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SimoneF

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Insgesamt 390 Bewertungen
Bewertung vom 24.07.2024
Radio Sarajevo
Sila, Tijan

Radio Sarajevo


ausgezeichnet

Tijan Sila schildert in "Radio Sarajevo" die Zeit zwischen dem Kriegsausbruch in Sarajevo im April 1992 und seiner Flucht nach Deutschland Anfang 1994. Damals ist er elf bzw. zwölf Jahre alt, und mit dem Beginn des Bombardements seines Viertels endet abrupt seine Kindheit. Da die Schulen für Monate geschlossen werden und später nur behelfsmäßiger Unterricht stattfindet, sind Tijan und seine Freunde weitgehend sich selbst überlassen. Sie ziehen trotz der der ständigen Gefahr, beschossen zu werden, durch die Gegend, auf der Suche nach Dingen, die sie bei den Blauhelmsoldaten gegen Süßigkeiten tauschen könnten. Sie kommen auf dumme und gefährliche Ideen, und es ist manchmal nur ein schmaler Grat zwischen nochmal davonzukommen oder unter die Räder zu geraten. Die Atmosphäre ist bedrückend, die Situation zwischen Milizen, Warlords und Armee unübersichtlich. Der Schwarzmarkt blüht, und Glück hat, wer Kleinkriminelle kennt, die etwas "organisieren" können.

Besonders schockiert hat mich zu lesen, wie stark das Umfeld der Kinder in Sarajevo von Gewalt geprägt war. So gehörte diese nicht nur unter den Jugendlichen selbst, sondern auch in der Schule und zu Hause zum Alltag, und prügelnde Lehrer und Eltern waren Normalität.

Auch wenn Sila und seine Familie den Krieg überlebt haben, hat er ihr Leben für immer verändert. Wenn Sila über diese Folgen schreibt, werden der Schmerz, die Trauer und die Bitterkeit, die die Ereignisse hinterlassen haben, deutlich, und er findet starke und eindrückliche Worte, um dies zu beschreiben. Ich verzichte hier bewusst auf Zitate, um diese besonders im Gedächtnis bleibenden Passagen nicht vorwegzunehmen.

Ein starkes, schonungslos ehrliches und unbedingt lesenswertes Buch.

Bewertung vom 23.07.2024
Die Suche nach der geheimen Meeresstadt / Greenwild Bd.2
Thomson, Pari

Die Suche nach der geheimen Meeresstadt / Greenwild Bd.2


ausgezeichnet

Letztes Jahr haben wir gemeinsam mit unserem Sohn den ersten Band von „Greenwild“ gelesen, und er hat sowohl uns Eltern als auch unseren 9-Jährigen begeistert. Wir haben daher schon mit großer Vorfreude auf die Fortsetzung gewartet. In „Greenwild – Die Suche nach der geheimen Meeresstadt“ geht Daisys Abenteuer nahtlos weiter, man sollte also unbedingt Teil 1 vorher gelesen haben.

Daisy weiß inzwischen, dass ihre Mutter lebt, sie wird jedoch von den Sensenleuten im Amazonas gefangengehalten. Daisy setzt alles daran, sie zusammen mit den Botanist:innen von Greenwild und ihren Freund:innen Indigo, Holly und Prof zu befreien. Hierzu benötigen sie jedoch die Hilfe der geheimnisvollen Stadt Riffenfels in Marindeep, von der niemand weiß, ob sie überhaupt existiert. Daisy und ihre Gefährt:innen begeben sich auf eine aufregende Suche, bei der sie dem Jungen Max und vielen weiteren spannenden Charakteren begegnen.

Wie schon Band 1 ist auch der zweite Teil sehr spannend und sprachlich gewandt geschrieben, und es macht großen Spaß, ihn zu lesen. Pari Thomson hat immer wieder ausgefallene Ideen rund um die grüne und die blaue Magie (Souventusbaum der Erinnerungen, Flexilisholz, Cumulus-Äpfel etc.), die für Abwechslung und überraschende Wendungen sorgen. Daisy und ihre Freunde halten fest zusammen, unterstützen einander und beweisen Mut, Ausdauer und Einfallsreichtum. Aber „Greenwild“ ist nicht nur eine magische Fantasy-Geschichte, sondern zeigt auch ganz nebenbei, wie schützenswert die Natur ist und wie bedroht das sensible Gleichgewicht der Meere, insbesondere auch der Korallenriffe, durch die Menschen ist. Auch eine weitere Lesart ist offensichtlich: So, wie im Buch Greenwilder und Marindeeper nur mit vereinten Kräften den Kampf mit den Sensenleuten aufnehmen können, müssen auch in der Realität alle Menschen auf der ganzen Welt die ökologische Krise gemeinsam angehen.

Da im Buch auch ernstere Themen angesprochen werden, auch Figuren sterben, würde ich das Buch nicht mit zu jungen Kindern lesen, die Altersangabe von 10 Jahren finde ich sehr passend.

Wir sind wieder sehr gerne in die magische Welt von „Greenwild“ eingetaucht und können es kaum erwarten, auch den finalen Teil zu lesen!

Bewertung vom 19.07.2024
Alice und die Geister von nebenan
Davies, Jacqueline

Alice und die Geister von nebenan


sehr gut

Alice Cannoli-Potchnik ist in ihrem zehnjährigen Leben schon unzählige Mal umgezogen, von einem baufälligen Haus auf dem Campus des Colleges, an dem ihre Mutter als Professorin lehrt, ins nächste. Doch Alice und ihr Vater lieben es, kaputte Dinge zu reparieren, und so ist Alice in ihrem Element. Als ihre Familie zum elften Mal umziehen muss, zieht das abbruchreife Nachbarhaus Alices Neugier auf sich. Alices Eltern, die das Freilernen befürworten und Alice nicht auf eine Schule schicken, steigt dort ein und beginnt auf eigene Faust zu renovieren. Schnell stellt sie fest, dass in diesem Haus etwas anders ist und sie die Anwesenheit von drei Geistern spüren kann. Nach einigen Tagen gelingt es ihr, mit den Geistern zu kommunizieren und herauszufinden, warum diese spuken und keine Ruhe finden. Alice ist fest entschlossen, den Geistern zu helfen…

Ich habe das Buch zusammen mit meinem zehnjährigen Sohn gelesen. Anfangs sind wir etwas schleppend in das Buch gekommen, da sich der Anfang, der sich hauptsächlich um die skurrilen Eigenheiten der Familie Cannoli-Potchnik und Alices Renovierleidenschaft dreht, doch etwas zieht. Erst im geheimnisvollen Nachbarhaus nimmt die Handlung dann richtig Fahrt auf und es entwickelt sich eine spannende, interessante und auch tiefgründige Geschichte. Je mehr Alice sich mit dem Haus und seinen daran gebundenen Geistern beschäftigt, desto mehr stellt sie sich die Frage, was ein Haus zu einem Zuhause macht. Und indem sie den Geistern hilft, ihre Angelegenheiten zu regeln und Ruhe zu finden, lernt sie ganz nebenbei viel über das Leben, die Liebe und verpasste Gelegenheiten.

An einigen Stellen zeigt sich deutlich, dass das Buch für den amerikanischen Markt geschrieben wurde. So spielt im Falle eines Geistes der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg (1775-1783) eine Rolle, der amerikanischen Kindern sicher geläufig ist, hierzulande jedoch einer Erklärung bedarf. Das Konzept eines Collegecampus, auf dem auch Familien von Universitätsprofessoren wohnen ist hier unbekannt, und „Freilernen“ ist in Amerika im Unterschied zu Deutschland erlaubt.

Der Schreibstil des Buches ist gewandt und abwechslungsreich. Teilweise verwendet die Autorin Fremdwörter wie „Dereliktion“, „Kontinuität“, „Kontext“, „Essenz“, „hypertrophe Kardiomyopathie“ oder „Anthropologie“, so dass ich die Altersempfehlung von 10 Jahren nicht unterschreiten würde.

Die Geschichte rund um das alte Haus und die Geister hat meinem Sohn und mir sehr gut gefallen. Alice, ihre Eltern und die Professoren und Professorinnen am College waren mir jedoch zu unrealistisch, überdreht und albern. Hier driftet das Buch deutlich in den Klamauk ab und weniger wäre für meinen Geschmack deutlich mehr gewesen.

Insgesamt ein sehr unterhaltsames, kurzweiliges, anregendes und empfehlenswertes Buch für geübte Leser und Leserinnen ab 10 Jahren.

Bewertung vom 18.07.2024
Elsie und das Karibu
Alves, Katja

Elsie und das Karibu


weniger gut

Elsie ist 10 Jahre alt und lebt mit ihrem Vater und ihrer älteren Schwester Desiree zusammen, ihre Mutter ist aus nicht näher genannten Gründen seit Kurzem „verschwunden“. Bei der Wohnungsauflösung eines Bekannten der Familie, der ins Seniorenheim zieht, sucht sich Elsie den ausgestopften Karibukopf aus, der fortan an der Wand ihres Zimmers hängt und zu ihrer Überraschung mit ihr spricht. Als Elsie sich auf die Suche nach ihrer Mutter macht, steht ihr das Karibu mit Rat zur Seite.

Die Familiensituation wirkte von Anfang an sehr merkwürdig auf mich. Der Vater verschweigt, weshalb die Mutter „verschwunden“ ist, eine echte Kommunikation in der Familie findet nicht statt. Elsie sollte mit zehn Jahren alt genug sein, die Wahrheit zu verstehen, wenn sie ihr altersgerecht vermittelt wird. Die Figuren wirken allesamt sehr oberflächlich, so dass es mir schwerfiel, eine emotionale Beziehung zu ihnen aufzubauen. Elsie handelt derart naiv und unwissend, dass es für eine Zehnjährige äußerst unglaubwürdig wirkte und zunehmend nervig war. Sie wirkte auf mich wie eine Erstklässlerin. Mein Sohn, ebenfalls zehn Jahre alt, hat das Buch nach einem Drittel abgebrochen, da er Elsie zu „kindisch“ fand.

Leider wird nicht erklärt, warum das Karibu, das Elsie bereits seit Jahren kennt, plötzlich sprechen kann. Elsie nimmt das nach anfänglichem kurzem Erstaunen auch einfach so hin. Die Bemerkungen und Ratschläge des Karibus sind teilweise durchaus humorvoll formuliert, konnten die Geschichte letztendlich jedoch auch nicht retten.

Das Buch enthält einige schwarzweiße Zeichnungen, die leider ebenfalls nicht unseren Geschmack trafen. Sie wirken sehr flüchtig hingekritzelt und teilweise unpassend. So sieht der jugendliche Freund der Schwester wie ein Mann Mitte 40 aus.

Insgesamt hat das Buch unsere Erwartungen nicht erfüllt. Zehnjährige Kinder, die bereits an deutlich komplexere Geschichten mit intelligenten Charakteren und elaborierten Plots gewöhnt sind, werden mit diesem Buch leider deutlich unterfordert.

Bewertung vom 16.07.2024
Der frühe Vogel / Rosa Fink Bd.4
Sanne, Manuela

Der frühe Vogel / Rosa Fink Bd.4


ausgezeichnet

Sebi und Rosa haben sich inzwischen in Dangast gut eingelebt und führen ihre Pension am Jadebusen mit viel Engagement und Herzblut. Anfang April geht die ruhige Wintersaison langsam zu Ende, und nicht nur Küchenchef Sebi, dessen Kochleidenschaft durch die Grünkohlsaison auf eine harte Probe gestellt wird, freut sich auf den Frühling. Die beschauliche Osterruhe wird jedoch jäh gestört, als Alt-Hippie Heidrun Paulsen eines Morgens tot vor ihrem Wohnhaus in Varel liegt. Täglich war sie in aller Frühe aufgebrochen, um in Supermärkten und Pensionen übrig gebliebene Lebensmittel einzusammeln und dann im Rahmen eines Food-Sharing-Projektes zu verteilen. Dass der „frühe Vogel“ morgens gerne einen zwitscherte und mit einem obligatorischen Prosecco als Muntermacher in den Tag startete, war allseits bekannt. Hatte Heidrun also einen tragischen Unfall, begünstigt durch Alkoholeinfluss? Oder steckte hinter ihrer Behauptung, dass ihr jemand nach dem Leben trachte, doch mehr? Die Polizei hatte den Anzeigen der exzentrischen Rentnerin bisher wenig Glauben geschenkt. Heidruns Großnichte Joline, Rosas punkige studentische Aushilfe in der Pension, ist verzweifelt. Klar, dass Rosa sich nicht lange bitten lässt, und auf eigene Faust Ermittlungen anstellt.

„Der frühe Vogel“ ist bereits der 4. Band der Reihe um Rosa Fink, und er lässt sich auch unabhängig von den Vorgängerbänden lesen, da alle wichtigen Personen eingeführt und auch zurückliegende Ereignisse wie beiläufig eingeflochten werden . Dennoch empfehle ich, mit Band 1 zu starten. Da viele Personen über mehrere Teile hinweg immer wieder auftauchen und sich weiterentwickeln, macht dieser horizontale Anteil auch den besonderen Charme der Reihe aus.

Ich freue mich jedes Mal, wenn ein neuer Fall für Sebi und Rosa ansteht, da mir im Laufe der Reihe die liebenswert-skurrilen Figuren richtig ans Herz gewachsen sind und sich jeder Band wie ein Wiedersehen mit guten alten Bekannten anfühlt. Und wenn dann wie immer Juliane Hempel das Hörbuch einspricht, steht meinem Krimi-Vergnügen nichts mehr im Wege! Ich mag ihre angenehme Stimme sehr, mit der sie jeder Figur eine eigene Note verleiht. Und ganz besonders freue ich mich immer auf die eingestreuten Worte im nordischen Dialekt und natürlich Wiebke, das Dangaster Original, die auch in diesem Band glücklicherweise einen Auftritt bekommt.

Ich habe wieder bis zum Schluss gespannt mitgerätselt, hatte verschiedene Leute unter Verdacht und war doch lange auf dem Holzweg. Das Hörbuch verging wie im Flug, und ich hatte viel Vergnügen an der unterhaltsamen Geschichte, die mich auch immer wieder zum Schmunzeln brachte.

Wer Lust auf einen gemütlichen, kurzweiligen und abwechslungsreichen Krimi mit nordischem Flair und eigenwilligen, aber authentischen Charakteren hat, dem kann ich die Rosa-Fink-Reihe nur ans Herz legen! Auch als Urlaubslektüre am Strand oder als Hörbuch für die Autofahrt perfekt geeignet! In diesem Sinne: Na denn man tau!

Bewertung vom 10.07.2024
Mütter, die gehen
Gómez Urzaiz, Begoña

Mütter, die gehen


sehr gut

Die Geschichte ist voll von Vätern, die gehen und ihre Kinder zurücklassen. Doch was ist mit Müttern, die gehen? Welche Gründe können dahinterstecken, dass eine Mutter ihr Kind verlässt, und welche gesellschaftlichen Reaktionen ruft dies hervor? Anhand historischer Frauen wie Maria Montessori, Doris Lessing oder Ingrid Bergman zeigt Begoña Gómez Urzaiz unterschiedliche Lebenswege und Beweggründe für das Zurücklassen von Kindern nach. In Theater und Film liefern Ibsens „Nora“ sowie zahlreiche Filmrollen etwa von Meryl Streep ein interessantes Bild. Den Abschluss bildet ein Kapitel, in dem Frauen zu Wort kommen, die aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat und Familien zurücklassen mussten, um im Ausland für den Familienunterhalt zu sorgen. Ihre Recherchen bettet die Autorin in allgemeine Überlegungen zur Rolle der Frau und Mutterschaft ein. Auch die allgegenwärtige Schuld, mit der Mütter bereits ab der Schwangerschaft und über die gesamte Mutterschaft hinweg konfrontiert werden, wird thematisiert.
Der Schreibstil ist sehr angenehm zu lesen, und Begoña Gómez Urzaiz wertet nicht, sondern beobachtet, ergänzt durch eigene Gedanken, Erfahrungen und Wahrnehmungen als Mutter. Ein sehr interessantes, differenziertes und zum Nachdenken anregendes Buch!

Bewertung vom 10.07.2024
Elektrizität und Himmelsfische
Bulbenko, Andrej;Kajdanowskaja, Marta

Elektrizität und Himmelsfische


ausgezeichnet

Bereits das Autorenduo bildet ein ungewöhnliches und vielversprechendes Gespann - ein ukrainischer Schriftsteller und eine 15-jährige Schülerin, die beide unter Pseudonym schreiben und die eine Fluchterfahrung eint.

Die 14-jährige Marzia muss eines Tages Hals über Kopf mit ihren Eltern, Großeltern und der jüngeren Schwester ihr Zuhause verlassen und fliehen, da ihre Stadt unter Raketenbeschuss gerät. Zu sechst sitzen sie nun zwischen eilig zusammengepackten Taschen im Auto, am Steuer der Opa, der als einziger einen Führerschein hat, und versuchen zur Grenze zu gelangen. Nach mehreren Tagen erreichen sie ein Motel in Grenznähe. Dort lernt Marzia den Schriftsteller Andrej kennen und übergibt ihm am Tag ihrer Abfahrt einen Umschlag mit ihren Tagebuchaufzeichnungen über die Flucht, mit der Bitte, diese erst zu lesen, wenn sie sich binnen einer Woche nicht bei ihm gemeldet hat. Die Woche vergeht, Marzia meldet sich nicht, und Andrej öffnet dem Umschlag…

Marzias Heimatland wird nie explizit erwähnt, doch es ist offensichtlich, dass es sich hier um die Ukraine handelt. Ein Hinweis ist auch der plötzliche Raketenbeschuss im Februar, der Monat, in dem 2022 der Angriff auf die Ukraine stattfand. Im Buch wird als Ortsangabe lediglich mehrfach der Ruppigon erwähnt, der unter Beschuss steht und überquert werden muss. Da ich das Wort nirgends finden konnte, nehme ich an, dann dieses fiktiv ist und hiermit eine Grenzregion gemeint ist. Die phonetische Nähe zum antiken „Rubikon“ ist sicher kein Zufall.

Marzia hält in ihren Aufzeichnungen ihre Eindrücke, Erlebnisse und Gedanken während der Flucht im Auto fest. Schnelle Gedankensprünge, kuriose Beobachtungen und Diskussionen im Auto zwischen den Familienmitgliedern wechseln sich hierbei ab. Die Bedrohung durch Beschuss, Bomben, die Willkür von Kontrollposten, die prekären Verhältnisse in den Nachtlagern werden wie beiläufig erzählt, neben scheinbar alltäglichem Geplänkel im Auto und skurrilen Begegnungen am Straßenrand während der Stauphasen. Gerade diese Gegensätze - der lebensbedrohliche Ausnahmezustand und die normale Familiendynamik, wie sie auf jeder Urlaubsfahrt auftreten könnte (die um Zugluft besorgte Oma, der schwerhörige Opa mit dürftigem Orientierungssinn, Diskussionen über die Route, Kabbeleien unter Geschwistern), haben mich beim Lesen nicht mehr losgelassen. Das ist einfach grandios umgesetzt. Hinzu kommt Marzias unvergleichlicher Ton: eine eloquente Jugendliche, intelligent beobachtend, mit staubtrockenem Humor. Allein die Szene mit der Hochzeitsgesellschaft am Seitenstreifen ist großartig beschrieben: Unglaublich komisch und zugleich so traurig, dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt.

Während der Autofahrt und ihren Gesprächen mit Andrej im Motel spürt man anhand Marzias Gedanken den Ernst der Lage: Was bleibt von einem Menschen nach seinem Tod? Welche Spuren hinterlässt er bei seinem Mitmenschen und was verschwindet im Vergessen? Und ihre Überlegungen zum (im russischen Sprachraum) bekannten Märchen „Ludwig der Vierzehnte und Tutta Karlsson“ von Jan Ekholm bilden eine scharfsinnige Parabel auf den Ukrainekonflikt.

Mich hat dieses Buch nachhaltig berührt und beeindruckt. Es ist stilistisch außergewöhnlich umgesetzt und bietet viele Möglichkeiten zur Interpretation und Diskussion. Ich könnte mir den Roman auch hervorragend als Klassenlektüre ab der 9. Jahrgangsstufe vorstellen. Unbedingt lesen!

Bewertung vom 10.07.2024
Co-Fucking
Weiss, Anna

Co-Fucking


sehr gut

Die Autorin Anna ist seit 20 Jahren mit ihrem Mann Alex zusammen, beide lebten bisher in einer monogamen Beziehung. Doch Alex ist bisexuell und möchte beide Seiten ausleben. Nach langen und intensiven Gesprächen entschließen sich beide, ihre Ehe zu öffnen.

Anna schreibt sehr offen über den Prozess der Öffnung, ihre Erlebnisse und die Chancen und Risiken, die dieser Schritt sowohl für Anna und Alex als Einzelpersonen als auch beide als Paar mit sich bringt. Ein Kapitel ist zudem aus der Sicht von Alex verfasst. Die Beschreibungen der außerehelichen sexuellen Erfahrungen sind teilweise sehr detailliert. Dass die Autorin hier unter ihrem Klarnamen schreibt (mit Foto auf der Buchrückseite), hat mich angesichts dessen doch sehr erstaunt. Für Paare, die eine offene Ehe erwägen, sind Annas ehrliche Schilderungen sicherlich sehr hilfreich und können dabei helfen, Missverständnisse und Fehler zu vermeiden.

Für mich selbst käme eine offene Beziehung niemals infrage, ich habe nicht das geringste Interesse daran. Dennoch habe ich dieses Buch gelesen, um über meinen Tellerrand zu blicken und einmal eine andere Perspektive kennenzulernen. An einigen Stellen kann man auch als monogam Lebende/r wichtige Impulse gerade für langjährige Beziehungen aus dem Buch mitnehmen, insbesondere was Kommunikation in der Partnerschaft, Selbstwahrnehmung und Wahrnehmung des Partners und Eigenständigkeit innerhalb der Beziehung angeht.

Ein großer Kritikpunkt, der mir hier und bei vielen Verfechter/innen alternativer Beziehungs- und Lebensformen immer wieder auffällt ist, dass sie ihre Lebensweise über konservative monogame Partnerschaften stellen und als fortschrittlicher und generell besser propagieren. Auch die im Buch anklingende These, dass der Großteil der Menschen nicht heterosexuell veranlagt sei, und dies aufgrund moralischer und gesellschaftlicher Zwänge nur nicht erkenne, ist für mich nicht haltbar. Blasphemisch wird die Autorin, wenn sie über die Art der Beziehung zwischen Jesus und seinen zwölf Jüngern sinniert. Auch als wenig religiösem Menschen geht mir das deutlich zu weit. Wer eine offene und/oder polyamore Beziehung leben möchte, soll dies gerne tun, solange alle Beteiligten einverstanden sind. Das Herabsehen auf heterosexuelle monogame Partnerschaften ist jedoch nicht angebracht und auch eine Form von Intoleranz.

Bewertung vom 10.07.2024
Heim schwimmen
Levy, Deborah

Heim schwimmen


gut

Ich habe mich sehr schwergetan, in dieses Buch hineinzufinden. Der Schreibstil ist zwar angenehm zu lesen, doch zu den Figuren fand ich leider überhaupt keinen Zugang. Da ist ein erfolgreicher, aber tieftrauriger und Dichter, eine sehr skurille, stets nackt herumlaufende und magersüchtige Botanikern, die Gedichte schreibt, ein merkwürdiger kiffender Hippie-Hausmeister, ein notorisch schlecht gelaunter Waffennarr, und weitere ähnlich merkwürdige Charaktere, die mir allesamt fremd blieben. Dies führte leider dazu, dass ich mit keiner Figur mitfühlen konnte und mich die Handlung nicht berührte.
Die Stimmung ist durchwegs angespannt, es hängt Unheil in der Luft. Die scheinbare Urlaubsidylle ist ein Trugbild. Da dies jedoch bereits auf den ersten Seiten überdeutlich spürbar ist und das sich anbahnende Unglück offensichtlich ist, fehlt mir das Überraschende. Wasser, Regen, ein Swimmingpool, Blut - alles ist überdeutlich mit einer doppelten Bedeutung aufgeladen.
Da er seinerzeit auf der Shortlist für den Man Booker Prize 2012 stand, hatte ich große Erwartungen an den Roman. Leider haben sich diese nicht erfüllt.

Bewertung vom 10.07.2024
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


gut

In einem Podcast hatte ich eher zufällig von der englischen Original-Ausgabe gehört. Da ich ein Faible für Dystopien habe, war ich neugierig, und auch die Auszeichnung mit dem Booker Prize 2023 hat meine Erwartungen entsprechend hoch gesteckt.
Nach der Lektüre bleibe ich nun mit gemischten Gefühlen zurück.
Die Thematik ist hochaktuell, extreme Parteien gewinnen an Zulauf und das kostbare Gut der Demokratie und der freiheitlichen Grundrechte ist auch in Europa in Gefahr. Paul Lynchs in Irland angesiedelter Roman wirkt daher erschreckend realistisch.
Zentrale Figur ist die Mittvierzigerin Eilish, promovierte Mikrobiologin, Ehefrau des Lehrers und Gewerkschaftsführers Larry und Mutter von Ben (ca. 1), Bailey (12), Molly (14) und Mark (16). In Irland wurden aufgrund nicht näher bezeichneter politischer Umstände die Grundrechte per Notverordnung eingeschränkt und die Gewerkschaften vom neu installierten Geheimdienst massiv unter Druck gesetzt. Nach einer gewerkschaftlich organisierten Demonstration kehrt Larry eines Tages nicht mehr nach Hause zurück. Eilish sieht sich mit der Ungewissheit um ihren Mann und die Sicherheit ihrer Kinder konfrontiert, hinzu kommt die Sorge um ihren demenzkranken Vater. Die Lage spitzt sich zu, die Medien werden gleichgeschaltet, Posten in der Wirtschaft, dem öffentlichen Dienst und im Bildungswesen regimetreu besetzt, es kommt zu Ausschreitungen zwischen dem Militär und Rebellengruppen. In einer Welt, in der plötzlich alles auseinanderbricht, versucht Eilish verzweifelt, ihre Familie zusammenzuhalten.
Paul Lynch legt den Fokus klar auf Eilish und ihre Emotionen und Gedanken. Die politischen und ideologischen Hintergründe bleiben im Dunkeln, auch die gesellschaftlichen Umbrüche, die internationalen Reaktionen, Taktik und Formierung der Rebellengruppen, die Möglichkeiten der Überwachung bleiben vage. Hierdurch wirkt der Roman einerseits universell, andererseits auch etwas beliebig. Ich hätte mir hier an manchen Stellen eine etwas stärkere Ausgestaltung gewünscht.
Sehr anschaulich zeigt Lynch hingegen, wie schwer es für die Menschen ist, ihre gewohnte Umgebung und ihr bisheriges Leben samt sozialen Zusammenhängen, Beruf und Haus zurückzulassen. Von außen betrachtet fällt es oft leicht, zur Flucht zu drängen, doch für die Betroffenen selbst ist die Entscheidung unsagbar schwierig und wird lange, manchmal zu lange hinausgezögert. In diesem Zusammenhang ist mir ein Satz im Buch ganz besonders im Gedächtnis geblieben, gesprochen von Eilishs Schwester in Kanada: „Die Geschichte ist eine stumme Liste derer, die nicht wussten, wann sie gehen müssen.“
Etwas befremdlich fand ich Paul Lynchs Schreibstil, und es gelang mir bis zum Schluss nicht, damit wirklich warm zu werden. Er verzichtet komplett auf Abschnitte/Absätze und in der direkten Rede auf Anführungszeichen. Dies soll wohl ein gewisses Tempo erzeugen, bewirkte bei mir jedoch das Gegenteil. Viele Passagen musste ich mehrfach lesen, um in Dialogen die Textanteile den jeweiligen Sprecher/innen korrekt zuzuordnen. Durch die fehlenden Absätze findet man sich zudem immer wieder unvermittelt in einer neuen Situation wieder, die man erst einmal zeitlich und räumlich einordnen muss.
Lynch nutzt teils ungewöhnliche Sprachbilder ( „(…) und ist die Lüge erst erkannt, bleibt sie aus dem Mund gewachsen wie eine tot züngelnde Giftblume.“) und verknüpft Motive aus der Natur mit Eilishs Empfinden: „Sie hört einen langen, seufzenden Atemzug, dann statische Stille gleich einem Regendunkel, das fühlbar ist, ein Regen, der aus dem Dunkel fällt und sie alle wäscht, der dunkle Regen, der in den Mund ihres Sohnes fällt.“ Hier muss ich gestehen, dass mir der Sprachstil nicht entgegen kam. Wollte Lynch hierdurch Eilishs Denken und Fühlen besonders intensiv und nachdrücklich beschreiben, so erreichte es bei mir leider nicht den gewünschten Effekt. Ich empfand die Bilder als konstruiert und künstlich und blieb daher emotional eher auf Distanz zu Eilish. An manchen Stellen wirkte das Buch auch grammatikalisch nicht stimmig oder sprachlich schief: „Der Geldautomat am Ende der Straße zeigt auf dem Display einen Briefkasten aus geborstenem Licht, ein Schild im Fenster des Lädchens mit Edding sagt:“
Die Geschichte wird anfangs sehr detailliert erzählt und nimmt nur allmählich Fahrt auf, gewinnt im letzten Drittel an Dynamik, um dann, wenn es wirklich packend wird, Einzelheiten zu überspringen und relativ abrupt zu enden. An einigen Stellen erschien mir die Handlung in sich unrund, etwa wenn der Autor unbedingt Parallelen zu Geflüchteten in Schlauchbooten ziehen möchte, die hier doch etwas aufgesetzt wirken.
Insgesamt bin ich hin- und hergerissen, wie ich „Das Lied des Propheten“ einordnen soll. Ich möchte dieses Buch so gerne mögen, und hadere doch mit dem gekünstelt-poetischen Sprachstil und manchen Unstimmigkeiten. Leider erreicht es für mich weder die sprachliche und konzeptionelle Wucht noch die enorme Weitsicht von Dystopie-Klassikern wie „1984“.