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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Luisabella
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 191 Bewertungen
Bewertung vom 03.04.2023
Samuels Buch
Finzi, Samuel

Samuels Buch


sehr gut

Spannend schreibt Samuel Finzi über sein Aufwachsen im bulgarischen Künstlermilieu
»Samuels Buch. Ein autobiografischer Roman« ist das Debüt des Schauspielers Samuel Finzi, der sehr bekannt und gefragt im europäischen Raum ist. Er schreibt in diesem Roman über seine Kindheit, Aufwachsen und Jugend in Bulgarien, wo er 1966 in Plovdiv geboren worden ist. Als Kind von zwei Künstler:innen — seine Mutter ist erfolgreiche Pianistin während sein Vater Film- und Theaterschauspieler ist — wächst er im Künstlermileu auf und wird stark durch dies geprägt. Früh hat er viele Theateraufführungen, Konzerte und Kinofilme regelmäßig erleben können und so viel Bildung erhalten. Das Buch endet mit seinen Erzählungen im Dezember 1989 mit dem 23-jährigen Samuel I. Finzi, der sein Studium ab- bzw. unterbricht, um in Berlin ein Angebot anzunehmen.

Bereits sehr früh stand für Samuel Finzi fest, dass er die starren Regeln des kommunistischen Bulgariens verlassen wird: »Als ich sieben oder acht Jahre war, antwortete ich auf die Frage, was ich einmal werden möchte: Dirigent. Oder Diplomat. Und warum? Weil Dirigenten und Diplomaten sich auf der ganzen Welt frei bewegen dürfen.« (S.165f)

Politische Themen wie bspw. die Perestroika oder auch die eingeschränkten Freiheiten der Einwohner:innen des sozialistischen Bulgariens werden immer wieder deutlich und schimmern durch die Erzählung von Samuel Finzis Leben durch, bspw. wenn er von den Herausforderungen als Familie Verwandte in Italien und Frankreich zu besuchen, berichtet oder auch von der Familienfehde zwischen den Finzis und den Fintzis schreibt. Kritik am System wird hier aber vor allem dadurch deutlich, dass der Autor und Protagonist schon seit ihrer Kindheit den Grenzen des Regimes entkommen wollte und nicht durch direkte Kritik am System, was ich bei einem autobiografischen Roman eines Schauspielers aber auch nicht als Kritikpunkt sehen würde. Einziger Kritikpunkt ist, dass die Wechsel der Erzählausschnitte aus Samuel Finzis Leben für mich nicht immer logisch waren (warum wird dies erzählt und nicht andere Aspekte und was passierte dazwischen, etc.).

Ein sehr interessanter autobiografischer Roman, dessen Ende Lesende hoffen lässt, dass eine Fortsetzung folgt!

Große Leseempfehlung für alle Fans von (Auto-) Biografien, Samuel Finzi und spannenden Lebenswegen.

Bewertung vom 29.03.2023
Muss ich das gelesen haben?
Reichl, Teresa

Muss ich das gelesen haben?


ausgezeichnet

Um es direkt vorab zu beantworten: JA! DIESES (erzählende Sach-)Buch muss mensch gelesen haben ❤️‍🔥 und PLEASE können wir uns darauf einigen, dass wir das jetzt alle fleißig lesen und darüber sprechen werden? 🤝🏼

Ihr wollt Gründe? Kein Problem, hier kommen meine Gründe, warum 🤝🏼JEDE:R 🤝🏼 »Muss ich das gelesen haben? Was in unseren Bücherregalen und auf Literaturlisten steht - und wie wir das jetzt ändern« von Teresa Reichl lesen sollte🔥:

• Literatur sollte allen zugänglich sein, daher schreibt Teresa umgangssprachlich, verständlich, mit Humor und im zeitgemäßen Deutsch über Literatur, den Literaturkanon, Lesen und was wir alles lesen könnten 📖

• Abgesehen davon, ist das Buch extrem funny — lest nur mal die Fußnoten 🤌🏼

• Dieses Buch ist eine ❤️‍🔥Liebeserklärung ❤️‍🔥 an Literatur und das Lesen (und erklärt dies und auch warum Lesen gut für uns alle ist und noch viel mehr #basiscamp) 

• Teresa erklärt ausführlich, warum Goethe und Schiller BFFs waren, was das mit Klassikern zu tun hat und wieso so viele weiße, christliche cis-Männer die Klassikerliteratur prägen (und nebenbei, warum ‚cis‘ keine Beleidigung ist, wie von einigen weißen cis-Männern falsch verstanden…) 💥

• Fundierte Kritik am Literaturkanon inkl. Erläuterungen der strukturellen Diskrimminierung, die damit einhergeht, sowie der Auswirkungen

• Vorstellung von Alternativen für einen diversen Kanon werden jeweils in einzelnen Kapitel vorgestellt und fundierten Buchtipps (inkl. Übersicht am Ende und Möglichkeit Eure Ergänzungen zuzusenden) — I am pretty sure jede*r Booklover findet hier mind. einen neuen Tipp 😌

• Sensibilty-Check des gesamten Buches nach Lektorat 🫰🏼

Und wen das noch nicht überzeugt hat:
• Lest es, weil Teresa einfach mega cool, smart, witzig und authentisch ist! Ihre YouTube Videos über Klassiker sind ebenfalls großartig und vermitteln smart das notwendige Wissen darüber.

❤️‍🔥 RIESEN LESEEMPFEHLUNG FÜR JEDE*N ❤️‍🔥

Bewertung vom 27.03.2023
Nie mehr leise
Berhe, Betiel

Nie mehr leise


sehr gut

»Nie mehr leise. Die neue migrantische Mittelschicht« von Betiel Berhe thematisiert Rassismus und Klassismus und deren Verbindung in Deutschland — beides zwei Themen von denen eine großer Anteil der deutschen Bevölkerung nicht will, dass sie existieren. Sie tun es aber (ja, die klassenlose Gesellschaft gibt es nicht!), und umso wichtiger ist es, sich damit kritisch auseinanderzusetzen. Und genau das macht Betiel Berhe in ihrem Buch. Darin erläutert sie beispielsweise, wie Bildungsklassismus greift; warum unser Schulsystem dringend geupdated werden sollte; wie die Mechanismen von Rassismus und Klassismus (Intersektionalität!) unser Zusammenleben prägen; wie das dreigliedrige Klassenmodell von der Arbeiter*innenklasse profitiert; sie kritisiert Statussymbole und hält uns als Gesellschaft den Spiegel gekonnt vor. Dies macht sie sehr gekonnt anhand von wissenschaftlicher Argumentation und Thesen kombiniert mit Beispielen aus ihrer eigenen Biografie vom migrantischen Arbeiter:innenkind zur erfolgreichen Akademikerin sowie weiterer Lebensgeschichten anderer Migrant*innen.

Sie fordert in ihrem erzählendem Sachbuch u.a. ein »größeres Wir« (S.20f), Solidarität, und die Vision einer anderen, pluralen Gesellschaft, um Mensch und Natur wieder in Einklang zu bringen und Ausbeutung sowie Unterdrückung nachhaltig zu beenden (vgl. 187f).

»Um die nötigen gesellschaftlichen Prozesse anzustoßen, müssen wir Räume schaffen, in denen nicht nur radikal neu gedacht wird, sondern auch radikal neu zugehört wird. Wir müssen uns in all unserer Unterschiedlichkeiten begegnen, schätzen und zuhören lernen.« (S.185)

Betiel Berhe ist Ökonomin, Aktivistin, Mitbegründerinnen Social Justice Institut (München), Anti-Rassismus- und -Klassismus-Trainerin und Autorin.

Ein sehr wichtiges Buch, bei dem ich viele neue Aspekte zum Klassensystem in Deutschland gelernt habe und zeigt, dass wir auf diese strukturellen Probleme sehr dringend strukturell als Gesellschaft und Nation reagieren müssen.

Bewertung vom 27.03.2023
Melody
Suter, Martin

Melody


gut

»»Man muss sich entscheiden im Leben. Das ist das Wichtigste. Auch in der Liebe. - Nein, vor allem in der Liebe.«[Dr. Peter Stotz]« (S.210)

Tom Elmer ist Jurist mit Doppelmaster-Abschluss und bewirbt sich als ehemaliger Langzeitstudent auf seinen ersten Erwerbsjob mit Mitte 30. Er nimmt den Job als Nachlassverwalter von P.S. an und wird fortan auf dessen Anwesen in der Villa Aurora mit dem Management der Unterlagen aus dessen Leben beauftragt.

»»Ich habe mein ganzes Leben immer gelesen. Fachliteratur ungern, aber Romane habe ich verschlungen. Das bitte ich Sie jedoch der Nachwelt umgekehrt zu überliefern. Ich liebe die Fiktion entschieden mehr als die Realität. Und Sie? Lieben Sie Geschichten?«
Tom musste kurz überlegen. Dr. Stotz ließ ihm keine Zeit zu antworten. •»Ein guter Anwalt sollte der Dichtung mehr verpflichtet sein als der Wahrheit.«« (S.30)

Dr. Peter Stotz ist erfolgreicher Unternehmer, Offizier, Kulturfreund & Kunstmäzen, Multi-Millionär und graue Eminenz der Schweiz. Mitte 40 hat er seine große Liebe Melody getroffen, sich verliebt, sich verlobt und Melody plötzlich verloren. Seitdem ist sein Herz gebrochen und seine Villa ist von Andenken aus der glücklichen Zeit seiner Liebe gekennzeichnet. Er erzählt Tom seine Geschichte über die Liebe zu Melody - und Wahrheit und Fiktion scheinen zu verschwimmen. Tom versucht das Leben seines Chefs zu durchdringen, was sich als keine einfache Aufgabe herausstellt und im Roman erzählt wird.

Es ist mein drittes Buch und erster Roman des erfolgreichen Schweizer Autor Martin Suter. Der Roman »Melody« besticht aus meiner Sicht nicht durch die beste, jemals geschriebene Story, sondern vielmehr durch den Erzählstil von Suter; den Humor, der sich häufig in den Konversationen der Charaktere zeigt; die Pointierung der Worte sowie den Erzählsog, in den Lesende unvermeidlich gezogen werden. Es ist ein sehr unterhaltsamer Roman, der die Schweizer Oberschicht doch an der ein oder anderen Stelle aufs Korn nimmt und eine spannende Wendung (, die doch etwas vorhersehbar war) nimmt.

Ein kurzweiliges und sehr unterhaltsames Lesevergnügen!

Bewertung vom 24.03.2023
Girlcrush
Given, Florence

Girlcrush


weniger gut

Tolle Roman-Idee, aber die Umsetzung begeistert nicht

Nach ihrem Sachbuch-Erfolg »Women don’t owe you pretty« (Dt. »Frauen schulden dir gar nichts«) hat die Autorin Florence Given feministische Inhalte, wie sie Lesenden aus genanntem Sachbuch bekannt sind, in ihrem neuen Roman umgesetzt. Der Roman »GIRLCRUSH« erzählt die Geschichte der jungen Eartha, die sich von ihrem Ex-Freund aus deren toxischer Beziehung trennt und dann ihre Bisexualität auslebt. Über Nacht wird sie dank der Hilfe ihrer queeren, non-binären Freund*in Rose [them/they] zum Social Media Star, als sie Ihr Coming Out auf dem sozialen Netzwerk ‚Wunderland‘. Dieses nimmt eine wichtige Rolle in Earthas Leben und damit im Buch ein und mit jedem Kapitel werden Lesende über die Follower:innen-Zahlen informiert. Das Buch verarbeitet Themen wie bspw. Feminismus, Selflove, Gender, Queerness und Social Media Konsum, uvm.

Mich persönlich konnte die Geschichte um Eartha leider gar nicht begeistern. Ich fand die Behandlung der oben genannten Themen sehr oberflächlich; die Hauptfigur extrem sprunghaft und opportunistisch im Hinblick darauf, ihre Meinung anzupassen, mit Menschen zu interagieren und auszunutzen; und die Story insgesamt sehr wenig tiefgründig und ausgearbeitet. Die Dialoge sind teilweise sehr klischeehaft und ich finde diese leider auch zu oft, alles andere als empowernd, zum Teil sogar eher sehr abwertend. Obwohl die Idee des Romans toll war, hat die Umsetzung mir nicht zugesagt.

Bewertung vom 20.03.2023
Prägung
Dittloff, Christian

Prägung


weniger gut

Brauchen wir wirklich noch mehr Bücher von männlichen weißen cis-Autoren über Männlichkeit und Feminismus?

In seinem auto-fiktionalen Roman »Prägung. Nachdenken über Männlichkeit« schreibt der Autor Christian Dittloff aus seiner männlichen, weißen und cis-Personensicht zum zeitgenössischen Diskurs über (toxische) Männlichkeit und Feminismus. In diesem Kontext analysiert er seine Kindheit, Jugend, Familie und Prägung und nimmt Lesende somit auf seine literarische Selbsterkundung mit.

»All dies muss als etwas betrachtet werden, was von einer ROMAN Figur gesagt wird.« (S.5) Dies wurde um den Buchhinweis »ROMAN« ergänzt und impliziert, dass der Inhalt des Buches nicht ausschließlich auto-biografisch ist und stellt sicherlich auch einen gewissen Schutz für alle Personen dar. Bei einigen Stellen (z. B. beim Quälen von Tieren oder anderen Menschen) hoffe ich sehr, dass dies zur Reflexion über toxische Männlichkeit fiktionalisiert und überzogen worden ist. Nichtsdestotrotz ist es ein sehr persönliches, mutiges und intimes Buch, das Christian Dittloff hier geschrieben hat und dessen lyrisches ICH sehr stark mit dem Autor übereinstimmt (bspw. anhand von recherchierbaren und im Roman genannten Fakten). Die einzelnen Kapitel beginnen mit Buchstaben-Spielen des Wortes ‚STEINBRUCH’s, da der Autor wie im Steinbruch seine patricharle Prägung aufspalten will (vgl. bspw. S.204).

Ausgiebig analysiert und reflektiert er literarisch sein Aufwachsen und Erwachsen werden, mit dem Ziel Männlichkeit im zeitgenössischen Kontext zu hinterfragen und die Prägungen aufzuzeigen. Er reflektiert den erlebten und gelebten Sexismus der 90er und 2000er Jahre und für mich liest es sich oftmals wie eben auch eine Rechtfertigung. Es werden Zitate aus anderen Büchern eingebettet und deren Einflüsse beschrieben, hier hätte ich mir zum einen direkte Fußnoten zu den Zitaten gewünscht (und zudem ein sinnvoll strukturiertes Quellverzeichnis! #ehrewemehregebührt und bin überzeugt, dass die Roman-Form mensch nicht von Zitierrichtlinien befreit …) und zum anderen mehr Reflexion und Zusammenführung der Rückblicke mit diesen Literaturquellen in einem Kontext mit einer zeitgenössischen Erweiterung der Gedanken. Die literarischen Einschübe von bspw. bell hooks oder Nicole Seifert finde ich sehr wichtig und relevant, aber die Einbettung finde ich absolut nicht gelungen. Die Kritik von Seifert zum Literaturkanon wird zwar aufgezeigt, aber danach direkt gerechtfertigt, warum die ‚klassischen‘ AutorEN wie Frisch, Hesse, Mann, etc. ihre Berechtigung haben. Für mich scheitert spätestens damit das Kritische in diesem Buch.

Der Autor schreibt zudem über Feedback, dass er im Rahmen seines Schreibprozesses erhalten hat, aber dieses wird nicht genutzt mit der Rechtfertigung, dass er eben nur seine Sicht auf die Dinge habe. So viel also als Ergänzung zur Einordnung als ‚Roman‘ und zur kritischen Auseinandersetzung mit Männlichkeit, wie das nachfolgende Beispiel veranschaulicht:
»Ich gebe diesen Text zwei befreundeten feministischen Aktivist:innen zu lesen. Sie weisen mich darauf hin, dass an dieser Stelle die weibliche Perspektive fehlt. Wie hat sich die von dieser Form der Gewalt getroffene Person gefühlt, fragen sie mich, was sagt sie heute zu diesem Erlebnis? Ich erkläre die ausgesparte Perspektive mit der Begrenztheit der erzähltechnischen Mittel, die mit meiner Entscheidung zusammenhängt, aus der Ich-Perspektive zu schreiben.« (S.72)

Ich persönlich hatte große Erwartungen an dieses Buch. Der Diskurs, der es hätte sein können, ist für mich nicht gegeben. Ja, Christian Dittloff denkt über SEINE Männlichkeit nach, die extrem stark auf einer (aus meiner Sicht längst überholten,) binären Einteilung von Geschlechtern basiert. Von mir gibt es keine Leseempfehlung, auch wenn ich es grundsätzlich sehr begrüße, wenn sich cis-Männer mit Männlichkeit und Feminismus auseinandersetzen.

Bewertung vom 19.03.2023
Keine gute Geschichte
Roy, Lisa

Keine gute Geschichte


ausgezeichnet

»Ich wünschte, es wäre deeper, Mama, aber die Wahrheit ist: Ich wollte Geld haben, weil sich das richtig gut anfühlt.« (S.68)

Arielle Freytag ist jung, schön und broke. Sie ist Anfang 30, erfolgreiche Senior Social-Media-Managerin bei einer Agentur in Düsseldorf und hat ihr altes Leben nicht nur hinter sich gelassen, sondern hat es ausgelöscht. Sie wollte keinen Kontakt mehr zu ihrer Großmutter Varuna, ihrem alten Zuhause aka Hexenhaus, zu ihren Freund:innen aus dem Essener Ghetto, in dem sie aufgewachsen ist, und nicht zu den schmerzhaften Erinnerungen ihrer Kindheit und Jugend. Jetzt kehrt sie mit einer Depression nach einem Klinikaufenthalt zurück - zurück zu den Schauplätzen ihrer Jugend, zu den Verletzungen von damals und den schönen Erinnerungen. Als Ari in Essen-Katernberg ankommt, sind zwei Mädchen spurlos verschwunden und die Erinnerungen an ihre mit 24-Jahren verschwundene Mutter holen Ari ein: Was ist damals wirklich passiert als ihre Mutter verschwunden ist?

»Ich habe dich so geliebt, Mama, das reicht für eine ganze Familie. Auch wenn Varuna als Mutter ein Totalausfall gewesen sein muss, du wurdest geliebt, ja? Umgekehrt gilt das auch. Du hast mich so sehr geliebt, das reicht für mein ganzes Leben.« (S.77)

Lisa Roy beschreibt in ihrem Debüt-Knaller »Keine gute Geschichte« schonungslos, mit viel derben Worten, Zynismus und Schmerz ihre Protagonistin Arielle. Sie schreibt sich und uns alle BAAAM mitten hinein in das Essener Ghetto: In die Suche nach zwei entführten Mädchen, in die Suche nach sich selbst und der Wahrheit.

Lisa Roy beschreibt einen tiefsitzenden Schmerz: Den Verlust der eigenen Mutter und eine harte Kindheit im Ghetto, in der die sorgenberechtigte Person zwar die da ist, aber keine Liebe übrig hat. Sie schreibt über eine starke Protagonistin, die sich hochgearbeitet hat (und trotzdem vom Imposter-Syndrom verfolgt wird), ihren Weg selbstbestimmt geht und jetzt mit ihrer Depression kämpft.

Lisa Roy verhandelt in ihrer Geschichte ganz nebenbei Geschlechterrollen, Klischees und das Patrichariat:
»Ein paarmal, bei dritten oder vierten Dates, hatten Männer wissen wollen, ob ich Kinder will. […] «Nein», war meine Pauschalantwort, aber die Wahrheit ist komplizierter. Ich bin nicht bereit, Mutter zu werden, werde es nie sein und will es nicht versuchen. Vater werden ist eine ganz andere Nummer. Gäbe es diese Option für mich, wäre ich bereit, jetzt und auch schon vor Jahren. Als Vater ist man bei einigermaßen solidem Einsatz ein Held und bei einem Mindestmaß an Kümmern ein Heiliger, niemand würde mir vorwerfen, Vollzeit zu arbeiten, allein zu verreisen oder mich einmal im Monat komplett volllaufen zu lassen, das würde ich hinkriegen.« (S.86)

Sie schreibt über Vergewaltigung, Vernachlässigung von Kindern, Depression, die Suche nach Zugehörigkeit, über Verrat, Schmerz und Liebe und über Sex und Freundschaft. Vielleicht ganz schön viel für einen Roman, aber bei Lisa Roy wirkt es nicht zu viel, sondern gerade genau richtig.

Ein großartiges Debüt, das ich nicht mehr aus der Hand legen konnte. GANZ GROSSE LESEEMPFEHLUNG!

Bewertung vom 16.03.2023
Besser allein als in schlechter Gesellschaft
Altaras, Adriana

Besser allein als in schlechter Gesellschaft


sehr gut

»Es ist schön, wenn man Gesellschaft hat, aber es geht auch wunderbar ohne. Besser allein als in schlechter Gesellschaft. Das ist mein Credo. Ich würde sagen, die letzten fünfundzwanzig Jahre waren die schönsten meines Lebens.« so sinniert Adriana’s Tete Jele über ihr Leben ab 75 und als Witwe. (S. 114)

In ihrem neuen Buch »Besser allein als in schlechter Gesellschaft. Meine eigensinnige Tante« schreibt die Autorin, Regisseurin und Schauspielerin Adriana Altaras abwechselnd Kapitel aus ihrer Sicht und der ihrer geliebten Tante. Ihre Tante hat nicht nur die spanische Grippe, das KZ und den Holocaust überlebt, sondern jetzt auch Corona. In den Kapitel aus Sicht der Tante blickt diese selbstreflektiert und mit Humor auf ihr langes und bewegtes Leben zurück. Dabei gibt die Tante auch die ein oder andere Lebensweisheiten preis (Pasta 🍝 mache das Leben besser 🤝🏼), wobei es der Autorin mit einer vermeintlichen Leichtigkeit gelingt, die tragischen Momente ihrer beider Leben mit einer Lockerheit, Humor und Ironie zu beschreiben, dass es die Schwere nimmt. ❤️‍🩹

»Ich habe schon neunundneunzigmal Geburtstag gefeiert. Und heute zum hundertsten Mal. Vielleicht habe ich das Leben nicht gemeistert. Aber gelebt habe ich es.« (S.222)

Adriana Altaras schreibt die Kapitel jeweils aus der Ich-Perpsektive von ihrer Tante und sich selbst und erzählt so ein humorvolles, tiefgründiges und vor allem durch tiefe Liebe gekennzeichnetes Memoir über ihre Tante. Sie erzählt von einer Frau, die viel Klasse hatte, ihr Leben gelebt hat und dabei ihren eigenen Weg gegangen ist. Ich persönlich finde, dass dieses Memoir zusätzlich eindrückllich zeigt, wie sehr der Holocaust, die Lebenswege der Überlebenden gekennzeichnet hat. Unabhängig davon ist es ein sehr persönliches und liebevolles Buch, das die bekannte Autorin veröffentlicht hat und sicherlich zeigt, wie sehr wir starke Frauen in unserem Leben brauchen.

»Eine Frau braucht einen Wagen, Schmuck, erlesene Kleidung und einen Hund. Ein Mann kam in ihrer Aufzählung nicht vor.« (S.32)

Bewertung vom 16.03.2023
Wasserzeiten
Bilkau, Kristine

Wasserzeiten


gut

»Schwimmen, das ist die Einheit von Ort und Zeit, Körper und Gedanken.« Kristine Bilkau in ihrem neusten Buch »Wasserzeiten. Über das Schwimmen.«

Kristine Bilkau schreibt in ihrem neuen, schmalen, sehr persönlichem Buch »Wasserzeiten« darüber, was ihr das Schwimmen bedeutet, warum dies einen so wichtigen Stellenwert in ihrem Leben hat und sie immer mit einem Badeanzug im Gepäck verreist. Sie teilt bspw. einen Auszug aus ihrer Wunschliste von Orten, an denen sie gerne schwimmen würde und ihre Gedanken und Erlebnisse beim Schwimmen an verschiedenen Orten, wie dem lokalen Freibad oder das Schwimmen in der dänischen Ostsee.

In ihrem Buch nimmt sie darüberhinaus einige Bezüge auf andere Bücher und Filme, in denen es um das Schwimmen geht bzw. schöne Schwimm-Szenen geschildert werden und sinniert weiter über das Schwimmen. U. a. greift sie ebenfalls auf, warum Schwimmen und vor allem das Schwimmen können ein Privileg ist.

Fürs Schwimmen benötigt mensch das Element Wasser, chemisch betrachtet: H2O - zwei Teile Wasserstoff, ein Teil Sauerstoff. Also was fasziniert so sehr Schwimmen? Was macht dieser Kontakt mit dem Wasser mit uns?

»Doch vielleicht gibt es etwas, das alle diese Erlebnisse, Eindrücke und Momente miteinander verbindet, das die Faszination und das Glück des Schwimmens grundsätzlich ausmacht. Vielleicht besteht dieses Glück darin, dass für einen Moment alles im Einklang ist, der Ort, die Zeit und man selbst. Dieser äußerst seltene Zustand.« (S. 119)

Ein feines poetisches und sinnliches Buch über Schwimmen und das Eins-Sein mit dem Element Wasser:

»Schwimmen, so viel weiß ich inzwischen, löst keine Probleme, aber es kann für Klarheit und Mut sorgen, um sich ihnen zu stellen.« (S. 18)

Leseempfehlung nicht nur für alle Schwimmer*innen 🌊💙

[3.5|5 ☆ ]

Bewertung vom 14.03.2023
Die unfassbare Vielfalt des Seins
Bridle, James

Die unfassbare Vielfalt des Seins


sehr gut

»Die unfassbare Vielfalt des Seins - Jenseits menschlicher Intelligenz« des Autors und Künstlers James Bridle beschäftigt sich intensiv mit Intelligenz - menschlicher, tierischer und künstlicher Intelligenz🧠🤖 und fordert ein Umdenken der engen Begriffsdefinition von ‚Intelligenz‘. Er unterscheidet in verschiedene Arten der Intelligenz und stellt diese intensiv und anhand von Beispielen dar. Darüber hinaus plädiert er für ein Umdenken der Menschen basierend auf der Begrenztheit des Anthopozän, der mehr-als-menschliche Welt und -Intelligenz sowie der Natur. Ein sehr interessantes und wissenschaftliches Buch, das ich allen Interessierten von Intelligenz und KI 🤖 sehr empfehlen kann.