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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
ulrikerabe
Wohnort: 
Österreich

Bewertungen

Insgesamt 195 Bewertungen
Bewertung vom 13.11.2019
Meine wunderbare Frau
Downing, Samantha

Meine wunderbare Frau


sehr gut

Was für eine wunderbare Familie. Millicent ist Immobilienmaklerin, ihr Mann Tennislehrer. Die Kinder Rory und Jenna sind wohlerzogen. Sie bewohnen ein gemütliches Heim in einer guten Gegend. Für die Nachbarn und Freunde sind sie eine Traumfamilie, hinter verschlossenen Türen ein Alptraum. Denn was Millicent und ihren Mann verbindet ist eine bösartiges und abgründiges Geheimnis.
Millcent ist diese „wunderbare Frau“. Ihr Mann, der Ich-Erzähler von dem wir seinen Namen nie erfahren, liebt sie, begehrt sie, es gibt fast nichts, was er nicht für sie tun würde. Und das ist eins seiner Probleme. Denn Millicent stellt die Regeln auf, in der Beziehung, in der Familie. Was für ein perfektes Theater. Alles Bio, kein Zucker, kein Handy beim Essen, Hausaufgaben. Es ist besser für alle, sich an diese Regeln zu halten. Doch der Tennislehrer begibt sich auf dünnes Eis, er teilt nicht nur ein Geheimnis mit Millicent. Was viel, viel schlimmer wiegt, er hat Geheimnisse vor Millicent.
Meine wunderbare Frau ist ein raffiniert komponierter Thriller der amerikanischen Autorin Samantha Downing. Die Geschichte beginnt gemächlich. Bald kennt der Leser das Geheimnis der beiden, doch noch ist nicht alles durchschaubar. Der Blick in den Abgrund der beiden ist tief, man weiß, da kommt noch was Großes. Es ist ein böses Spiel mit bösem Ausgang. Da baut sich bis zum Schluss eine Spannung auf und ganz am Schluss sitze ich da mit einem dicken fetten Grinsen und denke mir nur noch „Yeah!“.

Bewertung vom 06.11.2019
Der größte Spaß, den wir je hatten
Lombardo, Claire

Der größte Spaß, den wir je hatten


gut

Claire Lombardo hat mit ihrem Debütroman „Der größte Spaß, den wir je hatten“ eine üppig erzählte Familiengeschichte vorgelegt. Marilyn und David sind beide Studenten in den 1970ern, als sie sich kennen und lieben lernten. Es kommt wie so oft im Leben ein Kind, dann noch eines, zuerst Wendy, dann Violet. Für Marilyn ist statt irischer Lyrik plötzlich das Mutter- und Hausfrauendasein „der größte Spaß, den sie je hatte“, während David Arzt wird. Auch nach zwei weiteren Töchtern, Liza und der Nachzüglerin Grace, hat die Ehe jedoch Bestand, ist Maßstab für das eigene Glück der Töchter.
Es sind viele Höhen und Tiefen, die die Familie Sorenson in diesen 40 Jahren erlebt haben, viele alltägliche Menschlichkeiten, kleine Dramen und große Verluste. Die guten und die schlechten Zeiten gab es im Eheleben von Marilyn und David genau so, auch wenn die schlechten Zeiten manches Mal in sentimentaler Erinnerung etwas verklärt werden.
Wendy, die Älteste, heiratet nach einer rebellischen Jugend reich. Doch kein Geld der Welt schützt vor Krankheit und Verlust. Wendy ist die Zynikerin in der Familie für mich in der Familie und für mich die authentischste Person der ganzen Geschichte.
Violet ist die Perfektionistin, mit Bilderbuchfamilie und einem großen Geheimnis, während Liza gerade eine Kind erwartet, aber keinen Mann dazu vorzuweisen hat.
Und Grace, das Nesthäkchen. Mir scheint hier schreibt Claire Lombardo ein bisschen um ihr Leben (Wenn man die dürftigen biografischen Angaben zur Autorin aus dem Klappentext mit Graces Leben vergleicht.)
Dann taucht unerwartet Jonah auf, das Kind, das Violet vor 15 Jahren zur Adoption freigegeben hat. Ein lang unterdrückter Konflikt zwischen Wendy und Violet bricht aus. Aber gleichzeitig bringt Jonah, der Jugendliche mit eigentümlicher Altersweisheit, bringt auch viel Dinge wieder ins Lot, die vorher in Schieflage waren.
Familie kann man sich nicht aussuchen, aber wie man miteinander in der Familie umgeht sehr wohl. Diese Erfahrung können die Sorensons bis zum Schluss immer wieder machen. Und ich habe sie auf den vorliegenden über 700 Seiten auch recht gerne begleitet, hatte manchmal schon fast das Gefühl, dazuzugehören. Was man aushalten sollte, ist das „amerikanisch dramatische“ und den Hang zu Kosenamen und der inflationären Verwendung der Bezeichnung „Süße“ oder „Kleine“. Generell könnte ich mir eine Verfilmung der Geschichte gut vorstellen, mit Jennifer Aniston in allen fünf weiblichen Hauptrollen, da ist enorm viel Stoff für Gefühle. Der Schluss selbst war mir dann noch einen Tick zu sehr harmonisch und gefällig. Ein bisschen wie bei den Waltons. Alle haben sich lieb. Gute Nacht!

Bewertung vom 31.10.2019
Laufen
Bogdan, Isabel

Laufen


ausgezeichnet

Eine Frau läuft. Sie läuft nahezu täglich. Sie läuft immer ein bisschen mehr. Sie hasst es zu Anfang. Bis es ihr zur Gewohnheit wird. Sie läuft nicht ohne Grund.
„Laufen“ von Isabel Bogdan ist beileibe kein Sportbuch, kein Motiviationsratgeber, kein Lebenshilfebuch. Diese Frau im Buch, sie läuft, weil sie einen schweren Verlust erlitten hat, weil sie beim Laufen nicht denken will. Und mit jedem Schritt den sie macht, mit jedem Kilometer, den sie zurücklegt, mit jeder Seite, die ich lese, erkenne ich so viel an dieser Frau in mir wieder. Wie sie läuft, wie sie denkt, wie sie übers Laufen denkt, wie sie beim Laufen denkt. Wir haben nicht dieselbe Geschichte, nicht dieselben Erfahrungen und doch ähneln wir einander.
„Der objektive Dreck tut nichts zur Sache, der ist ganz egal dafür, wie dreckig es einem geht…“
Und so läuft sie sich zurück ins Leben, während sie ihre Beziehung überdenkt, ihre große Liebe. Von dem Schmerz, aber auch dem Zorn, den sie fühlt. Auf den Tod, auf die Krankheit, auf den Mann. Wie sehr seine Krankheit die Beziehung, sie selbst belastet hat.
„Ich kann nicht mehr“, sagt die Frau gleich im ersten Satz. Aber das Leben ist Bewegung, es geht weiter, einatmen ausatmen, zweimal ein, viermal aus. Genauso wie die Frau atmet passt sich die Prosa des Textes dem Atemrhythmus an. So wie die Läuferin ihre Kreise auf der Laufstrecke zieht, so kreisen ihre Gedanken, Erinnerungen an die Vergangenheit, aber auch an das was kommen kann. So wie beim Laufen das Leben, vorwärtsschauen.
Es ist unglaublich, was dieses Buch mit mir gemacht hat. Ich liebe es, liebe es aufrichtig!

Bewertung vom 24.10.2019
Wer die Wahl hat, liebt die Qual
Schönenborn, Tanja;Fuchsgruber, Rafael

Wer die Wahl hat, liebt die Qual


sehr gut

Mit Mut fängt alles an!
Rafael Fuchsgruber und seine Lebensgefährtin Tanja Schönenborn sind Läufer. Nicht irgendwelche Läufer. Sie beherrschen das Extreme, Wüstenläufe, Utra Runs, bei Hitze, unwirtlichem Gelände, über unglaubliche Distanzen.
„Wer die Wahl hat, liebt die Qual“ ist ein ungemein persönlicher Bericht der beiden Sportler, über das Laufen, die Liebe zum Laufen, aber auch über ihre Beziehung. Gemeinsam schaffen die beiden Rennen jenseits meines Vorstellungsvermögens. Für mich sind solche Berichte unheimlich inspirierend und motivierend. Auch wenn ich nur ein ganz kleines Lichtchen in der Laufwelt bin, schöpfe ich eigene Kraft aus der faszinierenden Leistung.
Ob in der Wüste Gobi, Sri Lanka, Iran, Mosambik oder Marokko, schon die Schauplätze sind atemberaubend. Das Buch ist auch mit vielen großartigen Bildern von Land und Leuten und natürlich den Läufern bestückt.
Schriftsteller sind Fuchsgruber und Schönenborn nicht und ein bisschen mehr Lektorat wäre hier und da vielleicht angebracht gewesen. Aber was bei diesem Buch zählt ist ja nicht die literarische Ausdrucksstärke, sondern die unglaubliche Energie und Stärke der beiden, die sie aus Erfolgen, ja aber auch aus Rückschlägen ziehen. Lebensbejahend überwiegen aber ihre Glücksmomente. Chapeau!
(Was ich mir jedenfalls gewünscht hätte und dieser Wunsch richtet sich vor allem an den Verlag: Auch wenn Rafael Fuchsgruber den Großteil der Handlung bestreitet, ein Bild von beiden gemeinsam am Cover, wäre schön gewesen.)

Bewertung vom 24.10.2019
Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle
Turton, Stuart

Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle


ausgezeichnet

Ein altes englisches Herrenhaus, eine illustre Gesellschaft, ein dunkler Wald. In diesem Wald wacht Sebastian Bell, der Ich-Erzähler auf und ihm fehlt jegliche Erinnerung. Wie er im Wald gelandet ist, wer er überhaupt ist. Nur ein Name ist im Gedächtnis geblieben: Anna
Dann meint Sebastian, einen Mord zu beobachten. Ein langer, sehr langer Tag beginnt.
Was nur hat dieses erste Kapitel mit dem Titel „Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle“, was mit dem Klappentext zu tun, fragte ich mich beim Lesen. Die Handlung ist angesiedelt in einem ganz klassischen Setting des englischen Kriminalromans. Es ist nicht ganz definiert, in welcher Zeit alles spielt. Es gibt Autos und Telefon, aber nicht die modernen Kommunikationsmittel unserer Zeit.
Doch dann kommt das zweite Kapitel, und – wow –was für ein Twist. Alles ist anders und doch irgendwie nicht. Es beginnt ein ganz geniales Spiel mit Personen und Perspektiven. Nichts und niemand ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Wie in einem Gemälde von Escher dreht und wendet sich alles, ohne erkennbaren Anfang oder Ziel. Dabei greift der Autor Stuart Turton tief in die Schatzkiste des englischen Kriminalromans. Sie alle geben sich ein Stelldichein, das „who‘s who“ der Briten, der Butler, die junge Erbin, der Laudanumdealer, der Lebemann, der sonore Anwalt, der Erpresser, der Dorfpolizist. Ob beim Bankett, englischen Frühstück, der Jagd oder dem Drink im Rauchsalon, es ist alles vorhanden. Gefangen in einer Zeitschleife soll ein Mord verhindert, ein anderer gelöst werden. Wer ist Freund, wer ist Feind, wer ist überhaupt wer? Stuart Turton löst das Gefüge derart geschickt und voller Erzählfreude auf.
Die Idee ist natürlich nicht ganz neu, „Groundhog Day“ schwirrt einem sofort im Kopf umher. Dennoch halte ich Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle für eine ganz besondere Definition des Mystery-Krimis. Ich habe selten so einen originellen Roman gelesen.

Bewertung vom 01.10.2019
Drei
Mishani, Dror

Drei


sehr gut

Drei: ein Titel mit Programm. Drei Frauen in drei Abschnitten tragen diese Geschichte.
Orna, die alleinerziehende Mutter, die sich so verzweifelt bemüht nach der Scheidung Eltern- und Paarebene zu trennen. Über eine Partnervermittlungswebsite für Geschiedene sucht sie nach einem Weg aus ihrer Einsamkeit.
Auch Emilia ist einsam. Die lettische Pflegekraft spricht nur unzureichend hebräisch. Sie sucht nach einem göttlichen Zeichen, um ihrer prekären Situation Sinn zu geben.
Dagegen ist Ella eine toughe Frau, Mutter von drei Kindern und Studentin.
Trotz ihrer unterschiedlichen Lebensmodelle begegnen alle drei Frauen demselben Mann. Schicksalshafte Begegnungen für die Beteiligten.
Der israelische Autor Dror Mishani hat ein sehr gutes Gespür für seine Figuren, für deren Gefühls- und Gedankenwelt. Für ein israelisches Buch ist es erstaunlich unpolitisch, dafür psychologisch ziemlich dicht. Mishanis Erzählweise erzeugt einen starken Sog.
Der Diogenes Verlag bat im Vorfeld des Erscheinens dieses Buches, bei der Rezension nicht allzu viel vom Inhalt zu verraten. So darf es Überraschungen geben, Wendepunkte und Aha-Erlebnisse.
Drei war für mich gelungene Unterhaltungslektüre, ein Genre Mix, ein Blendwerk voller Illusionen und Lügen. Das letzte bisschen „großartig“ fehlte mir zum Schluss.

Bewertung vom 25.09.2019
Der Sprung
Lappert, Simone

Der Sprung


gut

Eine junge Frau steht auf dem Dach eines Wohnhauses. Sie wirft mit Ziegelsteinen, macht auf sich aufmerksam, wirkt aggressiv und unkooperativ. Ihr Aufenthalt auf diesem Dach wird zum Spektakel in der kleinen süddeutschen Stadt Thalheim Die Einsatzkräfte sind mit dieser Situation überfordert. Eine Situation, die bei so einem manchen Bewohner dieser Stadt Ereignisse auslösen wird, mit denen niemand, nicht mal sie selbst, gerechnet hätten.
Thalheim ist ein Mikrokosmos. Jeder schien jeden zu kennen, nur wer die Frau am Dach ist, ist zunächst niemandem ganz klar. Es sind unendlich viele Perspektiven, die Simone Lappert in ihrem Roman „Der Sprung“ aufzeigt. Der Polizist im Einsatz, der Obdachlose, die Politikerin im Wahlkampf, das Ehepaar, das aneinander alt wurde, der enttäuschte Schlachter, die patente Wirtin, die moppelige Schneiderin, das gemobbte Mädchen um nur einige zu nennen.
Die Frau auf dem Dach rückt oft hinaus aus diesen Perspektiven, ist wie der berühmte Flügelschlag eines Schmetterlings, die Ursache, die unerwartete Wirkung zeigt. Kindheitserinnerungen, alte Wunden, neue Abschiede. Der Tag nach dem Spektakel lässt für mache der Beteiligten die Welt anders aussehen. Von manchen Personen hätte ich geren mehr erfahren, manche Geschichten füllten einfach nur die Seiten. Vielleicht hätte es mir besser gefallen, hätte jede Person, jedes Schicksal Raum in einer eigenen Erzählung bekommen.
Das Buch beginnt mit dem Moment des Fallens, den Gefühlen, wie es ist wenn sich der Boden nähert. Diese Einleitung fand ich nahezu ergreifend schön Ich hoffte so sehr auf ein Lesehighligt. Doch wie es so geht, ist gut gemeint oft das Gegenteil von gut gemacht. Und Simone Lappert hat es in meinen Augen zu gut gemeint mit all den Personen, all den Schicksalen und der Extraportion Märchen.

Bewertung vom 24.09.2019
Gespräche mit Freunden
Rooney, Sally

Gespräche mit Freunden


gut

Frances und Bobbi waren schon zu Schulzeiten Freundinnen, eigentlich sogar mehr als das. Für kurze Zeit hatten sie miteinander eine Liebesbeziehung. Nun sind beide erwachsen, studieren in Dublin und treten gemeinsam bei Poetry Slam Veranstaltungen auf. Als die beiden das um etwa zehn Jahre ältere Ehepaar Melissa und Nick kennen lernen, verschieben sich die Relationen.
Gespräche mit Freunden ist ein Buch für junge Menschen oder für solche, die sich noch erinnern können, wie es war, als sie noch jung waren. Das Debüt von Sally Rooney kreist inhaltlich um Liebe und Freundschaft, Vertrauen und Treue, Selbstfindung und Zweifel.
Frances stammt aus finanziell bescheidenen Verhältnissen. Die Autorin lässt Frances immer wieder betonen, sie sei Kommunistin. Das fand ich aus mehreren Gründen seltsam, denn Frances will den gut situierten Leuten wie Melissa nahezu gefallen, will sich ihnen angleichen. Sie hat keine Probleme mit den „reichen Leuten“ Zeit zu verbringen, mit ihnen in Frankreich zu urlauben. Auch dass sie sich nicht vorstellen kann für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Obwohl sie ein ihrer Qualifikation entsprechendes Angebot hat, nimmt sie dann doch in einer prekären Situation einen prekären Job an. Ich halte Frances für viel, naiv, unbedarft, unsicher, aber für keine Kommunistin. In vielen Dingen erinnerte mich Frances dann wiederum an mich selber. Vielleicht fiel es mir deswegen schwer, sie zu mögen. Oft wollte ich ihr sagen, du musst nicht andere nachahmen um liebenswert zu sein, verwechsele Verliebtheit nicht mit Liebe, Begehren nicht mit Verbundenheit.
„Gespräche“ finden statt, wirken aber oft aufgesetzt, künstlich, pseudointellektuell, viel gesprochen, wenig gesagt. Aber die digitale Generation neigt auch hier dazu, lieber in schriftlich verkürzter Form zu kommunizieren. „Mit Freunden“ schien mir manchmal zweifelhaft, oft hatte ich den Eindruck, dass sich keiner wirklich leiden kann, auch oder gerade nicht den- oder diejenige, die man sexuell begehrt.
Der Stil ist schlicht und unaufgeregt, selbst die Dialoge kommen ohne Anführungszeichen aus. Alles bleibt verbindlich unverbindlich. Die Handlung lebt von präziser Trivialität, gut ausgeleuchteten Alltäglichkeiten. Diese Analytik beherrscht die Autorin und ließ mich an dem Buch durchhalten.

Bewertung vom 06.09.2019
Dead Lions / Jackson Lamb Bd.2
Herron, Mick

Dead Lions / Jackson Lamb Bd.2


ausgezeichnet

Jackson Lamb und seine Slow Horses ermitteln wieder: Slough House ist nach wie vor das Abstellgleis des britischen Geheimdienstes. Datenabfragen, Identitätskontrollen und dergleichen sind die tägliche enervierende Beschäftigung der geschassten Agenten. Doch dann wird ein ehemaliger Agent aus dem „Schnüfflerzoo“ Berlins während des Kalten Krieges tot in einem Bus gefunden. Gleichzeitig werden zwei Slow Horses in den aktiven Dienst rekrutiert, um für einen russischen Oligarchen den Babysitter zu spielen.
Jackson beginnt Lamb zu ermitteln. Damit macht er sich keine Freunde, nicht bei den eigenen Leuten, nicht beim MI5, nicht bei den Russen. Lamb ist das alles egal. Seine Stärke ist sein ordinäres Auftreten, seine körperliche Behäbigkeit und dass ihn alle Welt deswegen unterschätzt.
Tote Löwen, Schwarze Schwäne, Weiße Wale, Lahme Gäule, und ein Lamm dirigiert den Agentenzoo.
Das Cover der deutschsprachigen Fassung wirkt nostalgisch, die Geschichte versetzt den Leser immer wieder in eine Zeit „als Roger Moore noch James Bond spielte“. Das Alte und Neue findet in diesem Agentenroman immer wieder zusammen. Während der Computernerd im Team mit ein paar Klicks im Netz zu Ergebnissen kommt, hat Lamb immer noch ein Netzwerk menschlicher Natur.
Mick Herron hat mit der Fortsetzung seiner Agentenreihe um die Slow Horses beste Leseunterhaltung abgeliefert. Ernstgemeinter Klamauk, Wortspiele (die im englischen Original wahrscheinlich noch viel besser sind), sprühende Dialoge und dabei immer ein spannender, absolut wendungsreicher Agentenroman. Wie es der Autor versteht, innerhalb eines Absatzes die Situation zu drehen, ist nahezu grenzgenial. Das agentische Katz- und Mausspiel endet überraschend und logisch gleichermaßen.
Very British, very amused!

Bewertung vom 26.08.2019
Die Leben der Elena Silber
Osang, Alexander

Die Leben der Elena Silber


ausgezeichnet

Gorbatow, Russland, 1905. Die kleine Jelena muss mit Mutter und Bruder aus der Stadt fliehen, weil der Vater von Anhängern des Zaren erschlagen wurde.
Berlin 2017, der 43-jährige Konstantin Stein, Enkelsohn Jelenas, begibt sich auf die Spuren seiner Familiengeschichte.
Alexander Osang schreibt in Die Leben der Elena Silber nicht nur Familiengeschichte sondern zeichnet auch ein Abbild des 20. Jahrhunderts in Teilen Europas. Jelena ist zwei Jahre alt, als die Erzählung beginnt. Osang erzählt vom zaristischen Russland, vom Entstehen der Sowjetunion, von Flucht und Kriegen, dem Deutschland während der Nazidiktatur, vom Berlin zu DDR-Zeiten und danach. Die Zeit und die Politik prägen Jelena und ihre Familie, ihre Töchter und Enkel.
Jelenas Geschichte ist wandelbar, je nachdem, wer die Geschichte erzählt oder wem die Geschichte erzählt wird. Es sind Mythen und Legenden, die über die Jahrzehnte kolportiert werden. Vom Vater Jelenas, dem Helden der Revolution, der getötet wird. Aber auch von Robert F. Silber, dem deutschen Ehemann Jelenas. Wer war dieser Robert F. Silber, der in den Wirren nach dem Krieg spurlos verschwand. Einer, der mithalf beim Aufbau der Sowjetunion oder doch ein Mitglied der NSDAP, ein Held, ein Verräter, ein Feigling, der sich aus dem Staub machte oder Opfer einer Flucht.
Konstantin Stein, Mittvierziger, Filmemacher, findet sein Thema nicht. Dabei liegt es vor ihm, seine eigene, dysfunktionale Familie. Die Mutter Maria, die mittlere der fünf Silber Töchter, die über alles die Kontrolle bewahren will, hat ihre eigene Sicht der Dinge. Der Vater Claus leidet an Demenz. Konstantins Tanten, jede für sich ein schwieriger Charakter. Nach und nach versucht Konstantin ein Bild seiner Familie zusammenzusetzen. will die weißen Flecken auf der Landkatze seiner Familie füllen. Im Drehpunkt aller Geschichten ist immer seine Großmutter, Baba wie er sie nannte, Jelena, später Elena Silber. Die russische Deutsche, die deutsche Russin. Von den Deutschen in Schlesien nicht gewollt. Von den Russen, die später das Land besetzten auch nicht. Später in Berlin verliert sie nicht nur einen Buchstaben ihres Vornamens, sondern Heimat, Herkunft, Identität. Die deutsche Sprache beherrscht sie nur mäßig, das Russische hat sie beinahe verlernt.
Es fällt nicht immer leicht Jelena zu mögen, sie lässt ihre Töchter bei fremden Leuten in der Obhut, baut opportunistisch auf Beziehungen. Liebe, Zärtlichkeit, Verbundenheit und Zuneigung, verlernt man diese Gefühle im Krieg, auf der Flucht? In dieser Familie jedenfalls.
Die Leben der Elena Silber ist auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2019. Ob das Buch diesen literarischen Anspruch hat, mag ich nicht beurteilen. Der Handlungsverlauf ist nicht linear. Osang springt zwischen den Zeiten und Perspektiven. Es sind vor allem drei Zeitebenen, die Vergangenheit vor und während des Krieges, das Berlin der 80er Jahre und heute. Im Aufbau sehr opulent, in der Sprache oft sehr pointiert. Die eigene Familiengeschichte war dem Autor Inspiration zu diesem epochalen Roman.