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Bories vom Berg
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München
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Bewertungen

Insgesamt 833 Bewertungen
Bewertung vom 25.02.2013
Sand
Herrndorf, Wolfgang

Sand


gut

Sie dürfen Watson zu mir sagen

Titel wie Umschlagbild dieses Romans deuten zwar auf den Schauplatz der Handlung hin, Genaueres erfährt man aber nicht, man darf vermuten - Marokko, glauben viele. In seiner vielfach hoch gelobten und entsprechend prämierten Parodie eines Agententhrillers bleibt die Örtlichkeit nicht das Einzige, was nebulös ist. Und wenn der Klappentext den palästinensischen Terroranschlag bei der Olympiade erwähnt, ist damit zwar 1972 als Zeit bestimmt, der Leser so aber auch auf eine falsche Fährte geführt, die Untat der Gruppe «Schwarzer September» in München hat nämlich keinerlei Bezug zur Handlung.

Unglaublich einfallsreich schildert Herrndorf in diesem für den Leser mitunter psychedelischen Roman eine haarsträubende Geschichte, bei der man keinen festen Boden unter die Füße bekommt, sondern im Treibsand des Aberwitzigen versinkt. Man kann den Plot als abenteuerliches Verwirrspiel in der Wüste bezeichnen, findet dort ein wahrhaft irres Szenario vor und bekommt auch noch viel Sand in die Augen gestreut. Total skurrile Figuren geraten in völlig absurde Situationen, geschrieben ist dieser bilderreiche literarische Slapstick jedoch in einer knappen, kristallklaren, punktgenauen Sprache, die blitzgescheit und tiefgründig ist, aber Gott sei Dank nicht manieriert.

Wie so oft in anspruchsvolleren Büchern liegt das Besondere in den vielen kleinen, unscheinbaren Details, die ich passend zum Handlungsort als dichterische Arabesken bezeichnen möchte. Köstlich zum Beispiel die Mentalitätsbeschreibung der Araber oder der Lehrlingsschabernack mit Siemens Lufthaken und dem verlängerten Augenmaß. Erstaunt erfährt man sogar von einer zweiten Dreyfus-Affäre: Ein der künstlichen Intelligenz ablehnend gegenüberstehender Philosoph namens Dreyfus ist nach dem verlorenen Schachspiel mit einem frühen Computer der erste Mensch, «der dümmer war als ein paar Kupferdrähte»! Oder der falsche Psychiater, der seinen unter Amnesie leidenden Patienten wegen dessen Schlussfolgerungen erstaunt als Sherlock Holmes bezeichnet und nonchalant hinzufügt: «Sie dürfen Watson zu mir sagen»!

Ein sehr zu lobendes Stilmittel des Autors ist das häufige Rekapitulieren des bisher Geschehenen durch die Protagonisten, im Gespräch oder rein gedanklich. Man kann dem turbulenten Geschehen so leichter folgen, auch wenn man kein Detektivspiel aus der Lektüre machen, nicht alles genau analysieren will. Zartbesaitete müssen dann gegen Ende allerdings einiges aushalten, geradezu sadistisch wir da gefoltert, aber diese Brutalitäten sind natürlich ebenfalls satirisch überzeichnet. Und auch die Zitate am Anfang jedes der 68 Buchkapitel relativieren den nachfolgenden Text, bilden somit ein Gegengewicht zu manch Brutalem.

«Mit einigen harmonischen Akkorden könnte man das Buch also ausklingen lassen» schreibt Herrndorfer gegen Ende und macht damit die Fiktion überdeutlich, auch für Diejenigen also, die immer alles ganz ernst nehmen. Folglich werden in den letzten zwei Kapiteln amüsant und locker, als Zugabe quasi, noch einige Fragen geklärt, die dem braven Leser auf der Seele brennen, und dazu gehört auch der Verbleib jener Minen, denen man auf 475 Seiten irritiert hinterher gehechelt ist, wobei man sich bestens unterhalten hat - die entsprechende Mentalität vorausgesetzt.

14 von 15 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.02.2013
Robinsons blaues Haus
Augustin, Ernst

Robinsons blaues Haus


gut

… und alle Fragen offen

Schon im Titel des Romans ist ein Widerspruch angelegt, Robinson und Haus, wie passt das zusammen? Und ein Robinson, der in der Welt umherzieht ist auch nicht gerade typisch für Abenteurer dieser Art! Der Roman ist das als Schlusspunkt seines Oeuvres deklarierte Alterswerk des Autors, der als eigenwilliger Vertreter der phantastischen Literatur gilt. Es geht recht bunt zu in diesem Buch, was die Farbe blau anzudeuten scheint, die symbolisch ja für Ferne, Sehnsucht und Klarheit steht, als Hausanstrich aber eher selten vorkommt. Hier deutet blau auch auf die Südseelagune hin, die sich dem Blick bietet im letzten Haus des Protagonisten, das Paradies auf Erden für Robinson. Der immer auf der Flucht ist und immer auf der Suche nach einer Bleibe, die ihn verbirgt und schützt, die ihm vertraut ist, in der sein Glenfiddich auf ihn wartet, sein unverzichtbarer Single Malt Whisky als Symbol für Geborgenheit und Behaglichkeit.

Ernst Augustin ist ein literarischer Zauberer, der uns Vieles, Großartiges zeigt, uns damit verblüfft und dann ratlos zurücklässt. So ist denn das bloße Zeigen, wie er selbst erklärt hat, seine typische Arbeitsweise, der Rest ist Aufgabe des Lesers. So wie beim Stummfilm, wo man nur Bilder sieht und der Ton als Ergänzung fehlt. Wer den wunderbaren, vielfach prämierten Stummfilm „The Artist“ gesehen hat, wird zugeben müssen, dass Minimalismus dieser Art bestens funktionieren kann. Der Autor war als Neurologe und Psychiater tätig und hat die Welt bereist, seine Sehnsucht nach der Ferne ist deutlich zu spüren in diesem Roman, und auch Häuser und Architektur gehören ganz offensichtlich zu seinen Lieblingsthemen. Es ist eine völlig irreale Szenerie, ein Geisterreich der Fantasie, in das uns sein Buch entführt, eine Welt der totalen Imagination. Nichts ist, wie es scheint, alles erweist sich als Trugbild, schön und geheimnisvoll zugleich.

Robinson, der Ich-Erzähler dieser poetischen Erzählung, ist ein eigenartiger, geheimnisvoller Außenseiter, der mit seinem Freitag chattet, ihn aber nie zu Gesicht bekommt. Er lebt unter wechselnden Identitäten, wird ständig verfolgt, entgeht seinen Verfolgern aber immer wieder. Schon als Kind hat er sich verstecken müssen, hat einen zur Taucherglocke umfunktionierten alten Badeofen in den Fluss versenkt und darin Zuflucht gefunden. Sein Maybach fahrender Vater hat ihm unerschöpflich scheinende Finanzmittel hinterlassen, unredlich erworbenes, rein virtuelles Geld, der Zugriff darauf durch einen Code geschützt, den nur er kennt. So virtuell zudem, dass es sich per Tastendruck auf Erase löschen ließe und damit für immer verschwunden wäre. Die Geschichte ist spleenig, versponnen, verquer sogar, von der gefluteten Kirche bis hin zu den als Behausung dienenden Besenkammern und Verließen überall in der Welt, in denen sich der Protagonist verschanzt und es sich gemütlich macht. Man folgt diesen Bildern gern, amüsiert sich über die skurrilen Situationen, bewundert den Einfallsreichtum des Autors und genießt seine unprätentiöse, wohltuend klare Sprache. Solcherart Lektüre ist gute Unterhaltung im besten Sinne des Wortes.

Will der Leser dem Ganzen aber einen tieferen Sinn abgewinnen, ist er doch ziemlich gefordert, vielleicht sogar überfordert von der grenzenlos scheinenden Fantasie des Autors. Wie bei der Traumdeutung wird auch hier jeder etwas anderes finden, wenn er sich an eine Analyse wagt. Wie hieß es doch einst in seligen TV-Zeiten? «Und so sehen wir betroffen / den Vorhang zu und alle Fragen offen.» Mit den leicht abgewandelten Brechtworten aus ‚Der gute Mensch von Sezuan’, im Literarischen Quartett als markanter Schlusssatz von Reich-Ranicki in jeder Sendung zitiert, genau damit ist auch mein ganz persönliches Resümee sehr treffend ausgedrückt.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.02.2013
Nichts Weisses
Ziegler, Ulf E.

Nichts Weisses


gut

Dingbat

Dieser auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2012 stehende neue Roman bietet einen interessanter Einblick in die Welt der Werbung und insbesondere die der Grafik und Typografie in der interessanten Phase des Umbruchs hin zur Digitalisierung, von der Klassik zur Moderne also. Dabei ist nun allerdings ein gewisses Grundwissen und auch -verständnis hilfreich, um nicht zu sagen unabdingbar, sonst gehen doch viele der reichlich aufgetischten fachlichen Details ohne jeden nachwirkenden Effekt am staunenden Leser vorbei.

Gleich zu Anfang der locker erzählten Geschichte wird eine gewisse Spannung aufgebaut durch die erklärte Absicht der Protagonistin Marleen, eine einzigartige, ganz besondere Schrift zu kreieren, die es so noch nicht gibt. Wer sich die vielen Fonts in seinem Computer mal daraufhin anschaut, wird erstaunt nach Notwendigkeit und Sinn dieser kühnen Idee fragen und umso neugieriger sein, was dabei denn herauskommt am Ende. In verschiedenen Erzählsträngen und mit diversen Rückblenden verfolgt man also geduldig die berufliche und personale Entwicklung der Heldin über markante Wegmarken hinweg wie dem Stadtteil Pomona in Neuss, ferner Düsseldorf, Kassel, Paris und New York, und auch Poona in Indien spielt eine nicht ganz unwichtige Rolle.

Somit ist dies ein typischer Bildungsroman im modernsten Gewand, angesiedelt im Milieu der 68er-Generation, die ganze Familie ein bunter Haufen von Kreativen mit Hang zur Weltläufigkeit, unangepasste Individualisten jedenfalls, selbst die streng katholische Schwester gehört mit ihrem naiven Eigensinn zu diesen Charakteren. Alle diese Figuren wirken auf mich ziemlich labil, insbesondere Marleen erscheint zu keiner tieferen Bindung fähig, denn sogar ihr unehelicher Sohn bleibt eher eine seelenlose Randfigur. Patchwork-Familie und Schwulen-WG scheinen nicht der richtige Nährboden zu sein für innigere menschliche Beziehungen. Nur die Lehrer und Chefs der Protagonistin werden als kantige, skurrile, teils sogar despotische, aber gerade dadurch ja auch liebenswerte Originale der ziemlich durchgeknallten Werbe- und Grafikbranche beschrieben. Ganz am Ende kreiert Marleen dann schließlich die Symbolschrift Dingbat, auf die die Welt so dringend gewartet hat.

Ziemlich offensichtlich ist der Plot nicht das Wichtigste an diesem Roman, denn der Frage, was will der Autor uns damit sagen, stehe ich jedenfalls ratlos gegenüber, da kann ich leider nichts hinein interpretieren, wie andere das so locker tun. Angetan hat es mir da schon eher die flotte Erzählweise, die erfreulich klare Sprache, das stimmig geschilderte zeitgeschichtliche Umfeld dieser Geschichte. Und das, in Verbindung mit dem durchaus interessanten Einblick in ein ziemlich unbekanntes, der Literatur ja unzweifelhaft affines Metier, macht den Roman zwar nicht gleich buchpreiswürdig, aber schließlich doch lesenswert.

2 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.02.2013
Indigo
Setz, Clemens J.

Indigo


schlecht

Ein müder Abklatsch

«Irgendwann gewöhnt man sich gegen alles». Bastian Sick, Autor von «Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod», hätte seine helle Freude an diesem Wortspiel von Clemens J. Setz, das sich in seinem Roman findet und auch den Rückumschlag ziert. Ich glaube, irgendwann gewöhnt man sich an allem, auch am Dativ, woran ich mich aber partout nicht gewöhnen kann, das sind solche Romane! Großangelegte Experimente mit Wörtern, die keinen Sinn ergeben, Nonsens pur in Buchform, dem nur unbeirrbare Esoteriker eine tiefere Bedeutung andichten können.

Judith Schalansky, selbst Autorin bei Suhrkamp (Der Hals der Giraffe), zeichnet für Typografie und Einband verantwortlich. Mit lila Vorsatzpapier, handgeschriebenem Inhaltsverzeichnis, wechselnden Schriftfonds, eingestreuten Bildchen und Notizen im Faksimile hebt sich das Buch schon vom rein Handwerklichen her deutlich ab, vom Inhaltlichen her aber ist es gegen alle Konventionen. «So böse wie Nabokov, so virtuos wie David Foster Wallace» steht auf dem Rückumschlag, das hatte mich neugierig gemacht, und natürlich auch die Platzierung auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.

Clemens J. Setz erweist sich als außerordentlich kreativer Kopf mit ausgeprägtem Sinn für schwarzen Humor, dem es gelingt, eine beklemmende, unheilschwangere Atmosphäre zu erzeugen, die bei manchen Lesern, glaubt man den diversen Rezensionen, sogar körperliche Wirkungen wie Kopfschmerzen zeitigt. Macht das ein «Meisterwerk» aus diesem Roman? Eine interpretierende Analyse dieser verwickelten, schwindelerregenden (sic!), manchmal sogar brutalen Textcollage erspare ich mir, der Autor gefällt sich nämlich in der Rolle des Nerds, der seine tumben Leser in einem ausgangslosen Labyrinth von Andeutungen, Rätseln und Geheimnissen umherirren lässt. Vieles ist abgründig und beiläufig gleichermaßen, nichts klärt sich auf. All das ist geschrieben in einer angenehm zu lesenden, klaren Sprache, die in einem auffallenden Gegensatz zu den sämtlich wirre erscheinenden Protagonisten steht, zu denen man, wie auch zum Plot, keinen rechten Zugang findet (ich jedenfalls). Kein Vergleich übrigens mit D.F.Wallace, der ist der wahre Meister der Postmoderne, Setz ist nur ein müder Abklatsch davon!

3 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.02.2013
Fliehkräfte
Thome, Stephan

Fliehkräfte


gut

Wenn die Kinder aus dem Haus sind

Schon der Titel des Romans von Stephan Thome deutet an, worum es geht. Fliehkräfte sind jene Kräfte, die beim Abweichen vom geraden Weg entstehen und eben diese Abweichung zu verhindern suchen. Protagonist der in der Gegenwart angesiedelten und im Präsens erzählten Geschichte ist ein honoriger Philosophieprofessor, dessen wohlgefälliges, bürgerliches Leben im beschaulichen Bonn aus den Fugen geraten ist. Den Rahmen der Handlung skizziert Thome sehr gekonnt durch die Pointe eines eingefügten Witzes. «Menschliches Leben beginnt, wenn die Kinder aus dem Haus sind» erklärt lebensklug ein Rabbiner seinen verdutzten katholischen und evangelischen Berufsgenossen, die natürlich Zeugung respektive Geburt als Beginn ansehen.

Prof. Hainbachs Tochter studiert in Portugal, der Heimat ihrer Mutter, seine Frau arbeitet als Assistentin eines chaotischen Theatermenschen in Berlin, man führt seit zwei Jahren eine Wochenendehe. Auch beruflich ist er frustriert durch die Reformwut an den Universitäten, die selbst vor seiner Fakultät nicht haltmacht. Als er überraschend ein Angebot eines befreundeten Verlegers aus Berlin bekommt, steht er plötzlich vor einer folgenschweren Entscheidung. Er ist unschlüssig und flüchtet sich spontan in eine Reise, die sich als Selbstfindungstrip über viele Stationen erstreckt und als ganz persönlicher Jakobsweg bei seiner Tochter in Portugal endet.

Die durchgängig aus der Perspektive des Protagonisten erzählte Geschichte zeigt uns in vielen gekonnt eingebauten Rückblenden und Episoden recht anschaulich und stimmig seinen Lebensweg auf. Thomes Sprache ist klar und unaufgeregt, leicht lesbar und niemals langatmig. Sein Plot ist mit lebensnahen Dialogen und vielen atmosphärischen Details üppig angereichert und trifft letztendlich punktgenau die Befindlichkeiten unserer heutigen Wohlstandsgesellschaft, beschreibt zutreffend ein gegenwärtiges Zeitgefühl. Wir haben alles und sind doch nicht zufrieden, Melancholie also allenthalben. Die Personen sind treffend geschildert, bleiben aber seltsam distanziert, pralles Leben ist anders. Nur die Schwester des frustrierten Helden, die «kleine dumme Ruth», wird froh und lebensklug dargestellt, der proletarische, mit dem Leben besser zurechtkommende Gegenentwurf zu all den anderen eher schwermütig bourgeoisen Charakteren des Romans.

Der Vergleich zu manchen hoch gelobten amerikanischen Autoren drängt sich bei diesem Buch geradezu auf. Thome steht da durchaus in gleicher Erzähltradition mit seiner üppig angelegten Prosa, deren Lektüre nicht minder angenehm ist, wenn man diesen Stil denn mag. Ein entscheidender Vorteil ist sogar, für mich jedenfalls, das nichtamerikanische Milieu, in dem sich diese Geschichte abspielt. Dass allerdings auch hier sehr viele Klischees bemüht werden, die Anspielungen unübersehbar dick aufgetragen werden, mag manchen Leser stören, liegt aber doch voll im Trend der schon erwähnten, gattungstypischen Literatur. Über Gehalt und Motive, über die Botschaft dieser Geschichte kann man trefflich streiten, und man tut es ja auch, bei den Rezensionsprofis genauso wie bei den Kritikerlaien. Ohne Zweifel wird man gut unterhalten, bekommt manchen interessanten Einblick und erhält ganz unvermutet Schützenhilfe bei der eigenen Standortbestimmung, falls man denn bereit ist, über den Stoff hinaus auch noch ein wenig weiter zu denken.

1 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.02.2013
Die 27ste Stadt
Franzen, Jonathan

Die 27ste Stadt


schlecht

Die uninteressante Natur war uninteressant

«Es stürmt zum Obdachlosenverrecken» - und ich bin froh, ein Buch aus der Hand legen zu können, das solche hirnrissigen Sätze enthält. Für diesen und manchen anderen sprachlichen Lapsus mag der Übersetzer verantwortlich sein, für den miserablen, total misslungenen Roman ist Jonathan Franzen allein verantwortlich. Sein Erstling von 1988 ist das Schlechteste zwischen zwei Buchdeckeln, was mir seit vielen Jahren in die Hände gekommen ist, und das war nicht wenig!

Interessant ist genau genommen eigentlich nur die Frage, warum dieser Roman fast unisono so verrissen wird! Sind wir alle, die wir dieses Buch als grottenschlecht bezeichnen, dem Autor auf den Leim gegangen? Ist das Ganze einfach nur surrealistisch? Oder ist es etwa ironisch gemeint, eine Satire, und wir haben es nicht gemerkt, haben Hinweise darauf übersehen? - Natürlich nicht! Er meint es ernst, der Autor!

Für mich das größte Ärgernis ist der absolut unglaubwürdige Plot, eine wahrlich aberwitzige Konstruktion. Eine junge Inderin wird Polizeichefin in St. Louis (sic!) und zettelt eine Verschwörung an, deren letztendliches Ziel ebenso rätselhaft wie ominös bleibt. Ihren hartnäckigsten Widersacher bekämpft sie, indem sie sein Familienglück komplett zerstört und ihn damit zermürbt. Sie scheitert aber am Ende, weil das Referendum über die von ihr betriebene Fusion von Stadt und Landkreis grandios misslingt. Was soll das alles, fragt man sich erstaunt, denn man wird derartig mit erzählerischen Details zugemüllt, dass man schnell jeden Überblick und erst recht jedes Interesse verliert. Franzen spinnt in seiner naiven Gut-Böse-Sicht immer wieder neue Erzählfäden, die irrationale Handlung mäandert noch üppiger als das Mississippi-Delta, und als Krönung baut er auch noch unlogische und völlig überzogene Thrillerelemente mit ein. Seine in Regimentsstärke aufmarschierenden, meist unsympathischen Protagonisten sind widersprüchliche Figuren, deren Absichten undurchschaubar bleiben.

Auch sprachlich ist der mit 670 Seiten recht dickleibige, geschwätzige US-Roman ein einziges Fiasko. «Die uninteressante Natur war uninteressant» erfahren wir verdutzten Leser vom tiefsinnigen Autor, wie gut, dass fünf Seiten später Franzen endlich fertig war mit seiner unsäglichen Geschichte!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.02.2013
Der Besen im System
Wallace, David Foster

Der Besen im System


sehr gut

Für Leser mit Sinn für das Absurde

Nach der Lektüre von «Unendlicher Spaß», seinem berühmten Erfolgsroman, war ich nun auch auf den Erstling «Der Besen im System» von David Foster Wallace neugierig, schon der Titel weckt ja gewisse Assoziationen. Eines vorweg: Es macht wenig Sinn, bei diesem amerikanischen Autor der Postmoderne eine Inhaltsangabe zu schreiben, wie es der Klappentext versucht. Dieser Roman folgt keiner literarischen Konvention und ist deshalb schwer fassbar mit den gängigen Maßstäben. Er ist surreal wie ein Bild von Salvatore Dalí, aber anders als in der Malerei ist in der Literatur ja eher Rembrand gefragt, ein klar erkennbarer und nachvollziehbarer Plot jedenfalls. Den sucht man hier vergeblich, auch wenn uns der schon erwähnte Klappentext das vorgaukelt und uns damit (bewusst?) in die Irre führt. Wittgenstein kommt nicht vor, und Ur-Oma Lenore bleibt ohne erkennbaren Grund spurlos verschwunden, bis zum Schluss. Der übrigens, wie es sich gehört im Surrealismus, mitten im Satz, auf Seite 624, abrupt endet, ohne Schlusspunkt eben, arglose Leser könnten an einen Fehldruck glauben.

Ähnlich wie beim Opus magnum findet sich der Leser auch in diesem satirischen Roman mit einer ziemlich komplexen Syntax konfrontiert, die seine volle Aufmerksamkeit fordert, ihn dann aber umso mehr mit spaßigen, unerwarteten, aufregenden Gedanken belohnt und ihn viele abstruse Situationen miterleben lässt in den diversen Handlungssträngen. Der unglaubliche Wortreichtum des Autors wird radikal, ironisch und völlig absurd eingesetzt. Neben hochgestochenen Fremdwörtern findet man absoluten Nonsens als Wortgebilde und, völlig gleichberechtigt, auch den vulgären Jargon des Alltags. Mit diesem Instrumentarium formt er ein literarisches Werk, das seinen Reiz gerade darin hat, in kein Klischee zu passen.

Negative Kritiken sprechen von einem durchgedrehten Roman, in dem ein kreatives Chaos herrsche, und bemängeln den Patchwork-Charakter der diversen, ziemlich wirr zusammengefügten Textabschnitte und Kapitel, einem Zettelkasten ähnlich. Da haben sie wohl Recht, einen Spielfilm könnte man schwerlich machen aus diesem Romanstoff, obwohl – man soll nie nie sagen! Denn in einem Film könnte man alle diese neurotischen Protagonisten und schrillen Charaktere wunderbar darstellen, sämtliche Figuren dieses Romans werden einem nämlich schnell sympathisch, so meschugge sie auch sein mögen. Im Kopfkino des Lesers funktioniert das jedenfalls bestens.

Für mich ist «Der Besen im System» nicht nur eine gnadenlose Abrechnung mit dem American Way of Live, sondern darüber hinaus allgemein mit unserer neurotischen Informationsgesellschaft, eine wirklich amüsante Lektüre außerdem, sehr empfehlenswert insbesondere für Leser mit Sinn für das Absurde, sie werden voll auf ihre Kosten kommen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.02.2013
Bugatti taucht auf
Loher, Dea

Bugatti taucht auf


gut

Lektüre mit Bonus

Wer je die herrlichen Oldtimer der Collection Schlumpf in Mühlhausen gesehen hat, dürfte die Erregung nachvollziehen können, die der Name Bugatti bei mir auslöst als geradezu idealtypische Verkörperung anekdotenreicher Automobilgeschichte. Die aufsehenerregende Bergung des mysteriösen Autowracks im Lago Maggiore vor Ascona, die diesem Buch seinen Titel gab, ging seinerzeit durch alle Medien. Nachdem die erfolgreiche Dramatikerin Dea Loher mit ihrem Debütroman gleich auf der Longlist des Deutschen Buchpreises aufgetaucht ist, ähnlich spektakulär wie das 75 Jahre alte Bugattiwrack auf dem Umschlagbild, war die Lektüre vollends unaufschiebbar geworden für mich.

Realer Hintergrund des Romans ist neben der Bergung der sinnlose Totschlag eines jungen Mannes während der Fasnacht in Ascona. Die Autorin erzählt ihre klar gegliederte Geschichte chronologisch korrekt in drei Abschnitten, die sich sowohl vom Umfang als auch vom Schreibstil her deutlich unterscheiden. In dem für mich schwächsten und Gott sei Dank kurzen ersten Abschnitt gewährt sie in tagebuchartiger Form einen Einblick in die depressiven Nöte des Bruders von Ettore Bugatti, die im Selbstmord enden. Dem Roman würde nichts fehlen, hätte die Autorin diese 25 Buchseiten einfach weggelassen, sie tragen rein gar nichts bei zu ihrer ansonsten klug geformten Geschichte.

Der zweite Abschnitt ist mit „Der Mord“ betitelt. In neun Kapiteln sauber gegliedert ist der Autorin die minutiöse Schilderung der Vorgeschichte und der unfassbaren Umstände einer verhängnisvollen tödlichen Prügelei meisterhaft gelungen, das ist spannend zu lesen wie ein Krimi. Besonders die im Futur abgefassten, die Gerichtsverhandlung vorwegnehmenden Aussagen der reuelosen Schläger sind beklemmend, man ist entsetzt und völlig sprachlos. Nicht minder gut gelungen ist der dritte Abschnitt über die Bergung des Bugatti, und hier nun laufen die Fäden zusammen, die Hebung des Wracks erfolgt zum Gedenken an das Opfer. Jordi, der unerschütterliche Protagonist dieses mehr als die Hälfte des Romans umfassenden Abschnittes, will mit seiner zunächst aussichtslos erscheinenden Aktion dem geschehenen Bösen das Gute entgegensetzen als Signal, will der Tragödie wenigstens nachträglich etwas nehmen von ihrer Sinnlosigkeit.

Auch wenn ich meinen ganz persönlichen Bugatti-Bonus abziehe ist der klug aufgebaute Roman eine lesenswerte, anschaulich geschriebene und mit ihren vielen sorgfältig recherchierten Details durchaus bereichernde Lektüre, die seine Leser angenehm unterhält.

Bewertung vom 25.02.2013
Extrem laut und unglaublich nah
Foer, Jonathan Safran

Extrem laut und unglaublich nah


ausgezeichnet

Keine brav herunter geschriebene Prosa

Dies ist zweifellos der gelungene Roman eines kreativen jungen Autors, über den an vielen Stellen schon viel Kluges geschrieben steht. So viel, dass einem begeisterten Leser wie mir eigentlich nur übrig bliebe, ein paar bissige Kommentare zu den auffallend wenigen negativen Rezensionen zu schreiben, das Meiste ist schon gesagt. Es wird dabei aber häufig der Fehler gemacht, einen solchen Roman nach Gesetzen der Logik zu analysieren, wo es hier doch eindeutig um Irrationales geht, das wird einem ja schon nach wenigen Sätzen klar. Ein neunjähriger Protagonist ist zwar nicht völlig neu, und wenn der dann, wie die Figur bei Grass, auch noch Oskar heißt, ist doch eindeutig eine ganz andere, eine besondere Perspektive gegeben, da muss halt auch der Rezensent mal über seinen Schatten springen.

Denn genau diese Sicht eines neunmalklugen Jungen macht das Buch zu einer äußerst vergnüglichen Lektüre, ich hab mich lange nicht mehr so gut amüsiert, so oft laut aufgelacht. Der Autor brennt ein Feuerwerk an skurrilen Einfällen ab, und äußerst witzige Wortspiele, aber auch die ganz subtilen Beziehungen zwischen den teils urkomischen Gestalten lassen einen immer wieder schmunzeln. Besonders berührend fand ich die Odyssee zu den verschiedenen ‚Blacks’, wie schön könnte das Leben sein, geht es einem da durch den Kopf, wenn wir uns alle so ungezwungen geben, so freundlich aufeinander zugehen würden wie diese vielen Namensträger, die Oskar da unverdrossen aufgesucht hat.

Und all das spielt vor todernstem Hintergrund, 9/11 insbesondere, aber auch Dresden und Hiroshima, ohne dass es jemals unangemessen wirkt. Es muss erlaubt sein, die Welt eben auch mal aus einer herzerfrischend anderen Perspektive zu sehen, selbst wenn es so makaber wird wie im Daumenkino am Schluss des Buches, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Diesen extremen, ungewöhnlichen Spagat zwischen Tragödie und Komödie hat Jonathan Safran Foer in einer fulminanten Sprache und mit ausgefallenen typografischen Verzierungen versehen grandios bewältigt. Endlich mal keine brav herunter geschriebene Prosa, die allen Konventionen folgt, sondern ein unbekümmert anderer Stil, der die Literatur bereichert und damit ganz besonders auch denjenigen, der sich darauf einzulassen vermag als Leser. Er wird fürstlich belohnt!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.02.2013
Tod eines Kritikers
Walser, Martin

Tod eines Kritikers


sehr gut

Ein Verriss und seine Folgen

Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen. Lohnt es sich, darüber zu schreiben? so fragte Marcel Reich Ranicki 1976 in der FAZ unter dem Titel «Jenseits der Literatur» gleich zu Beginn seiner Rezension von Martin Walsers Roman «Jenseits der Liebe». Dem wollte ich natürlich auf den Grund gehen und habe den derart niedergemachten Roman nun auch noch gelesen – RR hat Recht, sei angemerkt. Im Jahre 2010 habe ich Martin Walser bei einer Lesung im Münchner Literaturhaus erlebt, in der er seinen dritten Band mit Tagebüchern vorgestellt hat. Walser, das war an diesem Abend deutlich zu spüren, leidet immer noch unter dem damaligen Verriss, bei ihm schwang seinerzeit, wie er ganz unverhohlen zugab, neben seinem gekränkten Ego auch die Angst vor einem Auflagerückgang seiner Bücher mit, also vor den finanziellen Folgen. Nicht nur für diesen Verriss, sondern auch für einige andere aus gleicher Feder ist der heftig umstrittene Roman «Tod eines Kritikers» nun Martin Walsers späte literarische Rache.

Es ist ein amüsanter Einblick in den Literaturbetrieb, unverkennbar eine Satire, geschrieben von einem Insider, einem ausgesprochenen Vielschreiber zudem, dessen literarische Qualitäten mitunter recht kontrovers diskutiert werden. Wir erleben in Walsers Buch eine Abrechnung mit einer einzigen Person, dem tückischen und damit als sadistisch entlarvten Kritiker-Papst, dessen Selbstüberschätzung grenzenlos zu sein scheint. Hat er doch durch das Medium Fernsehen eine Bühne gefunden, einen Thronsaal vielmehr, wie Walser das äußerst süffisant beschreibt, die ihn geradezu allmächtig werden lässt. Leider wird vieles in dieser opulenten Geschichte, mancher Witz, manche Anspielung, nur Insidern verständlich sein. Und auch manche seiner, anschaulich und mit allen ihren Macken beschriebenen Protagonisten, realitätsnahe Karikaturen ihrer selbst, werden nur intime Kenner der Literaturszene zutreffend demaskieren können. Aber das tut dem Lesespaß des Außenstehenden keinerlei Abbruch, wenn er denn aufnahmefähig ist für eine genüsslich erzählte, einem Kriminalroman nicht unähnliche Geschichte, die mit unendlich vielen Arabesken geschmückt langsam einem, wäre man nicht vorinformiert, durchaus überraschenden Ende entgegen treibt.

Walsers konjunktivträchtige Erzählweise mit durchweg indirekter Rede ist sicherlich nicht jedermanns Sache. Nach einer gewissen Eingewöhnungszeit findet man sich aber gut damit zurecht und empfindet sie schließlich sogar als wirkungsvolles Stilmittel in einem Roman, der ja die Literatur selbst zum Inhalt hat. Flüssig geschrieben ist dieser Roman jedenfalls nicht, er erfordert die volle Aufmerksamkeit des Lesers, damit er seine Wirkung entfalten kann. Dann aber schwebt der Leser in einem literarischen Universum, in dem es vieles zu bestaunen gibt. Man begegnet Nietzsche und Goethe, die mit bewundernswerter Leichtigkeit treffsicher eingebaut sind, lernt ganz nebenbei Heinrich Seuse, den deutschen Mystiker aus dem Mittelalter kennen, der Bogen spannt sich weiter bis zu Homer und mitten in die griechische Götterwelt hinein. Walsers Gedankengänge sind eine bissige Persiflage auf die Literaturszene, als ein kleines Beispiel dafür sei hier eine skurrile Idee des Kritiker-Papstes genannt, der selber gelegentlich Gedichte schreibt. In seinem Wahn, immer der Beste zu sein, plant er seine Lyrik von seiner Frau ins Französische übersetzen zu lassen und unter Pseudonym zu veröffentlichen. Niemand Geringerer als ausgerechnet Hans Magnus Enzensberger würde dann diese Gedichte ins Deutsche zurück übersetzen, und er könne sich später als der wahre Autor zu erkennen geben und mit den Originalen zeigen, dass er die bessere Lyrik schreibe. Wer für Derartiges eine Antenne hat, der kommt auf seine Kosten bei diesem Roman. Er wird sich, wie ich, für einige Lesestunden vergnüglich unterhalten.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.