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darkola77

Bewertungen

Insgesamt 79 Bewertungen
Bewertung vom 11.04.2022
A Song of Wraiths and Ruin. Die Spiele von Solstasia / Das Reich von Sonande Bd.1
Brown, Roseanne A.

A Song of Wraiths and Ruin. Die Spiele von Solstasia / Das Reich von Sonande Bd.1


sehr gut

Black Girl Magic und Black Boy Joy – die Worte, die Brown selbst für ihren Roman wählt, klingen für unsere europäischen Ohren wohlmöglich erst einmal fremd und geheimnisvoll. Doch zugleich versprechen sie ein Lesevergnügen, das sich von Bekanntem und Gewohntem unterscheiden mag und uns in jedem Sinne in ferne Welten entführt.
Afrikanische Fantasy! Diese Genrebezeichnung kam mir sofort in den Sinn, als ich Sonande betreten habe, ein Reich mit seinen eigenen Rechten, Gesetzmäßigkeiten und vor allem erfüllt und regiert von Magie und Geisterwesen, die den unterschiedlichen afrikanischen Mythologien und Märchen entsprungen zu sein scheinen. Und gerade diese Mischung und das Verweben von tradierten afrikanischen Motiven, Philosophien und Glaubenssätzen mit Elementen der fantastischen Literatur sind es, was diesen Roman von Genreerzählungen „weißer Autor*innen“ mit europäischen oder US-amerikanischen Wurzeln deutlich unterscheidet – die weiterhin Quelle und Definition des Genres sind.
Und so sind auch die Hauptfiguren von afrikanischer Prägung – für den eurozentristischen Blick zumindest in der äußeren Gestalt leicht auszumachen. Doch was sie letztendlich antreibt, ist das alle Kulturen verbindende und einende Element: Es ist die Liebe zueinander, die Liebe zur Familie und die Liebe für das eigene Volk, die gemeinsame Tradition und Herkunft. Und damit ist neben all den mystischen Elementen, die mich in ihrer Andersartigkeit und Verschiedenheit so begeistert haben, der Roman für mich vor allem eins: eine Liebesgeschichte.
Nnedi Okorafor und Lauren Beukes waren für mich bisher die Autorinnen der afrikanischen Fantasyliteratur, die mir mit beeindruckender Virtuosität immer wieder vor Augen geführt haben, wie eingeschränkt und europäisch gefärbt und ausgerichtet mein Blick auf das Genre, und wohl nicht nur hierauf, ist. Roseanne A. Brown setzt diese Tradition fort, in ihrer ganz eigenen Sprache, mit ihrer ganz eigenen Geschichte. Damit beschenkt sie die Leser*innen mit mehr als nur wundersamen, fantasievollen Lesestunden, wenn diese das Tor nach Sonande durchschreiten – und damit in vielerlei Hinsicht eine neue Welt betreten.

Bewertung vom 31.03.2022
RABBITS. Spiel um dein Leben
Miles, Terry

RABBITS. Spiel um dein Leben


ausgezeichnet

Ein Hase, der uns auf eine rasante Jagd durch Zeit und Raum schickt und dabei neckisch sein Spiel mit uns treibt – das gibt es in der Tierwelt wohl nur selten. Und in der der Fantasy- und Spannungsliteratur sicherlich auch. Und wenn es Meister Lampe dann noch schafft, meine Nacht zum Tag und das Frühlingswochenende zu einem Lesemarathon zu machen, bin ich schwer beeindruckt.
Doch Terry Miles zeigt mit „Rabbits“ nicht nur, dass er es vermag, seine Leser*innen mit seiner intelligent konstruierten, raffiniert verschachtelten Geschichte an das Buch zu fesseln, er besitzt zudem auch eine ganz besondere Fähigkeit: der Logik und Physik zu misstrauen und seinen eigenen Verstand infrage zu stellen. Denn seine Figuren müssen sich auf ihrer Schnitzeljagd in einer Welt mit ihren scheinbar ganz eigenen Naturgesetzen zurechtfinden, und wenn der Zufall durch eine Kette von Hinweisen abgelöst wird, erhält auch die Uhrzeit 4.44 ihre ganz eigene Bedeutung.
Was dem Spaß dann noch die virtuelle Krone aufsetzt, sind die wunderbar nerdigen Figuren, die Miles für seine Hasenjagd geschaffen hat: äußerst verschroben, extrem cool und jetzt schon kultverdächtig. Und ans Herz wachsen sie den Leser*innen zudem – auch, wenn deren Rolle, die sie in dem geheimnisvollen Spiel sowie zueinander einnehmen, teils undurchsichtig und vor allem dem steten Wandel unterworfen ist. Denn: Nichts ist wie es scheint.
Neben all der atemlosen Spannung schafft es „Rabbits“ mit viel Mysteriösem und scheinbar Metaphysischem jedoch auch, Fans von „Akte X“ zu überzeugen, also diejenigen unter uns, welche die Wahrheit hinter dem Offensichtlichen vermuten und sich eben kein Kaninchen für einen Hasen vormachen lassen. Denn wie sagten schon Mulder und Scully so schön: „The truth is out there“. Und bis diese für Rätselraten und zahlreiche Spielrunden als Gewinn und Krönung der Geschichte lockt, erwartet die aufmerksamen Leser*innen ein tierisches Vergnügen, ein schiere Flut an Kreativität und Fantasie und sicherlich auch die eine oder andere durchwachte Nacht. Und pünktlich um 4.44 Uhr klingelt der Wecker.

Bewertung vom 13.03.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


ausgezeichnet

Die Armbrust, der Apfel und ein Kopf, der nicht getroffen werden will – vielleicht sind dies die zentralen Bilder der Sage von Wilhelm Tell, die wohl vielen von uns sofort vor dem geistigen Auge stehen. Möglicherweise ist es aber auch der Status als Schweizer Nationalheld, den Tell im Laufe der Jahrhunderte erlangen konnte. Und doch ist die Geschichte deutlich facettenreicher, hat mehr und vor allem mehr Details und Tiefe zu bieten – so ganz besonders in der Neuerzählung von Joachim B. Schmidt.
In kurzen Kapitel, erzählt aus den verschiedenen Perspektiven der einzelnen Figuren, nimmt Schmidt die Leser*innen mit auf einen rasanten Ritt durch das entbehrungsreiche Leben des Bergbauern, Sohnes, Vaters und Ehemanns Tell. Schlaglichtartig beleuchtet er dabei das Denken und Handeln aller Beteiligten, lässt diese – gleich eines vielstimmigen Chors – mit ihrer jeweils eigenen Stimme zu Wort kommen. Und deren Klang ist nicht nur eingebettet und ein Produkt ihrer Zeit, das authentisch und historisch zugleich anmutet, er ist auch den einzelnen Figuren individuell und ganz eigen und macht sie so lebendig und unverwechselbar für die Leser*innen.
Dass Tell dabei nicht als der erwartete Sympathieträger erscheint, sondern seinen Mitmenschen rauh, verschlossen und unzugänglich gegenübertritt, erstaunt dabei fast ebenso wie das hohe Tempo und die erfreuliche Dynamik und Lebendigkeit, mit welchem die Leser*innen durch die Handlung geführt werden. Das Ergebnis ist ein sowohl ungewöhnliches wie auch ungewöhnlich fesselndes Lesevergnügen, ein Pageturner und neues Lieblingsbuch für mich.
Jedoch, und das ist mir noch sehr wichtig: Literatur steht und wirbt für sich selbst – dieser wunderbare Roman ist hierfür das beste Beispiel und ein überzeugender Beweis! Der Vergleich der Erzählung mit einer Unterhaltungsserie eines großen Streamingportals ist daher aus meiner Sicht vollkommen überflüssig und mit Blick auf so einen großen Traditionsverlag wie Diogenes für mich auch sehr überraschend. Aber das ist natürlich meine ganz persönliche Meinung als große Freundin und Liebhaberin von guten Geschichten, begeisterte Leserin – und ja, nun auch glühende Anhängerin des neuen Wilhelm Tells.

Bewertung vom 27.02.2022
So reich wie der König
Assor, Abigail

So reich wie der König


sehr gut

Der Weg aus den Baracken der Armut ist steinig, staubig und mit ungewissem Ausgang – diese Erfahrung muss die junge Sarah machen, die gemeinsam mit ihrer Mutter in den Elendsvierteln Casablancas lebt. Ihr einziges Gut: Ihre Herkunft als Französin und ihr Aussehen, das den Männern reihenweise den Kopf verdreht und ihre Geldbeutel öffnet, so dass Sarah zumindest mit Essen und Kleidung immer wieder am Lebensstil der Reichen teilhaben kann.
Doch Sarahs Pläne sind ehrgeizig: Nicht nur will sie den ärmlichen Verhältnissen dauerhaft entfliehen, auch Wohlstand soll es sein – und zwar im ganz großen Stil. Driss, Sohn eines erfolgreichen Unternehmers und als Fassi mit Geburtsrecht auf eine Führungsposition in der Gesellschaft, ist hierfür das Objekt ihrer Begierde und Instrument ihrer Pläne und Berechnungen. Selbst mit autistischen Zügen als Figur gezeichnet, ist er willenloses Opfer von Sarahs Ehrgeiz und unfähig, die Auswirkungen und Folgen einer möglichen Verbindung einzuschätzen.
Die Geschichte selbst ist nicht neu, neu sind dagegen für mich Schauplatz, Zeit und eine Gesellschaft, die aufgrund ihrer kulturellen und damit auch religiösen Zusammensetzung ihre ganz eigenen Schranken, Fallstricke und auch Abgründe bereithält. Dass das System starr und festgeschrieben und damit bei weitem nicht so durchlässig ist, wie Sarah sich erhofft und in kindlicher Naivität erträumt hat, ist dann auch eine Erfahrung, die sie schmerz- und schamvoll erleiden muss. Die Folgen ihrer Fehlberechnungen sind folglich gravierend: Sarah steht im wahrsten Sinne des Wortes an einem Abgrund, Driss droht mit hinabzustürzen.
Das Märchen von Aschenputtel ist es nicht, was die Leserin und den Leser mit „So reich wie der König“ erwartet. Es ist vielmehr der Traum einer jungen Frau vom sozialen Aufstieg in einer Gesellschaft, welche die „feinen Unterschiede“ (Pierre Bourdie) in Auftreten und Lebensstil sehr genau zu deuten vermag und jede und jeden brutal an den angestammten Platz verweist. Dass die Geschichte tatsächlich vor der Kulisse Marokkos der 1900er-Jahren spielt, wirkt aus eurozentrischem Blick anachronistisch und erschreckend – und ist für mich auch das, was nach der letzten Seite noch länger in meinen Gedanken bleiben wird.

Bewertung vom 20.02.2022
Creep
Winkler, Philipp

Creep


ausgezeichnet

Der Rückzug in das Virtuelle und die Verweigerung eines Lebens in der Gesellschaft – in „Creep“ wird uns dieses Phänomen in unterschiedlichen Ausprägungen und auch Zuspitzungen präsentiert, und die Leserin und der Leser sollten dabei nicht zimperlich sein. Oder an der einen oder anderen Stelle zuvor gut gegessen haben.
Denn was soziale Isolation und das Fehlen von unmittelbarer Nähe, Wärme und Zuneigung mit der menschlichen Psyche machen und Folge wessen sie sein können, ist wohl nicht nur bei Philipp Winkler mehr als traurig. Doch hier wird es auch blutig.
Junya hat sein Dasein komplett in das Darknet verlegt, die Außenwelt in Form seiner Mutter nimmt er nur noch durch die geschlossene Zimmertür wahr. Verletzt, gekränkt und innerlich gebrochen verlässt er sein schützendes Zuhause nur für seine gelegentlichen Streifzüge durch das nächtliche Tokio, immer auf dem Weg zu seinem nächsten Opfer, für ihn selbst ein Täter seiner kindlichen Verletzungen. Wenn der schwere Holzhammer dann den Kopf seines ehemaligen Grundschullehrers zertrümmert, verschafft ihm dies Genugtuung und im Darknet jede Menge Aufmerksamkeit und Bewunderung.
Fanni dagegen führt zumindest nach außen ein Leben, das auf den ersten Blick nicht besonders oder auffällig erscheint. Als Mitarbeiterin des BELL-Konzerns verschafft sie dessen Kund*innen eine vermeintliche Sicherheit durch die Überwachung ihres Zuhauses. Und genau hier liegt der Knackpunkt: Ein eigenes soziales Umfeld besitzt Fanni nicht, und auch der Kontakt zu ihren Eltern ist mehr als schwierig und kühl. Eine Ersatzfamilie hat sie in den Naumanns gefunden, BELL-Kund*innen, an deren Leben sie passiv teilnimmt. Und damit scheint Fanni auch erstmal recht zufrieden zu sein.
Winklers Themen und Figuren entspringen dem Zeitgeist. Sie sind eindringlich, ungewöhnlich und extrem. Und ebenso erleben wir sie auch in „Creep“. Winkler gelingt es dabei, den Leser*innen nicht nur den einen oder anderen Schauer über den Rücken zu jagen, sondern sie auch in den Bann dieser beiden Leben am Rande der Gesellschaft zu ziehen – und zugleich mit überraschenden Wendungen und einem großen Finale zu begeistern.

Bewertung vom 05.02.2022
Der Holländer / Liewe Cupido ermittelt Bd.1
Deen, Mathijs

Der Holländer / Liewe Cupido ermittelt Bd.1


sehr gut

Atmosphärisch dicht in der schier grenzenlosen Weite des Wattenmeers – Mathijs Deen hat mit „Der Holländer“ einen Kriminalroman geschaffen, dem es gelingt, die Ruhe und kraftvolle Natur dieser einzigartigen Landschaft mit der Spannung und Raffinesse eines tödlichen Verbrechens zu verbinden. Was dabei herauskommt: ein Kriminalroman in ruhigem Ton und intelligent konstruiert, der mich gefesselt und wie der weiche Schlick mit sich in die Tiefe gezogen hat.
Dass das Wattenmeer trügerisch sein kann, ist wohl den meisten von uns bekannt. Das, was gerade noch trocken, fest und gehbar erscheint, ist nur wenige Zeit später Meeresboden, von Wasser umschlossen, mit Wasser geflutet. Weite erscheint nah, Reflektionen gaukeln uns Trugbilder vor, Schönheit verwandelt sich in einen Albtraum. Und genau so verhält es sich auch mit dem Tod des Wattwanderers Klaus Smyrna, der als Unfall erscheint und nach und nach Tragik, Rache und Grausamkeit erkennen lässt.
Der Ermittler Liewe Cupido, genannt „Der Holländer“, ist dabei ebenso ein Produkt wie auch ein Abbild dieser Landschaft mit ihren besonderen Bedingungen und Erfordernissen. Nach außen ruhig und verschlossen lässt auch er eine Raffinesse und Tiefe in Wesen und Denken erkennen, die es ihm erlaubt, dieses Verbrechen als ein solches auszumachen und die verschiedenen Stränge und Hinweise zu einem großen Ganzen zusammenzusetzen. Ergänzt und unterstützt wird er dabei von dem jungen Polizisten Xander Rimbach, der mit seinem Eifer und seinem jugendlichen Übermut die Ermittlungen ebenso vorantreibt wie den passenden Gegenpart für ein Ermittlerduo bildet, das sympathisch, liebenswert und von einer kriminalistischen Brillanz ist.
„Der Holländer“ hat alles, um mir die Zeit bis zu meinem nächsten Urlaub im Nachbarland zu verkürzen und mich zugleich neugierig auf die Kriminalliteratur niederländischer Autorinnen und Autoren zu machen: die Liebe zu der einzigartigen Natur, den Menschen und ihren Traditionen sowie eine Sprache, die klar und direkt ist, und einen Aufbau, der es vermag, Atmosphäre und Spannung zu transportieren. Und ganz zum Schluss noch ein Wunsch: Mit Liewe und Xander, so wunderbar sie zusammen sind, würde ich gerne noch das eine oder andere Verbrechen gemeinsam enthüllen.

Bewertung vom 05.02.2022
Das Glashotel
Mandel, Emily St. John

Das Glashotel


sehr gut

Emily St. John Mandel erzählt in „Das Licht der letzten Tage“ eine Geschichte des Weltuntergangs, und auch in „Das Glashotel“ bricht eine Welt zusammen – wenn auch ganz anders.
Vincent und Paul haben denkbar schlechte Startbedingungen in das Erwachsenenwerden: das Verschwinden der Mutter, das zu einer Entwurzelung von der Familie führt, Drogensucht, Tristesse, finanzielle Nöte. Den Wendepunkt bringt für Vincent die Arbeit in dem „Glashotel“ in ihrem Heimatort Caiette, welches zum Ausgangspunkt ihres rasanten sozialen Aufstiegs an der Seite von Jonathan Alkaitis wird.
Das, was dann folgt, könnte der Traum von Cinderella sein, das Leben in der Märchenwelt. Doch Geld täuscht nicht über fehlende Gefühle, die verlorene Freiheit eines Verharrens im goldenen Käfig hinweg. Und, wann war das Sprichwort jemals treffender: „Es ist nicht alles Gold, was glänzt“ – hier im wahrsten Wortsinne.
Bis zu diesem Zeitpunkt könnte der Leserin und dem Leser die Geschichte nur allzu bekannt vorkommen, doch wartet Emily St. John Mandel mit einem Bruch auf, der sich auch in der Erzählung durch einen Sprung in Figurenperspektive und Zeitebene widerspiegelt. Denn hier kommt er nun: der besagte Weltuntergang, eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes, die zahlreiche Existenzen vernichtet und auch Vincent aus dem „Königreich des Geldes“ vertreibt.
Doch damit nicht genug, die wohl größte Überraschung erwartet uns im letzten Drittel der Erzählung: Eine metaphysische Ebene erhält Einzug in das Geschehen. Was für ein Kunstgriff, ich bin begeistert! Der Roman sperrt sich so gegen die Einordnung in gängige Kategorien und eröffnet zugleich eine Bedeutungsebene und eine verborgene „Gegenwelt“, die weit über das Offensichtliche und Sichtbare hinausgeht – und mich als Leserin sehr berührt hat.
Damit ist „Das Glashotel“ für mich vor allem eines und zugleich so viel: ungewöhnlich in Aufbau und Inhalt, vielschichtig in Bedeutung und Aussage – und ein Leseerlebnis so kostbar, wertvoll und unerwartet wie ein Luxushotel in den Einsamkeiten der kanadischen Westküste.

Bewertung vom 05.02.2022
Zusammenkunft
Brown, Natasha

Zusammenkunft


ausgezeichnet

Dicht, pointiert und grenzenlos klug – Natasha Brown hat mit „Zusammenkunft“ ein Kleinod und einen ganz besonderen Schatz erschaffen, der seinen Glanz und seine Einzigartigkeit von Seite zu Seite, von Gedankensplitter zu Absatz immer weiter enthüllt und leuchten lässt.
Das Leben im Londoner Finanzdistrikt fordert seinen Mitspieler*innen so einiges ab, insbesondere, da die Zugangsvoraussetzungen und Spielregeln nicht für alle gleich sind. Die Ich-Erzählerin, eine schwarze Frau, geboren und aufgewachsen in England, wird getrieben und zerrissen: zum einen von dem als Zwang zu bezeichnenden Druck zum sozialen Ausstieg – mit all seinen Entbehrungen, Aufopferungen und in ihrer Rolle auch Erniedrigungen – und zum anderen von den Erwartungshaltungen der Gesellschaft und deren Sicht auf sie als eine, die nicht „dazugehöre“, die nicht erwünscht sei. „GO HOME“, wie es an mehreren Stellen der Erzählung heißt.
Die Bürde, Last und familiäre Festsetzung lassen keinen Raum für ein selbstbestimmtes Leben, für ein Verschnaufen im Aufstieg, ein Innehalten, möglicherweise auch eine Unterbrechung oder gar einen Stopp. „Arbeite doppelt so hart. Sei doppelt so gut. Und immer, pass dich an“ – Individualität, ein Andersseins, auch ein kulturelles Unterscheiden sind nicht nur hinderlich, sondern können Türen für immer verschließen. Das Erklimmen der beruflichen und gesellschaftlichen Karriereleiter kostet alle Kraft.
Die unerwartete Möglichkeit einer Alternative zu „überlebbar“ – dem bisher nie infrage gestellten Mantra, als Leitsatz des eigenen Lebens tief in ihr Fleisch eingeschrieben – bringt die Ich-Erzählerin zu einer Reflexion und kritischen Betrachtung des komplexen gesellschaftlichen Gefüges, in welchem sie agiert und gefangen ist, und zeichnet einen Ausweg aus der nie enden wollenden Mühsal, dem Kampf und dem Fremd- und Nicht-Erwünschtsein.
Wie Pfeile, die auf die Herzen der Leser*innen zielen, haben die unendlich klugen Gedanken, scharfen Beobachtungen und zugespitzten Ableitungen dieser Erzählung mich getroffen und mich blutend und auch schuldbewusst zurückgelassen. Veränderung durch Erkennen, Verstehen – „Zusammenkunft“ gehört in die Hände und Herzen so vieler Menschen!

Bewertung vom 05.02.2022
Zum Paradies
Yanagihara, Hanya

Zum Paradies


ausgezeichnet

Reich an Worten, weit an Geschichten und voll von Lust und Qual – Hanya Yanagiharas neuer, lang ersehnter Roman ist so viel, so ungewöhnlich und so überwältigend, das er sich einer eindeutigen, klar abgrenzbaren Kategorisierung und Beschreibung entzieht. Was jedoch nach den knapp 900 Seiten außer Frage steht: Es ist ein Meisterwerk! Das in seiner Virtuosität sogar „Ein wenig Leben“ zu übertreffen vermag – soweit dies denn überhaupt machbar erscheint.
Drei Jahrhunderte mit ihren ganz eigenen und doch so verwandten Leben und Schicksalen geeint von dem Gefühl der grenzenlosen, alles verschlingenden und alles ermöglichenden Liebe und den Fragen: Was sind wir bereit, für eben diese Menschen auf uns zu nehmen? Welche Gefahren, welches Leid erdulden wir, um unsere Liebe, um unser gemeinsames Leben zu schützen?
Die Antworten, die Hanya Yanagihara den Leser*innen hierauf präsentiert, werden uns nicht immer gefallen – und nicht nur das: Auch wir müssen Leid erdulden, auch wir müssen den Pfad der Katharsis gehen, um einen Ausweg aus der Enge, Beklemmung und auch Bedrohung der einzelnen Lebensentwürfe zu erfahren, uns einer Lösung des schier Unlösbaren anzunähern.
Am Ende der fulminanten Erzählung steht bei mir vor allem Erschöpfung. Und ein Überborden an Gefühlen, Gedanken und Ideen, die zum Teil noch nicht gedacht, noch in der Entwicklung, im Prozess des Reifens sind. In welchem Punkte ich mir aber schon heute sicher bin: Mit Hanya Yanagihara spricht eine der bedeutendsten Erzähler*innen unserer Zeit zu uns, eine Stimme, die unverwechselbar ist und nicht nur in der zeitgenössischen Literatur ihresgleichen sucht.