Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Havers
Buchflüsterer: 

Bewertungen

Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 23.08.2016
Märchenwald / Kommissar Kalkbrenner Bd.5
Krist, Martin

Märchenwald / Kommissar Kalkbrenner Bd.5


sehr gut

„Märchenwald“ ist nach „Wut“, „Gier“, „Trieb“ und Engelsgleich“ der fünfte Thriller des Berliner Autors Martin Krist (alias Marcel Feige), in denen die beiden Kommissare Paul Kalkbrenner und Sera Muth ermitteln. Handlungsort ist Berlin, und wie bereits in den früheren Bänden der Reihe, nimmt der Autor hier seine Leser auf eine rasante Fahrt in die dunkelsten Abgründe der menschlichen Seele mit.

Offenbar hat Krist eine Abneigung gegen eindimensionale Stories, denn wie bereits in dem Vorgänger „Engelsgleich“ arbeitet er auch in „Märchenwald“ mit drei unterschiedlichen Handlungssträngen, deren Grundstimmung stark durch die jeweiligen Protagonisten bestimmt wird. Mich hat am intensivsten das Schicksal der beiden Kinder Max und Ellie beschäftigt, deren Mutter etwas Schlimmes zugestoßen sein muss, was die Blutlache vermuten lässt. Als jemand in ihre Wohnung eindringt, versteckt sie die Kinder, um sie zu beschützen, im Wandschrank und gibt ihnen den eindringlichen Rat, ihren Großvater aufzusuchen. Ein Szenario wie in „Hänsel und Gretel“, nur dass Max und Ellie auf der Suche nach Sicherheit und ihrem Opa nicht durch den dunklen Wald, sondern durch die dunklen Straßen der Hauptstadt irren, was natürlich hinsichtlich des Alters der Kinder nicht weniger gefährlich erscheint.

In Gefahr scheint auch eine junge Frau zu sein, die aus einer diffusen Verfolgungsangst heraus durch Berlin hetzt, nachdem sie in einer abgelegenen Gasse erwacht. Blutig geschlagen kann sie sich an nichts erinnern, weder an ihren Namen, noch daran, was passiert oder wie sie dorthin gekommen ist. Als zwei schmierige Typen sie bedrängen, werden diese von einem Mann in die Flucht gejagt, der sie bei ihrem Namen, nämlich Zoe nennt. Aber geheuer ist er ihr nicht, und so nimmt sie, auf der Suche nach ihrer Identität und Erinnerung, schnellstens Reißaus.

Zeitgleich sorgt der harmlose Infarkttod des Rentners Dieppe für Aufregung. Nun ja, nicht dessen Tod an sich, sondern verdächtige Essensreste auf dem Tisch und die dazu passenden Funde in der Gefriertruhe…

Spannend schreiben kann er ja, der Herr Krist, und bereits durch die relativ kurzen Kapitel, die permanenten Szenenwechsel sowie die zahlreichen Cliffhanger, wird das Tempo forciert und hält den Leser bei der Stange. Wobei man allerdings kein besonders empfindliches Gemüt haben sollte, denn die behandelten Themen sind selbst für eingefleischte Thriller-Leser nicht jedermanns Sache.

Viel Stoff für eine Geschichte, und zugleich auch eine Herausforderung für den Leser, der den Zusammenhang herstellen muss. Anfangs scheint es, als ob die drei Handlungsstränge keine Verbindung hätten, aber im Laufe der Story gibt es dann doch immer wieder den einen oder anderen Berührungspunkt, bis sich am Ende die losen Fäden verknüpfen und zum Aha-Erlebnis des Lesers verbinden. Aber apropos Ende, das kam mir dann doch etwas zu hopplahopp und ohne zufriedenstellende Erklärungen. Gerade wegen der Komplexität der Handlung, hätte etwas mehr Tiefe diesem Thriller gut zu Gesicht gestanden.

Bewertung vom 22.08.2016
Grausame Nacht / Kate Burkholder Bd.7
Castillo, Linda

Grausame Nacht / Kate Burkholder Bd.7


sehr gut

Mit „Grausame Nacht“ sind es mittlerweile sieben Bände, in deren Zentrum Kate Burkholder, die Polizeichefin von Painters Mill, steht. Geboren, aufgewachsen und erzogen in einer amischen Familie, verlässt sie aus persönlichen Gründen in jungen Jahren allerdings die Glaubensgemeinschaft und strebt nach einer weltlichen Karriere als Polizistin. Doch ihr amischer Hintergrund ist ihr bei ihren Ermittlungen sehr oft von Vorteil, weiß sie doch, wie ihre ehemaligen Glaubensbrüder und –schwestern ticken. Ein weiterer wichtiger Punkt ist auch ihre Fähigkeit, deren Sprache zu sprechen und das bzu verstehen. Allerdings wird sie, ob des Verrats an ihrer ehemaligen Religion, auch sehr oft mit Misstrauen bedacht und geringschätzig behandelt. Und hier bildet selbst ihre Familie in Form von Bruder und Schwester keine Ausnahme, die die „wilde Ehe“ Kates mit John Tomasetti nicht gutheißen, und ihr das bei dem Familienbesuch auch deutlich zu verstehen geben. Aber für Gewissensbisse ist keine Zeit, denn ein schwerer Sturm bedroht das Gebiet um Painters Mill und die Tornadowarnung mobilisiert sämtliche Einsatzkräfte.

Es ist eine Schneise der Verwüstung, die sich durch die Gegend zieht, und ein längst vergangenes Verbrechen wieder an die Oberfläche bringt. In den Trümmern einer amischen Scheune entdeckt eine Pfadfindergruppe ein Skelett, dessen Untersuchung ergibt, dass der Tote eines gewaltsamen Todes gestorben ist. Nun ist es an Kate und ihrem Team, die Identität des Toten zu klären, wofür sie tief in ihre amische Vergangenheit eintauchen muss. Aber es ist nicht nur dieser Mordfall, der Kates Burkholders vollen Einsatz fordert, auch in ihrem Privatleben bahnen sich schwerwiegende Veränderungen an, die sie komplett aus der Bahn zu werfen drohen…

Ich mag die Burkholder-Reihe. Auf den ersten Blick ist der Unterschied zu konventionellen Kriminalromanen/Thrillern gering, aber schon allein durch die Verortung in einem Amish County wird etwas Einzigartiges daraus. Aber die Autorin sollte darauf achten, dass sie die Besonderheiten der Amischen über deren Sitten und Gebräuche definiert, und nicht fast ausschließlich über Dialogzeilen in Pennsylvania Dutch, dem Dialekt der Religionsgemeinschaft. Und wenn dann zusätzlich jede Unterhaltung in „normales Deutsch übersetzt“ wird, bläht das nur den Umfang auf und ist ermüdend für den Leser.

Die Story an sich ist spannend und gut geplottet, auch wenn es fast schon etwas zu viel „Stoff“ für einen einzigen Roman ist. Dadurch werden einzelne Handlungsstränge zum Ende hin etwas zu hopplahopp abgearbeitet. Und das Super-Woman Verhalten der Protagonistin wirkt leider auch eher unglaubwürdig auf den Leser. Von daher gibt es diesmal einen Stern Abzug!

Bewertung vom 22.08.2016
Winter der Toten / Mason Collins Bd.1
Connell, John

Winter der Toten / Mason Collins Bd.1


gut

Winter in München, 1945, ein gutes halbes Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Stadt ist schwer von den Folgen des Krieges gezeichnet. Fast drei Viertel der Häuser sind zerbombt, es fehlt an allem. Nahrungsmittel sind knapp, dafür blüht der Schwarzmarkt, auch wenn die amerikanische Militärpolizei dies mit allen Mitteln in ihrem Einflussbereich unterbinden möchte. Aber da das Verbrechen niemals schläft, gilt es natürlich auch Kapitalverbrechen aufzuklären. Die Einwohner der bayerischen Metropole leben in Angst und Schrecken, denn ein skrupelloser Serienmörder treibt in der Stadt sein Unwesen. Das ist die Ausgangssituation in „Winter der Toten“, dem Erstling des amerikanischen Autors John Connell, der mit Mason Collins einen amerikanischen Ermittler im Nachkriegs-München ins Rennen schickt.

Officer Mason Collins ist nach seiner Kriegsgefangenschaft als Ermittler bei der Army gelandet. Nicht weiter verwunderlich, war er doch vor dem Krieg als Detective im Chicagoer Morddezernats beschäftigt. Gegen den Widerstand seines Vorgesetzten, der der Meinung ist, dass sich die amerikanische Militärpolizei heraushalten sollte, wenn ein deutscher Killer Deutsche ermordet nimmt er sich des Falls an. Mit der Unterstützung eines deutschen Kollegen, Oberinspektor Hans Becker von der Münchner Kriminalpolizei, beginnt er zu ermitteln und ist dem Mörder bald auf den Fersen…

John Connell hat die Fähigkeit, durch seine Beschreibungen des täglichen Lebens der Menschen in München unmittelbar nach dem Krieg, Bilder vor den Augen seiner Leser entstehen zu lassen. Das ist nicht weiter verwunderlich, ist er doch von Haus aus Kameramann und hat mit den ganz großen Regisseuren der Branche wie Spielberg und Scott zusammengearbeitet. Allerdings resultiert hieraus auch die Schwäche des Romans, denn wie diese Filmschaffenden möchte er in erster Linie unterhalten, nicht informieren. Er schildert die Atmosphäre in der geschundenen Stadt anschaulich, die Trümmerlandschaft, den Kampf ums Überleben, der oft nur durch illegales Handeln gewonnen werden kann. Aber bei der Charakterisierung seiner Personen bleibt Connell eher an der Oberfläche und arbeitet mit Vereinfachungen. Es gibt Schwarz und Weiß, Grautöne sind eher spärlich vertreten, was die Story samt Auflösung ab einem gewissen Grad dann auch recht vorhersehbar werden lässt.

„Winter der Toten“ ist das erste Buch einer Reihe, deren zweiter Band bereits im Original unter dem Titel „Spoils of Victory“ vorliegt. Es bleibt zu hoffen, dass sich Connell, wenn er sich denn „eingeschrieben“ hat, von den Stereotypen verabschiedet und seine Charktere sowie Storys differenzierter plottet. Aber wer gerne Krimis/Thriller liest, deren Handlung in Deutschland nach der „Stunde Null“ angesiedelt ist, und wem die Romane von Philip Kerr (mit dessen Protagonist Bernie Gunther) zu komplex sind, ist mit „Winter der Toten“ bestens bedient.

Bewertung vom 03.08.2016
Die himmlische Tafel
Pollock, Donald Ray

Die himmlische Tafel


ausgezeichnet

Die himmlische Tafel von Donald Ray Pollock

„…ach, dass es danach noch was Schönes gibt, ist tröstlich in unserer Lage. Wie gut! Und doch, da bleibt uns noch die kleine, die große, die Frage – das wüssten wir gern noch daneben! Ob’s sowas gibt, wir hätten‘s gern: auch vor unserm Tode ein Leben“ (aus: Es gibt ein Leben vor dem Tod, Wolf Biermann). Diese Liedzeilen sind mir spontan in den Kopf gekommen, als ich die ersten Seiten des neuen Romans „Die himmlische Tafel“ von Donald Ray Pollock gelesen habe (erschienen bei Liebeskind, und wie immer wunderbar übersetzt von Peter Torberg).

Pearl Jewett verdingt sich mit seinen drei erwachsenen Söhnen Cane (der einzig Normale in der Familie), Cob (der liebenswerter Tölpel) und Chimney (der unüberlegt agierende Hitzkopf) in Georgia als Tagelöhner. Aber obwohl sie sich Tag für Tag die Seele aus dem Leib schuften, fristen sie ein Leben in bitterster Armut unter unbeschreiblichen Zuständen, weil Pearl der Vorstellung anhängt, dass ihnen alle Entbehrungen auf Erden nach dem Tode von einem gnädigen Gott vergolten werden. Dann werden sie nie mehr Hunger leiden, sondern an der himmlischen Tafel speisen, auf der sich alle vorstellbaren Köstlichkeiten auftürmen. Abwechslung in die Mühsal des täglichen Einerleis bringen nur die Abendstunden, in denen Cane seinen Brüdern aus einem Groschenroman die Abenteuer des „Bloody Bill Bucket“ vorliest. Ein Bankräuber ohne Furcht und Tadel, den sie zutiefst bewundern.

Es kommt wie es kommen muss, als ihr Vater stirbt. Ob an Auszehrung oder einer Vergiftung durch das Fleisch eines kranken Schweins, weiß man nicht so genau. Aber von heute auf morgen sind die Brüder allein auf sich gestellt und müssen eigene Entscheidungen treffen. Sie beschließen, ihrem Idol Bill Bucket nachzueifern und sich auf den Weg gen Kanada zu machen, um dort ihr Glück zu finden. Sie vagabundieren über Land und beschaffen sich die nötigen Mittel für ihren Lebensunterhalt, wie könnte es anders sein, indem sie Banken überfallen.

Und spätestens hier hatte ich ständig die Coen-Odyssee „O Brother Where Art Thou“ vor Augen, denn auch die Jewett-Brüder machen auf ihrer Reise Bekanntschaft mit äußerst skurrilen Typen, wobei das um seine Ersparnisse betrogene Ehepaar Fiddler aus dem Süden Ohios noch am harmlosesten ist. Deren Sohn ist spurlos verschwunden, und so „adoptieren“ sie kurzerhand den jungen Cob Jewett…

Wie bereits in „Das Handwerk des Teufels“ beeindruckt der spät zum Schriftsteller berufene Donald Ray Pollock wieder einmal mit einer rabenschwarzen Geschichte aus dem ländlichen Amerika. Sämtliche Personen sind einfache Gemüter, Kompass für ihr Handeln ist in erster Linie die Bibel, aber natürlich nur die Passagen, die „Auge um Auge“ fordern. Keiner von ihnen wurde jemals vom Schicksal begünstigt, jeder Tag fordert erneut dazu heraus, um’s Überleben zu kämpfen. Moral ist ein Fremdwort, lediglich bei Cane sind entsprechende Tendenzen zu erkennen. Aber auch er ist kein Heiliger, so wie es in dem gesamten Roman keine Heiligen sondern nur Sünder gibt.

„Die himmlische Tafel“ ist absolut keine Lektüre für Zartbesaitete. Es wird gelogen, gestohlen und geprügelt, herumgehurt, gesoffen, geflucht, geschossen und gemordet. Pollock Sprache ist direkt und kompromisslos, die Dialoge sind oft bizarr und von schwarzem Humor geprägt. Seine Beschreibungen sind atmosphärisch dicht, sehr bildhaft und lassen vor dem Auge des Lesers immer wieder filmische Sequenzen ablaufen. Und so bleibt abschließend nur zu sagen: Ganz, ganz großes Kino, Mr Pollock!

Bewertung vom 28.07.2016
Blau ist die Nacht
McNamee, Eoin

Blau ist die Nacht


ausgezeichnet

„Blau ist die Nacht“ ist nach „Blue Tango“ (2001 – nominiert für den Man Booker Prize) und „Requiem“ (2011) der Abschlussband der Blue-Trilogie des im nordirischen Kilkeel geborenen Autors Eoin McNamee. Seine Wurzeln haben ihn geprägt, denn die Zerissenheit seines Heimatlandes ist unterschwellig immer auch in seinen Geschichten präsent und wirkt direkt auf das Handeln seiner Personen ein. So auch in dem vorliegenden Roman „Blau ist die Nacht“, der rund um wahre Verbrechen aufgebaut ist.

Belfast, im April 1949: Mary McGowan, fromm katholisch, wird in ihrer Wohnung von einem Mann überfallen und so brutal attackiert, dass sie nach zweitägigem Krankenhausaufenthalt ihren Verletzungen erliegt. Der Mörder ist schnell gefunden, denn Mary kann ihn vor ihrem Tode noch identifizieren und auch weitere Zeugen können seine Identität bestätigen. Es handelt sich um Robert Taylor, einen Handwerker, der für das Opfer vor einiger Zeit Malerarbeiten erledigt hatte. Pikant ist die Täter-Opfer-Konstellation, denn Taylor ist Protestant. Und zu diesem Zeitpunkt brodeln in der nordirischen Gesellschaft bereits die religiösen Konflikte, die Jahre später diese Gesellschaft bis ins Mark erschüttern werden. Das hindert aber den verantwortlichen Generalstaatsanwalt Curran, nicht daran, auf eine Verurteilung zu drängen. Allerdings hat er nicht mit der Intervention seines engsten Vertrauten Harry Ferguson gerechnet. Ein Emporkömmling ohne Skrupel, aber mit Ambitionen, der die Spielsucht seines Chefs im Blick hat und dies für seinen eigenen Vorteil zu nutzen weiß. Er besticht hier, schüchtert dort ein und sorgt so dafür, dass Currans Geheimnisse sicher sind und Taylor freigesprochen wird.

Aber nicht nur Ferguson verschleiert Wahrheiten. Als drei Jahre später Currans neunzehnjährige Tochter Patricia ermordet wird, setzt er alles daran, die Ermittlungen zu behindern. Nicht weiter verwunderlich, denn immerhin hat er auch politische Ambitionen, und da macht sich ein Skandal nicht wirklich gut. Und der ist zu erwarten, wenn man sich die Strukturen seiner zerrütteten Familie anschaut. Er selbst ist spielsüchtig, seine labile Frau wird in die Psychiatrie eingeliefert, sein Sohn konvertiert zum Katholizismus und wird Priester, die ermordete Tochter leichtlebig mit wechselnden Männerbekanntschaften, was ihr offenbar zum Verhängnis wird. Aber es könnte auch ihre eigene Mutter im Zustand geistiger Umnachtung gewesen sein. Die Ermittlungen verlaufen im Sand, der Mord wird nicht aufgeklärt. Als schließlich 1961 eine weitere junge Frau getötet wird, sind die Parallelen zu dem Mord an Patricia offensichtlich. Curran ist überzeugt, dass er es mit dem gleichen Täter zu tun hat. Aber wieder einmal interveniert Ferguson…

Eoin McNamee entwickelt seine Geschichte nicht linear. Er verschränkt die Zeitebenen willkürlich – oder auch doch nicht - und fordert die Aufmerksamkeit des Lesers. Seine „Nacht“ ist nicht blau sondern rabenschwarz. Und diese Schwärze hat nicht nur mit der Atmosphäre in Belfast vor den als „Troubles“ bekannten Unruhen bzw. bürgerkriegsähnlichen Zuständen zu tun. Sie liegt bleiern über Nordirland, aber kriecht auch in die Seelen der Menschen. Manche verzweifeln daran, andere wissen sie zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Gewalt, Intrigen, Bestechung und die politischen Verflechtungen. Der Druck, das Ich zu verleugnen, um in den Spiegel schauen zu können ohne Scham zu empfinden.

Das Spiel mit Fakten und Fiktion und die distanzierte Erzählweise auf sprachlich hohem Niveau berührt und beeindruckt, doch das Ende lässt den Leser ratlos zurück. Ohne Antworten, aber mit vielen Fragen. Lesen!

Bewertung vom 25.07.2016
Ewige Jugend / Commissario Brunetti Bd.25
Leon, Donna

Ewige Jugend / Commissario Brunetti Bd.25


ausgezeichnet

„Venezianische Finale“, so der Titel des Romans, in dem Commissario Brunetti 1992 für die Leser im deutschsprachigen Raum seinen ersten Fall gelöst hat. Seither können sich dessen Fans jedes Jahr auf einen neuen Kriminalfall aus der Serenissima freuen. Für die regelmäßigen Leser sind Brunetti, seine Frau Paola und die Kinder Chiara und Raffi sowie sein Kollege Vianello und Signorina Elettra mittlerweile gute Bekannte, an deren (literarischem) Schicksal man seit vielen Jahren Anteil nimmt. Und auch in dem Jubiläumsband der Reihe, dem 25. Brunetti-Krimi mit dem Titel „Ewige Jugend“ sind diese wieder versammelt.

Contessa Lando-Continui, eine Bekannte von Brunettis Schwiegermutter, bittet diesen um Hilfe. Ihre Enkelin ist als Jugendliche unter ungeklärten Umständen in einen Canale gestürzt und verharrt nach einer schweren Kopfverletzung seither auf dem intellektuellen Niveau eines Kleinkindes im Stadium der „ewigen Jugend“. War es ihr eigenes Verschulden oder wurde sie gestoßen? Und wer war der mysteriöse Retter, der sie aus dem Wasser gezogen und so ihr Leben gerettet hat? Hat er den Vorfall beobachtet? Die Spuren laufen auf einem Reiterhof zusammen. Und der Commissario kann sich glücklich schätzen, bei seiner Recherche von Claudia Griffoni unterstützt zu werden, denn diese ist mit Rössern und Reitern bestens vertraut.

Manchmal beschleicht mich der Verdacht, dass die amerikanische Wahlvenezianerin Donna Leon das Medium des Kriminalromans dazu benutzt, die Themen abzuhandeln, die ihr ganz besonders am Herzen liegen. Sei es nun der Filz in den öffentlichen Ämtern, wo nicht nachvollziehbar Gelder in dunklen Kanälen verschwinden, der nicht aufzuhaltende Untergang der Serenissima, die mehr und mehr zu einem touristischen Disneyland verkommt, die anhaltende Verschmutzung der Lagune durch die riesigen Kreuzfahrtschiffe. Fakten, die den Bewohnern dieser wunderschönen Stadt den Lebensraum allmählich nicht nur nachhaltig schädigen sondern zerstören.

Natürlich steht die, ich muss es gestehen, nicht sonderlich spannende Krimihandlung im Vordergrund, aber gerade in den Gesprächen beim Mittagstisch oder in den Reflektionen Brunettis werden diese Punkte immer wieder thematisiert, wobei die Autorin gekonnt zwischen kulturpessimistischen und ironisierenden Passagen hin und her wechselt und ihrem Protagonisten entsprechende Aussagen in den Mund legt. Aber auch Tagesaktuelles wie die Flüchtlingsthematik findet Erwähnung. Und genau das macht für mich den Reiz dieser Reihe aus, die neben Unterhaltung ihren Lesern Denkanstöße bietet. Gelungen, und wesentlich besser als die letzten Bände der Reihe!

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.07.2016
Moonfleet
Falkner, John Meade

Moonfleet


ausgezeichnet

Schmuggeln ist im 18. Jahrhundert an der englischen Südküste eine weit verbreitete Einnahmequelle. Grund dafür sind die steigenden Zölle auf Genussartikel wie Tee und Alkohol. Und natürlich bietet die Topographie dieses Küstenabschnitts dafür ideale Voraussetzungen. Kleine Ortschaften, versteckte Buchten und eine große Anzahl natürliche Höhlen bieten ideale Verstecke nicht nur für die Schmuggler sondern auch für deren Schmuggelgut.

Dieser Hintergrund inspiriert John Meade Falkner Ende des 19. Jahrhunderts zu „Moonfleet“, einem Abenteuerroman (1898 erstmals veröffentlicht), der nun von Michael Kleeberg neu übersetzt bei Liebeskind erschienen ist. Hauptfigur ist John Trenchard, ein Waisenjunge, der Mitte des 18. Jahrhunderts bei seiner schrulligen alten Tante in Moonfleet, einem Küstenort in Dorset, lebt. Wenn er durch das Dorf stromert, hört er jede Menge Seemannsgarn, Geschichten von unglaublichen Schätzen, die nur darauf warten, geborgen zu werden und ihren Finder unendlich reich machen. So wie der verschwundene Schatz des sagenumwobenen Colonel Mohune, der aus einem wertvollen Diamanten besteht. Und wie in allen Schatzsuchergeschichten der damaligen Zeit, stolpert der abenteuerlustige Junge buchstäblich über vielversprechende Hinweise zum Verbleib des Diamanten. John vertraut seine Pläne Elzevir Block an, Schankwirt in Moonfleet, aber auch Schmuggler, der für ihn gleichermaßen Freund, Vater und Beschützer verkörpert. Die Schatzsuche beginnt, aber die beiden geraten immer wieder in brenzlige Situationen und haben mit Herausforderungen zu kämpfen, die Leib und Leben bedrohen. Verletzt, des Mordes verdächtigt, auf der Flucht, in Gefangenschaft und - natürlich – verliebt.

Im englischen Sprachraum ist „Moonfleet“ ein Klassiker der Jugendliteratur und steht dort im Bekanntheitsgrad Stevensons „Schatzinsel“ in nichts nach. In erster Linie erzählt der Roman natürlich eine spannende Abenteuergeschichte mit allem, was dazugehört. Detaillierte Beschreibungen transportieren die Atmosphäre und sorgen für Lebendigkeit, lassen Bilder vor dem Auge des Lesers ablaufen. Für Tempo und Spannung sorgen die Herausforderungen, denen sich John und Elzevir stellen müssen und an denen sie wachsen. So ist „Moonfleet“ nicht nur die abenteuerliche Geschichte einer Schatzsuche, sondern gleichzeitig auch ein Entwicklungsroman, eine Coming of Age-Story, die den Weg eines Jungen zum Mannwerden beschreibt.

Üppig mit jeder Menge Atmosphäre, spannend mit zahlreichen Wendungen, für Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen empfohlen – beste Genre-Unterhaltung!

Bewertung vom 23.07.2016
Dr. Siri und die Geisterfrau / Dr. Siri Bd.9
Cotterill, Colin

Dr. Siri und die Geisterfrau / Dr. Siri Bd.9


ausgezeichnet

Endlich! Im neunten Band der Reihe um den laotischen Leichenbeschauer hat es Dr. Siri endlich geschafft und sich in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet. Und dann winken ihm und seiner Angetrauten auch noch von höchster Stelle organisierte Urlaubsfreuden, 1978 eine Seltenheit in Laos. Es soll zu einem Bootsrennen nach Pak Lai an der thailändischen Grenze gehen. Aber natürlich gibt es den Urlaub nicht umsonst, denn Dr. Siris berufliches Know how ist vor Ort gefragt. Es geht, wie könnte es auch anders sein, um eine gequälte Seele und deren sterbliche Überreste. Und so schnappen sich Dr. Siri und Madame Daeng die Koffer und machen sich gemeinsam mit ihren Freunden Civilai und Cheung auf den Weg. Komplettiert wird die Truppe von der attraktiven Madame Peung, die nicht nur Geister sieht, sondern auch mit ihnen kommunizieren und so lange verschollene Tote auffinden kann d.h. die „Geisterfrau“ soll die Überreste mit Hilfe ihrer Verbindungen zum Jenseits finden, und der Pathologe soll ihre Echtheit bestätigen. Nur zu dumm, dass Dr. Siri Gefallen an ihr findet, was natürlich die Eifersucht seiner Gattin entfacht. Aber diese hat momentan andere Probleme, wird sie doch durch das Auftauchen eines mysteriösen Franzosen an die dunklen Jahre in der Vergangenheit erinnert.

Colin Cotterill ist mit seiner Krimireihe um Dr. Siri Paiboun, den Pathologen mit den besonderen Fähigkeiten, eine feste Größe für Leser geworden, die neben einer clever geplotteten Story mit einem skurrilen, aber höchst sympathischen Team, auch ein Faible für exotische Schauplätze haben. Wobei aber Cotterill, im Gegensatz zu den in letzter Zeit wie Pilze aus dem Boden schießenden unzähligen Autoren, die „Urlaubskrimis“ schreiben, seine Leser nicht nur unterhalten, sondern auch mit Insider-Informationen über die „vergessenen Länder“ in Südostasien versorgen möchte. Er nimmt in seinen Romanen immer wieder Bezug auf deren schwierige (innen-)politische Situation in den Jahren nach dem Vietnamkrieg und zeigt aber auch die Folgen auf, die sich dadurch für das Alltagsleben der Normalbürger ergeben.

Was den seit vielen Jahren in Asien beheimateten Cotterill auszeichnet, ist die Leichtigkeit, mit der er seine Romane schreibt. Die Menschenfreundlichkeit, die aus jeder Zeile spricht. Der trockene Humor, der immer wieder satirische Züge annimmt. Und die historischen/politischen Fakten, die er ganz nebenbei dem Leser vermittelt.

Zum Schluss noch eine gute Nachricht für alle Fans von Dr. Siri Paiboun: glücklicherweise bedeutet dessen Ruhestand nicht das Ende der Krimireihe. Im Original liegt bereits der zehnte Band vor (Six and a half deadly sins), und der nächste (I shot the Buddha) soll in Kürze erscheinen.

Bewertung vom 20.07.2016
Am Ende aller Zeiten
Walker, Adrian J.

Am Ende aller Zeiten


gut

Als ich den Klappentext von Adrian J. Walkers Endzeitthriller „Am Ende aller Zeiten“ gelesen habe, hatte ich zwei Assoziationen: „Die Straße“ von Cormac McCarthy und „Trans-America“ von Tom McNab. Dass es dem Autor schwer fallen würde, diese beiden Romane zu toppen, habe ich allerdings vorausgesetzt, und dennoch war ich gespannt, wie er die Themen umsetzen würde.

Die Handlung startet in einem Vorort von Schottlands Metropole Edinburgh, wo der Mittdreißiger Edgar Hill mit seiner Familie in geordneten Verhältnissen lebt. Das tägliche Leben geht seinen geordneten Gang, monoton und ohne Überraschungen. Doch dann geschieht das Unvorstellbare, das alles ins Wanken bringt. Und nicht ist mehr wie vorher. Ein Asteroidenschauer geht über UK nieder und verwüstet den Lebensraum der Menschen. Alles liegt in Schutt und Asche, viele Menschen sterben. Hill überlebt im Keller seines Hauses mit seiner Familie dieses unvorstellbare Unglück. Aber dennoch trifft es auch ihn. Nach dem Verlassen der rettenden Zuflucht trennt ein kurzer Augenblick der Unaufmerksamkeit die Familie, und Edgar Hill bleibt allein zurück. Von diesem Augenblick an setzt er alles auf eine Karte und macht sich auf den Weg Richtung Cornwall, englische Südwestküste. Denn dorthin wurde seine Familie evakuiert. Transportmittel gibt es keine mehr, und so bleibt Hill nur die Möglichkeit, die Distanz zu Fuß durch das verwüstete Land zurückzulegen, um am Ende das rettende Schiff zu erreichen, dass ihn, seine Familie und die anderen Überlebenden in Sicherheit zu bringen…

Adrian J. Walkers Dystopie spielt mit den üblichen Bausteinen des Genres: zerstörte Lebensräume bar jeder Infrastruktur, zahlreiche Tote, Überlebende, die über Leichen gehen, um die eigene Haut zu retten. Aber auch Allianzen zwischen Menschen, die unter normalen Umständen kein Wort miteinander gewechselt hätten. Und aus der Masse sticht üblicherweise eine Person – in unserem Falle Edgar Hill – heraus, die über sich hinauswächst und ungeahnte Taten verbringt, eben zum Helden wird. Wie beispielsweise zu Fuß über 500 Meilen zu laufen, um wieder bei seiner Familie zu sein.

„Am Ende aller Zeiten“ ist keine besonders anspruchsvolle Lektüre und kann sich in keinster Weise mit McNab oder McCarthy messen. Eine gewisse Spannung mag ich dem Thriller nicht absprechen, aber alles in allem war mir der Plot dann doch zu konventionell und klischeehaft, als dass er mich durchgängig gefesselt hätte.

Bewertung vom 19.07.2016
Die Mauer
Annas, Max

Die Mauer


sehr gut

„Willkommen in THE PINES. Hier können Sie sorgenfrei Ihren Wohlstand unter ihresgleichen genießen. Wir rund um die Uhr für Ihre Sicherheit. Natürlich ist Unbefugten der Zutritt untersagt. Sicherheitskameras sind taktisch platziert, Wachleute patrouillieren rund um die Uhr über das gesamte Gelände, das zusätzlich durch eine nahezu unüberwindbare Begrenzung gesichert ist.“

So oder so ähnlich könnte die Gated Community beworben werden, die Max Annas als Handlungsort für seinen neuen Südafrika-Thriller „Die Mauer“ gewählt hat. Und just in dieses bestens gesicherte Gelände dringt der farbige Student Moses ein. Allerdings ist dies aus der Not geboren, weil es die einzige Möglichkeit ist, Hilfe zu holen, als er in der Nähe eine Autopanne hat. Soweit, so gut, aber Moses hat nicht bedacht, dass er mit dem Betreten der Siedlung in ein Habitat eingedrungen ist, in dem er qua Hautfarbe nichts zu suchen hat und er lediglich als Dienstbote seine Anwesenheit legitimieren könnte. Natürlich wird er schnell entdeckt, aber anstatt nach Hilfe zu fragen, sucht er das Weite – innerhalb der Mauer. Nicht der beste Einfall, denn damit beginnt ein Parforceritt sondergleichen. Und dann sind da noch Thembi und Nozipho, das Diebespärchen, das durch die Anlage streift und nach lohnenden Objekten die Augen offen hält. Womit sie nicht gerechnet haben, ist der Fund, den sie in einem der Häuser machen…

Moses‘ Herumirren in „The Pines“ dauert circa zweieinhalb Stunden, und Max Annas bietet dem Leser quasi in Echtzeit einen Blick auf die Ereignisse in der geschlossenen Anlage. Kurze Abschnitte mit wechselnden Perspektiven sorgen für Tempo. Die Schilderungen sind zwar überwiegend auf das Wesentliche reduziert, was auch den knappen Umfang des Romans erklärt, aber dennoch verliert der Autor sich immer wieder in Nebensächlichkeiten wie beispielsweise den Beschreibungen von Raummöblierungen oder Kleidungsstücken. Überflüssig, denn weder illustriert dies, noch trägt es zum Fortgang der Handlung bei. Das bremst aus und sorgt für unnötige Längen.

Mein Südafrika-Bild ist im Wesentlichen von Autoren geprägt, die dort zuhause sind oder waren. Wie Nadine Gordimer, Roger Smith, Malla Nunn, Deon Meyer und Charlotte Otter. Sie zeigen ein Land jenseits der Hochglanzprospekte der Reisebüros, die Realität einer Gesellschaft, die sich auf Rassengegensätze, Diskriminierung und Ungleichheit gründet.

Es ist die gleiche Botschaft, die auch Max Annas in „Die Mauer“ transportiert: Südafrika als zerissene Nation, von Rassismus und Vorurteilen hüben wie drüben geprägt, die sich über Jahrhunderte in den Köpfen der Menschen festgesetzt haben. Ein Land, das seine Vergangenheit noch längst nicht hinter sich gelassen hat.