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Havers
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Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 09.01.2017
Die Terranauten
Boyle, T. C.

Die Terranauten


ausgezeichnet

Wer erinnert sich noch an „Biosphäre 2“, das faszinierende Experiment aus den neunziger Jahren in der Wüste Arizonas? Dort wollten Wissenschaftler in einem geschlossenen ökologischen System spezielle Umweltbedingungen abbilden und untersuchen, inwieweit dort menschliches Leben langfristig möglich ist. Aus verschiedenen Gründen ist dieses Experiment allerdings gescheitert, wobei die Dynamik der zwischenmenschlichen Beziehungen einer der Faktoren war.

Aus „Biosphäre 2“ wird bei T. C. Boyle „Ecosphere 2“, und diese Utopie bildet den Hintergrund für den neuesten Roman „Die Terranauten“, wobei sich der Autor in seinen verschiedenen Romanen bereits mehrmals mit ökologisch/utopischen Visionen und deren gesellschaftspolitischen und/oder individuellen Auswirkungen beschäftigt hat (siehe z.B. „Ein Freund der Erde“ oder „Wenn das Schlachten vorbei ist“ oder „Drop City“).

Vier Frauen und vier Männer sind die Probanden, die sich der Herausforderung stellen. Von der Außenwelt abgeschnitten, werden sie in einer versiegelten Biosphäre leben, die einem riesigen Terrarium ähnelt. Die Anforderungen an die Teilnehmer sind hoch, denn es gilt nicht nur, die Herausforderungen des täglichen Lebens zu meistern, sondern auch die Probleme der zwischenmenschlichen Beziehungen. Zusätzlich sitzen ihnen natürlich auch Tagestouristen und die Medien im Genick, die jeden ihrer Schritte durch die gläserne Abdeckung beobachten.

Der Roman ist in vier Blöcke aufgeteilt: Vor dem Einschluss, Einschluss. Jahr eins, Einschluss. Jahr zwei und Wiedereintritt. Die jeweiligen Phasen werden aus drei verschiedenen Perspektiven geschildert und kommentiert, zum einen sind das die beiden Teilnehmer Dawn Chapman, die sich um die Nutztiere kümmert, zum anderen Ramsay Roothoorp, Kommunikationsoffizier und Leiter des Bereichs Wassermanagement und ein Sexmaniac. Dritte im Bunde ist Linda Ryu, Dawns Freundin, die es zu ihrem eigenen Bedauern leider nicht geschafft hat, in das Team aufgenommen zu werden. Und so sitzt sie verbittert draußen, beobachtet die Terranauten und sammelt Daten für die Initiatoren des Experiments.

Das dysfunktionale Beziehungsgeflecht steht im Vordergrund und lässt uns die Menschen hinter Glas beobachten, die Interaktionen innerhalb der Gruppe. Die Charaktere sind und bleiben oberflächliche Zeitgenossen, oft kindisch in ihrem Verhalten, ohne persönliche Weiterentwicklung während ihres Aufenthaltes unter Glas. Sie arbeiten, sie streiten, sie hassen und sie lieben. Und sie haben Sex, ein großes Thema dieses Romans, hinter dem die zivilisationskritischen Aspekte fast vollständig verschwinden. Banalitäten bestimmen den Alltag, manchmal komisch, manchmal tragisch. Immer nahe an dem realen Vorbild, denn auch das Scheitern des Biosphäre 2-Experiments ist schlussendlich nicht dem Mangel an Ressourcen, sondern den zerstörerischen gruppendynamischen Prozessen geschuldet.

Doku-Soap und Satire, gepaart mit jeder Menge alttestamentarischer Symbolik. Der Schöpfer, das Paradies, die Schlange der Verräter. Boyle hat einen Mikrokosmos erschaffen, innerhalb dessen er dem Leser wie mit einem Vergrößerungsglas die Handlungen und Befindlichkeiten seiner Protagonisten präsentiert. Er wertet nicht und bezieht auch nicht Stellung, er zeigt auf und überlässt es uns, daraus Schlüsse zu ziehen und diese in größere Zusammenhänge einzuordnen. Wieder einmal ein entlarvender, ein großartiger Roman über die menschliche Natur aus der Feder des amerikanischen Autors.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Born to Run
Springsteen, Bruce

Born to Run


ausgezeichnet

In the day we sweat it out on the streets of a runaway American dream

Nach der 2012 im Original erschienenen Veröffentlichung „Bruce“ des Musikjournalisten Peter Ames Carlin hat Bruce Springsteen himself nun mit „Born to run“, seiner Autobiografie, nachgelegt. Den Titel hat er von dem gleichnamigen Album (und Song) übernommen, das 1975 veröffentlicht wurde und seinen Durchbruch markierte – und bis heute nach „Born in the USA“ sein am häufigsten verkauftes Album ist.

Bruce Springsteen, der Rock ‚n‘ Roller aus New Jersey, der Typ aus der Nachbarschaft, ohne Allüren, aber mit einem goldenen Herzen. Immer bereit, für die einfachen Leute Partei zu ergreifen, seine Popularität in die Waagschale zu werfen, wenn es darum geht, Gelder für eine gute Sache einzuspielen. Der ehrliche Arbeiter mit der klaren politischen Position. Der Vollblutmusiker, dessen Konzerte jeden Cent wert sind, die die Eintrittskarten kosten. Jeder, der das Glück hatte, ein Springsteen-Konzert live zu erleben, wird das bestätigen können. Minimum dreieinhalb Stunden Performance, in denen er alles gibt, aber auch seinen Musikern alles abverlangt. Bruce Springsteen, der Boss.

Und er nimmt in seinen Schilderungen kein Blatt vor den Mund, hält mit nichts hinter dem Berg. Offen und ehrlich, wie es seine Art ist. Von der Kindheit in ärmlichen Verhältnissen, vom Aufwachsen in Freehold, New Jersey, dem schwierigen Verhältnis zu seinem Vater, den ersten Gehversuchen mit seiner Gitarre, dem Tingeln durch die Clubs, bis hin zu dem ersten Plattenvertrag. Diese Passagen sind intensiv, weil er sie ungeschönt mit offenem Visier erzählt. Schonungslos dann, wenn er seine „schwarzen Hunde“ schildert, die Depressionen, mit denen er noch immer kämpft, den Schmerz, der ihn geprägt hat. Ein Musiker, der Erlösung in seiner Musik sucht. Der die Lücke zwischen der Realität und dem amerikanischen Traum schließen will. Nicht nur für sich, sondern auch für seine Zuhörer. Ein Besessener, der sein Medium gefunden hat. Die Gitarre und seine Songs.

Wie seine Alben ist auch diese Autobiografie ein Stück Musikgeschichte. Aber nicht nur, denn es ist gleichzeitig auch eine Beschreibung und eine Bestandaufnahme der Zustände in den Vereinigten Staaten der einfachen Leute. Grandios!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.01.2017
Die drei Sonnen / Trisolaris-Trilogie Bd.1
Liu, Cixin

Die drei Sonnen / Trisolaris-Trilogie Bd.1


ausgezeichnet

Eigentlich ist Science-Fiction nicht mein Genre. Und wenn ich doch zu einem Roman aus diesem Bereich greife, sollte er, zumindest im weitesten Sinn, einen Bezug zur Realität haben. „Die drei Sonnen“, Auftaktband der Trilogie des chinesischen Autors Liu Cixin, weckte mein Interesse, zum einen. weil er auf der Leseliste Barack Obamas stand und ich mich hin und wieder gerne literarischen Herausforderungen aus dem naturwissenschaftlichen Bereich stelle (zuletzt Marc Elsbergs „Helix – Sie werden uns ersetzen“), zum anderen weil dieser Roman mit zahlreichen, renommierten Preisen ausgezeichnet wurde.

„Die drei Sonnen“ – worum geht es? China, Ende der sechziger Jahre, die Zeit der Kulturrevolution. Terror überzieht das Land, Intellektuelle werden öffentlich an den Pranger gestellt und im günstigsten Fall „nur“ bestraft, aber wenn sie an ihren Lehren festhalten, kann sie das auch ihr Leben kosten. Die Astrophysikerin Ye Wenije sieht mit an, wie ihr Vater zu Tode geprügelt wird und muss diverse Umerziehungsmaßnahmen über sich ergehen lassen, ehe sie dem streng geheimen militärischen Forschungsprojekt „Rotes Ufer“ zugeteilt wird. Endlos lange Nächte wird sie Signale ins All schicken und darauf warten, dass außerirdische Lebewesen antworten. Bis sie ein Signal empfängt…

Obwohl Cixin Liu in diversen Interviews nachdrücklich betont hat, dass die Thematik seiner Trilogie kein politisches Statement ist, liegt die Vermutung dennoch nahe, auch wenn diese Kritik sich gekonnt hinter den naturwissenschaftlichen Theorien versteckt. Er verbindet Wissenschaft und Historie und verarbeitet diese Themen dermaßen interessant in einem komplexen, intelligenten Plot, dass dieser spannender als mancher Kriminalroman daherkommt. Astrophysik, Gaming, Chaostheorie, Kosmologie und Quantentheorie lesbar verpackt, ein Handlungsort, der für die westlichen Leser eher ungewohnt ist, ungewöhnliche Protagonisten. Das alles hat Cixin Liu zu einem faszinierenden Science-Fiction Roman verwoben, der die Grenzen des Genres weit übertrifft.

Der zweite Band der Trilogie erscheint bei Heyne unter dem Titel „Der dunkle Wald“ im Juni 2017. Ich freue mich darauf!

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.12.2016
Gangsterland
Goldberg, Tod

Gangsterland


sehr gut

Wenn ein Killer problemlos mehr als fünfzehn Jahre seinen Jobs erledigt und keine Spuren hinterlässt, die zu ihm oder seinen Auftraggebern führen, dann versteht er sein Geschäft. Sal Cupertine ist so jemand – bis er bei einem Job einen folgenschweren Fehler macht. Vier Tote, davon drei FBI-Agenten, der vierte ist ein mexikanischer Informant. Aber woher sollte er auch wissen, dass es einen geheime Deal zwischen der Chicagoer Mafia und dem FBI gab.

Sal muss von der Bildfläche verschwinden, denn sowohl FBI als auch die Mobster haben es nun auf ihn abgesehen. Den Kopf rettet ihm das Eingreifen seines Cousins. Dieser lässt seine Beziehungen spielen und verfrachtet ihn in einen Viehtransporter, der sich auf den Weg nach Las Vegas macht, direkt in den Einflussbereich von Bennie Savone, dem Boss des organisierten Verbrechens in und um das Spielerparadies in der Wüste. Und dieser weiß um Sals Fähigkeiten und möchte sie für sich nutzen. Zuerst kosmetische Operationen, dann eine neue Identität, und schon wird aus dem Auftragskiller Sal Cupertine ein Rabbi namens David Cohen. Zusammen mit Savones Schwiegervater soll er nicht nur die jüdische Gemeinde betreuen, sondern auch seiner alten Profession wieder nachgehen. Ausreichend Platz für die Beute, aber auch für die Opfer der „Familie“ ist ausreichend auf dem jüdischen Friedhof vorhanden. Doch das FBI schläft nicht, und so gerät der frischgebackene Rabbi schon bald in das Visier von Jeff Hopper, der federführend an der Chicagoer Aktion beteiligt war…

Auf der einen Seite die italienische Mafia, auf der anderen Seite die jüdische Religion, so recht scheint das auf den ersten Blick nicht zueinander zu passen. Aber genau diese Fusion bringt Schwung in den äußerst unterhaltsamen Thriller „Gangsterland“, in dem ein Killer zum Rabbiner mutiert, bevor dann doch wieder im Auftrag zu töten beginnt.

Der Autor ist zwar nicht gerade zimperlich, wenn es um die Darstellung von Gewalt geht, aber die begleitenden Dialoge – rabenschwarz und knochentrocken – nehmen diesen Szenen über weite Strecken die Schärfe. Könnte glatt von einem Schotten geschrieben worden sein, und ist eher eine Krimikomödie als ein knallharter Thriller.

Das rasante Erzähltempo des Anfangs kann Tod Goldberg zwar nicht durchgängig halten, und so sind immer wieder Längen zu überwinden. Aber dennoch habe ich „Gangsterland“ gerne gelesen und mich dabei sehr gut unterhalten gefühlt.

Bewertung vom 27.12.2016
Glücksmädchen / Ellen Tamm Bd.1
Bley, Mikaela

Glücksmädchen / Ellen Tamm Bd.1


weniger gut

„Glücksmädchen“ ist der erste Kriminalroman der schwedischen Autorin Mikaela Bley und gleichzeitig Auftaktband einer Reihe, in deren Zentrum Ellen Tamm steht. Diese verdient ihren Lebensunterhalt als Kriminalreporterin bei einem Stockholmer Fernsehsender und wird bei ihrer Arbeit tagtäglich mit dem Schlimmsten konfrontiert, was sich Menschen einander antun können. Als ihr der Vermisstenfall der achtjährigen Lycke übertragen wird, sieht sie sich urplötzlich mit den Dämonen ihrer Vergangenheit konfrontiert. Denn als Achtjährige hat Ellen ihre Zwillingsschwester Elsa verloren, und seither ist kein Tag vergangen, an dem sie sich nicht mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen quält. Sie lässt nicht locker und verbeißt sich richtiggehend in den Fall, auch als die Suchmannschaften längst aufgeben wollen. Fast scheint es, als ob ihr Lyckes Rettung die Erlösung bringen soll. Aber dann wird das Mädchen tot aufgefunden und es stellt sich die Frage, wer warum das Kind getötet hat.

Das Thema „Verschwundenes Kind“ scheint momentan Hochkonjunktur in den Kriminalromanen zu haben, die im Wesentlichen für die weibliche Leserschaft gedacht sind, wobei die Thematik einmal mehr, einmal weniger gut umgesetzt wird. Im Falle von Mikaela Bleys „Glücksmädchen“ neige ich leider zur letzteren Einschätzung, denn die Autorin hat in ihrem Erstling alle typischen Klischees bei der Charakterisierung ihrer Personen verbraten: eine Hauptfigur, die mit einem Kindheitstrauma kämpft, eine Mutter, die das Schicksal ihrer Tochter kaum berührt, eine Stiefmutter, die direkt aus einem Grimm‘schen Märchen stammen könnte – die Liste könnte man beliebig fortsetzen. Ähnliches gilt für die Informationsbeschaffung der Journalistin, die die polizeilichen Ermittlungen außen vor lässt und durch die nicht näher bezeichneten Kanäle einer Kollegin mit dem versorgt wird, was sie wissen möchte. Mir war das alles zu kalkuliert, zu gewollt, weshalb ich bei der Lektüre ständig auf Distanz zur Handlung und den Personen war.

Selbst wenn man Mikaela Bleys Erstling nachsichtig betrachtet, bleibt als Fazit nur zu bemerken, dass nicht jeder skandinavische Autor qua Herkunft spannende Kriminalromane schreiben kann. Und deshalb werde ich auch auf die nachfolgenden Bände der Reihe verzichten.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.12.2016
Vater und Sohn / Hackberry Holland Bd.3
Burke, James Lee

Vater und Sohn / Hackberry Holland Bd.3


ausgezeichnet

In seinem neuesten Buch schreibt James Lee Burke die Geschichte des Holland-Clans fort. Und wieder einmal steht, nach „Lay down my sword and shield“ (Auftaktband der Reihe , aber leider noch immer nicht in der deutschen Übersetzung erhältlich), „Regengötter“ und „Glut und Asche“ der ehemalige Texas Ranger Hackberry Holland im Zentrum dieses epischen Romans, der seine Leser nicht nur auf eine Reise in die Tage der mexikanischen Revolution, sondern auch auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs mitnimmt, der zeitliche Rahmen liegt zwischen 1890 und 1920. Aber für Holland gilt es auch Schlachten zu schlagen, die ihm das Leben abverlangt. „Vater und Sohn“ ist die Geschichte von zerbrochenen Beziehungen, von Schuld, von Missverständnissen, von zerstörtem Vertrauen, aber auch von der Liebe, die nach Versöhnung und Vergebung sucht. Fast schon ein klassisches Drama, in dem sich der Held auf eine Reise begeben muss, in deren Verlauf es kritische Situationen zu bestehen gilt und an deren Ende die Erlösung wartet.

Es ist die Sehnsucht nach seinem Sohn Ishmael, die Holland vorantreibt, der Wunsch, sich mit diesem zu versöhnen, was in mitten in die Wirren des mexikanischen Bürgerkriegs verschlägt. Revolutionäre und Zivilisten werden getötet, wofür man ihn zur Verantwortung ziehen will. Mit der Hilfe einer Prostituierten gelingt ihm die Flucht, wobei er auch noch das Versteck eines Österreichers entdeckt, in dem dieser jede Menge Waffen und eine Reliquie lagert. Ist das der sagenumwobene Gralsbecher? Natürlich will der Waffenhändler das Artefakt zurückhaben und schreckt deshalb nicht davor zurück, Hollands Sohn Ishmael in Geiselhaft zu nehmen. Es entbrennt ein Kampf auf Leben und Tod.

Burke erzählt Hollands Odyssee nicht streng linear, er springt zwischen Zeiten und Handlungsorten hin und her. Wer hier einen Kriminalroman erwartet, wird enttäuscht sein. Zwar ist findet man jede Menge Action, aber neben der Familiengeschichte beschreibt Burke hier auch den Aufbruch eines Landes, das sich von alten Werten verabschiedet und in ein neues Zeitalter startet. Und dennoch, es ist die Gewalt, die die amerikanische Historie in allen Epochen geprägt hat, und Burke zeigt, dass Amerika dieses Erbe bis heute in sich trägt.

Bewertung vom 21.12.2016
Rattenlinien
Arndt, Martin von

Rattenlinien


ausgezeichnet

Der titelgebende Begriff Rattenlinien wurde von den amerikanischen Geheimdiensten geprägt und bezeichnet die Fluchtrouten hochrangiger Kriegsverbrecher nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Wesentlichen führten diese Wege gen Süden, über das italienische Südtirol als Zwischenstation, mit dem Endziel Südamerika, aber auch Richtung Norden suchten ehemalige Nazischergen nach sicheren Aufenthaltsorten. Hier war unter anderem Irland ein beliebtes Ziel, nachzulesen in Stuart Nevilles Politthriller „Der vierte Mann“ (im Original „Ratlines“). Als Fluchthelfer nach Nord und Süd fungierten in vielen Fällen hohe Würdenträger der katholischen Kirche, die nicht nur bei der Planung behilflich waren, sondern den Flüchtigen in ihren Klöstern sicheren Unterschlupf gewährten.

Das ist die Ausgangssituation für Martin von Arndts Kriminalroman „Rattenlinien“, in dessen Mittelpunkt einmal mehr Andreas Eckart, ehemaliger Kommissar aus Berlin und mittlerweile in den Vereinigten Staaten zuhause, steht. Dieser erhält vom amerikanischen Geheimdienst Ende 1946 ein Angebot, dass er schwerlich ablehnen kann. Er soll sich auf die Jagd nach flüchtigen Nationalsozialisten begeben, die sich durch ihre Flucht nach Südamerika der Gerichtsbarkeit entziehen wollen. Anfangs eher skeptisch ob dieses Auftrags, stimmt Eckart dann doch zu, als er erfährt, dass das besondere Interesse der Amerikaner seinem ehemaligen Kollegen Gerhard Wagner, auch bekannt als „Schlächter von Baranawitschy“, gilt, da er sich eine Mitschuld an dessen Gräueltaten gibt.

„Rattenlinien“ führt konsequent die in „Tage der Nemesis“ begonnene Geschichte Andreas Eckarts fort. Zwar ist der Nationalsozialismus auf den ersten Blick besiegt, aber auf den zweiten Blick offenbart es sich, dass die Täter noch immer hochrangige und äußerst solvente Unterstützer haben, wenn es darum geht, sich vor der Strafverfolgung zu drücken und ihr Heil in der Flucht zu suchen. Das ist es, was Eckart umtreibt, der seine Lebensaufgabe darin sieht, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem er die Täter zur Verantwortung zieht und der gerechten Strafe zuführt.

Von Arndt bleibt in seinem komplex erzählten Kriminalroman nah an den historischen Fakten und rückt einmal mehr ein Thema der deutschen Vergangenheit in den Mittelpunkt, das gerne mit dem Mantel des Schweigens bedeckt wird. Großes Kino!

Bewertung vom 21.12.2016
Unter Tage / Charlie Resnick Bd.12
Harvey, John

Unter Tage / Charlie Resnick Bd.12


ausgezeichnet

Im März 1984 nimmt ein Ereignis seinen Lauf, das die britische Nation nachhaltig und für immer verändern wird. In den Kohlerevieren Nord- und Mittelenglands werden Zechen geschlossen und Arbeitsplätze im großen Stil vernichtet. Die Rentabilität ist hier nur zweitrangig, in erster Linie geht es Premierministerin Thatcher um die Entmachtung und Zerschlagung der Gewerkschaften. Und sie nimmt dafür bewusst die Verelendung der Bergarbeiter in Kauf, damit die ihre politischen Ziele durchsetzen kann (eindrücklich geschildert in dem Roman „GB 84“ von David Peace, auf den John Harvey auch in seinem Nachwort hinweist).

Soweit der Hintergrund für John Harveys Kriminalroman „Unter Tage“ (Originaltitel „Darkness, Darkness“). Handlungsort ist das fiktionale Bledwell Vale, eine Kleinstadt im Kohlerevier, gelegen im nördlichen Nottinghamshire, der Region, in der sich die Kumpel im Streik befinden. 1984 der Einsatzort von DI Charlie Resnick, der dort im Undercover-Einsatz für eine Unterabteilung von Scotland Yard Informationen über die streikenden Bergarbeiter sammeln und die Geschehnisse im Auge behalten soll. Dabei lernt er auch die Hardwicks kennen, eine Familie, die symbolisch für die unterschiedlichen Meinungen zu diesem Streik steht. Auf der einen Seite Barry, der weiter seiner Arbeit nachgehen will und muss, weil sein Lohn das Überleben sichert und sich deshalb weigert zu streiken. Dessen Frau Jenny ist allerdings anderer Meinung und wandelt sich von der treusorgenden Mutter zur kämpfenden Aktivistin, aktiv im Streikkomitee, die eines Tages spurlos verschwindet.

Dreißig Jahre später werden durch einen Skelettfund die Ereignisse der damaligen Zeit wieder aufgewühlt. Da er damals vor Ort war, wird Resnick, wenngleich bereits im Ruhestand, reaktiviert und der leitenden Ermittlerin Catherine Njoroge zur Seite gestellt. Und für ihn gilt es nun, nicht nur einen Todesfall aufzuklären, sondern er muss sich auch seiner Vergangenheit stellen.

Charlie Resnicks letzter Fall wird von John Harvey in zwei Zeitebenen erzählt, was den besonderen Reiz dieses Kriminalromans ausmacht, veranschaulicht er doch sehr detailliert die Entwicklung, die sein Protagonist im Laufe der Zeit durchlaufen hat. Diese Konfrontation mit seiner eigenen Vergangenheit als Ermittler ist für ihn nicht immer schmerzfrei, denn auch er muss sich seinen eigenen Versäumnissen stellen. Aber der Autor verharrt nicht in der Rückschau, sondern bringt die Geschichte seiner Hauptfigur gut ausbalanciert zwischen dem Gestern und dem Heute zu einem Ende – Fall gelöst, auch wenn damit nicht alles gut ist.

Ein schmerzhaftes Kapitel der englischen Zeitgeschichte, verwoben mit einem spannenden Kriminalfall, meisterhaft von einem großartigen Autor in Szene gesetzt. Lesen!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.12.2016
Die Toten, die dich suchen / Kommissarin Judith Krieger Bd.6
Klönne, Gisa

Die Toten, die dich suchen / Kommissarin Judith Krieger Bd.6


ausgezeichnet

Es ist eher ungewöhnlich, dass eine deutsche Autorin zu einem Krimi-Festival nach Medellin eingeladen wird. Aber genau das ist Gisa Klönne passiert. Mit Sicherheit ein beeindruckendes Erlebnis, und einige dieser Eindrücke, die sie auf ihrer Kolumbien-Reise gesammelt hat, verarbeitet die Autorin in ihrem neuen Roman „Die Toten, die dich suchen“.

Endlich wieder ein Kriminalroman mit Judith Krieger. Seit sie 2005 die deutsche Krimi-Landschaft bereichert hat, habe ich den Werdegang dieser etwas anderen Kommissarin von der Kripo Köln mit Interesse verfolgt. Biertrinkerin, (mittlerweile ehemalige) Raucherin von Selbstgedrehten, mit einem guten Musikgeschmack, nicht die Dutzendware, die üblicherweise in deutschen Krimis zu finden ist. Die ihren Beruf nicht mehr ertragen kann, die nicht mehr tagtäglich mit Gewalt und Mord konfrontiert werden will und sich deshalb eine Auszeit nimmt. Zurück in Köln übernimmt sie die Leitung des Dezernats für vermisste Personen, nicht ahnend, dass sie schon bald wieder mit Tötungsdelikten konfrontiert sein wird…

Gisa Klönne entwickelt diesen Kriminalroman sehr geschickt. Sie arbeitet mit vier verschiedenen Perspektiven, was zum einen dafür sorgt, dass das Interesse des Lesers durchgängig erhalten bleibt und keine Langeweile aufkommt, zum anderen werden die Geschehnisse aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Dadurch entwickelt sich eine facettenreiche Story, bei der nicht nur die Suche nach dem Täter im Mittelpunkt steht. Sehr geschickt arbeitet die Autorin ebenfalls Informationen zu den gesellschaftspolitischen Verhältnissen in Kolumbien ein und zeigt auf, welche Auswirkungen auf das tägliche Leben die ständige Präsenz der Drogenkartelle auf das Leben der Menschen haben, wie dies Biografien verändern und Leben zerstören kann.

„Die Toten, die dich suchen“ ist ein hochspannender, aber auch informativer Kriminalroman mit einer sympathischen Protagonisten, und ich hoffe sehr, dass die Pause bis zum nächsten Krieger-Krimi nicht gar so lange ist. Ganz klare Leseempfehlung meinerseits!

Bewertung vom 27.11.2016
Das Walmesser
Neilson, C. R.

Das Walmesser


ausgezeichnet

Es gibt zwei Protagonisten in diesem Kriminalroman: zum einen ist das John Callum, der total verkatert auf einer Steinplatte am Hafen von Tórshavn erwacht, ohne Erinnerung, dafür aber mit einem blutverschmierten Grindaknívur, einem Walmesser, in der Tasche. Und zum anderen sind das die Färöer, diese Inselgruppe im Nordatlantik. Rau, unwirtlich, karg und dünn besiedelt, deren Bewohner von der Schafzucht, der Fischerei und dem Walfang leben.

Callum kommt aus Schottland und hat seine Gründe dafür, dass er seine Heimat verlassen hat und auf den Färöer einen Neuanfang wagen möchte. Doch damit hält er hinter dem Berg, noch nicht einmal seine einheimische Freundin weiht er ein. Aber es ist offensichtlich, dass er von Dämonen aus seiner Vergangenheit geplagt wird. Albträume verfolgen ihn und bringen eine Seite zum Vorschein, die man lieber nicht kennenlernen möchte. Als ein Mord an einem Einheimischen geschieht, ist es nur logisch, dass die Inselbewohner zuerst den Fremden verdächtigen. Stellt sich nur die Frage, ob die Spezialkräfte der dänischen Polizei, die zur Unterstützung bei der Mordermittlung hinzugezogen werden, diese Verdächtigungen bestätigen können. Oder hat es ein Dritter darauf angelegt, Callum sprichwörtlich ans Messer zu liefern?

Für den Leser ist Callum zu Beginn ein weißes Blatt, ein Mann mit Vergangenheit, die sich aber erst peu à peu im Laufe der Handlung herauskristallisiert. Das weckt natürlich Erwartungen und verleitet zu Spekulationen, was mit Sicherheit Spannung generiert. Dazu kommen die Beschreibungen dieser grandiosen Landschaft, die eine ganz besondere Atmosphäre transportieren und äußerst gelungen sind. Hochspannung von Beginn an, die sich trotz des Umfangs, immerhin über 500 Seiten, bis zum Ende hin hält. Hier war kein Debütant am Werk, sondern ein Autor, der sein Handwerk versteht.

Und damit sind wir schon an dem Punkt, der mir sauer aufstößt. Mit dem Umstand, dass die deutschen Verlage bei den kreativen Übersetzungen der Originaltitel häufig über das Ziel hinausschießen, habe ich mich in der Zwischenzeit abgefunden. Im vorliegenden Fall scheint mir das auch nicht sonderlich ins Gewicht zu fallen, obwohl es mich geärgert hat, dass der Originaltitel bei den Verlagsangaben im Buch selbst nicht zu finden war (siehe weiter unten, wie das Rätsel gelöst wurde). Wenn nun aus „The last refuge“ (= Die letzte Zuflucht) in der deutschen Ausgabe „Das Walmesser“ wird – geschenkt.

Was mich allerdings ärgert ist die Tatsache, dass hier fantasievoll ein neuer Autorenname aus der Taufe gehoben wird. Natürlich mit nordischem Klang, denn die Skandinavier verkaufen sich ja immer gut. Als ich nach Informationen zu dem Autor gesucht habe, wurde ich – natürlich – zuerst nicht fündig. Doch etwas um die Ecke gedacht, bin ich darauf gestoßen, dass sich hinter C. R. Neilson der schottische Autor Craig Robertson verbirgt, der mit seinen „schwarzen“ Glasgow-Thrillern durchaus Beachtung verdient. Und im englischsprachigen Raum wurde vorliegender Kriminalroman auch unter diesem Autorennamen veröffentlicht. Von daher ist diese deutsche Verlagspraxis, deren Ziel es ist, die Leser hinters Licht zu führen, für mich ein Ärgernis, wird hier doch die Arbeit eines Autors zugunsten monetärer Interessen herabgewürdigt!

2 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.