dinge offen, nicht alle Fragen werden beantwortet. Wir haben die Charaktere ein Stück ihres Weges begleitet, aber im Leben gibt es nur wenige endgültige Enden… Und so kann man als Leser höchstens erahnen, wohin sie die Reise noch führen wird.

Ich hoffe darauf, dass der Verlag auch „Eventide“ noch übersetzen wird, in dem einige der Charaktere aus diesem Buch, wie die McPherons, wieder eine wichtige Rolle spielen. Es ist aber gut möglich, „Lied der Weite“ als alleinstehendes Werk zu lesen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.02.2018
Tante Poldi und der schöne Antonio / Tante Poldi Bd.3
Giordano, Mario

Tante Poldi und der schöne Antonio / Tante Poldi Bd.3


sehr gut

Wie soll man Tante Poldis drittes Abenteuer beschreiben?

Dolce Vita, bella figura, gutes italienisches Essen und ganz viel amore, das ist die eine Seite der Geschichte. Und diese Seite strotzt nur so vor Lokalkolorit, Urlaubsatmosphäre und Sommerflair. Der Autor beschreibt Land und Leute mit viel Liebe zum Detail, so dass man alles vor sich sehen, hören, riechen und schmecken kann, und er lässt sich Zeit dabei. Vielleicht nicht ganz das Richtige für Hardcore-Krimifans, aber schön zu lesen!

Nun zur anderen Seite der Geschichte:

Mafiosi, Fabelwesen, Geheimdienste und eine Vielzahl an schönen Antonios, und zusammen ergibt das den durchgeknalltesten Krimi, den man sich nur vorstellen kann. Waren die ersten beiden Abenteuer von Tante Poldi schon knallbunt und jenseits aller üblichen Maßstäbe von Glaubwürdigkeit, muss man sich hier von Anfang an darauf einlassen, seine Zweifel an der Tür abzugeben.

Ehrlich gesagt wurde das selbst mir manchmal zu viel, und ich bin ein ganz, ganz großer Fan von Tante Poldi. In dieser Geschichte ist einfach alles möglich. Da wirbelt die über 60-jährige Poldi herum wie Jackie Chan oder betätigt sich als verführerische Spionin wie Mata Hari. Und über Wunderkinder, Zyklopen und Meerjungfrauen brauchen wir gar nicht erst reden.

Gelegentlich ging mir da ein wenig die Spannung verloren, weil Poldi so übermächtig erschien, dass ihr sowieso nichts passieren konnte. Unterhaltsam fand ich das Buch dennoch immer, wenn auch auf Nicht-Krimi-Art.

Poldi ist nach wie vor ein Charakter, den man wahrscheinlich liebt oder hasst. Sie ist laut, sie ist schrill, sie wirkt oft selbstsüchtig, und trotz allem ist sie auch ein Charakter mit einer gewissen Tragik. So lustig sie auch wirkt mit ihrer riesigen Perücke, ihrer frechen Art, ihren absurden Klamotten und ihrem enormen Alkoholkonsum, merkt man doch oft, dass sie eigentlich an Depressionen leidet.

Immerhin ist sie ja ursprünglich nach Sizilien gezogen, um sich mit Meerblick zu Tode zu saufen.

Und so leicht es auch wäre, Poldi zu unterschätzen, zeigt sie doch oft eine große Lebensweisheit. Ich konnte als Leserin sehr gut verstehen, warum es so viele Menschen gibt, die Poldi lieben und für Poldi fast alles tun würden.

Der Autor zeichnet seine Charaktere ungemein liebenswert. Und so überlebensgroß, wie sie manchmal wirken, sind sie doch auch gleichzeitig sehr glaubhaft.

Der Schreibstil ist eine Nummer für sich. Manchmal ist er grandios, vor allem, wenn der Autor Land und Leute beschreibt. Dann ist er wieder sehr überzogen, mit viel zu vielen Adjektiven und überdramatischen Metaphern. Aber! Anders dürfte er gar nicht sein. Man darf nicht vergessen, wer diese Geschichte erzählt: Nämlich Poldis Neffe, der Möchtegern-Schriftsteller, der sich manchmal für das größte literarische Talent aller Zeiten hält und dann übers Ziel hinausschießt.

Mit dem Humor in diesem Buch ist es wie mit Tante Poldi selber, subtil ist was anderes. Aber wie Poldi sagen würde: Dezenz ist Schwäche. Da muss man als Leser einfach durch.

| FAZIT |

Poldis drittes Abenteuer setzt nochmal einen drauf. Schneller, lauter, schriller, verrückter. Vieles kann man hier einfach nicht mehr glauben, aber das soll man wahrscheinlich auch nicht. Ein richtiger Krimi ist das nicht mehr, obwohl es eine Leiche gibt und sowohl Geheimdienste als auch die Cosa Nostra eine Rolle spielen.

Aber in meinen Augen liest man die Abenteuer von Poldi auch nicht wegen dem Krimi, sondern wegen der Poldi. Mir reicht das vollkommen, und ich werde die Reihe auf jeden Fall weiter verfolgen.

Als Einstieg würde ich diesen dritten Band allerdings nicht empfehlen. Obwohl man ihn sicher auch ohne Vorwissen der ersten beiden Bände lesen kann, ist es besser, wenn man die Charaktere und die Vorgeschichte schon kennt.

Bewertung vom 05.02.2018
Die Stadt der verbotenen Träume
Itäranta, Emmi

Die Stadt der verbotenen Träume


ausgezeichnet

Vor der Aufgabe, dieses Buch zu beschreiben, stehe ich ein wenig hilflos.

Es gibt Bücher, die definieren sich durch eine brillant konstruierte Handlung, welche sich von A bis Z spannend und unterhaltsam abspult. Andere überzeugen durch schiere Originalität oder durch lebensechte Charaktere, und man kann genau den Finger darauf legen und sagen: Ja, das ist es. Das macht dieses Buch so besonders.

Und damit will ich keineswegs sagen, dass "Die Stadt der verbotenen Träume" diese Eigenschaften nicht besitzt – nur liest es sich wie ein flüchtiger Traum, der kommt und geht. Motive tauchen auf und verschwinden wieder, Dinge erscheinen jäh in einem völlig anderen Licht... Vieles bleibt offen, es gibt nur wenig klare Struktur, alles ist in der Schwebe. Zwischendrin springt die Perspektive von der Ich-Erzählerin zu einer Stimme, bei der man lange nicht einmal einordnen kann, was für eine Art von Wesen da überhaupt spricht.

Ich denke, mein Problem wird langsam deutlich? Denn das klingt völlig falsch: verworren, ermüdend, vielleicht sogar langweilig – dabei habe ich dieses Buch geliebt wie schon lange keines mehr. Aber noch mal von vorn.

Die Welt dieses Buches ist zutiefst originell, aber die Autorin verzichtet darauf, sie dem Leser bis ins kleinste Detail zu erklären, was zum Teil daran liegt, dass auch die Hauptperson ihre Welt nicht komplett begreift. Die Menschen sind sehr gebunden an die Strukturen des Systems, in dem sie leben und werden nicht unbedingt ermutigt, Dinge zu hinterfragen. Nicht einmal im Traum sind sie frei, denn die Fähigkeit, zu träumen, gilt als ansteckende, lebensgefährliche Seuche. Ertappte Träumer verschwinden. Wohin? Wieso?

Der Leser begleitet Eliana dabei, wie sie beginnt, das herauszufinden – und dabei entdeckt, dass sie bisher gerade mal die Spitze des Eisbergs gesehen hat.

Für mich war die Geschichte unglaublich spannend, aber es ist in meinen Augen keine handlungsgetriebene Spannung. Zwar passiert einiges – aber es war Elianas Entwicklung, die mich so ungemein gefesselt hat. Nicht nur, dass sie anfangs vor dem Leser (und sich selbst) einiges versteckt, sie entwickelt schnell eine ungeahnte Tiefe. Dabei begeht sie durchaus gravierende Fehler, zum Teil mit tragischen Konsequenzen, aber es gab nie einen Punkt, an dem ich sie nicht gerne jeden Schritt des Weges begleitet hätte. Die Geschichte ist sehr fokussiert auf Eliana, deswegen bleiben andere Charaktere zwangsläufig etwas blasser, aber auch diese fand ich gut geschrieben. Besonders beeindruckt war ich davon, wie lebendig die Autorin den Charakter der Valeria beschreibt, obwohl diese stumm ist.

So ganz nebenher ist das Buch übrigens ein wunderbares Beispiel dafür, dass Diversität etwas sein kann, was ganz selbstverständlich in die Handlung einfließt. Aber darüber möchte ich jetzt ungern mehr sagen, um nicht schon zu viel zu verraten.

Die wahre Offenbarung an diesem Buch war für mich jedoch der poetische Schreibstil. Ich habe es teils auf Deutsch gelesen, teils auf Englisch gehört und kann nur sagen: die deutsche Übersetzung ist ganz sicher nicht schlecht, aber ich würde dennoch wärmstens empfehlen, das Original zu lesen. (Allerdings ist die Sprache für Anfänger vielleicht nicht ganz so einfach.)

So oder so hat Emmi Itäranta eine hypnotische Sprachmelodie. Sie bedient sich sehr ungewöhnlicher, überraschender Bilder und Metaphern, die sich dabei perfekt einfügen in die dichte Atmosphäre. Ich habe oft innegehalten und Sätze mehrmals gelesen. Die Sprache kann einem schllichtweg die Sprache verschlagen.

Das englische Hörbuch ist einfach ein Gedicht, die Sprecherin, Aysha Kala, erweckt diese Welt beeindruckend zum Leben.

Das Ende wird vielleicht nicht allen Lesern liegen: es ist in meinen Augen weniger ein klar definierter, unzweifelhafter Abschluss, sondern vielmehr eine Grundlage für zukünftige Möglichkeiten, die für Interpretation offen sind.

Bewertung vom 04.02.2018
Dunkel Land / Carl von Wuthenow und Verena Hofer Bd.1
Hill, Roxann

Dunkel Land / Carl von Wuthenow und Verena Hofer Bd.1


sehr gut

Manchmal liest man den Klappentext und weiß direkt, wie das Buch ausgehen wird.

Ehrlich, ich war mir so sicher, wie sich die Dinge hier entwickeln würden – hätte unser Krimi-Lesekreis das Buch nicht für den Monat ausgewählt, hätte ich womöglich nicht danach gegriffen. Mir schwante da was von übereilter Liebesgeschichte und dem ein oder anderen Klischee...

Tja.

Manchmal liest man den Klappentext und liegt einfach komplett daneben.

Das Buch hat mich auf jeden Fall damit überrascht, dass es viel origineller und interessanter konstruiert ist, als ich erwartet hätte. Was hier wirklich großartig funktioniert, ist die Zusammenarbeit der beiden sehr gegensätzlichen Protagonisten:

Kriminalist Carl von Wuthenow leidet an einer besonders perfiden Art von Amnesie, was bedeutet, dass er immer wieder alles vergisst, was in den letzten Monaten passiert ist, und das macht seine Arbeit nicht unbedingt leichter (obwohl er sich ausgeklügelter Bewältigungsstrategien bedient). Literaturwissenschaftlerin Verena Hofer hingegen war der Meinung, ihr Sommerjob würde darin bestehen, einen 12-jährigen Jungen zu fördern, und mit Mord und Totschlag hat sie keinerlei Erfahrung und auch nicht unbedingt das Bedürfnis, das zu ändern.

Auch vom Wesen her erscheinen sie zunächst wie Feuer und Wasser: während Carl nicht immer der umgänglichste aller Menschen ist, ist Verena sehr einfühlsam und hat viel natürliches Taktgefühl. Intelligent sind sie allerdings beide mehr als genug, und so stellen sie bald fest, dass ihre Zusammenarbeit erstaunlich gut funktioniert, auch wenn die ein oder andere Situation für Verena ein echter Schock ist.

So ganz ohne zarte Gefühle läuft es nicht ab, aber erfreulicherweise gab es nicht die befürchtete kitschige Liebesgeschichte!

Die ein oder andere unerwartete Wendung sorgt zunehmend für Spannung, und der Fall stellt sich als mehr und mehr komplex heraus. Die Spuren führen in verschiedenste Richtungen: geht es um die Ausbeutung junger Migranten auf dem Straßenstrich, um Mord aus rassistischen Motiven, oder treibt gar ein Serienmörder sein Unwesen? Viele Spuren führen ins Nichts oder verweisen auf Täter, die es unmöglich gewesen sein können.

In meinen Augen hält sich die Spannung durchweg auf einem hohen Level und es hat lange gedauert, bis ich die richtige Person verdächtigt habe. (Ehrlich gesagt noch nicht einmal deswegen, weil es so offensichtlich gewesen wäre, sondern gerade deswegen, weil ich dazu neige, genau die Person zu verdächtigen, mit der der Autor meines Erachtens den größten Erklärungsnotstand hat.)

Nicht alles fand ich hundertprozentig logisch und schlüssig, angefangen mit Carls Amnesie. Immer, wenn er einschläft, vergisst er alles, was seit der Kopfverletzung, die die Amnesie ausgelöst hat, passiert ist. Für mich klingt diese absolute Übereinstimmung zwischen Schlaf und Amnesie etwas konstruiert. Bei einer Störung des episodischen Gedächtnisses handelt es sich oft um eine retrograde Amnesie (man vergisst Dinge VOR dem traumatischen Ereignis) oder eine antegrade Amnesie (man vergisst Dinge NACH dem traumatischen Ereignis), aber bei letzterem ist es meines Wissens eigentlich nicht an den Schlaf gekoppelt, sondern Betroffenen können sich Dinge oft nur für wenige Minuten merken.

Aber ich bin ja (zugegeben) keine Neurologin!

Manchmal ging es mir ein bisschen schnell, wie mühelos sich Verena in ihre neue Karriere einarbeitet. Klar, bei der ersten Autopsie wird ihr schon ein bisschen schlecht, aber sie steckt das meiste wirklich gut weg und teilt in gefährlichen Situationen auch schon mal aus.

Der Schreibstil ist leicht, locker und liest sich unterhaltsam, mit einer Prise Humor.