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schreibtrieb

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Insgesamt 174 Bewertungen
Bewertung vom 14.07.2016
Shakuntala
Kalidasa

Shakuntala


sehr gut

Der junge König Dushjana findet beim Jagen zufällig den heiligen Ort des Weisen Vater Kanva. Der andächtige und friedliche Hain beeindruckt den König und er beschließt, Kanvas Tochter aufzusuchen, um noch ein bisschen verweilen zu können. Shakuntala, die Tochter des Weisen, ist jung und naiv, aber auch sehr hübsch, klug und schlichtweg bezaubernd. Der König verliebt sich, doch ein Fluch lässt ihn die Geliebte vergessen.

Für mich hat der Stoff dieser Sage sehr viel Kraft. Die Nacherzählung ist an mancher Stelle etwas holprig. Der Stil ist nicht etwa ins Moderne gebracht, sondern nah an der Mündlichkeit einer alten Sage gehalten. Das zeichnet die Geschichte vielleicht nicht literarisch aus, kennzeichnet aber ihren Wert als möglichst authentisch. Wenig direkte Rede und viel Beschreibendes ist darin enthalten. Wie eine Erzählung eben und keine aufgeschriebene Geschichte wirkt das Büchlein mit den 71 Seiten.

Dass das Buch ein Zitat Goethes und ein Vorrede Herders zu einer älteren Ausgabe enthält, zeigt die historische und damit auch Stoffgeschichtliche Bedeutung der Sage. Das hier ist nicht etwa ein fremdes Märchen, das jetzt den Weg zu uns gefunden hat. Stattdessen handelt es sich um eine Sage, die bereits seit mehreren Jahrhunderten ihre Wirkung auf deutsche Literaten und Autoren hat. So ist es nicht verwunderlich, dass Teile der Handlung und Elemente der Motivik intuitiv an andere Geschichten erinnern.

Das Vergessen der Liebsten und die Bedeutung eines Ringes als Erinnerungsstück, als Erkennungsstück, ist immer noch ein beliebtes Motiv gerade in fantastischer Literatur. So zeigt sich in Shakuntala womöglich der Ursprung solcher Motivik, was mich ungemein fasziniert. Noch dazu ist die Geschichte schlicht schön. Ideal nicht nur zum selbst lesen, sondern wie andere Märchen auch zum Vorlesen. So sind beispielsweise sexuelle Handlungen sehr blumig verschleiert und auch die Gefahr, in die einige Figuren geraten, keineswegs bedrohlich, sondern im Handlungsrahmen schlicht Spannungsspitzen. Auch meinen Kindern hat die Sage von Shakuntala gut gefallen.

Ein Hingucker sind auf jeden Fall die Scherenschnitte, die als Illustration dienen. So wie der Text manchmal sehr umschreibend, märchenhaft und schlicht ist, zeigen auch die Schnitte Konturen, ohne zu klar zu werden. Der einfache und deutliche Kontrast zwischen schwarz und weiß bietet dabei einen festen Rahmen und dennoch viel Platz für eigene Vorstellungen. Nicht zuletzt unterstreicht diese Art der Darstellung das Sagenhafte der Geschichte und die Verortung in eine märchenhafte, lang vergangene Welt.

Shakuntala ist ein wunderschönes Buch für kleine Buchliebhaber, Literaturbegeisterte jeden Alters und gerade für Freunde von fantastischer und romantischer Literatur.

Bewertung vom 08.07.2016
Anleitung zum Gehen
Popovic, Edo

Anleitung zum Gehen


sehr gut

Poetisch-philosophisch wird Edo Popovics Essay Anleitung zum Gehen angepriesen. Das hat mich auf die 176 Seiten des kroatischen Schriftstellers sehr neugierig gemacht.
Mit geradezu elementaren Fragen geht der Autor hier seine Erlebnisse des Wanderns an. Er berichtet, wie er die Berge Kroatiens besteigt. Natürlichkeit, Besinnung, aber auch Existenzfragen und Stille sind es, die den Erzähler begleiten. Der ist hier nahe am Autor anzusiedeln. Unterlegt sind die philosophischen Gedankengänge mit Bildern, Momentaufnahmen aus den Bergen.
Wieviel gerade in die anekdotenhaften Erlebnisse als literarisch zu verorten ist, bleibt unklar. Irgendwie ist alles im Bereich des Möglichen. Das zwischen den Steinen versteckte Mobiltelefon, weil nur dort Empfang ist etwa. Oder diese eigentümliche Verbindung von Menschen, weit ab der Großstädte. Dort, wo Einsamkeit Alltag ist, verschiebt sich der Blickwinkel.
Doch nicht nur auf der sozialen Ebene, auch auf der der Wahrnehmung. Diese Mischung aus Faszination und Gefahr, aus Heimat und Fremde, die der Natur innewohnt. Sie dringt durch in den gemächlichen Seiten. Denn der Erzähler will nicht hetzen, im Gegenteil. Vielmehr verweigert er sich in Handlung und Wort der Beschleunigung des Alltags. Er stellt sie sogar zur Rede, die Hast, die uns jeden Tag ergreift. Karikiert sie in den Wanderern, die Gipfel abhaken, anstatt sie zu erfahren.
Dass dabei Fragen nach Sinn und Zweck aufkommen, ist logisch wie verblüffend. Denn die Antworten werden, teilweise nur in Ansätzen, gleich mitgeliefert. Die große Kritik, die das allumfassende Böse in unserem Leben anklagt, bleibt aus. So sind eben Menschen, scheint der Text zu sagen. Ein bisschen großväterlich vielleicht. Aber auch mit Blick auf die Auszeit, die auch der Erzähler im Wandern erfährt. Eine Pause, aus der er aber wieder zurückkehren wird.
Dass Popovic dabei nicht belehrend, sondern viel mehr betrachtend bleibt, finde ich sehr gut gelöst. Er schwingt keinen Zeigefinger, sondern staunt viel mehr. Das Staunen steht auch im Mittelpunkt, wenn es um die Natur geht. Die Berge, die Tiere, die Pflanzen, den Wind. Alltägliches eigentlich und doch in neuen Fokus gerückt. Bestaunenswert.
Mit Sicherheit ist Anleitung zum Gehen kein aufregendes Buch. Der Text geht eben, er rennt nicht. Wer sich schon einmal im Wandern verloren und doch eigentlich gefunden hat, wird den Erzähler und den Autor verstehen. Es sind auch im Grund keine neuen Fragen, die dabei gestellt werden. Aber sie werden gut gestellt und weitergedacht.
Ein Buch zum Mitdenken also. Nicht nur für alle, die diesen Sommer in Kroatien wandern gehen wollen. Auch Menschen, die einfach gerne den Wiedererkennungsmoment mit der Natur erleben, lesen sich in Anleitung zum Gehen völlig ein. Auf jeden Fall aber ist es tatsächlich poetisch-philosophisch. So einfach – einfach so.

Bewertung vom 07.07.2016
Mama, I need to kotz!
Marshall, Lucie

Mama, I need to kotz!


sehr gut

Unter dem Pseudonym Lucie Marshall betreibt Tanya einen Blog und hat bereits mit „Auf High Heels in den Kreißsaal“ Autorenerfahrung gesammelt. Nun ist „Mama, I need to kotz“ bei Goldmann mit 256 Seiten erschienen und momentan kommt ja kaum eine Mama-Buch an mir vorbei.
Lucies Familie zieht für ein halbes Jahr nach London. Was bereits für Mann und Frau so seine Herausforderungen hat, potenziert sich für Mutter und Vater. Kindergärten, Frühförderung, Nachmittagskindermädchen, und und und. Schnell findet Lucie sich in einer Welt wieder, in der vierjährige eingeschult werden, altersgerechte Entwicklung als verbesserungsbedürftig angesehen wird und es kein Problem ist, wenn es durch die Decke das Arbeitszimmer kübelweise regnet. Doch Lucie lernt auch neue Menschen kennen, andere Mütter, andere Systeme und staunt nicht schlecht.
Wie viele Erfahrungsbücher ist auch dieses als semi-autobiografisch zu betrachten. Schon allein die Verwendung eines Pseudonyms legt nahe, dass nicht alle Erlebnisse tatsächlich so 1:1 passiert sind. Die Mischung von Dichtung und Wahrheit dominiert in dieser Literaturgattung, in der die Bücher von Müttern aus der Erde schießen. Trotzdem schafft Lucie es, hier etwas Neues abzuliefern.
Der Umzug nach London bedeutet für Lucie und ihre Familie auch das vollständige Eintauchen in einen anderen Kulturkreis. Sehr schön ist, dass die Erzählerin darauf eingeht, dass damit nicht etwa der englische gemeint ist, sondern jene Mischkultur, die sich in der Metropole London, etabliert hat. Lucie trifft auch auf englische Mütter, aber eben auch auf amerikanische, japanische, spanische, und und und. Auch ein Vater ist dabei und macht die rühmliche Ausnahme aus, denn eines ist auch in Nothing Hill nicht anders: Die Frauen kümmern sich um den Nachwuchs.
Sehr interessant finde ich dabei die Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Während der Konkurrenzkampf zwischen Müttern in Amerika als noch schlimmer dargestellt wird, als er mittlerweile schon auf deutschen Spielplätzen, in Kindergärten und Schulen geworden ist, feiert die Mutter aus Japan geradezu, ihr Kind knuddeln zu können und nicht so reglementiert zu werden, wie in ihrer Heimat. Allen ist aber doch noch mehr gemeinsam, als die implementierte Aufgabe, für das Kind zuständig zu sein. Der Erfolg des Kindes wird der Mutter zugeschrieben, also auch der Misserfolg. Und bei der Mutter werden etwaige Gründe für dem Kind unterstellte Probleme gesucht.
Sehr schön fand ich, dass Lucie Marshall in ihrem Buch nicht nur dem Vater Raum zur Aktivität gelassen hat – wenn auch wenig – sondern auch sich selbst als Frau und arbeitendes Wesen. Es geht in diesem Buch nicht nur um eine Mutter, die ein halbes Jahr ihrem Mann nach London folgt und versucht, dort ihr Kind groß zu ziehen. Vielmehr geht es um eine arbeitende Mutter, die mit Mann und Sohn ein Abenteuer wagt und nicht nur mit beiden Zusammen Positives wie Negatives erlebt, sondern auch alleine – und nicht nur in ihrer Funktion als Mutter. Hier hat die Erzählerin und auch die Autorin vielen anderen Erfahrungsberichten einiges voraus.

Bewertung vom 20.06.2016
Für immer in deinem Herzen
Shipman, Viola

Für immer in deinem Herzen


sehr gut

Arden und ihre erwachsene Tochter Lauren besuchen Großmutter Lolly, die Zeit ihres Lebens am Lost Land Lake wohnte. Nun macht sich das Alter bemerkbar. Lolly vergisst Dinge, verwechselt Namen, kommt spät oder gar nicht zur Arbeit. Ihre Tochter Arden wittert sofort ein Drama. Gemeinsam erinnern sich die drei Frauen an Lollys Leben. Immer dabei: Das Bettelarmband voller Anhänger. Jeder ein Symbol, ein Zeichen, eine Erinnerung. Und bald erinnert auch Arden sich an ein Leben, das sie vergessen wollte, an Träume und Hoffnungen, die auch ihrer Tochter nicht fremd sind.
Ich finde es wirklich gelungen wie der Roman an das Thema der Altersdemenz herangeht. Ängste auf allen Seiten werden aufgezeigt und unterschiedliche Ansätze, damit umzugehen. Lollys eigentümliche Kindlichkeit sorgt dafür, dass sie ohnehin etwas konfus wirkt. Gerade darin liegt aber auch ihre Stärke. In einem durch und durch naiv-kindlichem Blick auf die Welt, den schon Alice im Wunderland hatte. Lolly holt diesen Blick in die Welt einer alternden Frau.
Die an den Anhängern festgemachten Episoden ihres Lebens sind dabei stark verknüpft mit der Jetzt-Zeit der Geschichte. Auch Ardens Erinnerungen und Entwicklung spielt eine große Rolle. Nicht zuletzt wird Laurens Scheideweg in den Fokus gerückt. Drei Frauen, drei Geschichten, verknüpft nicht nur durch ihre Verwandtschaft, sondern durch die Symbolik der Anhänger und die unterschiedlichen Interpretationen.
Manko an diesem schön aufgebauten Roman ist der Stil. Manche Sätze strotzen vor Adjektiven und kitschigen Beschreibungen, andere wirken geradezu lieblos dahin geklatscht. Die Mischung bleibt unausgewogen. Dass die Erinnerungen selbst verblendend kitschig sind ist dagegen nicht wirklich schlimm, gerade als Erinnerungen werden die stilisierten Motive und Geschehnisse glaubhaft. Auch die Entwicklung der Figuren geht hin zu Friede-Freude-Eierkuchen. Lollys Vergesslichkeit wird nicht etwa zum großen Drama, das entfremdet, sondern zum Grund des Erinnerns, das Verbindet. Allzu schlimm wurde das Schnulzige für mich in einem sehr spirituell angehauchtem Kapitel, das dem sonst doch lebensnahem Buch die Glaubhaftigkeit nimmt.
Trotz der tiefen Kritik ist das Buch ein schönes Sommerbuch und für eine leichte Lektüre im Urlaub bestens geeignet. Die Kapiteleinteilung lässt zu, es sehr gut häppchenweise zu lesen und die positive Entwicklung der Geschichte tut ihren Teil zur Entspannung. Eine wirklich große Tiefe darf nicht erwartete werden. Eher ein leichtes Rauschen an der Oberfläche, immerhin ein Lächeln wert. Vor allem aber sorgt das Buch für Begeisterung für Bettelarmbänder, eigene Anhänger und eigene Erinnerungen.

Bewertung vom 15.06.2016
Nachts, wenn alles schläft ...
Teckentrup, Britta

Nachts, wenn alles schläft ...


sehr gut

Ein kleines Mädchen geht nachts, wenn es draußen dunkel ist, mit ihrem Stofflöwen auf Entdeckungsreise. Der Mond dient als Heißluftballon. Angst vor der Dunkelheit und dem Unheimlichen gehören genauso zu der Geschichte, wie eine magische Traumwelt, viele Tiere, Müdigkeit und der Weg zurück ins Kinderzimmer.
Die Bilder sind wunderschön. Der dunkle Grundton zu Beginn macht bald einer bunten Traumwelt Platz, die aber nicht grell wirkt, sondern sehr gemütlich und ruhig. Den Mond als Heißluftballon zu zeichnen finde ich sehr schön und regt sofort die Phantasie an. Auch die Veränderung des Stofflöwen als treuer Begleiter innerhalb der Geschichte ist toll dargestellt. Die Farben wechseln im Grundton je nachdem, welche Gefühle das Mädchen hat und so wird die Geschichte allein durch die Bilder sehenswert, einfühlsam und gerade für Kinder authentisch.
Die Sätze sind einfach und klar. Manchmal fehlt mir dabei die Struktur, die ich in den Bildern sehe. Das Mädchen spricht mit ihrem Löwen und gibt vor allem Andeutungen und kindliche Gedankengänge wieder, was mir gut gefallen hat, weil die Bilder im Fokus bleiben und auch die Handlung eher bild- als wortgetragen ist. So wird das Buch zu einem, das vom Kind auch ohne elterliches Vorlesen in die Hand genommen werden kann.
Dadurch, dass das Buch viel mit Andeutungen arbeitet ist es kein reines Vorlesebuch oder Bilderbuch. Eltern und Kind(er) entdecken hier zusammen die Bilder und erstellen eigenen Zusammenhänge. Sie bestimmen quasi die Handlung mit, gerade weil sie nicht so klar strukturiert ist. So wird das Buch zu einem sehr individuellen Gute-Nacht-Buch, das sich mit jedem Vorlesen verändert und jedes Mal gibt es neues zu entdecken.
Gerade für Kinder, die gerne die Geschichte mitbestimmen und Eltern, die nicht nur „vorlesen“ wollen ist diese Buch ein Glücksgriff. Der Nudel hat es auch sehr gut gefallen und selbst ihr großer Bruder war vom Heißluftballonmond begeistert.

Bewertung vom 08.06.2016
Die Unglückseligen
Dorn, Thea

Die Unglückseligen


sehr gut

Die Biologin Johanna arbeitet in Amerika an der Unsterblichkeit und fährt dabei immer wieder Rückschläge ein. Da begegnet sie Johann, geboren vor zweihundert Jahren, immer noch lebendig. Schnell macht sie ihn zum Studienobjekt und reist mit ihm zurück nach Deutschland, wo alles angefangen hat. Doch auf der Suche nach den Gründen für seine Unsterblichkeit manifestiert sich der Tod. Johanna und Johan nähern sich an, ihre Beziehung wird intim und das Paar voller Sehnsüchte ist zu allem bereit.
Thea Dorn hat es auf atemberaubende Weise geschafft, den Fauststoff gleichzeitig zu modernisieren und doch seinen literarischen Ursprung beizubehalten. Das Vorwort erinnert an Goethes Figur des Dichters, die Faust I voranstand. Johanna als suchender Faust, als Gelehrte ohne Antwort ist schnell bereit, für ihr Ziel alle Mittel zu heiligen. Die Suche nach der Unsterblichkeit wird zur Suche nach dem Teufel, der ebenfalls eine Stimme erhält. Eine großartige Leistung.
Nicht immer ganz einfach, aber dennoch grandios im Buch als Werk ist der zweihundert Jahre alte Stil von Johann, seine Berichte und Erinnerungen. Erzählt wird der Roman aus zwei personalen Sichtweisen, einmal zu Johanna, einmal zu Johann. Auffallend dabei ist die dritte Sicht eines Ich-Erzählers, der immer wieder mahnend und klagend einfährt, hofft und plant, aber nicht lenken kann, und sich schließlich als in der Tiefe eingeschlossener Teufel enttarnt. Als für die Protagonisten hoffend wird er dabei vermenschlicht, während Johanna stetig versucht der Endlichkeit zu entkommen.
Mit dem Verlauf der Geschichte verschwimmen dann die Konturen. Je mehr Religiosität aufkommt, umso losgelöster von der Realität ist Johanna, umso realer wird der stetig zurückblickende Johann. Hinter der Unsterblichkeit wartet Leid und immer wieder gleiche Schicksale. Der Roman zielt so ellipsenförmig auf das im Grunde unausweichliche Ende zu. Ein gut durchdachter Aufbau und klare Figuren, deren Wandlung wahnsinnig und glaubhaft zugleich ist.
Mit Die Unglückseligen schafft die Autorin die Frage nach der Wissenschaft und ihren Vorzügen erneut zu stellen und auf mehreren Ebenen zu behandeln. Die Sterblichkeit als letzte Grenze des Menschen vor dem Göttlichen wird festgezogen und das Glück geradezu banal in der Liebe gesehen. Das einzige Manko vielleicht in diesem großartigen Roman. Am Ende ist es die Zweisamkeit, die Ausschlaggebend ist. Die größte Angst wird im Angesicht nicht etwa der Tod, sondern die Einsamkeit. Kein immer leichtes Buch, aber eines, das sich lohnt, gerade deshalb.

Bewertung vom 23.05.2016
Unterleuten
Zeh, Juli

Unterleuten


ausgezeichnet

In Unterleute soll eine Windkraftanlage gebaut werden. Dass die Anwohner das durchweg weniger gut finden, interessiert den Staat herzlich wenig. Und insgeheim sind durchaus einige der Dorfbewohner bereit, ihr Land anzubieten, denn natürlich lockt auch dafür das Geld. Die große Frage, wo die Räder stehen sollen, löst ungeahnte Machtkämpfe und Intrigen aus und führt zu Wunden der Vergangenheit. Die neu Zugezogenen etwa, die Vögel und Pferde schützen wollen, oder der Dorfteufel, der sowieso an allem Schuld ist, selbst der Bürgermeister bleibt nicht unparteiisch im Wirrwarr, dem klassischen Kampf gegen Windmühlen.
In Unterleuten ist man Unter Leuten. So viel zum Wortwitz. Auf den ersten Blick sind diese Leute vielfältig. Neu Zugezogene aus der Großstadt, die im Kampf mit den Alteingesessenen bereit von vorne herein verloren haben, der ewig wiedergewählte Bürgermeister, der komische Kauz, der Großgrundbesitzer und ihre Anhänger. Und dann ist da noch die Pferdeflüsterin, die in allen Menschen doch auch nur Pferde sieht. Und Macht heißt, zu bewegen. Also bewegt sie.
Wer hier tatsächlich wen beweg und in welche Richtung ist ausschlaggebend, um hinter die Fassade zu blicken. Mehrere personale Erzähler kommen hier zusammen, begleiten stets eine der Figuren. Dass tatsächlich ein Ich-Erzähler dahinter steckt – ein netter Trick, denn Zeh beispielsweise schon in Spieltrieb angewandt hat – erkennt der Leser erst zum Ende. Dann kommt die Zusammenfassung, ein bisschen Jura, ein trockenes Ende, die Distanz zur Geschichte und den Figuren, die nach dem grausigen und extremen Höhepunkt auch bitter nötig ist.
Unterleuten zieht in den Bann. Das Dorf seine Bewohner, das Buch seine Leser. Es zeichnet das Große im Kleinen wieder, die Welt ist ein Dorf und dieses Dorf heißt Unterleuten. Nichts mehr und nicht weniger. So gekonnt ist dieses Bild, so ausführlich, realistisch, unnachgiebig, dass jeder sich irgendwo wiederfinden kann. Tatsächlich schafft Zeh es, den Dorfverrückten vernünftig zu zeigen, den Dorfteufel als verdrehten Mephisto, der Gutes will und Böses tut. Gerade so viel Verständnis, so viel Nähe, erlaubt die Geschichte, dass der Sprung zum Mitleid mit einem Mann, der Frau und Kind schlägt, ein kurzer wäre. Den letzten Schritt verweigert der personale Erzähler trotzdem, gerade weil er wertungsfrei bleibt.
Diese große Stärke des zehschen Stils ist ihren Lesern bekannt und triumphiert auch hier. Unterleuten gewährt einen geradezu erschreckenden und einnehmenden Einblick in Gesellschaft per se, führt den Leser in die Enge, die eigene Dynamik des dörfischen Lebens und klammert so paradoxerweise das Außen aus, zu dem er gehört. Ein mitreisender, ein großartiger und bewegender Roman, der Mensch und Gesellschaft auf eine einmalige Art und Weise zeigt, das Böse im Kleinen, das Richtige im Aufgeben, die Hoffnung im Ende. Jeder sollte dieses Buch gelesen haben.

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Bewertung vom 21.05.2016
Weil wir Flügel haben (Restexemplar)
Diffenbaugh, Vanessa

Weil wir Flügel haben (Restexemplar)


ausgezeichnet

Bei Limes ist ein Roman erschienen, den ich mir nicht entgehen lassen konnte (Vorsicht: Mutterfigur pur^^). Weil wir Flügel haben von Vanessa Diffenbaugh, übersetzt von Karin Duffner, mit 416 Seiten.
Letty arbeitet nachts in der Bar und schläft am Tag, während ihre Mutter sich um Lettys Kinder kümmert. Als ihre Eltern während einer Reise in ihre Heimat Mexiko beschließen, dort zu bleiben, bricht für Letty eine Welt zusammen. Wie soll sie ohne die Hilfe ihrer Mutter sich um ihre Kinder kümmern, die ihr fremd sind. Der vierzehnjährige Alex, der gerade zum ersten Mal verliebt ist, und die sechsjährige, energiegeladene Luna. Die Kinder sind ohne die Großeltern, ihre Bezugsperson, von der Situation verstört und Letty muss ihr Leben umkrempeln. Dass dabei auch noch ein neuer Kollege und Alex‘ Vater auftauchen ist gleichermaßen hilfreich wie katastrophal. Doch zum ersten Mal in ihrem Leben kümmert Letty sich um andere und um sich selbst, lernt, kämpft und beschreitet neue Wege.
Als mein Dissertationsthema ist die Mutterfigur mir immer ein kritischer Punkt in jedem Buch, gerade in Romanen. Klischees und Rollenzwänge stechen mir in die Augen und die Geschichte hängst sich dann darauf auf. Gerade dieses Problem ist hier ausgezeichnet gelöst. Letty kannte bisher wenig Rollenzwänge. Ihre Mutter hat als Übermutter für sie, Alex und Luna gesorgt. Jede Mutterpflicht von Letty wurde quasi im Keim erstickt. Stattdessen hat Letty die Ernährerrolle übernommen und arbeitet, nachts, weil es da am meisten Geld als Barkeeper gibt.
Das kalte Wasser, in das sie nun geworfen wird, lässt sie ihre gesamte Situation überdenken. Sie überlegt nun nicht nur, was sie tun muss, weil ihre Mutter es gesagt hat, sondern, was ihrer Meinung nach richtig ist. Letty wird erwachsen. Sie entwickelt eigene Ansichten und steht dazu, sie trifft Entscheidungen und übernimmt Verantwortung. Mit dem Umzug und dem Verlassen der einst elterlichen Wohnung reißt Letty den letzten Faden der Kontrolle durch ihre Mutter durch und wird selbst zur Mutter.
Gleichzeitig reift Letty auch heran. Sie trifft ihren Kollegen Rick, der sie dazu bringt, sich auch beruflich weiter zu entwickeln. Gleichzeitig taucht Alex‘ Vater wieder auf, dem sie die Schwangerschaft damals verheimlicht hatte. Eine Dreiecksbeziehung entsteht. Schnell wird aber klar, dass ein Beziehungsstrang auf dem Rücken der Kinder getragen wird. Dass gerade deswegen Letty überlegt, ob dieser Weg für ihre Kinder nicht besser wäre, zeigt, wie intensiv sie sich mit ihrer neuen Rolle auseinandersetzt. Sie handelt bedächtig, weniger impulsiv.
Auch Alex erlebt dabei einen großen Umbruch und einen Schritt in Richtung Adoleszenz. Er verliebt sich. Diese Geschichte entwickelt sich parallel zu der Lettys und als beide Stränge zusammengefügt werden, dann mit Karacho, Tränen und ungewissem Ausgang. Grandios, meiner Meinung nach. Neue Fehler, weil alte nicht wiederholt werden wollen und das Verstehen, dass auch gute Absichten böse enden können.
Das Zusammenspiel zwischen diesen beiden Handlungssträngen ist großartig, die Entwicklungen immer so, dass sie zusammengefügt werden, auch wenn Alex und Letty einfach nicht miteinander reden. Eine ausgewogene Mischung, die immer wieder zum Weiterlesen lockt und Interesse schürt.
Ich jedenfalls konnte das Buch gar nicht mehr weglegen. Eine wundervolle Lektüre, mal leicht, mal schwer, mal kribbelnd, mal zerstörerisch und immer ein Genuss, zu lesen.

Bewertung vom 13.05.2016
Ab in die Dertschi!
Caspers, Ralph;Hoffmann, Ulrich

Ab in die Dertschi!


ausgezeichnet

Ein Elterngeschichtenbuch von Ralph Caspers und Ulrich Hoffmann hat sofort meine Aufmerksamkeit. 230 Seiten hat das Buch aus dem Campus Verlag mit 33 Geschichten über das Leben mit Kindern vom Wissen macht Ah!-Moderator und dem Autor.

33 Geschichte aus dem Leben mit Kindern, nicht ganz alltäglich und dann doch wieder so umfassend. Konkrete Anekdoten und eher unspezifische Themen reihen sich auf den ersten Blick bunt aneinander. Mal geht es um Haustiere, um Ferienaktivitäten, um generelle Erziehungsfragen wie Schimpfwörter oder Hausaufgaben, oder auch um einmalige Momente wie ein Lagerfeuer über der abgerissenen Gartenhütte.

Unterschiedliche Altersgruppen von Kindern werden dabei betrachtet. Die Kleinen, die gerade zum ersten Mal aufs Karussell dürfen, oder die großen, mit denen Papa heimlich die Gehwege verziert, die zwischendrin, die sich mit einem Mal schrecklich erwachsen zeigen oder dann wieder mit albernen Spielen die Eltern wieder zu Kindern machen. Eines haben die Geschichten dabei alle gemeinsam: Sie sind authentisch.

Caspers und Hoffmann beschönigen nichts. Hier gibt es Elternfehler und große Fragezeichen, Lücken und Träumereien, unerträgliche Eigenarten und den ganz normalen Wahnsinn. Erfrischen finde ich dabei, dass die Mutter eher marginal bleibt. Hier zeigen Väter, was es heißt, Eltern zu sein, ohne die Frau vor zu schicken. Unwillkürlich kommt ein umfassendes Gefühl für Familie beim Lesen auf.

Der Stil – vielleicht auch besser die Stile, auch wenn es kaum Unterschiede gibt – ist unterhaltsam, einer lockeren Plauderei gleich. Niemand will hier große Literatur aufs Papier zwingen, viel mehr wirken die Texte kolumnenhaft und dennoch gut durchdacht. Dass dabei nicht jeder Text den Geschmack gleich gut trifft, ist irgendwie nebensächlich, denn es geht ja doch um das Ganze – und das passt.

Gleiches gilt für den Aufbau der Kapitel, der manchmal mehr, manchmal weniger Struktur erfährt und ab und an wie aus der Ferne rekapitulierend wirkt. Dann aber wieder werden die Geschichten sehr lebhaft, nah und regelrecht momentan, so dass der Leser das Gefühl hat, irgendwie mit von der Partie zu sein.

Mit Ab in die Dertschi haben Ralph Caspers und Ulrich Hoffmann ein unterhaltsames Buch mit unterhaltsamen Geschichten geschrieben, dass nicht belehrt, sondern einfach gemütlich erzählt. Locker, witzig, zwischendurch. Sehr schön.