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Miro76
Wohnort: 
Österreich

Bewertungen

Insgesamt 125 Bewertungen
Bewertung vom 05.06.2022
Amelia
Burns, Anna

Amelia


gut

Mit "Milchmann" hat uns Anna Burns bereits tiefe Einblicke in die andauernden Konflikte in Nordirland geboten. Auch dieser Roman war nicht einfach zu lesen. Die sperrige Sprache und die alltägliche Gewalt waren nicht leicht zu ertragen. Ihr Debüt "Amelia", das erst jetzt auf Deutsch erschienen ist, ist noch ein ganz anderes Kaliber.

Die Autorin lässt uns in Episoden an Amelias Leben teilhaben. 1969, als die Konflikte so richtig ausbrechen, ist Amelia 8 Jahre alt - ein neugieriges Kind, das versucht die Welt um sich zu verstehen und in eine Zeit hineinwächst, die von Gewalt und Missbrauch durchdrungen ist.

Die arbeitende Klasse ist den Straßenkämpfen völlig ausgeliefert. Familien werden zerrissen, Freunde werden zu Feinden, Auge um Auge und nie, aber wirklich niemals davonlaufen, denn es gilt das Gesicht zu wahren. Lieber sehenden Auges in den Tod gehen, als Schande über die Familie bringen.

Amelia aber, geht einer Schlägerei lieber aus dem Weg. Sie flüchtet sich in ihre Magersucht, entfremdet sich immer mehr von ihrer gewalttätigen Familie und driftet schließlich in die Alkoholsucht ab. Sie weiß, dass sie ihrer Heimat den Rücken kehren muss, aber sie schafft es erst, als es fast zu spät ist. Sie nimmt ihre Neurosen mit in ihre neue Heimat.

Anna Burns zeigt uns mit diesem Roman, dass die über Jahre andauernde Gewalt auf den Straßen niemanden unbeeinflusst lässt. Sie greift um sich und zieht alle in ihren Bann. Ein Entkommen ist kaum möglich. Die Auswirkungen auf den Alltag und die Psyche der Betroffenen sind enorm.

Für meinen Geschmack veranschaulicht die Autorin das ein bisschen zu genau. Manche Szenen strotzen vor Gewalt, Verrohung und Missbrauch. Ich hätte das gerne nicht so detailliert geschildert gehabt. Ich hätte die Botschaft auch dann verstanden, wenn die Tragödien nicht so auserzählt gewesen wären. Das war mir schon fast zu viel.

Bei der Lektüre begleiten wir Amelia bis zu den Friedensverhandlungen 1994. Also fast dreißig Jahre ihres Lebens und doch kämpft sie immer noch mit ihren Wurzeln. Es gibt einen klitzekleinen Lichtblick am Ende, aber der innere Kampf ist längst nicht ausgestanden. Die vielen Toten, die am Wegrand liegen, machen das Überleben auch nicht leichter.

Das Buch ist sehr eindringlich und lässt bestimmt niemanden kalt, aber ich bin mir sicher, dass es vielen Leser*innen zu direkt, zu brutal und zu heftig ist und dadurch vielleicht sogar weniger Menschen erreicht, als es möchte. Mir hat es streckenweise viel Überwindung gekostet weiter zu lesen und deshalb kann ich auch nur 3 Sterne vergeben für diesen schonungslose n Roman, der wie ein lauter Hilferuf aus Belfast klingt.

Bewertung vom 09.05.2022
Die Gezeiten gehören uns
Vida, Vendela

Die Gezeiten gehören uns


sehr gut

Eulabee und Maria Fabiola sind die allerbesten Freundinnen. Sie leben in einem schmucken Stadtteil von San Francisco, besuchen eine Privatschule für Mädchen und wachsen eigentlich recht behütet auf.

Maria Fabiola ist eine schillernde Schönheit, immer auf der Suche nach Aufmerksamkeit. Eulabee ist schlau, eine gute Schülerin und steht immer etwas im Schatten ihrer Freundin.

Doch so untrennbar sind die beiden Mädchen gar nicht, denn eines Tages behauptet Maria Fabiola, dass der Mann, der sie nach der Uhrzeit gefragt hatte, sich währenddessen im Auto selbst befriedigte. Die beiden anderen Mädchen in ihrem Kreis zeiht sie schnell auf ihre Seite, doch Eulabee steht zu ihrer Sicht der Situation und sagt aus, dass da nichts war.

Die Folgen hat sie zu tragen und Maria Fabiola ist manipulativ. Für Eulabee ändert sich alles. Maria Fabiola allerdings macht einfach weiter.

Eulabee überzeugt als Protagonistin in diesem Roman. Ihre Gedankengänge und Ideen sind gut nachvollziehbar. Sie ist sich der Macht der Worte bewusst und trägt auch die Konsequenzen. Die ganze Situation mit den Mädchen entgleitet, Eulabee wird in ihren Grundfesten erschüttert und lässt dabei ihre Kindheit zurück.

Dieses Buch ist eine etwas andere Coming-of-Age Geschichte. Die Dramen sind nicht so unmittelbar, es gibt keine große Liebe, aber es gibt ein Mädchen, die zu ihrer Meinung steht, Verantwortung übernimmt und ihren Weg geht, auch wenn dieser steinig ist.

Vendela Vida konnte mich auch mit diesem Buch begeistern. Ihre Sprache ist einfach und direkt, die Entwicklung der Persönlichkeiten hat mir gut gefallen. Einzig der Schluss, der im Schnelldurchlauf mehrere Jahre abhandelt war mir etwas zu kompakt. Das Buch hätte durchaus ein paar Seiten mehr vertragen. Allerdings sollte der Fokus wohl bei den kleinen und größeren Lügen und deren Folgen bleiben. Wäre alles auserzählt worden, hätte sich vielleicht die Gewichtung verlagert.

Mir hat gut gefallen, wie die Autorin die Macht der Worte hervorhebt und bewusst macht, welche Auswirkungen kleine Lügen haben können!

Bewertung vom 23.04.2022
Der große Fehler
Lee, Jonathan

Der große Fehler


gut

Andrew Haswell Green (1820 - 1903) war der Sohn eines Farmers. Mit dem Kopf in den Wolken und einem untrüglichen Gespür für Strukturen konnte er schon als Kind einigen Ideen auf dem Hof umsetzen. Doch ein Skandal veranlasste seinen Vater, ihn nach New York in die Lehre zu schicken. Er fristete sein Dasein in einem Kabuff eines Gemischtwarenladens, der ihm eine kräftige Lungenentzündung und die Freundschaft zum späteren Präsidentschaftskandidaten Samuel Tilden einbrachte.

Einige Jahre verbrachte Green in Trinidad, als Vorarbeiter, was ihn zu einem noch größeren Menschenfreund machte und ihm ausreichend Geld einbrachte, um im Anschluss Jura zu studieren. Das war sein Sprungbrett für seine Karriere. Als Vater von Greater New York und Schöpfer des Central Parks sollte er eigentlich unvergessen sein. Aber so ist es wohl nicht gekommen.

Die Lebensgeschichte von Andrew H. Green habe ich mit größtem Vergnügen gelesen. Sein Weg ist berührend und beeindruckend. Seine Lebensart lässt weinen und lachen zugleich.

Die Art und Weise, wie uns der Autor diese Geschichte erzählt, hat mir leider nicht so gut gefallen. Der Versuch einen Krimi aus dieser Biografie zu machen, sagt mir nicht zu. Das Leben des Anwalts, des Ermittlers und der wichtigsten Zeugin sind in Zwischenkapiteln ausschweifend ausgearbeitet und haben mich leider gar nicht begeistert. Ich hätte gerne mehr über Andrews Geschwister erfahren, die immer nur am Rande vorkommen.

So bin ich Zwiegestalten bei der Bewertung des Buches. Die Hälfte verdient fünf Sterne, ist interessant, lehrreich und berührend. Die andere Hälfte hat mich leider gelangweilt. Somit vergebe ich 3 Sterne mit Bedauern für ein Buch, das mich eigentlich auch restlos begeistern hätte können!

Bewertung vom 13.04.2022
Schallplattensommer
Bronsky, Alina

Schallplattensommer


sehr gut

Maserati lebt in einem kleinen Dorf bei ihrer Großmutter, in deren Snackbude sie als Kellnerin arbeitet. Der Sommer steht vor der Tür und die Gäste werden langsam mehr. Die legendären Teigtaschen der Großmutter schmecken wirklich allen, auch den Bauarbeitern, die plötzlich begonnen haben, die leerstehende Nachbarvilla zu renovieren.

Es kündigt sich schnell an, dass dieser Sommer anders werden wird, denn ins Nachbarhaus ziehen zwei Jungs ein - der Sunnyboy Caspar und sein ernster Cousin Theo. Alle tragen ihre Geheimnisse mit sich herum und es stellt sich heraus, dass Theos und Maseratis Geheimnis irgendwie in Zusammenhang stehen.

Ganz unkompliziert verläuft die Annäherung nicht zwischen den Dreien, denn sie haben alle ihr Päckchen zu tragen. Vor allem Maserati, die sich hauptsächlich ums Geschäft kümmert, denn die Oma leidet wohl unter beginnender Demenz. Niemand soll das merken, denn Maserati ist noch nicht volljährig. Sie schmeisst den Laden, hält alles am laufen und sucht die vermisste Großmutter, wenn es not tut.

Man erkennt schnell, dass sie Hilfe gut gebrauchen könnte und die kommt dann auch von ganz anderer Seite als erwartet.

Alina Bronsky hat hier einen ganz besonderen Coming-of-Age Roman geschrieben. Es gibt keine rosige Liebesgeschichte, aber es gibt ein Aufflammen von Gefühlen, es gilt Verantwortung zu übernehmen und auch mal andere Wege zu gehen.

Es gibt kein fulminantes Happy End, aber es gibt einen Ausblick, der hoffen lässt. Einen Ausblick, der zeigt, dass niemand ganz allein steht mit seinen Problemen.

Ich habe Schallplattensommer sehr gerne gelesen. Es liest sich einfach und flüssig, bietet eine spannende Geschichte und ist somit ein wunderbares Sommerbuch. Für den fünften Stern hätte es noch etwas mehr in die Tiefe gehen können. Das wäre auch Jugendlichen zuzutrauen gewesen.

Bewertung vom 01.04.2022
Für diesen Sommer
Klönne, Gisa

Für diesen Sommer


ausgezeichnet

"Für diesen Sommer" kehrt Franziska in ihr Elternhaus zurück. Sie soll sich um ihren Vater kümmern, denn ihre große Schwester braucht eine Auszeit. Sie hat ihr Elternhaus im Streit verlassen und ihren Vater zuletzt bei der Beerdigung der Mutter kurz gesehen. Und das ist auch schon 2 Jahre her.

Sie soll außerdem packen, denn ein Umbau steht an. Der Vater kann nicht mehr in den ersten Stock und schläft auf der Chaiselongue im ehemalige Nähzimmer der Mutter.

Einen Abend nur verbringt Franziska außer Haus. Da kommt es zu einem folgenschweren Unfall. Der Vater stürzt, fällt ins Koma, bricht sich die Hüfte.

Über Franziska bricht vieles herein. All das Ungesagte, ausstehende Entschuldigungen und ausstehende Versöhnungen brechen alte Wunden auf und Franziska merkt, dass sie einen anderen Weg gehen möchte, als ihre Schwester vorgesehen hat.

Und was ist überhaupt mit ihrer Schwester los? Sie geht nicht ans Telefon, beantwortet keine Nachrichten?

Viele Themen hat Gisa Klönne in dieser Familiengeschichte verarbeitet. Wir lesen von der Kindheit des Vaters, der während des Krieges in ein Erholungslager nach Polen geschickt wurde und aus dem kaum Kinder lebend zurück kamen.

Wir lesen von der Flucht ihrer Mutter, deren Familie es leider nicht mehr über die Ostsee geschafft hat. Und wir lesen von Franziskas Kindheit und rebellischer Jugend, die so gar nicht ins Familienkonzept gepasst hat.

Die Autorin erzählt diese Geschichte in etwas ungewöhnlicher Form. Sie springt dabei leichtfüssig zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her und fordert so die Aufmerksamkeit der Leser*innen. Immer wieder muss man sich einfühlen in den Text, dann kann man ihn schon zuordnen. Dieser Stil ist nicht alltäglich, passt für mich aber gut zur Geschichte. Erinnerungen kommen selten chronologisch geordnet. Manchmal überfallen sie uns regelrecht. So ist es auch hier in diesem Buch.

Die Lebensgeschichten der drei Protagonist*innen habe ich mit großem Interesse verfolgt. Es gibt ein Familiengeheimnis, das gelüftet wird und irgendwie alles klärt. Ich fand es stimmig, wie weitreichende Folgen manche Entscheidungen mit sich bringen und das versöhnliche Ende hat mir ausgesprochen gut gefallen.

Wer solche Geschichten mag, sollte unbedingt zu diesem Roman greifen!

Bewertung vom 27.03.2022
Freitag ist ein guter Tag zum Flüchten
Jamalzadeh, Elyas;Hepp, Andreas

Freitag ist ein guter Tag zum Flüchten


ausgezeichnet

Elyas Jamalzadeh erzählt uns seine Geschichte. Bereits im Exil geboren holt er etwas weiter aus und beginnt sein Buch 2 Kapitel vor seiner Geburt. Seine Eltern waren schon damals von den Taliban bedroht und ihr Haus wurde in die Luft gejagt. Sie entschieden sich, in den Iran zu flüchten, wo Elyas ds Licht der Welt erblickte.

Als Flüchtling im Iran hat man keine Rechte. Man darf nicht arbeiten, nicht zur Schule gehen und zahlt für alles circa das Dreifache. Kaum vorstellbar, so ein Leben! Und immer, aber wirklich immer muss man auf den Hut vor der Polizei sein, denn man kann jederzeit nach Afghanistan abgeschoben werden. Ein Land, das angeblich Elyas Heimatland ist, das er aber noch nie betreten hatte.

Es kommt wie es kommen musste und Elyas wird aufgegriffen und in ein Abschiebezentrum gebracht. Zum Glück hat er Hilfe, aber der Druck wird größter und die Familie entschließt sich, weiter zu fliehen.

Der lange Weg nach Europa, den bereits zwei Brüder geschafft haben, ist für Elyas und seine Eltern eine wahre tour de force. Die Eltern sind nicht so fit und die Abschnitte, die zu Fuss bewältigt werden müssen, bringen sie immer wieder an ihre Grenzen und darüber hinaus.

Was auf dem Weg passiert, kennen wir teilweise. Der lebensgefährliche Weg über das Mittelmeer, die "Games" - also die Versuche - immer wieder eine Grenze zu übertreten und das ewige Festsitzen an Orten, die wir eigentlich gar nicht sehen möchte. Vieles ist aus den Nachrichten bekannt, doch Elyas erzählt das so unmittelbar und sein Freund Andreas Hepp hat seine Sprache in geschriebenes Wort übertragen. Beim Lesen hat man das Gefühl, man sitzt mit den beiden irgendwo am Lagerfeuer und lauscht den unglaublichen Geschichten einer Reise.

Elyas erzählt mit einer großen Menge Humor, der stellenweise so schwarz ist, das mir als Leserin, das Lachen im Hals stecken bleiben muss. Elyas scheint ein grenzenloser Optimist zu sein, der noch dem übelsten Ereignis irgendwas Gutes abgewinnen kann. Er verliert nie den Mut und das macht ihn zu einem ganz besonderen Menschen!

Seine Geschichte steckt voller Hoffnung und Zuversicht auch in den schwärzesten Momenten. Das macht seine Erzählung zu etwas ganz speziellem, gibt uns Einblick in sein Leben und erweitert unseren Horizont.

Ich wünsche diesem Buch ganz viele Leser*innen, die vielleicht auch Mut aus seinem Schicksal schöpfen können. Und ich wünsche Elyas alles Gute auf seinem weitern Weg in seinem neuen Heimatland!

Bewertung vom 23.03.2022
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


ausgezeichnet

Hüseyin ist in den 70er Jahren nach Deutschland gegangen, zum Geld verdienen. Im Hinterland der Türkei ist sein Auskommen nicht mehr gesichert. Seine Familie holt er nach acht Jahren nach.

Sein Leben war geprägt durch harte Arbeit und Sparen, denn einen Traum wollte er sich erfüllen: eine großzügige Wohnung für die Familie in Istanbul, wo er seinen Lebensabend verbringen will.

Als die Zeit gekommen ist, reist er allein in die Stadt, um die Wohnung einzurichten. Alles soll schön sein, wenn er seiner Frau Emine seinen Traum zeigen kann. Doch dazu kommt es nicht. Er stirbt an einem Herzinfarkt nach der ersten Nacht im neuen Domizil.

Der Schock sitzt tief bei den Angehörigen, die sich schnellstmöglich auf den Weg in die Türkei machen. Die beiden jüngsten Kinder und Emine fliegen sofort. Die älteste Tochter verpasst ihren Flug und der älteste Sohn reist mit dem Auto an.

Und dann kommen die Kinder zu Wort. Alle mit ihren eigenen Problemen, ihren eigenen Dschinns.

Fatma Aydemir hat in die Geschichten der Kinder extrem viele Themen untergebracht. Gender und Identität sind die Hauptthemen, aber es geht auch um Rassismus, Traditionen, Selbstmord und Kindererziehung. Was alles durchzieht ist das Schweigen in der Familie, das alles zusammenhält, aber auch alles trennt. Die Sprachlosigkeit geht so weit, dass die Kinder nicht einmal wissen, dass sie eigentlich Kurden sind und keine Türken.

Spannend ist außerdem der Aufbau des Romans. Hüseyin wird direkt angesprochen bei seinem endgültigen Drama, welches so unglaublich traurig ist. Es spricht viel Liebe aus ihm, die sich in der übrigen Familie kaum wiederfindet. Beginnend mit dem jüngsten Kind baut sich dann ein Bild der Familie auf, das immer mehr Tiefe gewinnt und immer mehr Geheimnisse birgt. Vieles scheint in dieser Familie schief zu laufen. Die Ursache dafür erfahren wir erst ganz zum Schluss, wenn die Mutter zu Wort kommt.

Gut gefallen hat mir außerdem, wie sich die Sprache der jeweiligen Person anpasst. Ümit ist noch sehr jung, seine Geschichte ist in einfacher, moderner Sprache gehalten. Sevda hatte es am schwersten und wurde vielleicht am wenigsten geliebt. Ihre Geschichte ist etwas distanzierter geschrieben. Peri hat durch Bildung alle kulturellen Barrieren überwunden. Ihre Teil ist reflektierter und Haken ist der junge Wilde, sein Part hetzt nur so dahin.

Fatma Aydemir hat hier viele Klischees eingebaut, um sie gleichzeitig wider aufzubrechen. Niemand ist nur gut und nur böse, niemand hat es einfach nur leicht und niemand ist nur Opfer der Umstände.

Das Ende ist vielleicht etwas überspitzt, aber nach ein bisschen drüber nachdenken hat mich das dann doch nicht gestört. Irgendwie ist es passend, wird hier aber natürlich nicht verraten. Wer es wissen möchte, muss das Buch schon lesen. Ich verspreche, es bietet tiefe Einblicke in die türkische Kultur, in die Sorgen und Nöte migrierter Menschen und der 2. Generation.

Es wird auf jeden Fall den Horizont der Leser*innen erweitern!

Bewertung vom 12.03.2022
Vertrauen
Mishani, Dror

Vertrauen


weniger gut

Ein ausgesetztes Baby, eine unzuverlässige Verdächtige, ein Vermisster in einem Hotel und ein Toter aus dem Meer.

Das ist die Ausgangslage für Avi Avrahams Ermittlungsteam. In beiden Fällen gibt es schnell Anhaltspunkte in welche Richtung die Aufklärung verlaufen muss. Doch in dem einen Fall ändert die zwingend Tatverdächtige ständig ihre Aussage, um in die Irre zu führen. Sie ist extrem unsympathisch, manipulativ und ziemlich dominant. Sie hält sich für unbesiegbar und scheint einen Plan zu verfolgen, der dann aber nirgendwo hinführt.

In dem anderen Fall, fliegen dem Inspektor die Beweise nur zu in die Hände, sodass er an deren Richtigkeit zweifeln muss. Es ist nicht mehr klar, wem er hier vertrauen kann.

Die angebliche Verbindung zwischen den beiden Fällen ist leider sehr mager. Beide Spuren führen nach Paris, bleiben aber völlig unabhängig voneinander.

Außerdem fand ich die Erzählweise sehr anstrengend. Die ersten 100 Seiten sind so verwirrend und mysteriös, dass man kaum Zusammenhänge erkennen kann. Das soll wohl Spannung aufbauen, hat bei mir aber das Gegenteil erreicht. Es war so undurchsichtig, dass es mich eher gelangweilt hat. Als alles klarer wurde, habe ich ständig auf die Verbindung gewartet, die es aber auch nicht wirklich gibt. Die eine versteckt sich in Paris, der andere hatte vorher dort gelebt. Das war mir definitiv zu wenig.

Und der Schluss konnte die ganze Geschichte für mich auch nicht retten. Beide Fälle können geklärt werden, verlaufen aber dennoch irgendwie im Nirgendwo. Die Motivationen bleiben hier zu unklar. Das konnte mich wirklich nicht begeistern.

Meine Erwartungen waren sehr hoch, denn "Drei" habe ich sehr gerne gelesen. Leider wurden sie hier so gar nicht erfüllt.

Bewertung vom 28.02.2022
Der Erinnerungsfälscher
Khider, Abbas

Der Erinnerungsfälscher


ausgezeichnet

Said Al-Wahid bekommt einen Anruf seines Bruders, der ihn informiert, dass seine Mutter im Sterben liegt. Sofort nach einer Podiumsdiskussion macht er sich auf in seine Geburtsstadt Bagdad.

Auf diesem Weg zurück schweifen seine Gedanken rückwärts zu seiner Flucht durch Länder und Jahre, bis zu seiner Ankunft in Deutschland. Endlich angekommen lernt er die Sprache, holt die Matura nach, beginnt ein Studium und wird immer wieder zurückgeworfen, weil er um seinen Aufenthaltstitel fürchten muss.

Er erinnert auch seine zwei Besuche in Bagdad die teils verstörende Eindrücke hinterlassen haben. Dieses von Diktatur, Krieg und Bürgerkrieg gebeutelte Land kann er schnell nicht mehr Heimat nennen und seiner Familie dort wird er immer fremder.

Der Autor geht mit diesem Buch der Frage nach, wie sehr wir unseren Erinnerungen trauen können. Malen wir manches schöner? Haben wir manches wirklich erlebt, oder wurde es uns nur erzählt? Machen wir Träume wirklich, oder verwandeln wir die Wirklichkeit in einen Traum, weil sie sonst nicht zu ertragen ist?

In diesem kleinen Roman steckt eine tiefe Wahrheit, die sehr poetisch erzählt wird und ich denke, es steckt auch einiges Persönliche des Autors darin. Es wirkt wie ein vorsichtiger Blick in die Seele eines Menschen, der in wenigen Jahren mehr erlebt hat, als manch anderer in einem ganzen Leben.

Dieser kleine Roman ist äußerst dicht und hat mich sehr berührt. Diese Fluchtgeschichte hat wieder traurige Aktualität bekommen. Ich hoffe, wir begegnen den Menschen, die demnächst zu uns kommen werden freundlicher, als es Said erlebt musste!

Bewertung vom 27.02.2022
Dazwischen: Wir
Rabinowich, Julya

Dazwischen: Wir


ausgezeichnet

Endlich hat Madina mit dem Rest ihrer Familie eine eigene Wohnung im Haus ihrer besten Freundin Laura. Und endlich hat sie ein neues Zuhause, wo sie sich wohl und sicher fühlen kann.

Sie blüht auf, wird mutiger und auch ihre Tante beginnt ihre Verletzungen und Traumata zu überwinden.

Doch der Friede währt nicht lange, denn am Hauptplatz finden sich immer mehr Menschen zu den Donnerstagsdemos ein, die gegen Ausländer skandieren. Immer wieder finden sich schmähende Schriftzüge auf Statuen und Hauswänden. Madina fühlt sich verletzt und möchte mit ihren Freunden etwas dagegen tun. Das Ganze eskaliert an einem schönen Frühlingsabend, den sie eigentlich auf dem Jahrmarkt verbringen wollten. Ein wütender Mob findet sich vor ihrem Hauseingang und zwingt die Bewohnerinnen sich ihren Ängsten zu stellen.

Julya Rabinowich zeigt hier mit dem Finger auf den aufkommenden Rassismus in den letzten Jahren und lässt uns ein Gefühl dafür bekommen, wie es sich für die Betroffenen anfühlt, die sich eigentlich sehr gut integriert fühlen und doch immer wieder schmerzlich darauf hingewiesen werden, dass sie niemals dazugehören werden.

Bei der Lektüre leiden wir mit Madina, denn wir freuen uns, dass sie gut in der Schule ist, die Sprache perfekt beherrscht und auch endlich Jeans tragen kann. Sie ist ein Teenager wie alle anderen im Ort und doch sticht sie immer wieder heraus und muss sich mit Problemen befassen, die ihrem Alter nicht entsprechen. Immer wieder flammen Erinnerungen auf an den Krieg, Bilder, die niemand im Kopf haben sollte und Ängste die viel tiefer liegen, als wir es uns vorstellen können.

Die Autorin geht sehr einfühlsam mit ihren Figuren um, lässt uns auch mal einen Blick in ihr Innerstes werfen und hilft uns, mehr Verständnis für Zugezogenen aufzubauen.

Die Entwicklung der Protagonist*innen ist ebenfalls sehr gelungne. Madina hat sich eingelebt, wird freier und auch mal frecher, Laura bekommt ebenfalls ein Gespür dafür, wie sich Ausgrenzung anfühlt, Tante Amina's Wunden heilen und sie wird wieder zu der Kämpferin, die sie vorher war und auch Madina's Mutter beginnt ihre Trauer zu überwinden und sich auf das neue Leben einzulassen.

Mir hat auch diese Fortsetzung sehr gut gefallen und es fehlt dem Roman nicht an Tiefe, auch wenn es ein Jugendbuch ist. Einzig die Scheußlichkeiten, die alle erleben mussten, werden nicht explizit angesprochen, aber das muss nicht sein. Das brauche ich auch als Erwachsene nicht.

Ich empfehle Madina's Geschichte allen, die sich mit der Thematik Flucht, Integration oder Rassismus auseinandersetzen wollen und allen, die vielleicht davon betroffen sind und sich von dieser Geschichte abgeholt fühlen können.

Und ich freue mich auf eine weitere Fortsetzung, die angeblich schon im Kopf der Autorin herumspukt!