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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
miss.mesmerized
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Deutschland
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https://missmesmerized.wordpress.com/

Bewertungen

Insgesamt 1245 Bewertungen
Bewertung vom 19.08.2018
Das andere Haus
Fleet, Rebecca

Das andere Haus


sehr gut

Nachdem sie eine harte Zeit in ihrer Beziehung hinter sich gebracht haben, brauchen Caroline und Francis eine Auszeit, am besten auch ohne ihren Sohn Eddie. Ein Haustausch scheint da eine günstige Gelegenheit und so verlassen sie Leeds für eine Woche am Londoner Stadtrand. Ihr vorübergehendes Zuhause wirkt seltsam unbewohnt, unpersönlich, fast schon klinisch sauber. Aber die Frau erschien ihnen nett und freundlich, weshalb sie sich auf den Tausch einließen. Als Caroline seltsame Nachrichten erhält, gehen alle Alarmglocken an: hat jemand die bösen Geister der Vergangenheit geweckt? Taucht etwa ihre ex-Affäre Carl wieder auf der Bildfläche auf? Und was steckt eigentlich hinter dieser komischen Nachbarin, die sie zu beobachten scheint und sich bei ihrem spätabendlichen Besuch sehr auffällig verhielt? Caroline spürt die Gefahr, weiß aber nicht, woher sie kommt...

Der Roman startet in eher gemächlichem Tempo und anfangs war ich eher irritiert, weil Vieles irgendwie keinen wirklichen Sinn zu ergeben schien. Dass Francis und Caroline Probleme haben, war offenkundig, sie hatte eine Affäre mit einem Kollegen, er war tablettenabhängig, aber da dies scheinbar alles zwei Jahre vor der eigentlichen Handlung lag, war die Bedeutung dieser Ereignisse eher undurchsichtig. Dann war da noch diese Stimme, die zu Caroline sprach, wobei ich mich lange fragte, wo sie herkam. Insgesamt etwas zu viel Verwirrung für meinen Geschmack.

Allerdings lichtet sich der Nebel mit voranschreitender Handlung und je mehr auch der Thrill-Faktor steigt, desto besser wurde der Roman. Wie erwartet, sollte man als Leser zunächst völlig falsche Vermutungen anstellen – habe ich pflichtbewusst erfüllt – um dann irgendwann zu erkennen, dass alles viel komplexer ist als angenommen. Wenn man endlich klarsieht, erkennt man die sehr clever konstruierte Handlung und die Gefahr, die man bis dato gewaltig unterschätzte.

Man muss dem Thriller etwas Zeit geben, bis er sein Potenzial offenbart, dann kann er aber überraschen und überzeugen und vor allem mit psychologisch interessanten Aspekten punkten.

Bewertung vom 15.08.2018
Hier ist noch alles möglich
Molinari, Gianna

Hier ist noch alles möglich


sehr gut

Nachdem sie ihren Job als Bibliothekarin zu langweilig findet, übernimmt eine junge Frau die Aufgabe das Gelände einer Verpackungsfabrik als Nachtwächterin zu schützen. Da es dort auch einen leerstehenden, ungenutzten Raum gibt, zieht sie direkt an ihren Arbeitsplatz. Nacht um Nacht zieht sie ihre Runden, überwacht via Monitor das Firmengrundstück. Löcher im Zaun lassen sie stutzen: Einbrüche? Abnutzung? Ein Tier? Als der Kantinenkoch einen Wolf gesehen haben will, muss die Überwachung intensiviert und Fallen aufgestellt werden. Auch eine Fallgrube muss die Erzählerin mit ihrem Kollegen ausheben. Dabei ist alles nur temporär, denn das Ende der Fabrik ist bereits besiegelt und alle warten nur noch auf den Tag, an dem sich die Tore für immer schließen.

Gianna Molinari wurde in Basel geboren und lebt heute in Zürich. Der Roman „Hier ist noch alles möglich“ ist ihr Debüt, das bei den „Tagen der deutschen Literatur“ in Klagenfurt bereits geehrt wurde und die Autorin ist auch die diesjährige Preisträgerin des Robert-Walser-Preises. Die Nominierung auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2018 kommt daher wenig überraschend.

Vieles an der Geschichte ist auf den ersten Blick ungewöhnlich und auffällig: zunächst beschränkt die Autorin den Radius ihrer Erzählerin enorm. Nicht nur, dass der Arbeitsplatz fernab größerer Menschenmengen ist, die junge Frau wohnt auch noch auf dem Firmengelände und verlässt dies und die kleine Welt quasi nie. Später besucht sie zwar noch den nahegelegenen Flughafen, der aber auch nur sehr eingeschränkt menschliche Kontakte mit sich bringt. Dieser Fokus auf den engsten Raum bringt aber einen ganz anderen Blick auf die unmittelbare Umwelt, viel stärker nimmt sie Alltagsgegenstände wahr und hinterfragt diese. Das Besondere im Banalen ist es, das sie fasziniert.

Auch der Schreibstil fällt aus dem Rahmen. Es sind keine langen, vor Metaphern nur so strotzende Sätze, die vielfältige Deutungen erlauben. Keine gekünstelte Sprache oder elaborierte Wendungen erwartet den Leser, sondern eine oftmals geradezu radikal sachliche und extrem verkürzte Ausdrucksweise kennzeichnet den vorherrschenden Ton. Doch gerade diese scheinbare Eindeutigkeit eröffnet wieder Interpretationsspielräume, wie der Erzählerin auch bewusst wird, denn „Wolf“ oder „Elefant“ sind zwar eindeutige Benennungen, welches konkrete Tier man sich jedoch darunter vorstellt, kann sehr vielfältig sein.

Das Tier ist es auch, das weite Teile des Arbeitsalltags der Nachtwächterin bestimmt. Auffällig viele Wölfe und Füchse sind mir in den vergangenen Monaten in der Literatur begegnet. Woher das Faible für die wilden Vorfahren unserer heutigen tierischen Mitbewohner stammt, kann ich nur mutmaßen. Ist es das Rohe, das Wilde, das in unserer vollorganisierten und kontrollierten Welt fasziniert? Das letzte bisschen Natur, das der Mensch nicht erobert hat und das ihn nun in seinem Lebensraum bedrohen kann? Er lässt vielerlei Deutung zu, vom biblischen Wolf, der die Lämmer reißt, bis hin zu Wölfin, die Romulus und Remus säugt und so den Grundstein für ein Imperium legte.

„Hier ist noch alles möglich“ ist ein durchaus gewagter Roman, der jedoch in seiner Einzigartigkeit aus der Masse heraussticht. Sicher kein Titel, der eine breite Masse begeistern wird, aber das Potenzial hat, in einer kleinen Nische seinen Platz zu finden.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.08.2018
Die letzte Terroristin
Georgi, André

Die letzte Terroristin


ausgezeichnet

Der deutsche Herbst ist längst vergangen, die großen Ikonen der RAF tot und Deutschland frisch wiedervereinigt. Aber der Untergrundkampf ist noch lange nicht beendet, denn es gibt neue Ziele, neue Opfer, denen die dritte Generation Terroristen sich zuwendet: der Chef der Deutschen Bank, ermordet im Frühjahr 1991 und das nächste Ziel ist auch schon im Visier: Hans-Georg Dahlmann, der Treuhandchef. Geschickt hat man eine Frau bei im platziert, die bislang völlig unter dem Radar von BKA und anderen Sicherheitsbehörden war: Sandra Wellmann, ehemals beste Freundin seiner Tochter erscheint Dahlmann vertrauenswürdig und geeignet als Assistentin. Doch das BKA ist der RAF auf der Spur, ein V-Mann kann wichtige Informationen liefern und die Nerven liegen blank bei den Terroristen - so geschehen Fehler. Wer wird am Ende die Oberhand haben?

Wie schon in „Tribunal“ greift André Georgi auf die Realität als Vorlage für seinen Thriller zurück und zeigt, dass das Leben selbst genügend Spannung bietet und es gar keiner ausgedachten Geschichte bedarf, um auf höchstem Niveau zu unterhalten. Auch wenn die Namen der Opfer und Täter erfunden sind, benötigt man als Leser nur wenige Seiten um die Ermordungen von Alfred Herrhausen und Detlev Karsten Rohwedder wiederzuerkennen. Zwei aufsehenerregende Fälle, deren genaue Tathergänge bis heute nicht restlos geklärt sind.

Die ganz klar spannendsten Aspekte sind nicht der Ausgang der Geschichte, der ist bekannt, sondern die von Georgi konstruierten Hintergründe und die Figuren der Täter mit ihren Emotionen, aber auch den Strukturen der RAF. Bringt man den Fall Rohwedder nur mit dem Terror in Verbindung, vergisst man mögliche andere Motive, die in Anbetracht seiner Funktion eigentlich naheliegen und es ist gut vorstellbar, dass hinter dem Mord ein ganz anderer Antrieb steckte, der bis heute unentdeckt ist und es womöglich immer bleiben wird. Auch die Rücksichtslosigkeit, mit der die Terroristen mit den eigenen Leuten umgehen, wie Sandra im Roman benutzt und belogen wird, steigert das abscheuliche Bild der Gruppe nochmals.

So bleiben Handlung und Spannung trotz der erkennbaren Parallelen zur Realität und den vielfach bekannten Aspekten auf durchgängig hohem Niveau. Ein Politthriller, der restlos überzeugt und durch die Verbindung von Terror, Politik und Wirtschaft zudem anspruchsvoll die jüngere deutsche Geschichte darstellt, die komplex geworden ist und keine einfachen Zuordnungen und Zuschreibungen mehr zulässt.

Bewertung vom 13.08.2018
Weit weg von Verona (MP3-Download)
Gardam, Jane

Weit weg von Verona (MP3-Download)


sehr gut

Jessica Vye nimmt kein Blatt vor den Mund und sich anzupassen ist auch nicht ihre große Stärke. Unweigerlich gerät die Zwölfjährige immer wieder in heikle Situationen, aus denen sie kaum einen Ausweg findet. Freunde hat sie kaum, erst mögen die anderen Kinder sie, aber bald schon wenden sie sich von ihr ab. Auch ihre Lehrerinnen scheinen sie nicht zu verstehen und vor allem ihr literarisches Talent nicht zu entdecken. Während draußen in der Welt der Zweite Weltkrieg tobt, wird Jessicas Leben in dem englischen Dörfchen von Alltagssorgen und ersten literarischen Entdeckungen geprägt.

Jane Gardams Debütroman wurde bereits 1971 geschrieben und auch hier zeigt sie schon ihr Talent für außergewöhnliche Charaktere und einen unheimlich sympathischen Erzählton, der den Leser mitnimmt und der dank der lockeren und heiteren Art begeistern kann. Allerdings bleibt sie in „Weit weg von Verona“ in der Figurenzeichnung noch hinter ihren späteren Romanen, vor allem der Trilogie um Old Filth Edward Feathers, zurück, was aber auch dem Alter der Protagonistin geschuldet sein könnte.

Jessicas Welt ist klein und überschaubar. Die Außenwelt dringt zwar am Rande zu ihr durch – der Krieg, die nächtlichen Bombardements, die Gasmasken – kann aber nicht wirklich ihr Bewusstsein durchdingen und so konzentriert sich die Handlung auf ihren kleinen Radius von Zuhause und Schule. Immer wieder bringen sie vermeintlich gute Ideen in Schwierigkeiten, dies ist einerseits völlig abzusehen, dennoch aber amüsant und herzlich mitzuerleben.

Vanessa Loibl findet im Hörbuch auch die passende Stimme für das vorlaute und aufgeweckte Mädchen und transportiert ihre etwas altkluge, aber doch herzliche Art überzeugend.

Bewertung vom 12.08.2018
Das rote Adressbuch (eBook, ePUB)
Lundberg, Sofia

Das rote Adressbuch (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Doris bleibt nicht mehr viel Lebenszeit, mit 96 lebt sie alleine in Stockholm und die einzige Familie, die ihr noch geblieben ist, ist ihre Nichte Jenny, die mit ihrer Familie in San Francisco wohnt. Über Skype sprechen sie regelmäßig miteinander und so hat Doris Anteil am Aufwachsen von Jennys Kindern. Doris befürchtet jedoch, dass ihr die Zeit davonläuft und sie nicht mehr alles erzählen und beichten kann, was sie gerne loswerden möchte, daher beginnt sie in einem roten Tagebuch zu notieren, wer ihr in ihrem Leben wichtig war und welche Rolle diese Menschen für sie persönlich spielten, wen sie liebte. Als es mit Doris‘ Gesundheit rapide bergab geht, fliegt Jenny mit ihrer jüngsten Tochter nach Schweden, um ihre Tante in den letzten Stunden zu begleiten.

Sofia Lundberg ist eine Journalistin, die in der schwedischen Hauptstadt lebt. „Das rote Adressbuch“ ist ihr erster Roman, der in Skandinavien direkt zum großen Erfolg wurde. Es ist eine Geschichte voller Abendteuer, Gefahren, Erfolge und Niederlagen. Aber in erster Linie ist es ein Roman über die Liebe, eine Liebe, die es tatsächlich gab, die Kriege überstand – aber immer nur aus der Ferne gelebt wurde.

Was mir am besten gefallen hat, war der Wechsel zwischen den beiden Erzählsträngen, einerseits Doris in ihren letzten Tagen zu begleiten, andererseits ihr aufregendes Leben ab den Kindertagen nachzuvollziehen. Sie hatte kein einfaches Leben, aber genau das hat sie zu dem Menschen gemacht, der sie am Ende ist: eine veritable Grande Dame mit großem Herz, die alles erlebt und so viel zu geben hat.

Die Autorin hat liebenswerte und charmante Figuren erschaffen, die man am Ende nicht verlassen möchte. Der Roman ist ein kleiner Schatz, den man nicht übersehen sollte und der in dem Wunsch der Mutter alles zusammenfasst, was Doris erlebt: Sie wünscht ihrer Tochter, dass sie immer genügend Sonne habe, um ihre Tage zu erleuchten, genügend Regen um die Sonne zu schätzen, Freude für die Seele und Kummer, um die Freuden zu würdigen und Begegnungen, um sich auch verabschieden zu können.

Bewertung vom 11.08.2018
Cherry
Walker, Nico

Cherry


sehr gut

2003, Cleveland. He has just arrived at uni when he meets Emily and falls for her immediately. They love each other passionately, just as they love Ecstasy. When Emily moves back home to Elba and splits up, he loses control and is expelled from college soon after. The army promises an interesting future – or better: a future at all. As a medic he is briefly trained before they send him to Iraq. A year in the Middle East, a year in the war. What he sees is unimaginable and to avoid the pictures in his head and to deal with the everyday loss of comrades, he needs more and more pills. When he returns, he cannot find a way back in life. With Emily, he’s got an on-and-off relationship which is mainly marked by their common use of heroin. A normal life seems possible, but the constant need of money for more drugs and the fact of passing out frequently hinders them from actually having it.

“Cherry” is the story of an average young man whose life spirals down into the abyss. It’s not the one big event that throws him off course, it’s a bit here and there, a relationship that breaks up, not getting enough credits at college, simply losing the aim in life. Of course, the experiences made in the war are a major event and it is hard to imagine that anybody can live through this without serious psychological disturbances or PTSD. The novel brings out the worst that drugs can do to somebody and it underlines how long this can go on without people around noticing anything, how long they can keep up appearances before wreaking havoc.

Yet, it is not only the topic, the narrator’s life that is shown bluntly by Nico Walker. What he does masterly, too, is to adapt the language to the situation:

The car bomb did what car bombs do and four were dead in the market. It would have been more but the sheep took most of the blast. So you had flesh and blood and wool on the pavement. You had bloodstains on the pavement, little lakes of blood.

There is no reason to embellish anything, it’s just the blunt reality that Walker describes in the most brutal and direct way. Most of the soldiers were “Cherries” which gives the novel its title: soldiers who have never been in a fight and whose behaviour is unpredictable and therefore a danger to the whole platoon. They were ill prepared in every possible way, but the worst is that they were ill prepared to return to a life in the civilian society. Walker doesn’t beat about the bush, his novel accuses their treatment, as well as the way drug addicts are taken care of, or rather: not taken care of. He shows a reality that nobody wants to see but which exists among us. The style of writing might not be for everybody, but it is perfect for this novel.

Bewertung vom 10.08.2018
Opoe
Blum, Donat

Opoe


sehr gut

Wer war eigentlich die Frau, die familientechnisch seine Großmutter ist, die er aber kaum kannte, die auch seiner Mutter Antonia ein Leben lang fremd blieb? Nur ab und an besuchten sie sie, aber erst als sie nicht mehr da ist, wird ihre Bedeutung offenkundig. Donat reist ihr nach, in die Niederlande, die sie einst für ihren Mann Max verließ, um mit ihm in der Schweiz ein neues Leben zu beginnen. In den Alpen, wo sie stets eine Fremde geblieben war. Ein Lebensentwurf, der heute undenkbar wäre und das, wo so viel mehr Lebensentwürfe gesellschaftlich toleriert sind – stellt sich die Frage, wie will er selbst leben, welche Art von Partnerschaft haben, Kinder trotz der Homosexualität? Eine Reise zurück und nach vorne.

Donat Blum, ein Schweizer Literat, der bislang eher kürzere Texte verfasste und als Moderator tätig ist, vermischt in seinem kurzen Roman die Geschichte von Opoe mit jener des Erzählers, wobei offen bleibt, inwieweit diese autobiografisch geprägt und beeinflusst sind. Aufgrund der völlig verschiedenen Themen und Lebensfragen, ist es nicht ganz einfach, beides unter einen Hut zu bringen.

Ausgangspunkt ist Opoe, die Niederländerin, die nach dem Krieg einen großen Schritt wagte: mit einem jüngeren Mann eine Beziehung einzugehen, noch dazu einem Schweizer, sich mit ihm in dessen Heimat niederzulassen und mutig ein Geschäft zu eröffnen. Der Preis war hoch, denn die gemeinsame Tochter blieb in den ersten Lebensjahren in den Niederlanden, fern der Eltern. Sowohl geschäftlich wie auch privat laufen die Unternehmungen nicht wie geplant, der Blumenladen schließt und sowohl die Dorfbewohner wie auch die Schwiegereltern sehen in ihr nur die Fremde. Sie wird Jahre brauchen sich zu etwas freizuschwimmen, doch der Geist der Zeit will es, dass sie abhängig bleibt, finanziell wie auch als Ehefrau: ihren Lohn als Verkäuferin gibt sie ihrem Mann ab und seine regelmäßigen Besuche bei einer anderen Frau nimmt sie kommentarlos hin.

Der Enkel führt hingegen eine Partnerschaft, die von Offenheit und Unabhängigkeit geprägt ist – doch auch hier ist der Preis hoch, denn die Exklusivität der Paarbeziehung fehlt. Die Sicherheit und das Versprechen zueinanderzustehen, in guten wie in schlechten Zeiten, sie werden dem Hedonismus geopfert. Die Bitte eines befreundeten lesbischen Pärchens nicht nur biologischer, sondern auch teilhabender Vater eines Kindes zu werde, wirft neue Fragen auf: gibt es noch definierte Familienrollen? Können die auch anders und dennoch gut sein?

Der Roman reißt viele interessanten und relevanten Fragen an, bisweilen habe ich mich jedoch etwas verloren gefühlt, zu sprunghaft und wenig stringent erschien mir die Erzählung. Auch wenn die Großmutter als Namensgebering fungierte, verliert der Erzähler sie immer wieder aus den Augen und fokussiert auf seinen eigenen Sorgen. Der Roman hat für mein Empfinden einen stark essayistischen Charakter, der gut zu den modernen Abschnitten passt, deren Lebensentwürfe sich in kein Schema pressen lassen und so auch literarisch in passender Weise wiedergegeben werden. Dahinter tritt die Geschichte der mutigen Frau jedoch leider stark in den Hintergrund.

Sprachlich hat mir der Roman gut gefallen, mit klaren und schnörkellosen Worten erzählt Donat Blum, lässt Raum für eigene Gedanken und so ist der Roman vielleicht unmittelbar nach dem Lesen noch nicht ganz zu erfassen, da er noch Zeit zum Nachwirken braucht.

Bewertung vom 09.08.2018
Die Hochhausspringerin
Lucadou, Julia von

Die Hochhausspringerin


ausgezeichnet

Fitness-Tracker, Echtzeit-Kommunikation mit der ganzen Welt, maßgeschneiderte Unterstützungen zur Selbstoptimierung – was heute schon ansatzweise zum Alltag gehört, wird in naher Zukunft perfektioniert sein, um die Menschen zu optimieren und ihnen zu ermöglichen, Höchstleistungen zu zeigen. So auch Riva, ein Internetstar, als Hochhausspringerin ist sie berühmt geworden, Millionen von Follower begleiten gebannt ihren Alltag, der virtuos abgestimmt wird auf die Bedürfnisse der Zielgruppe der Fans. Riva ist eine Marke mit perfektem Marketing und rundum-Betreuung, die ihre körperliche und mentale Fitness überwacht und für optimale Leistungen sorgt. Doch plötzlich will Riva nicht mehr, apathisch zieht sie sich in ihre Wohnung zurück, verweigert Nahrung und vor allem das Hochhausspringen. Eine finanzielle Katastrophe, weshalb die Psychologin Hitomi Yoshida sie coachen soll und zurück in die Spur bringen muss. Kein leichtes Unterfangen, denn auch für Hitomi steht einiges auf dem Spiel.

Julia Lucadous Roman versetzt einem in eine nicht allzu ferne Zukunft, die einem auf den ersten Seiten auch eher fremd vorkommt. Das durchgetaktete und durchgeplante Leben der Figuren, das vor allem die monetären Bedürfnisse von Investoren zu befriedigen hat und nur in zweiter Linie zur Erfüllung der Figuren selbst dient, erscheint doch eher sehr utopisch – genaugenommen wohl dystopisch. Doch je weiter die Handlung voranschreitet, desto deutlicher werden die Bezüge zu unserer heutigen Realität und der Kluft zwischen beiden verringert sich zusehend auf erschreckende Weise.

Man erfährt nicht viel über die Gesellschaft, in der Riva und Hitomi leben, die klassische Familie wurde ersetzt durch eine zielgerichtete Reproduktion und Erziehung, die einer gewissen Planwirtschaft zu folgen scheint und vor allen Dingen durch die Abwesenheit von Zuneigung und Geborgenheit geprägt ist. Hinzu kommen offenkundige Klassenzugehörigkeiten, die über Lebenschancen entscheiden. Dies ist ein relativ typisches Setting für dystopische Romane. Allerdings bleibt die Gesamtbevölkerung stets in der Peripherie, die beiden jungen Frauen und ihr ganz persönliches Schicksal stehen im Vordergrund.

Riva kommt wohl dem, was man heute als Influencer und Internet-Berühmtheit kennt am nächsten. Ihr ganzes Leben wird unmittelbar sichtbar übers Netz veröffentlicht und ihre Anhänger nehmen so an ihrem Leben teil. Dies geht auf Kosten gewisser Freiheiten, Branding und Werbung diktieren das Verhalten und die persönliche Freiheit wird durch den Marktwert bestimmt. Dass Riva eine Art Burnout erlebt und sich völlig in sich zurückzieht, ist eine verständliche Folge. Die permanente Öffentlichkeit des Daseins strengt nicht nur an, es lässt sie auch sich selbst verlieren.

Hitomi wiederum war schon als Kind angepasst und konnte den vorgefertigten Normen, dem festen Rahmen positive Seiten abgewinnen. Das System und ihr Charakter waren wie für einander gemacht, ihre Fähigkeit Menschen zu lesen scheint sie ideal für den Beruf der Psychologin zu machen. Ihr Arbeitsalltag unterscheidet sich nur in einem Punkt deutlich von unserem: jeder Handgriff wird unmittelbar mit Credits bewertet, Fehler sind nicht verzeihlich, sondern können zum Verlust von Ansehen und Wohnung führen. Sie wird ebenso wie Riva 24/7 überwacht und erfüllt sie die Vorgaben des Arbeitgebers nicht, die sich nebenbei auf Schlafpensum, Ernährung und sportliche Aktivität ausdehnen, riskiert sie wegen Vertragsbruches die Kündigung. Der Druck wirkt zunächst motivierend und spornt sie an, doch zunehmend lastet er auf ihr und sie beginnt zu straucheln.

Der moderne Mensch, der nicht mehr lebt, sondern performt, seine Freizeit auf den Social Media Kanälen teilt und Likes oder Herzchen als neue Währung versteht, den gibt es schon. Julia von Lucadou hat ihn eine Stufe weitergedacht. Was kommt nach der Optimierung, wenn perfekt das neue Normmaß ist? Ein erschreckendes Gedankenexperiment, das zum Nachdenken bringt.