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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Luisabella
Wohnort: 
Hamburg

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Insgesamt 174 Bewertungen
Bewertung vom 20.02.2023
Rote Sirenen
Belim, Victoria

Rote Sirenen


sehr gut

»Meine Großmutter […] sagte: »Die ganze Zeit, in der du nach Nikodim gesucht hast, habe ich gehofft, dass du nichts finden und aufgeben würdest. Ich habe unterschätzt, wie wichtig es ist, die Wahrheit zu erfahren, was auch immer diese Wahrheit sein mag. Als mir das klar wurde, hoffte ich nur, dass die Wahrheit dich nicht verletzen würde.«« (S.269)

Victoria Belim emigrierte als Teenager aus der Ukraine in die USA, hat dort studiert, und arbeitet und lebt heute in Brüssel. Als Russland 2014 die Krim annektierte begann die Autorin und Protagonistin sich intensiver mit ihrer ukrainischen Familiengeschichte auseinanderzusetzen und reiste von 2014-2019 regelmäßig für mehrere Monate in ihre Heimat in der Ukraine zurück, um dort mit ihrer Großmutter Valentina in deren kleinem Haus und Obstbaumgarten zu leben und zu recherchieren.

In ihrem Debüt »Rote Sirenen - Geschichte meiner ukrainischen Familie« (übersetzt aus dem Englischen von Ekaterina Pavlova) erzählt Viktoria von der aufwändigen Recherche ihrer Familiengeschichte ausgehend von ihrer Urgroßmutter Asja verbunden mit dem Wunsch das Verschwinden ihres Urgroßonkel Nikodim in den 1930er Jahren aufzuklären. Die Autorin erzählt von Valentina, von Asja, von der Ukraine, von der ehemaligen Sowjetunion, von ihrem Onkel Wladimir und dem Selbstmord ihres Vaters und nach und nach erschließt sich Leser:innen, wie die Dinge, Menschen und Themen miteinander verbunden ist. ❤️‍🩹 »Rote Sirenen« erzählt nicht nur von der Familiengeschichte und familiären Zusammenhalt, sondern auch von ukrainischen Vergangenheit, dem Holodomor, ukrainischer Kunst & Kultur und Zeitgeschichte.

Eine Familiengeschichte und vor allem die aufwändige, ernüchternde und nicht leichte Recherche von Viktoria Belim sind sehr berührend und zeigen, wie wichtig familiärer Zusammenhalt (in Krisenzeiten), und auch, wie wichtig und richtig Hoffnung ist. 🕊️

Bewertung vom 20.02.2023
Das barfüßige Mädchen
Bruck, Edith

Das barfüßige Mädchen


gut

Einzigartiges Memoir einer Shoah-Überlebenden
Die Schriftstellerin, Journalistin, Drehbuchautorin und Übersetzerin Edith Bruck hat mit »Das barfüßige Mädchen - Die Erinnerungen einer Überlebenden - eine Liebeserklärung an das Leben« (aus dem 🇮🇹 übersetzt von Verena von Koskull) ihr berührendes Memoir und Autobiografie geschrieben. Als Kind hat sie die Shoah überlebt und engagiert sich bis heute gegen das Vergessen. Für ihre Werke wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet, u.a. 2021 mit dem Verdienstkreuz der BRD für ihr vielfältiges Werk.

In ihrem Memoir »Das barfüßige Mädchen« erzählt die Autorin von ihrer Kindheit im ungarischen Dorf, wo sie unbeschwert und Barfuß ihre Kindheit erlebte, bis ihre jüdische Familie und nach Auschwitz deportiert werden. Sie erzählt von ihrer Jugend nach dem Überleben des Konzentrationslagers mit ihren Schwestern, wie sie versucht, sich in Israel ein neues Leben aufzubauen und einer professionellen Tanzgruppe anschließt und, wie sie ihren Weg in ihre neue Heimat Italien findet und eine neue Heimatsprache - Italienisch - findet, auf der sie bis heute all ihre Bücher geschrieben hat und schreibt.

Wie viel ihr das Schreiben und Bücher bedeuten, schildert sie ebenfalls in ihrem Buch im Dialog mit ihrer Schwester Judit:

»Du hast Bücher, aber keine Kinder«, pflegte Judit bei jedem ihrer Rombesuche zu sagen, als wären meine Bücher nichts dagegen.

Bücher sind auch Kinder«, antwortete ich und erntete ihren mitleidigen Blick.« (S.144)

Wie alle Zeitzeug:innenberichte und -Biografien von Shoah-Überlebenden finde ich dieses Buch sehr bewegend und mit jedem Zeitzeug:innenbericht lerne ich etwas Neues über diese schreckliche Zeit. In diesem Buch gibt es keine Verweise zu historischen Daten, faktenbasierte Einordnung in den historischen Kontext oder Quellverweise, was ich mir an einigen Stellen gewünscht hätte. Bei diesem Bericht steht die Autobiografie ganz klar im Vordergrund.

Ein einzigartiges Buch gegen das Vergessen 🕊️ und eine beeindruckende Biografie einer Shoah-Überlebenden.

Bewertung vom 09.02.2023
Kirmes im Kopf
Boerger, Angelina

Kirmes im Kopf


ausgezeichnet

Nach Schätzungen des Vereins ADHS Deutschland e.V. sind ca. 2,5 Millionen Erwachsene (das entspricht rund 2,8 % der deutschen Bevölkerung) sind in Deutschland von der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung - kurz AD(H)S - betroffen (S.19). Welche Symptome treten bei AD(H)S bei Erwachsenen auf? Und warum wissen wir so wenig über AD(H)S im Erwachsenenalter?

Genau das möchte die Journalistin, Autorin Angelina Boerger, die selbst erst mit Ende 20 die Diagnose AD(H)S erhielt, ändern und tut dies seit einigen Jahren mit ihrem erfolgreichen Instagramaccount @kirmesimkopf und mit ihrem neu-erschienen Buch: »Kirmes im Kopf - Wie ich als Erwachsene herausfand, dass ich AD(H)S habe«. 🧠🪩

In ihrem Buch erklärt sie in 10 Kapiteln, was AD(H)S ist, gibt u. a. einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung, erklärt, Ursachen, Auswirkungen, Symptome, Medikamentation, und auch, wie schwierig es ist, eine Diagnose im Allgemeinen und für AD(H)S im Speziellen zu erhalten. In allen Kapiteln berichtet sie neben wissenschaftlichen Informationen und dem aktuellen Stand der Forschung aus ihrem eigenen Leben und Erfahrungen. Sie appelliert an uns als Gesellschaft, Neurodiversität 🧠🎉 zu feiern und die Stigmatisierung von AD(H)S zu überwinden:

»Anstatt Unterschiede zu feiern und uns daran zu erfreuen, wie bunt und vielfältig unsere menschlichen Gehirne sind, neigen wir dazu, diese Unterschiede zu pathologisieren und häufig auch heilen zu wollen. […] Wer anders ist, wird abgewertet.« (S.255)

Ich habe in diesem Buch sehr viel über AD(H)S gelernt und viele Aspekte besser verstehen können durch die Beispiele und Annektdoten aus dem Leben der Autorin. Einziger kleiner 🤏🏼 Kritikpunkt: Ich hätte mir Quellenangaben mit Fußnoten gewünscht, aber das Quellverzeichnis am Ende ist sehr stimmig und auch die weiterführenden Empfehlungen für mehr Informationen sind sehr umfangreich. Insgesamt ist das Buch eine sehr gute Mischung zwischen wissenschaftlichen Fakten und Biografie. Ich bin sehr beeindruckt von Angelina Boerger und kann dieses Buch wirklich allen nur sehr empfehlen. Wir brauchen mehr Austausch MITeinander über genau solche Themen und sollten psychische Gesundheit und Erkrankungen endlich enttabuisieren! Und dafür braucht es mehr Informationen und fundierte Grundlage - therefore GO FOR THIS BOOK 🧠🪩💜

Bewertung vom 06.02.2023
Was du nicht siehst
Franziska Elea

Was du nicht siehst


weniger gut

Biografie einer Selfmade-Woman mit Boarderline-Erkrankung - mit viel Verbesserungspotential

In ihrem autobiografischen Buch »Was Du nicht siehst: Diagnose Borderline — zwischen Todesangst und Lebenstraum« schreibt die Influencerin Franziska Elea (gemeinsam mit Saskia Hirschberg) über ihre Borderline Diagnose, ihren Lebensweg und ihre Familie. Es ist eine persönliche Erzählung aus ihrer subjektiven Wahrnehmung.

Das dies kein Sachbuch ist, war mir natürlich klar. Dennoch bin ich überrascht über die Inhalte und die Aufarbeitung ihrer Lebensgeschichte und ihrer psychischen Erkrankung. Ich hätte mir bspw. So etwas wie ‚Infoboxen‘ (o. Ä.) mit sachlichen Informationen gewünscht, damit die Themen besser eingeordnet werden können. Die Triggerwarnungen zu Beginn der Kapitel sind grundsätzlich sinnvoll, zum Teil sind diese aber einfach nicht passend. Darüber hinaus finde ich das Buch sehr oberflächlich für die Thematik ‚Borderline‘ und insgesamt nicht ausgereift. Zudem beschreibt die Autorin sehr häufig als erstes das Äußere einer Person — und dies meist nicht zu deren Vorteil — bevor sie darüber schreibt, worum es eigentlich geht (ihre Kern-Familie ausgenommen). Ich habe dies als vor allem extrem oberflächlich wahrgenommen und zeigt, dass sie sich mit vielen viel relevanteren Dingen nicht auseinander setzt. Abgesehen davon interessiert es mich als Leserin überhaupt nicht, wie eine Therapeut:in aussieht, sondern nur, ob sie ihren Job gut macht bzw. nicht einmal das lässt sich hier sagen, sondern ob und warum bzw. warum nicht, es für die Autorin hilfreich war (und genau das, wird quasi nicht beschrieben). Darüber hinaus thematisiert sie immer wieder Beziehungen zu Menschen, die ihr nicht gut taten /tun, extrem detailliert und mit etlichen Beispielen — von Fehlverhalten etc. — , während Therapie und wirkliche Auseinandersetzung mit Borderline extrem zu kurz kommen. Stellenweise liest es sich für mich, wie eine Abrechnung mit bestimmten Personen aus ihrem Leben und auch, wenn sie an den Anfang des Buches, einen sehr persönlichen Brief an ihre Mutter voranstellt, passt das Gesamtkonzept für mich überhaupt nicht.

Ja, es ist beeindruckend, wie sie eine Selfmade-Woman geworden ist und ihr Leben mit psychischer Erkrankung gestaltet. Wie sie letztlich damit gelernt hat, umzugehen, sich selbst zu regulieren oder andere Dinge, erfährt man als Leser:in nicht. Niemand erwartet, dass so etwas Persönliches geteilt wird, aber dann braucht es auch kein Buch.

Ich persönlich kann dieses Buch nicht empfehlen und hätte mir hier deutlich mehr Sachlichkeit und Wissenschaft gewünscht und vor allem nicht so vielen Diffamierungen anderer Menschen, die definitiv nicht notwendig für die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit und Erkrankung gewesen wären.

Für den Mut, dieses Buch zu schreiben und ihre persönliche Geschichte zu teilen, sowie die Ermutigung über das Thema 'Borderline' zu sprechen, gibt es 2 Sterne von mir.

Bewertung vom 02.02.2023
Wie man einen Traum aufgibt, um ein Leben zu gewinnen
Langmann, Nico

Wie man einen Traum aufgibt, um ein Leben zu gewinnen


ausgezeichnet

Seit er mit 2 Jahren einen schweren Autounfall erlebt hat, ist Nico Langmann querschnittsgelähmt. Seine Kindheit wird stark geprägt von dem Wunsch und den daraus ergriffenen Maßnahmen (Besuche diverser Heiler, Rehabilitationsmaßnahmen, etc.) seiner Eltern, endlich wieder laufen zu können:

»Ich bin nicht behindert, sondern sozusagen nur vorübergehend gelähmt. Bis ich wieder gehen kann. Der Nico wird wieder gehen - das ist nicht nur ein Ziel, sondern ein Glaubenssatz, in unserer gesamten Familie.« (S.28)

Abseits von all den Therapie-Versuchen ist Nico ein ganz normaler Junge und macht Sport - am liebsten mit und gegen seinen älteren Bruder, wird Klassensprecher (durch Süßigkeiten-Bestechung :D) und später Schulsprecher. Mit 15 Jahren traut sich Nico seinen Eltern gegenüber auszusprechen, was er schon lange denkt und fühlt: Dass er nicht wieder gehen können wird und, dass er das auch weder anstrebt noch sein Leben weiter danach ausrichten wird (S.88).

In seiner Autobiografie »Wie man einen Traum aufgibt, um ein Leben zu gewinnen« erzählt der Profi-Tennisspieler Nico Langmann seine Lebensgeschichte - von seiner frühen Kindheit bis heute als professioneller Tennisspieler. In diesem Kontext geht er auf die große Bedeutung von Behindertensport und Paralympische Spiele ein, auf Inspiration Porn, wie er seinen Alltag gestaltet (ja, auch wie man S€x haben kann, wenn man querschnittsgelähmt ist), Inklusion (und gibt Beispiel für ein besseres Gelingen) und seine Tenniskarriere. An den richtigen Stellen äußert er Gesellschaftskritik, die uns alle den Anstoß zum Weiterdenken geben sollte:

»Ich glaube, dass es auch ein Recht auf Scheitern gibt, auf das Unperfekte. Unsere Gesellschaft lässt dafür nur leider sehr wenig Platz. Hundert Prozent sind das einzig Akzeptable. Behinderungen sind das genaue Gegenteil, der Gegenpol zum allgemeinen Zwang zur Perfektion. Mein Leben ist auf eine gewisse Art und Weise nicht vollständig, gewisse Dinge kann ich nicht tun. Bin ich damit unzufrieden oder akzeptiere ich das? Findet es die Gesellschaft okay, wenn Menschen mit Behinderung nicht alles erreichen können?« (S.170)

Mit seiner ehrlichen, witzigen, intimen und außergewöhnlichen Autobiografie macht Nico Langmann damit nicht nur Menschen mit Behinderung Mut, ihre Träume zu verfolgen, sondern auch Familien, dass jedes Kind seinen eigenen Weg finden wird. Eine

»Egal, ob mit Rollstuhl oder ohne: Du musst keine Grenzen akzeptieren, die dir jemand anderes auferlegt. Du kannst deinen eigenen Weg finden, über all die Hürden hinweg - oder unter ihnen hindurch oder an ihnen vorbei. Dafür will ich ein Beispiel geben, deswegen lasse ich Menschen an meiner Lebensgeschichte teilhaben.« (S.170)

Große Leseempfehlung von mir für diese inspirierende und Mut-machende Autobiografie!

[4.5/5 ☆]

Bewertung vom 30.01.2023
Macht
Furre, Heidi

Macht


ausgezeichnet

»MACHT« von Heidi Furre, 🇳🇴 übersetzt von Karoline Hippe
[TW: Vergewaltigung; Depression; Medikamtensucht]

»Früher hielt ich mich für einen guten Menschen. Jetzt glaube ich, ich bin nicht besser, als ich sein muss. Dass ich, wenn es um Leben oder Tod ginge, entweder wie angewurzelt dastehen oder kämpfen würde. Bei jeder Bedrohung sinke ich tiefer in meine schlimmsten Abgründe. Deshalb muss ich den Bedrohungen immer einen Schritt voraus sein.« (S.39)

Liv ist die Protagonistin und Ich-Erzählerin des Romans »MACHT« von der norwegischen Fotografin und Autorin Heidi Furre. In ihrem Roman schreibt die Autorin über das Weiterleben nach einer Vergewaltigung, über den Willen und Weg, die Macht über sein Leben, Gedanken und Ängste zurückzugewinnen.

Liv, Anfang 30, lebt mit ihrem Mann Terje und ihren beiden kleinen Kindern Johannes und Rosa in einem Einfamilienhaus in Oslo und arbeitet als Pflegerin. Eine traumatisierende Vergewaltigung vor 15 Jahren prägt ihr scheinbar perfektes Leben: So ist der Gang zur Zahnärztin eine Herausforderung, ein Haus am Wald ist kann kein Zuhause werden, und auch Schlaf und Ruhe findet sie ohne Medikamente nicht mehr. Äußerlich bemüht Liv sich sehr, den Schein zu wahren und eine gute Frau, Pflegerin und Mutter zu sein. Ihrem Mann hat sie nichts von ihrer Vergewaltigung erzählt:

»Es gibt einen Raum, den ich nie geöffnet habe. Nein, es ist kein Raum, es ist ein Wald. Wenn es so große Teile von mir gibt, die Terje noch nie gesehen hat, gibt es dann auch solche Weiten in ihm? Was in den Tiefen des anderen existiert, ist unerreichbar. Der Gedanke ist zunächst erschreckend, aber er verschafft auch Respekt, ein Bewusstsein dafür, den anderen nie vollständig besitzen zu können. Ich gönne ihm das, was auch immer er zu verbergen hat, genauso, wie ich es mir gönne.« (S.60)

Als Leser:in erleben wir Liv’s Gedankenwelt, in der sehr deutlich wird, wie sehr dieses traumatische Erlebnis nicht nur ihre Gedanken selbst bestimmt, sondern ebenso ihre Angewohnheiten und Lebensentscheidungen beeinflusst. Wir erleben aber auch eine starke Frau, die ihr Leben wieder selbstbestimmt führen will. Im Roman entdeckt Liv die französische Künstlerin Niki de Saint Phalle, die ihre Vergewaltigung nicht nur öffentlich thematisiert, sondern auch künstlerisch verarbeitet hat. Dies ist keine fiktive Romanfigur, sondern eine reale Person, von der zwei Fotos (1961) in der inneren Umschlagsgestaltung genutzt worden sind.

Ein wichtiges Buch, das den Fokus auf die Zurückgewinnung der Macht über sich selbst nach einer Vergewaltigung legt und dabei aufzeigt, wie traumatisch dies sein kann.

Die Autorin hat bereits 4 Romane veröffentlicht, die aber bislang nicht ins Deutsche übersetzt worden sind. Die lakonische, präzise und nüchterne Sprache unterstreicht die Thematik des Romans sehr gut und lässt einen das Buch quasi nicht mehr aus den Händen legen.

Große Leseempfehlung [TW*] für diesen mächtigen Roman. 



[*TW: Vergewaltigung; Depression; Medikamtensucht]

Bewertung vom 29.01.2023
'Ich habe Wut und Hass besiegt'
Hanan, Rachel;Komma-Pöllath, Thilo

'Ich habe Wut und Hass besiegt'


ausgezeichnet

Bewegender, sehr gut geschriebener und informativer Zeitzeuginnen-Bericht & Autobiografie
Warst Du bei der Befreiung glücklich? — »Ich kann verstehen, dass die Menschen das wissen möchten, aber sie müssen dann auch mit der Antwort leben können, die ich ihnen gegeben habe und die, die meisten schockiert hat. Zum Glücklichsein war einfach zu wenig von mir übrig geblieben.« (S.148)

Rachel Hanan ist 1929 in Rumänien geboren und mit ihren Eltern und 8 Geschwistern aufgewachsen. Als sie mit 15 Jahren in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert wird, hat sie keine Gelegenheit mehr, sich von ihren Eltern Ethel und Fivish und ihren beiden jüngsten Brüdern Zvi und Yehuda zu verabschieden. Wie durch ein Wunder überleben sie und ihre drei Schwestern gemeinsam das Konzentrationslager, das Bombardement ihres Gefangenentransports und den Todesmarsch. 1947 emigriert sie ins heutige Israel (damalige Palästina) und baut sich eine neue Existenz auf. Über das Überleben der Shoah sowie ihren Lebensweg berichtet die heute 93-Jährige in ihrer Autobiografie »Ich habe Wut und Hass besiegt — Was mich Auschwitz über den Wert der Liebe gelehrt hat« (2023) mit dem Journalisten Thilo Komma-Pöllath.

In ihrem Buch schreibt sie u.a. über das Refeeding-Syndrom, die Zeit nach der Befreiung, die Auswanderung, ihre familiären Verhältnisse - gerade auch nach dem gemeinsamen Überleben der 4 Schwestern -, ihre Arbeit als Sozialarbeiterin in Haifa und Managerin einer Wohlfahrtsorganisation sowie das Leben in Israel.

Auch dieser Zeitzeuginnenbericht hat mich sehr bewegt und ich kann JEDER PERSON nur sehr empfehlen sich damit auseinander zu setzen und solche wichtige Berichte, Erinnerungen und Biografien zu lesen.

»Der mit Abstand wichtigste Glaube, das habe ich in Auschwitz gelernt, ist der Glaube an sich selbst, komme was mag. Wer diesen Glauben nicht aufbringen kann, der sollte an sich arbeiten, der muss ihn lernen, denn ohne ihn geht es nie. Ohne ihn lassen sich die Hürden des Lebens nun mal nicht nehmen.« (S.241) 🕊️🤍

Bewertung vom 29.01.2023
Ich war das Mädchen aus Auschwitz
Friedman, Tova

Ich war das Mädchen aus Auschwitz


ausgezeichnet

Das Vernichtungslager Auschwitz haben nur knapp 200 Kinder überlebt - eine von ihnen ist Tova Friedman, die 1938 mitten im 2. Weltkrieg in Danzig geboren worden ist. Gemeinsam mit ihren Eltern hat sie das Ghetto und Auschwitz überlebt und ist in die USA emigriert. Dass sie überlebt hat, verdankt sie zu einem großen Teil ihrer Mutter, die alles daran setzte, ihr Kind in diesen schrecklichen Zeiten zu schützen. Mit 4 ist Tova nach Auschwitz gekommen und mit 6,5 Jahren befreit worden. In ihrem Lebensbericht berichtet die heute 84-jährige in New Jersey lebende Psychotherapeutin über ihr Leben seit ihrer Kindheit und bis heute.

»Ich war das Mädchen aus Auschwitz — Eine der letzten Überlebenden des Holocaust erzählt ihre Geschichte« (»The Daughter of Auschwitz« (🇬🇧 2022); übersetzt von Ulrike Strerath-Bolz) ist ein Zeitzeuginnenbericht der Holocaust-Überlebenden Tova Friedman (*1938) mit dem britischen Journalisten Malcom Brabant, der die historischen Zusammenhänge zu den Erinnerungen recherchiert und die Erinnerungen von Tova in den historischen Kontext sortiert und in einen logischen erzählerischen Zusammenhang geordnet hat. Unter anderem greift die Autorin für ihren Bericht auf bedeutende Texte ihres Vaters aus dem Yizkor-Buchs ihrer Heimatstadt Tomaszow Mazowiecki zurück (S.65).

Wie bei vielen Holocaust-Überlebenden hat sich der Bezug zu Essen und zum Glauben für Tova Friedman nach der Shoah verändert:

»Wenn man lange Zeit unter Nahrungsmange leiden muss, bekommt Essen eine fast spirituelle Bedeutung. Bis heute habe ich eine besondere Beziehung zum Essen. Es ist mir heilig, ich halte es nie für selbstverständlich. Eier sind immer noch mein liebstes Trostessen. Wenn ich unglücklich bin, verwöhne ich mich mit einem Spiegelei, sunny side up.« 🍳
(S.116)

Auch andere Dinge, wie der Bezug zum Viktor E. Frankl und das oben angesprochene Thema zum Glauben, sind Themen, die sich immer wieder in Berichten von Zeitzeug:innen finden lassen und sehr bewegen.

Auf die Frage, ob sie noch an Gott glaube, antwortet Tova mit einem ‚Ja‘ , fügt aber hinzu:
»Vertrauen ist lebenswichtig, und ich habe nie meinen Glauben an die Menschheit verloren, all meinen Erfahrungen zum Trotz. Und was das Vergeben angeht - im Judentum wird gelehrt, dass nur die Lebenden vergeben können. Ich habe nicht das Recht, stellvertretend für diejenigen zu vergeben, die dahingemetzelt worden sind.«
(S.334)

By the way: Gemeinsam mit ihrem Enkel klärt sie auf TikTok Millionen Follower:innen über den Holocaust auf und beantwortet Fragen gegen das Vergessen. Eine wahnsinnig beeindruckende und starke Frau und ein unfassbar wichtiges Buch gegen das Vergessen 🕊️🤍

Bewertung vom 20.01.2023
Verräterkind
Chalandon, Sorj

Verräterkind


sehr gut

»»Was denn, mein Gott, er ist doch noch ein Kind!« [Tante]
- »Genau! Ein Verräterkind, das sollte er wissen.« [Großvater]

1962 war das, da war ich zehn.«
(S.29)

Der französische Schriftsteller und Journalist Sorj Chalandon (*1952) hat für sein Schaffen zahlreichen Preisen erhalten und u. a. für seine Reportagen über den Prozess gegen den Klaus Barbie mit dem Albert-Londres-Preis (dem renommierteste Journalistenpreis Frankreichs) ausgezeichnet.

In seinem autobiografischen Buch »Verräterkind« (»Enfant de salaud«, aus dem Französischen von Brigitte Große) schreibt der Autor in zwei Handlungssträngen über seine Erlebnisse als Journalist bei genau diesem Prozess gegen K. Barbie, und parallel über die Anwesenheit seines Vaters bei dem Prozess in Lyon, über toxische Familienverhältnisse und die Lügen und Wahrheiten seines Vaters, der im 2. Weltkrieg mehr als einmal desertiert ist. …

Es ist viel Zeit vergangen seit er als kleiner Junge von seinem Großvater als »Verräterkind« bezeichnet und von seinem Vater manipuliert worden ist. 1987 während des Prozess gegen den Nazi-Verbrecher K.Barbie erhält Sorj Chalandon die Akten über seinen Vater und sucht in diesen Protokollen, Dokumenten und Beweisen nach der Wahrheit über diesen ihm so nahen und doch so fremden Vater.

Warum sucht der Autor so vergeblich nach der Wahrheit seines Vaters?

»Du warst im Knast, du Idiot! […] Das hättest du mir erzählen sollen. Ich muss wissen, wer du bist, um zu verstehen, woher ich komme. Ich will, dass du mit mir redest, dass du mir zuhörst, verstehst du, das verlange ich von dir! Ich bin nicht mehr in dem Alter, in dem man alles glaubt, sondern in dem, wo man versteht und akzeptiert. Diese Wahrheit bist du mir schuldig.« (S.63)

Es ist ein aufwühlendes, emotionales Buch bei dem ich mehr als einmal schwer aufgeatmet habe. Der Prozess gegen einen Nazi-Verbrecher und die erschütternden Zeugenaussagen werden sehr gut in die autobiografische Erzählung gebettet. Ich habe sehr mit dem Autor mitgefühlt, der sich mit dem Lügenkonstrukt seines Vaters fast (?) schmerzhaft auseinandersetzt. Eine beeindruckende schriftstellerische Leistung, mit großartigen Formulierungen dank der großen Übersetzungsleistung!

» »Warum haben Sie gelogen?«, fragt er.
»Weil ich dachte, dass ich mir so besser Geltung verschaffen kann.«

»Geltung verschaffen« habe ich mit einem fetten Rotstift un-terstrichen. Als du diese Worte zum ersten Mal in den Mund nahmst, warst du zweiundzwanzig, und heute, dreiundvierzig Jahre später, ist dieser Wunsch noch immer dein Elend und unser Schrecken.«
(S. 126)

Kein einfaches Buch, aber ein sehr wichtiges, das viele verschiedene Themen beleuchtet und vor allem eines zeigt: Das Wahrheit schwer greifbar ist.

Bewertung vom 11.01.2023
Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?
Weber, Sara

Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?


ausgezeichnet

»I don’t want to be a girl boss. I don’t want to hustle.I simply want to live my life slowly and lay down in bed of moss with my lover and enjoy the rest of my existence reading books, creating art, and loving myself and the people in my life.« (S.32) zitiert Sara Weber @miainmoments .

… & wer kann da bitte nicht zustimmen? 🤝🏼

Wir sollten uns also dringend mit Arbeit mehr, konstruktiver und intensiver auseinander setzen und neue Lösungen gemeinsam denken, entwickeln und umsetzen 💭

Warum?

»Wie wir heute abreiten, macht uns krank. […] Ich habe auch keine Lust mehr darauf: Weil ich glaube, dass unsere Art zu arbeiten weder besonders menschlich noch besonders nachhaltig ist. Nicht für uns, nicht für das Klima, für niemanden.« (S.17) 💥

In ihrem Sachbuch »Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten« (ET: 12.01.2023) setzt sich die Journalistin und Autorin Sara Weber in zwei Teilen intensiv damit auseinander, wie die Arbeitswelt für alle besser gestaltet werden kann. In Teil 1 wird die aktuelle Situation analysiert, kritisiert und bewertet, während in Teil 2 des Buches Visionen, Lösungen und neue Denkansätze diskutiert werden und konkrete Beispiele - sowohl negativ (z. B. Behindertenwerkstätten) als auch positiv - vorgestellt werden. Fachbegriffe wie Losy, Lovely and Bullshit Jobs oder auch mobiles Arbeiten werden erläutert und differenziert. Insgesamt wird viel Wissen vermittelt, mit Quellen und Studien belegt und sehr gut argumentiert. Eine fundierte Basis für uns alle, um die Diskussion rund um Arbeiten auf ein neues Level zu heben 🫴🏼

Eine große Leseempfehlung von mir für dieses sachliche, wissenschaftliche, informative und gut geschriebenes Sachbuch 🚀 Fans von ‚ALLE_ZEIT‘ von Teresa Bücker und allgemein von guten Sachbüchern wird dieses Buch ebenfalls sehr gefallen. 💁🏼‍♀️

[4.5/5 ☆]