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ein.lesewesen
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ZW

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Insgesamt 99 Bewertungen
Bewertung vom 20.07.2023
Der Kaninchenstall
Gunty, Tess

Der Kaninchenstall


weniger gut

Blandine ist die tragische Heldin im Kaninchenstall, einem heruntergekommenen Wohnblock in der fiktiven Stadt Vacca Vale, Indiana. Mitten im »Rust Belt«, in den ehemaligen Industriehochburgen, wo die Zukunftsaussichten heute gegen null gehen. Die 18-Jährige hat bereits einiges hinter sich, von Pflegefamilie zu Pflegefamilie geschoben, beginnt sie ein Verhältnis mit ihrem Musiklehrer, bricht die Schule ab, obwohl sie als hochintelligent gilt. Sie arbeitet in einem Diner als Bedienung und wohnt mit drei jungen Kerlen zusammen, die aus Spaß Tiere töten und ständig high sind. Das kontaktscheue Mädchen ist der Mystikerin H. v. Bingen verfallen und träumt davon, ihren Körper zu verlassen. In dem Moment, wo sie es tatsächlich tut, startet die Geschichte und wir machen einen Schwenk quer durch die verschiedenen Appartements voller hoffnungsloser Existenzen, die, nur getrennt durch papierdünne Wände, nicht umhinkommen, am Leben ihrer Nachbarn teilzuhaben. Eine psychisch kranke Mutter, die Angst vor den Augen ihres Babys hat; ein verzweifelter Mann, der ein Online-Date sucht und nur Ablehnung erfährt; eine Frau, die auf einem Online-Portal für Nachrufe Kommentare moderiert und am liebsten ungesehen bleiben will.
Hinzu kommt eine ehemalige Hollywood-Kinderschauspielerin, die ihren eigenen Nachruf schreibt und ihr Sohn, der als »fluoreszierender Mann« einen Racheakt plant. Und, und, und.
All die Schicksale rasen mit immenser Geschwindigkeit auf sich zu und kehren zu dem Moment zurück, als Blandine ihren Körper verlässt.
Was sich verrückt anhört, ist es auch. Und ich brauchte drei Anläufe, um in die Geschichte zu finden. Im 1. Drittel hatte ich nur Fragezeichen im Kopf und ich kann gut verstehen, wenn viele das Buch frühzeitig abbrechen. Im letzten Drittel wurde es besser, was mich etwas besänftigt hat. Vollgepackt mit bissiger Gesellschaftskritik, von Machtmissbrauch, sozialer Ungerechtigkeit, Chancenlosigkeit bis hin zu falschen Versprechungen der Politik fühlte sich das wie eine rasante Achterbahnfahrt an.

Guntys Blickwinkel auf die gescheiterten Existenzen ist ein anderer, wenig Empathie erzeugender, deprimierender Blick. Sie will aufrütteln, provozieren, das gelingt ihr sicher auch. Ja, es ist schrill, hier wird das Stilmittel der Übertreibungen ausgereizt, hier wird mit Textstilen gespielt, was letztlich auch Sinn macht, da Reizüberflutung eine große Rolle spielt, Internet, TV, Werbung, alles prasselt unaufhörlich, ungefiltert auf die Menschen ein. Hier wird zwischen den Perspektiven gesprungen, in der Chronologie, im Erzählstil – das erfordert Aufmerksamkeit, sonst endet es im Chaos. Das, was Gunty hier macht, ist sicher innovativ und modern, bleibt aber Geschmacksache.
Tess Gunty hat unumstritten Talent. Manche Kapitel sind rhetorisch so stark, dass ich pausenlos zitieren könnte. Doch die Kluft zu anderen Kapiteln wird damit um so größer, in denen die Vergleiche hinken, die Formulierungen angestrengt originell sein wollen. Und dann die pausenlosen Aufzählungen und Wiederholungen, puh. Das wurde mir mit der Zeit zu anstrengend. Insgesamt hinterlässt es bei mir den Eindruck, als seien die einzelnen Geschichten unabhängig voneinander entstanden und hinterher zusammengefügt worden.
Dann schweift sie wieder ab, will viel, manchmal zu viel, findet spät zu Blandine zurück. Vielleicht bin ich da altmodisch, aber fragmentierte Geschichten, die sich als experimentelles Konstrukt erweisen, sind nichts für mich. Ihr komplettes freakig, absurdes Figuren-Panoptikum agiert für sich und scheint nur geschaffen, um all die großen Themen eines Gesellschaftsromans unterzubringen. Zum Teil zeigt sie es sehr eindrucksvoll, andere Szenen waren für mich total überflüssig, weil sie zu nichts führen. Sprachlich grenzen sich die Figuren nicht voneinander ab und manche langweilten mich, sodass ich ganze Kapitel quer gelesen habe.

Vielleicht war es etwas zu überambitioniert, was mich am Ende völlig erschlagen hat. Leider konnte mich die Geschichte emotional nicht erreichen.
Mich hatte die Sichtweise einer jungen Autorin auf das Thema der aussterbenden Industriestädte interessiert im Gegensatz zu Russo, den ich inzwischen zu schätzen weiß und zu dem ich auch zurückkehren werden.
Wie gesagt, es ist einfach Geschmacksache.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.07.2023
Malinverno oder Die Bibliothek der verlorenen Geschichten
Dara, Domenico

Malinverno oder Die Bibliothek der verlorenen Geschichten


ausgezeichnet

Manchmal stößt man auf ein Buch, hinter dessen unscheinbarem Cover eine ganz große Geschichte wartet, die einen tief in der Seele berührt, vor allem wenn man eine Bücherseele hat.
Malinverno ist Bibliothekar in Timpamara, eine kleine Stadt, in der Bücherseiten durch die Luft fliegen, die von den Bewohnern liebevoll aufgesammelt und gelesen werden, damit sie nicht in der Presse der Papierfabrik landen. Hier haben Menschen Namen von literarischen Helden und man spricht statt Dialekt Hochitalienisch.

»Über all in Timpamara, auf Fensterbrettern und Bänken, auf Kofferräumen und Müllsäcken, ja sogar auf den Hüten der Damen, konnte eine Seite aus einem Roman landen. Wenn sie jemand aufhob, sie las, und wenn sie ihm nicht gefiel, warf er sie nicht weg, sondern legte sie irgendwo ab, im Blumenkasten auf dem Bürgersteig oder, mit einem Stein beschwert, auf einer Stufe, damit jemand anderes sie aufhob…« S.12f


Doch Malinvernos geruhsames und geordnetes Leben ist vorbei, als er zusätzlich zum Friedhofswärter berufen wird. Nur unwillig macht er sich an seine neue Arbeit, bis er eines Tages ein namenloses Grab entdeckt. Das Porträt darauf erinnert ihn an Madame Bovary. Flauberts Roman hat ihm über viele schwierige Zeiten hinweggeholfen und daher nennt er sie liebevoll Emma. Aus seiner anfänglichen Verliebtheit wird schnell eine Obsession. Um so überraschter ist er, als ihm eine Frau (Ofelia) begegnet, die Emma zum Verwechseln ähnlich sieht. Kann es sein, dass er am traurigsten und dunkelsten Ort die Liebe seines Lebens gefunden hat?

Was für eine bezaubernde Geschichte voller seltsamer, liebevoller Figuren. Denn Malinverno wird einigen Menschen begegnen, die sein Leben verändern und die Grenzen zwischen Realität und Literatur verschwimmen lassen. Da ist Elea, der Auferstandene; Margherita, die ihre verlorene Liebe heiraten möchte; Isaia Caramante, der die Klänge und Stimmen aus einer anderen Welt aufnimmt. Auch Ofelia ist eine zwischen Realität und Fantasie schwebende Figur, bei der sich der Leser immer fragen wird, ob sie existiert oder nur ein Produkt von Malinvernos Fantasie ist. Sie alle werde ich nicht vergessen, aber Astolfo Malinverno habe ich in mein Herz geschlossen.

Doch uns erwartet keine Liebesgeschichte, denn Trauer und Tod sind ein zentrales Thema in Daras drittem Roman. Und Dara spielt mit Metaphern und Reflexionen darüber und mit der alles verbindenden Brücke, der Liebe. War Malinverno bisher nur stiller Zuschauer, wird er nun selbst zur Brücke, zum Mittler zwischen dem, was ist und dem, was war – ein Hüter der Seelen. Er pendelt zwischen Bibliothek und Friedhof, zwei metaphysischen Orten, die Geschichten und Erinnerungen bewahren. Über all seinen skurrilen Begegnungen liegt ein Hauch magischer Realismus, dessen märchenhafte Atmosphäre mich berührt hat.
Das Buch ist ebenso tiefgründig wie farbenfroh, traurig und heiter. Keins, das man schnell wegliest, nicht nur wegen Daras literarischen Erzählstils, denn es lädt zum Nachdenken ein über das Sein, das Danach, den Sinn des Lebens und was uns wirklich ausmacht.

»Wir sind das, was wir gedacht, uns vorgestellt, erhofft, gewünscht und vergessen haben. Das Universum wird niemals wissen, wie unsere stille, geheime Existenz tatsächlich verlaufen ist, niemand wird je von unseren geheimen Reisen, unseren Liebesfantasien, von den Hunderten Leben erfahren, die in den unendlichen Universen eines Neurons enthalten sind.« S. 314

Es ist auch eine Hommage an die Weltliteratur, von Madame Bovary bis Don Quijote. Wer Sinn dafür hat, wird an jeder Stelle Andeutungen und Symbole finden, stimmig und spielerisch eingesetzt, dass es eine Freude ist. So erinnert Malinvernos Vorname an den Ritter, der zum Mond flog, um verlorene Dinge wieder zur Erde zu bringen. Und wer wie ich auch noch neugierig ist, wird über Daras Liebe zu seiner Heimat stolpern. Denn die Nachnamen der Figuren sind kleine, fast vergessene Orte Kalabriens.
Ich kann nur sagen, wenn ihr Literatur und tiefgründige Charaktere liebt, lasst euch von der Geschichte umarmen, von dem leichten, aber intelligenten Erzählstil Daras verzaubern. Es ist jetzt schon mein Monatshighlight.

Bewertung vom 26.06.2023
Romeo und Julia in Vigata (MP3-Download)
Camilleri, Andrea

Romeo und Julia in Vigata (MP3-Download)


ausgezeichnet

Diesmal sind es 8 Kurzgeschichten, in denen uns der italienische Meister von 1890 bis in die Mitte des 20. Jh. durch sein fiktives Örtchen Vigata auf einen Spaziergang mitnimmt. Ein Zeitabschnitt, in dem viele seiner Bücher spielen, der ihm wohl sehr am Herzen gelegen hat. Vielleicht spielt aber die Zeit auch gar keine Rolle, denn allzu viel tut sich nicht in dem kleinen, fiktiven sizilianischen Örtchen, das seiner Geburtsstadt Porto Empedolce nachempfunden ist.

In der titelgebenden Geschichte wird das 1899 das neue Jahrhundert mit einem Maskenball eingeläutet, was schon im Vorfeld für viel Wirbel sorgt. Aber die beiden verfeindeten Familien wollen in der Nacht ihren Zwist ruhen lassen. Klar dass sich die Kinder Manueli und Mariarosa ineinander verlieben. Manueli lässt seine Angebetete entführen, leider nimmt sein überhasteter Plan einen anderen Ausgang.

Dann erleben wir den Wettstreit zweier Eisverkäufer am Strand von Vigata, der viel Einfallsreichtum hervorbringt und zu einer Volksabstimmung führt und zur Erfindung der Eiswaffel. Ein Esel namens Mussolini und ein paar Schuhe spielen eine Rolle in der einer anderen Geschichte, oder eine falsche Madonna, die den Männern den Kopf verdreht. Ja, ewig lockt das Weib, und das nicht nur in einer Geschichte.
Am besten hat mir »Die Königin von Pommern« gefallen. Keiner in Vigata hat bisher etwas von dem Königreich Pommern gehört, doch alle wittern das große Geschäft, das ihnen vom Marchese versprochen wird. Der Exportschlager sind Hunde, allerdings müssen alle zusammen abgenommen werden. Nun ja, es sind nur 3550 Pommersche Spitze.

Camilleri präsentiert uns die Vigatesi, wie sie sind, verhaftet in ihren Traditionen und Werten, manchmal etwas einfältig und abergläubisch. Klatsch und Tratsch, Eifersucht und Rache und nicht zuletzt die Liebe bringen ihr Blut in Wallung und Abwechslung in den gewöhnlichen Alltag. Man kann über sie schmunzeln, über ihren menschlichen Schwächen, ihren Einfallsreichtum oder ihren Schatten, über den sie nicht springen können. Camilleri zeichnet es wie immer gekonnt mit feinen Pinselstrichen und gelegentlichen Übertreibungen. Für Camilleri-Leser ist es ein bisschen wie heimkommen, man kennt die Vigatesi ja inzwischen mit all ihren Marotten, die sie so liebenswert machen.
Die Geschichten sind eine bizarre Mischung aus Komödie und Drama und es zeigt sich einmal mehr, welch guter Menschenbeobachter Camilleri war. Ohne zu bewerten oder zu moralisieren, richtet er seinen Blick auf die kollektiven Verhaltensweisen und gibt den Menschen seiner Heimat eine Bühne. Ich denke, hier spüren wir viel von dem leidenschaftlichen Theaterregisseur, der er war. Erzählt mit viel Humor, Charme und spitzer Zunge. Er hangelt sich über moralische Untiefen, schaut tief in die Seele, denn er kennt sie, die Schwächen und Nöte seiner Landsleute und spart auch nicht mit Gesellschaftskritik.

Bewertung vom 21.06.2023
Auf die sanfte Tour
Freeman, Castle

Auf die sanfte Tour


ausgezeichnet

Das Buch ist der Auftakt der Sheriff-Lucian-Wing-Reihe und das erste Buch, das ich von Freeman gelesen habe – aber bestimmt nicht das letzte.

Wing ist Sheriff über 17 kleine Ortschaften im ländlichen Vermont. In einer Villa, die den Russen gehört, wurde ein Safe gestohlen und Wing muss den Dieb finden, bevor die Russen es tun. Doch Wing hat seine eigene Vorstellung vom Sheriffsein und dazu gehört, sich aus dem Lauf der Dinge rauszuhalten und hinterher aufzuräumen. Wing hat einen unerschütterlichen Glauben daran, dass Menschen nach kleinen Ausrutschern von selbst auf den rechten Weg zurückfinden.

»Sheriffsein ist ungefähr so, als wäre man Rausschmeißer beim Wohltätigkeitsball: Wenn alles normal läuft, hat man nicht viel zu tun.« S.25

Sheriffsein bedeutet, dass seine Waffe in der Sockenschublade liegt, er keine Uniform besitzt und lieber seinen alten Pick-Up fährt, um dem County ein paar Dollar für den Dienstwagen zu sparen. Was ihn auszeichnet, sind Geduld, Fingerspitzengefühl und Toleranz.

Sein Deputy ist da anderer Ansicht und will lieber schnell eingreifen und Duke, einen Kleinkriminellen, verhaften. Doch das ist nicht Wings einziges Problem. Nach einem »kleinen Sparringsmatch«, wie er es nennt, zeigt ihm seine Frau Clemmie mal wieder ihren »Morgenrücken«, was für ihn eine Nacht auf der Couch bedeutet. Wing schläft viel auf der Couch und dort hat er Zeit, über alles nachzudenken.

Und so lässt Freeman seinen Sheriff erzählen. Über sich, die Menschen und über den Ort, in dem manchmal etwas Staub aufgewirbelt wird, der sich dann aber wieder legt. Take it easy. Denn nicht mal ein nackter, an einen Baum gefesselter Russe bringt Wing aus der Ruhe. Sein lakonischer, selbstironischer, trockener Humor und seine Sicht auf die Welt ließen mich oft schmunzeln, ich konnte gar nicht anders, als ihn in mein Herz zu schließen.

Freeman kurzer Roman (186 Seiten) lebt von seien spröde Charakteren, seinen trockenen Dialogen und den vielen, präzise formulierten Details, die zeigen, welch scharfe Beobachtungsgabe der Autor hat. Zum Beispiel erfahren wir Wings Meinung über seinen Schwiegervater, einem Kleinstadtanwalt, dem er nicht gutgenug ist.

»Addison ist das, was an eine Stütze der Gesellschaft nennt – allerdings eine Stütze, deren Außenseite ein bisschen schöner zurechtgemacht ist als die Innenseite.« S.43

Oder ein anderes treffendes Bild, das mich schmunzel ließ, ist seine Unfruchtbarkeit:

»Das Problem war ich. Wie sich herausstellte, hatten meine Spermien viel mit den ausgemergelten Vermonter Farmern meiner Kindheit gemein: Sie waren wenige, kamen kaum über die Runden und hatten nie schwimmen gelernt.« S.103

Wie schön bitte können Bilder sein?!

Ich denke, mehr muss ich nicht sagen. Es war ein Genuss, das Buch zu lesen, das gern 400 Seiten hätte haben dürfen, kurzweilig, sprachlich top und mit Sicherheit unvergesslich.

Bewertung vom 15.06.2023
Das Band, das uns hält
Haruf, Kent

Das Band, das uns hält


ausgezeichnet

In guten wie in schlechten Zeiten

»Eine schöne, anständige Frau mit weißem Haar, die im ganzen Leben nie mehr als zweiundfünfzig Kilo gewogen hat und seit diesem Silvesterabend noch viel weniger. Trotzdem gehen der Sheriff und die Anwälte davon aus, dass sie sich so weit erholen wird, dass man sie in einen Rollstuhl setzen und dann durch die Stadt zum Gerichtsgebäude fahren kann, um ihr den Prozess zu machen.« S.5

So beginnt die Geschichte von Edith Goodnough, fast 80, die uns von ihrem Nachbarn Sanders Roscoe erzählt wird. Und zwar ganz privat. Nicht etwa dem neugierigen Reporter vom Denver Post, den hat er mit Schmach vom Hof gejagt.
Doch um Ediths Leben bis zu dem Zeitpunkt der Tragödie 1976 zu verstehen, muss er mit ihren Eltern beginnen. Sie verlassen 1896 das fruchtbare Iowa, um ein kleines Stück Land zu besitzen, doch das Grasland ist karg und trocken. Und die Goodnoughs sind einsam und auf sich gestellt. Eine pfeiferauchende Halb-Cheyenne mit ihrem Jungen sind meilenweit ihre einzigen Nachbarn. Nach dem frühen Tod der Mutter bleiben Edith und ihr Bruder Lyman mit ihrem despotischen Vater zurück, der sie mit harter Hand erzieht und keine Liebe kennt.

Haruf hatte mich bereits auf der ersten Seite mit seinen Worten eingefangen. In ihrer Schlichtheit und Direktheit liegt etwas sehr Einfühlsames, Berührendes, das mal melancholisch, mal ironisch direkt unter die Haut geht. Die Geschichte erstreckt sich über 80 Jahre, die geprägt sind von einem spartanischen Leben und unerfüllten Träumen. Aber auch schönen Momenten, die in Ediths Leben so selten und kostbar waren.

Edith ist eine unerschütterlich verantwortungsbewusste Frau, die nie klagt, kein Selbstmitleid kennt, die tut, was sie tun muss. Ihr ganzes Leben widmet sie ihrer Familie – ihrem tyrannischen Vater und ihrem Bruder Lyman, der viele Jahre auf Reisen ist.

Es ist auch ein bisschen die Geschichte der Roscoes, denn zwischen den benachbarten Familien gibt es auch ein Band, das sie über Generationen zusammenhält, ein Band der Freundschaft, denn wer weiß, wie Ediths Leben ohne sie ausgesehen hätte.

Haruf schildert eindrücklich das entbehrungsreiche Farmerleben. Und doch schafft er es mit seinen Worten, uns auch die Schönheit des rauen Landes zu zeigen. Seine Charaktere sind einfache Menschen, die ein einfaches Leben führen, Fehler machen, auch mal ihre Pflichten vergessen, die kleinen Freuden des Lebens genießen können, vor allem aber untrennbar miteinander verbunden sind. Es menschelt gar arg, und das hat mir richtig gut gefallen.
Am Ende habe ich sehr lange über Familienbande nachgedacht. Wie viel wird von einem erwartet, wie weit reicht die Verpflichtung, wie viel ist die eigene Freiheit wert. Ist eine Familie wirklich so untrennbar miteinander verbunden, dass man sein eigenes Leben, seine Selbstverwirklichung hinter alles andere zurückstellt?

Eine wunderbare, traurige Geschichte über die Bindung zwischen Vätern, Müttern und Kindern und Freunden – über das Band, das sie hält.

Bewertung vom 11.06.2023
Schmales Land
Dwyer Hickey, Christine

Schmales Land


sehr gut

Ein Roman, der es vermag, wie ein Gemälde Licht und Schatten eines Sommers, einer Ehe und einer außergewöhnlichen Freundschaft einzufangen – ein Gemälde aus Worten. Ein Porträt aus Einsamkeit und flüchtigem Glück.

1950 Michael, ein Waisenjunge aus Deutschland, wird von seinen Adoptiveltern in New York im Sommer nach Cape Cod geschickt. Er soll ein paar unbeschwerte Wochen bei Mrs Kaplan, der Adoptivvermittlerin verbringen und ihrem Enkel Richie Gesellschaft leisten. Noch immer verstört und traumatisiert von seinen Kriegserlebnissen zieht er sich lieber zurück, statt mit dem etwa gleichaltrigen Ritchie zu spielen. Auch er hat seinen Vater im Krieg verloren und nur noch Umgang mit Erwachsenen, was seiner Mutter Sorgen bereitet.

Dann lernt Michael Mrs Aitch kennen. Die Hoppers, die im Roman nach den Initialen nur Mr und Mrs Aitch genannt werden, reiben sich aneinander auf. Er findet nicht mehr die richtige Inspiration, sie ist seit Jahren frustriert, im Schatten ihres erfolgreichen Mannes zu stehen. Während er oft stundenlang auf der Suche nach Motiven ist, und unter seiner schwindenden Kreativität leidet, wird sie von der Leere und Einsamkeit erdrückt. Sie treibt ihn an, streitet und lässt ihren Unmut an anderen Menschen aus.

Zwischen Mrs Aitch und Michael entspinnt sich eine zarte Freundschaft, woraus beide Momente des Glücks schöpfen und ihrer Einsamkeit entfliehen.

Hickey hat hier keinen klassischen Künstlerroman geschrieben, sondern sich nur einer Phase Hoppers bedient, die geprägt ist von einer Schaffenskrise und einer kritischen Ehesituation. Außerdem wird multiperspektivisch erzählt, so dass Michaels Situation gleichrangig präsent ist. So viel zur Einordnung.
Man sollte hier aber auch kein leichtes Sommerbuch erwarten, weil die Geschichte durchaus etwas düsteres, belastendes hat. Neid, Unzufriedenheit und die Auswirkungen des Krieges sind stets spürbar, auch wenn die Kaplans sich mit einer groß inszenierten Party von all dem ablenken wollen. Das Fehlen der Männer ist allgegenwärtig. In ihrer Verlorenheit gehen Michael, Richie und Mrs Aitch unterschiedliche Wege, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
Das hat Hickey hier hervorragend eingefangen und lässt die 50er mit ihrer bildlichen Sprache lebendig werden.

Letztlich bin ich mir nicht ganz sicher, worauf Hickey in ihrem Roman den Fokus legte. Es ist zum einen ein Porträt einer schwierigen Phase in der Ehe der Hoppers, wobei es mir vorkam, dass Edward sehr ruhig am Rand stand. Zum anderen ist es ein Versuch, die Nachkriegszeit der Amerikaner zu zeigen, die zu der Zeit bereits wieder in Korea einmarschieren, aber die alten Verluste noch nicht verarbeitet haben. Das alles sind aber Überlegungen, die ich erst im Nachhinein angestellt habe, weil ich mir das Ende etwas klarer und stärker gewünscht hätte. Trotzdem kann ich das Buch wärmstens empfehlen, weil mich die Charaktere doch sehr berührt und noch eine ganze Weile beschäftig haben.

Bewertung vom 08.06.2023
Gestern, im Jahr 634
Kemmerzell, Marion

Gestern, im Jahr 634


ausgezeichnet

Ein dunkles Zeitalter wird lebendig

»Der Wagen ruckt, schüttelt sie, nimmt Fahrt auf. Lasst mich nicht hier mit Pest und Teufeln! Nehmt mich um Gottes Willen mit!, schreit Montana, Ermengundis sieht sie laufen, das Kleid mit beiden Händen angehoben, die straken Beine entblößt bis zu den Schenkeln, rennt sie hinter ihnen her. Wir schicken einen Arzt!, ruft Oda zu ihr hin und dreht sich um, So wir einen finden, murmelt sie. Mit einem Klagelaut, ähnlich dem Brüllen eier Kuh, die nach verlorenen Kälbern schreit, bleibt Montana stehen – im Schatten eines Hauses, das vorgestern verlassen wurde. Montana wird die Letzte sein, die in dieser Straße lebt, wenn ihre Mutter stirbt.« S.15

Das war wohl einer der außergewöhnlichsten historischen Romane, den ich je gelesen habe. Die Autorin hat sich eine spannende Zeit ausgesucht, über die es nur wenige Aufzeichnungen gibt, das 7. Jahrhundert, die Herrschaftszeit der Merowinger. Ein dunkles Zeitalter, die Römer sind Vergangenheit, die Germanen erstarkten, Karl der Große ist noch Zukunft. In ihrem fiktiven Roman, der zwischen Metz, Trier, Verdun und Frankfurt spielt, verwebt sie gekonnt reale Fakten.
634 – Der Diakon Adalgisel Grimo diktiert sein Testament, das älteste Dokument des frühen Mittelalters, das nur noch in einer Abschrift aus dem 10. Jhd. erhalten ist. Die Autorin erzählt ausgehend vom Jahr 600 die spannende Geschichte um die Familie Grimos. Als Kind muss er mit seiner Tante Oda und seiner Schwester Ermengundis vor der Pest in die Königsstadt Metz fliehen. Da sie privilegierten Verhältnissen entstammen, genießen sie eine klösterliche Ausbildung. In vielen kleinen Episoden erfahren wir von der brutalen, harten Zeit, die geprägt war von Kriegen, Königsmorden und der Vorherrschaft der Christen. Noch herrscht viel Aberglaube in den Köpfen der Menschen, die alten Götter existieren neben dem christlichen Glauben.

»Der Herr-Gott kann sich nicht um alles kümmern, sagt sie, glaubt mir, Ermengundis, man muss die bitten, die zuständig sind.« S.184

Während Grimo als Diakon seine Berufung findet, hadert seine Schwester zunehmend mit diesem Leben und wünscht sich sehnlichst ein Kind und einen Mann. Obwohl auch sie Diakonin ist und nur an den einen Gott glaubt, findet sie es nicht verwerflich, diesen Wunsch an die alten Götter zu richten.
Im Zeitraffer zeichnet die Autorin nun das Leben der Kinder bis 698 nach, eine Zeit, in der auch die Alamannen ins Geschehen eingreifen. Das führt sie schließlich zu einem Kindergrab, das heute im Frankfurter Dom zu finden ist.

Das Beeindruckendste an dem Roman ist sicher Kemmerzells Sprache, die im ersten Moment ungewohnt erscheint. Sie schafft eine perfekte Symbiose aus unauffälliger moderner Sprache und altertümlichen Begriffen, die sich mit all den wunderbaren Bildern zu einem wahren Echtzeiterlebnis zusammenfügt. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, denn gerade für Frauen war das Leben hart. Tod, Vergewaltigung, Hunger und Krankheiten haben den Alltag bestimmt.

Im Anhang finden wir einen Merowiger-Stammbaum, Listen von historischen Personen und ein ausführliches Glossar, das mir beim Lesen sehr hilfreich war. Auch habe ich immer wieder gegoogelt, weil ich unbedingt mehr über manche Figuren erfahren wollte. Das Buch hat wirklich meine Neugier entfacht.
Ich spreche hier eine eindeutige Empfehlung aus für alle, die sich nicht nur geschichtlich interessieren, sondern auch eine Vorliebe für Sprache haben und rate daher, erst die Leseprobe zu lesen. Ich bin jedenfalls restlos begeistert.

Bewertung vom 06.06.2023
Dunkelzeit
Flanagan, Erin

Dunkelzeit


ausgezeichnet

1985 – Das Wochenende, an dem die Jagdsaison für Hirsche im ländlichen Nebraska beginnt. (Deer Saison, Originaltitel) Auch Hal geht mit seinen Freunden jagen, kommt aber mit einer Beule in seinem Pick-Up zurück und einer toten Hirschkuh, für die er keine Jagderlaubnis hatte.
Es ist auch das Konfirmationswochenende von Milo, dessen Schwester in der letzten Nacht anscheinend nicht nach Hause gekommen ist. Noch sind alle der Meinung, dass sie bald wieder auftauchen wird. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich mit ihren Freunden betrunken hätte. Als sie nach zwei Tage immer noch nicht zurück ist, ist man im Dorf einhellig der Meinung, Hal hat sie getötet.
Hal ist geistig beeinträchtigt und oft Zielscheibe der Bewohner von Gunthrum. Alma und Clyle haben Hal vor einiger Zeit auf ihrer Farm angestellt und sorgen dafür, dass Hal ein relativ selbstbestimmtes Leben führen kann. Jetzt, wo er von allen öffentlich verurteilt wird, versucht Alma ihn nach Kräften zu verteidigen. Sie weiß, dass er nicht immer die Folgen seines Handelns abschätzen kann, aber sie kann sich nicht vorstellen, dass Hal etwas mit dem Verbrechen zu tun hat. Oder doch? Woher stammte die Beule an seinem Pick-up und das ganze Blut in seiner Wohnung?

Wir verfolgen die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. Da ist Alma, die Schulbusfahrerin, die mit den Wechseljahren zu kämpfen hat, mürrisch ist und sich vom Leben betrogen fühlt. Weil ihre Ehe mit Clyle kinderlos blieb, kümmert sie sich um Hal wie um einen eigenen Sohn. Sie würde ihn mit ihrem Leben beschützen. Clyle hat derweil mit seiner Farm zu kämpfen, der Schweinestall ist sein Rückzugsort, wenn Alma ihm mal wieder auf die Nerven geht.

Und da wäre noch Milo, der aufgeweckte 12-Jährige, dem seit Jahren nichts in seinem Elternhaus entgeht, weil er nur zugern die Erwachsenen belauscht. Jetzt, wo seine Schwester verschwunden ist, reimt er sich das merkwürdige Verhalten der Erwachsenen zusammen und stellt Fragen.

Das Buch ist alles andere als ein gewöhnlicher Krimi, ich würde es auch eher als soziales Drama beschreiben, eine charakterbasierte Gesellschaftsstudie. Der Fall der vermissten Peggy steht nicht im Fokus und wir folgen auch keinen direkten Ermittlungen. Flanagan hat hier hervorragende Charaktere geschaffen. Wir bekommen tiefe Einblicke, wie es ist, in diesem Dorf ein Außenseiter zu sein. Alma lebt inzwischen 14 Jahre hier, obwohl sie nur für eine Saison ihrem Mann zuliebe herkam, ihren Job als Sozialarbeiterin aufgegeben hat und eigentlich zu gern ein Teil des Ortes zu sein. Doch der Frust in ihr ist über die Jahre übermächtig geworden und Hal scheint nun der einzige Fixpunkt neben ihren verdrängten Eheproblemen zu sein. Auch Milo ist auf seine Art anders. Er kann sich nahezu unsichtbar machen und interessiert sich mehr für die Probleme der Erwachsenen als für seine Freunde. Und bei Hal kann man sich nie sicher sein, wozu er fähig ist.
Wenn sich nach und nach alle Puzzlestücke zusammenfügen, bekommt man das komplette Bild einer komplizierten Beziehung der Bewohner von Gunthrum, ein Ort, den es wohl zu jeder Zeit überall gibt. Was das Buch somit auch zeitlos macht.

Außerdem mochte ich Flanagans Schreibstil, der voller wunderbarer zitierfähiger Sätze ist, dass ich manche Passagen zwei Mal gelesen habe.
Ich empfehle das Buch gern allen, die nicht auf vordergründige Spannung aus sind, sich dafür lieber von tiefgründigen Figuren begeistern lassen.

Bewertung vom 05.06.2023
Gleich unter der Haut
Obermanns, Berthe

Gleich unter der Haut


ausgezeichnet

Unfassbar gut!
»Und was wünscht du dir vom Leben?«, frage ich.
»Weiß nicht. Tot sein vielleicht«, antwortet sie, und ihre Stimme wird mit jedem Wort leiser. S.88

Es gibt Bücher, da weiß ich nach nur wenigen Absätzen, dass sie mich ganz tief in meinem Inneren treffen werden. Ich schalte runter in den ersten Gang, lese keine Sätze, sondern lese jedes einzelne Wort, weil es genau an der Stelle steht, wo es hingehört. Und dieses Buch hat mich in meinen Sessel gepresst, hat von mir verlangt, jedes einzelne Wort zu spüren.
Ein schonungsloser Angriff auf meine Seele. Ich musste mich entscheiden, lasse ich es zu, dass mich die Geschichte berührt, oder schütze ich mich? Immer wieder legte ich das Buch weg, musste durchatmen, musste mich erden. Wollte ich wirklich wissen, wie es weitergeht? Nie lag ein Buch so schwer in meiner Hand. Was bitte ist das für ein grandioses Debüt?!

Das Buch spielt im Winter in Konstanz und wer diese einheitsgrauen Tage am See kennt, weiß, was das mit einem machen kann. Wir lernen Niklas kennen, der in der Trauer um seine Eltern feststeckt und sich um seine demenzkranke Oma kümmert. Seine Last, seine Überforderung, seine Einsamkeit waren von Beginn an spürbar. In einer nebelverhangenen Nacht lernt er Lou kennen und verliebt sich in sie. Auch Lou kämpft mit ihren Dämonen, ihren Erinnerungen, die sie aber mit Niklas nicht teilen möchte. Zwei einsame, verletze Seelen, traumatisiert, in sich selbst gefangen. Können sie sich Halt geben? Niklas Schwester, die ihre Trauer unter Essstörungen begräbt, warnt ihn, dass Lou ihm nicht guttut.

Die moderne griechische Tragödie: die Suche nach dem Sinn des Lebens, die allgegenwärtige Todessehnsucht, Ausweglosigkeit, die auf eine unausweichliche Katastrophe zusteuert. Berthe Obermanns packt hier alles rein, Missbrauch, Selbstverletzung, nicht bewältigte Trauer, Verlust, Trauma, etc. Viel. Zu viel, dass man Niklas und Lou gern etwas davon abnehmen möchte.

Das Buch hat mich an schwere Zeiten in meinem Leben erinnert und noch jetzt beim Schreiben der Rezension habe ich einen Kloß im Hals und einen Knoten im Magen. Ja, das Buch ist schwere Kost und sicher nicht für jeden geeignet. Aber genauso fühlt es sich an, wenn die Welle über einem zusammenbricht. Wenn man sich zu jemanden hingezogen fühlt, aber immer wieder die Flucht ergreift, wenn Erinnerungen unaushaltbar sind, dass man die Flucht vor sich selbst ergreift.
Die Autorin hat hier sehr lebensnahe, tiefe ProtagonistInnen geschaffen, denen ich jedes Wort, jeden Gedanken abgenommen habe, deren Leid und Verzweiflung mich zutiefst berührt und zu Tränen gerührt haben. Sprachlich war das Buch aufs Wesentliche reduziert, was die Geschichte genaustens reflektiert hat, absolut perfekt. Ich habe lange nichts so gelungenes gelesen, kann es eigentlich kaum glauben, dass es ein Debüt ist. Muss ich noch sagen, dass ich dieses Highlight jedem ans Herz lege, der sich der Thematik gewachsen sieht?

Liebe Berthe Obermanns, ich ziehe meinen Hut vor dir, das war ganz großes Kino. Das Buch ist jetzt voller Post-Its, denn mit deinen Worten hast du mir aus der Seele geschrieben, Worte, die für immer einen Platz in meinem Herzen haben. Vielen Dank dafür, auch wenn ich jetzt wahrscheinlich nie mehr unbefangen über die Rheinbrücke laufen kann. Denn:

»… manchmal, in bestimmten Momenten, wünschte ich, mein Kopf würde auch eine Auswahl treffen, aussortieren, einen festen Kokon um all die Gedanken und Erinnerungen spinnen, die ich nicht haben möchte, sie darin festzurren, ihnen jede Bewegungsmöglichkeit nehmen. Aber er tut es nicht, mein Kopf, so sehr ich mich auch bemühe, er vergisst nicht.« S.77

Und noch ein Zitat, das für immer bleibt:
„Wenn es am Ende keine Erinnerungen gibt oder nur schlechte, gab es kein Leben.“ S.64

Bewertung vom 01.06.2023
Mohawk
Russo, Richard

Mohawk


ausgezeichnet

Das Sterben einer Stadt

»Der Pool, dessen Wasser mittlerweile abgelassen wurde, ist ein klaffender Betonschlund … ein paar trockene Blätter treiben raschelnd in der Nähe des Abflusses. Er sieht ihnen bei ihrem Tanz zu und wie sie an den türkisen Längsseiten des Pools entlangstreichen, ehe sie wieder zurückgleiten, um auf einen neuen Windstoß zu warten.« S.160

So ungefähr fühlt sich das Leben 1967 in Mohawk, der kleinen Stadt im Norden des Bundesstaates New York an. Bröckelnde Fassaden der mühsam vom Mund abgesparten Häuser, geschlossene Gerbereien, die einst nur wenig Wohlstand aber viele Träume in die Kleinstadt brachten. Man sieht den anderen mit neidischen oder bemitleidenden Blicken zu, gefangen im eigenen Unvermögen, ihr zu entkommen. Ein halbherziges Aufbäumen, dann lässt man sich wieder treiben – mit der Eintönigkeit, mit der Zeit, mit dem vorbestimmten Schicksal. Bis erneut ein Windstoß alles für einen Moment durcheinanderbringt.

Russo hat mich mit seiner Art zu erzählen von Anfang an begeistert, voller Witz und bitterer Ironie. Kein Wunder, wenn er einem Atemzug mit Irving genannt hat. Mit viel Liebe zum Detail entwickelt er ein kluges Gesellschaftsporträt einer Kleinstadt, die langsam verfällt. Das bisschen Aufschwung zahlen sie heute mit einer erhöhten Krebsrate. Doch die Menschen haben sich arrangiert, will man aus dem Alltag ausbrechen, geht man zum Glückspiel oder ein paar Drinks in Harrys Grill.

„Dann borgte er sich von Harry einen Fünfziger und gesellte sich zu der Spielrunde im oberen Stock. Die anderen Spieler waren ausschließlich Familienväter, die genug von ihren Familien hatten und vom Anblick der Truthahnkarkasse offenbar furchtbar deprimiert waren.“ S.177

Eine der zentralen Figuren ist Mather Grouse, der rechtschaffene, ehrliche Familienvater, der nie trank, wettete oder spielte. Auch hielt er sich aus den krummen Machenschaften in der Fabrik raus. Daher wird er über die Jahre zum Außenseiter.

„Warum verkündeten sie bei jeder Gelegenheit, Mohawk sei die Hauptstadt der Lederindustrie, und ermutigten neue Arbeiter, sich hier anzusiedeln, wo doch alle wüssten, dass auch so schon nicht genug Arbeit für alle da sei? Diese Leute fliesten ihre Pools mit dem Schweiß und der Arbeitsmoral von Männern wie Marther Grouse.“ S.241

Doch Marther hat Träume für seine Tochter Anne und ermutigt sie früh, mit ihrem Leben etwas Besseres anzustellen. Anne jedoch ist zurückgekehrt mit ihrem Sohn Randall, kümmert sich um ihren schwerkranken Vater, kann aber in den Augen ihrer Mutter Mrs Grouse nichts richtig machen. Mrs Grouse und ihre alte zänkische Schwester Milly sind für mich zwei hervorragende, kauzige Figuren, wenig sympathisch aber herrlich gezeichnet.
Dann wären da noch … ach was, das überlassen wir lieber Russo, seine Figuren vorzustellen. Denn das macht er wirklich bravourös. Ich habe sie alle vor Augen gehabt, sie geliebt, gehasst, Verständnis entwickelt oder mit ihnen mitgelitten. Ihre Frustration und Resignation war stets greifbar, lebt doch keiner das Leben, das er sich erträumt hat. Was bis zum Ende bleibt, ist die Hoffnung, es möge alles gutgehen.

Mohawk ist hauptsächlich ein Roman über die beiden Familie Grouse und Gaffney über drei Generationen und sechs Jahre hinweg. Die leise Spannung entsteht allein dadurch, dass Russo uns die Verbindungen der Charaktere untereinander erst nach und nach aufdeckt. Mohawk ist voll von liebenswerten Versagern, die sich durchs Leben treiben lassen. Und aus dem leichten Windhauch wird am Ende ein ausgewachsener Orkan, der die ständig schwelende Fehde eskalieren lässt.
Russo bedient sich dem etwas antiquierten allwissenden Erzählers, was ich für sehr gelungen empfand. Obwohl die Geschichte zwischen 69 und 71 spielt, gibt es nur wenige zeitlich einzuordnende Detail, was das Buch somit zu einem zeitlosen Lesevergnügen werden lässt.