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YukBook
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München

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Insgesamt 273 Bewertungen
Bewertung vom 01.05.2022
Offene Fragen
Gornick, Vivian

Offene Fragen


sehr gut

Im Prolog ihres Buches spricht mir Vivian Gornick aus der Seele. Sie fühlt sich so, als sei sie „lesend auf die Welt gekommen“ und sieht in Büchern unverzichtbare Lebensbegleiter. Die Romane, die sie nachhaltig geprägt haben, decken sich allerdings nicht mit meinen; zugegebenermaßen habe ich viele von den genannten Titeln noch nicht gelesen wie „La Vagabonde“ von Colette oder „In der Hitze des Tages“ von Elizabeth Bowen und werde dies sicher nachholen.

Die feministische Schriftstellerin, die sich durch Essays für Zeitungen wie die New York Times, Village Voice und zahlreiche Sachbücher einen Namen gemacht hat, legt uns vor allem ans Herz, Bücher mehrmals zu lesen und verrät auch warum. So hat sie sich bei der Lektüre von „Söhne und Liebhaber“ von D.H. Lawrence je nach ihrer Lebensphase jedes Mal mit einer anderen Figur identifiziert. Durch ihre Betrachtungen von bestimmten Charakteren und ihrem Verhalten im gesellschaftlichen Kontext bringt sie uns ihre eigenen Gefühle, Selbsterkenntnisse und wie sich diese mit der Zeit gewandelt haben näher.

Manche Charakterstudien waren mir etwas zu detailliert, die Zitate aus Romanen zu zahlreich. Ihre komplexe Sprache brachte auch meinen Lesefluss öfters ins Stocken. Trotzdem war es eine interessante Erfahrung, eine mir noch unbekannte bedeutende Essayistin und den Zeitgeist anhand ihrer literarischen Abenteuer und Vorbilder kennenzulernen.

Bewertung vom 26.04.2022
Die hundert Jahre von Lenni und Margot
Cronin, Marianne

Die hundert Jahre von Lenni und Margot


sehr gut

In manchen Büchern haben schon die ersten Sätze eine Sogwirkung. So ging es mir mit diesem Roman, in dem die 17-jährige Ich-Erzählerin feststellt, dass „terminal“ für sie nichts mehr mit Flughäfen zu tun hat, sondern Endstation bedeutet. Was könnte das Leben der todkranken 17-Jährigen in der verbleibenden Zeit in einem Glasgower Krankenhaus noch bereichern? Es sind Geschichten aus dem Leben der 83-jährigen Margot, die sie in einem Malkurs kennenlernt und mit der sie gemeinsam jedes Lebensjahr in einem Bild festhält.

Marianne Cronin hat zwei unverwechselbare Charaktere geschaffen: auf der einen Seite die tapfere, schlagfertige Lenni, die keinen Hehl aus ihrer Angst vor dem Tod macht und den Krankenhauspastor mit philosophischen Fragen löchert; auf der anderen Seite Margot, die trotz schwerer Verluste auf ein reiches Leben zurückblicken kann. Auch die Nebenfiguren sind gut gezeichnet, so dass der Alltag im Krankenhaus greifbar wird. Während Margots Lebensstationen detailliert beschrieben werden, kam Lennis Vergangenheit für mich etwas zu kurz. Auch die tiefe Freundschaft, die sich zwischen den beiden entwickelt, wurde von den langen Gesprächen zwischen Lenni und dem Pastor ein wenig verdrängt. Obwohl es um ein tragisches und ernstes Thema geht, ließ mich die Geschichte mit vielen heiteren Momenten und klugen Gedanken mit einem lebensbejahenden Gefühl zurück.

Bewertung vom 22.04.2022
Greiner, Margret

"Mutig und stark alles erwarten"


ausgezeichnet

Wäre August Macke womöglich kein berühmter expressionistischer Maler, sondern Bühnendekorateur geworden, wenn ihn Elisabeth Gerhardt nicht davon abgehalten hätte? Welchen bedeutenden Einfluss die Tochter einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie auf ihren künftigen Ehemann hatte, schildert Margret Greiner in dieser Romanbiografie.

Ganz gleich, ob in ihrem leidenschaftlichen Briefwechsel zwischen Bonn und Düsseldorf, ihren gemeinsamen Reisen nach Paris und Murnau oder ihrem Familienleben am Tegernsee und in Bonn, bereichert durch viele Künstlerfreunde und gesellige Treffen – die bilderreiche Sprache der Autorin macht die sprühende Lebensfreude und die Liebe zur Natur, Kunst und Musik des Paares in jeder Zeile spürbar.

Für mich als Fan impressionistischer und expressionistischer Malerei war es ein großer Genuss, Mackes Durchbruch, seine Bemühungen als Kurator und seinen Schaffensrausch nach einer Tunis-Reise aus der Sicht seiner Ehefrau zu verfolgen. Elisabeth schrieb sich nicht nur als Modell und mit ihrem fachmännischen Urteil in Mackes Werke ein, sondern war selbst künstlerisch begabt und kreativ, schrieb, spielte Klavier, stickte und malte, wie man im farbigen Mittelteil des Buches sehen kann. Wie schon in ihren vergangenen Frauenporträts konnte mir Margret Greiner in dieser detailliert recherchierten Biografie eine sehr interessante mutige und starke Persönlichkeit näher bringen.

Bewertung vom 18.04.2022
Der große Fehler
Lee, Jonathan

Der große Fehler


sehr gut

Dass in einer Geschichte Gegenwarts- und Vergangenheitsebene aufeinander zulaufen, ist nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist, wenn die Hauptfigur gleich zu Beginn auf mysteriöse Weise erschossen wird wie in diesem Roman. Dabei handelt es sich um keinen Geringeren als Andrew Haswell Green, einem visionären Stadtplaner, dem so berühmte Bauten wie die Brooklyn Bridge, der Central Park und die New York Public Library zu verdanken sind.

Welche Qualen, Rückschläge und Verluste der Farmerssohn erleiden musste, um seinen amerikanischen Traum zu verwirklichen, erzählt Jonathan Lee in seinem ganz eigenen Stil. Besonders in der Anfangszeit, als sich der junge Andrew unter miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen allein in New York durchschlägt, litt ich mit ihm und bewunderte sein Durchhaltevermögen. Nebenbei erfuhr ich interessante Details wie die Entstehung von „Greater New York“ und was es mit dem Romantitel auf sich hat.

Die Gewichtung verschiedener Erzählstränge war für mich nicht immer nachvollziehbar. So hätte ich statt der Ermittlungen eines unsympathischen und überforderten Inspektors lieber mehr über Andrews Engagement für die Stadtentwicklung und sozialpolitischen Verbesserungen gelesen. Bei meiner nächsten New-York-Reise werde ich mich sicher an seine bemerkenswerte Lebensgeschichte erinnern und die Stadt mit anderen Augen sehen.

Bewertung vom 14.04.2022
Eine perfekte Familie
Moriarty, Liane

Eine perfekte Familie


sehr gut

Dieser Roman trägt die typische Handschrift von Liane Moriarty. Wie schon in „Big Little Lies“ geht es auch hier um Geheimnisse, häusliche Gewalt und eine Ermittlung, die diesmal nicht vier Freundinnen, sondern eine sechsköpfige Familie betrifft.

Den Spannungsbogen bildet das Verschwinden der Mutter Joy Delaney, was die erwachsenen Töchter und Söhne auf den Plan ruft. Diese am Anfang wie Voyeure aus der Sicht eines Uber-Fahrers oder einer Kosmetikerin einzuführen, fand ich originell. Die Handlung springt immer wieder ein halbes Jahr zurück, als eine fremde junge Frau in das Leben von Joy und ihrem Ehemann trat und die Leere in ihrem Rentnerdasein füllte. Hat sie etwas mit Joys Verschwinden zu tun?

Familien bieten bekanntlich guten Stoff für spannende Geschichten, doch wie Liane Moriarty die Delaneys seziert und jedes Detail auslotet, ist kaum zu toppen! Das Verhältnis und die Dynamik zwischen den Geschwistern sowohl untereinander als auch zu den Eltern, die vom Tennis besessen sind, die unerfüllten Erwartungen, Anschuldigungen und gescheiterten Lebensträume werden genauestens unter die Lupe genommen – stellenweise sehr ausschweifend, aber aufschlussreich. Es ist ein packender Pageturner mit feinsinnigem Humor und überraschenden Wendungen, in dem scheinbar nebensächliche Details zum Schluss einen Sinn ergeben.

Bewertung vom 10.04.2022
Das Lied des Himmels und der Meere
Müller, Anne

Das Lied des Himmels und der Meere


gut

Im Jahr 1872 treten wir mit der Hauptfigur Emma eine Schiffsreise von Hamburg nach Kalifornien an. Statt wie vorgesehen den Landrat von Schleswig zu heiraten, hat die Zwanzigjährige beschlossen, ihre Familie hinter sich zu lassen und nach Amerika auszuwandern.

Emmas neues Leben in San Francisco als Gesellschafterin bei einer älteren Dame dreht sich um Mühlespiele, Tanztees und Verabredungen mit dem dänischen Holzhändler Lars, in den sie sich verliebt. Manche Szenen und der Briefwechsel mit ihrer Schwester waren mit etwas zu rührselig, und ich befürchtete, dass das Ganze nur auf eine romantische Liebesgeschichte hinausläuft.

Doch ab der zweiten Hälfte gewann die Geschichte an Spannung und Tiefgang, zumal die Autorin auf das Thema einging, das mich am meisten interessierte: ob und wie es Auswanderern gelingt, in der Fremde Fuß zu fassen und wie sie ihr neues Leben gestalten – zum Beispiel als Holzhändler, Schiffsbauer oder Gesellschafterin. Gewisse Momente, in denen sie plötzlich von Heimwehgefühlen ergriffen werden, beschreibt Anne Müller sehr einfühlsam. Mir gefiel auch die Veränderung, die Emma durchmacht, von einer naiven zu einer reifen Frau, die immer weniger die Benachteiligung der Frauen hinnimmt. Dennoch hätte ich mir noch mehr historische Hintergrundinformationen und eine stärkere Ausarbeitung der Nebenfiguren gewünscht. Der Roman konnte mich nicht so begeistern wie ihr erstes Buch "Sommer in Super 8".

Bewertung vom 04.04.2022
Wie wir die Welt sehen
Wurmb-Seibel, Ronja von

Wie wir die Welt sehen


ausgezeichnet

Die Coronakrise und nun der Ukraine-Krieg haben mich zum Newsticker-Junkie gemacht. Ich fühle einen Zwang, mich auf dem Laufenden zu halten – dabei ziehen mich die negativen Berichte nur runter und lösen Ohnmachtsgefühle aus.

Dass es neben reiner Abstinenz einen anderen Weg des Nachrichtenkonsums gibt, zeigt Ronja von Wurmb-Seibel in diesem Buch und bescherte mir viele Aha-Erlebnisse. Zum Beispiel wurde mir klar, inwieweit uns die Medien ein verzerrtes Weltbild vermitteln und wie stark dieses Bild unsere Glaubenssätze formen können; auch dass negative Nachrichten in geballter Form nur Ängste schüren oder uns abstumpfen statt zu mobilisieren und dass das typische Motiv der Heldenreise in Medien und Literatur durch gemeinsame Erfolgsgeschichten ergänzt werden müsste. Ich bewunderte ihren Mut, als Reporterin und Filmemacherin in Kabul ein anderes Gesicht des Landes und der Menschen zu zeigen und lernte einen konstruktiven Journalismus kennen, der nicht nur über Miseren berichtet, sondern auch Lösungsansätze und langfristige positive Entwicklungen sichtbar macht.

Die Autorin beschränkt sich nicht nur auf die Medien, sondern empfiehlt auch, uns im Privatleben „nahrhafte" Geschichten zu erzählen, die uns aufbauen und zum Handeln ermuntern. Sie macht in ihrem sehr inspirierenden Buch genau das vor, woran sie appelliert, nämlich unsere Aufmerksamkeit nicht nur auf Missstände, sondern auf mögliche Verbesserungen und mutmachende Beispiele und Vorbilder zu lenken.

Bewertung vom 01.04.2022
Der Weg der Familie Lagerfeld / Das Glück unserer Zeit Bd.1
Koschyk, Heike

Der Weg der Familie Lagerfeld / Das Glück unserer Zeit Bd.1


ausgezeichnet

Wenn ich jetzt den Namen Lagerfeld höre, habe ich nicht mehr den Modedesigner Karl vor Augen, sondern seinen Vater Otto, Held dieses Romans. Was für ein Glück für uns Leser, dass Heike Koschyk von der Familie Günter Lagerfeld gefragt wurde, ob sie eine Biografie über den Kondensmilch-Fabrikanten schreiben wolle und Zugang zum Familienarchiv erhielt.

Otto Lagerfeld war ein waschechter hanseatischer Kaufmann, der seinen Traum verwirklichte, für eine Hamburger Firma nach Venezuela zu gehen. Sehr präzise arbeitet die Autorin seine Charaktereigenschaften heraus: sein Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Familie schon seit seiner Kindheit, seinen Mut, seine Zielstrebigkeit und sein kaufmännisches Gespür, das ihm viele Geschäftserfolge bescherte. Ganz anders sein freiheitsliebender Bruder Paul, der sich nur schwer mit ihm messen konnte.

Natürlich kenne ich das markante Logo der Dosenmilch „Glücksklee“, doch wie abenteuerlich, hürdenreich und – als der Erste Weltkrieg ausbrach – leidvoll der Weg bis zur Firmengründung war, weiß ich erst dank der gründlichen Recherche von Heike Koschyk, die Ottos Lebenserinnerungen in eine fesselnde Form gebracht hat. Ich sehe immer noch die verschiedenen Stationen wie Hamburg, Maracaibo, San Francisco und Wladiwostok vor mir und kann es kaum erwarten, in der angekündigten Fortsetzung Ottos Leben weiterzuverfolgen.

Bewertung vom 24.03.2022
Schriftstellerporträts
Hage, Volker

Schriftstellerporträts


ausgezeichnet

Namhafte Autoren und Autorinnen zieren das Cover dieses Buches: Peter Handke, Franz Kafka, Christa Wolf, Philip Roth ... Viele von ihnen traf Volker Hage als Literaturredakteur verschiedener Zeitungen und Magazinen persönlich und hat 21 Porträts zusammengestellt.

Besonders gern habe ich die Passagen gelesen, in denen er die Begegnungen ausführlich beschreibt, zum Beispiel sein Interview als Student mit Walter Kempowski, der in Bautzen als politischer Häftling einsaß. John Updike, den er in dessen prächtigen Villa in Beverly Farms nahe Boston besuchte, lernte er als unsicheren und bescheidenen Autor kennen, der mit 50 seinen schriftstellerischen Erfolg immer noch nicht ganz fassen konnte.

Von vielen bekannten Werken hört man, sie seien autobiografisch gefärbt, doch was heißt das genau? Volker Hage gibt Antworten darauf, verrät biografische Hintergründe und die Entstehungsgeschichte verschiedener Romane, zum Beispiel dass "Tadellöser & Wolff" von Kempowski als rein private Familienchronik geplant war. Amüsiert hat mich die kuriose "On-Off-Beziehung" zwischen Peter Handke und seinem Verleger und das Porträt von Wolfgang Koeppen, der stolz eine Vielzahl von Manuskripten "kurz vor der Vollendung" vorweisen konnte – ein Schicksal, das er sicher mit nicht wenigen Schriftstellern teilt. Als Fan französischer Exitenzialisten las ich mit großem Interesse Details über die Rivalität zwischen Camus und Sartre und erfuhr, warum die "Blechtrommel" von Günter Grass zum Inbegriff einer neuen deutschen Literatur wurde.

Keine leichte Aufgabe, in derart kompakter Form Literaturgrößen zu porträtieren, doch Volker Hage gelingt es, uns ihren Charakter, ihre Schreibgewohnheiten, wichtige Stationen in ihrem Leben und die Rezeption ihrer Werke eingebettet in den jeweiligen politischen Hintergrund sehr unterhaltsam, abwechslungsreich und lebendig näherzubringen.

Bewertung vom 20.03.2022
Nebenan
Bilkau, Kristine

Nebenan


ausgezeichnet

Der Titel deutet bereits den engen Radius an, in dem sich die Geschichte abspielt. Umso tiefer tauchen wir in einen kleinen Ort am Nord-Ostsee-Kanal, in den Kosmos der Protagonistinnen und ihre Gefühlswelten ein.

Da ist Julia, eine Keramikerin, die aus Hamburg dorthin gezogen ist und sich nichts sehnlicher wünscht als ein Kind. Die Ärztin Astrid ist in dem Ort aufgewachsen und sorgt sich um ihre alternde Tante, die gegenüber von Julia wohnt. Die beiden Figuren verbindet nicht nur die räumliche Nähe, sondern auch die Sorge um eine Familie nebenan, die seit mehreren Monaten verschwunden ist. Julia steigert sich immer mehr in Fantasien hinein, um sich von ihrer eigenen Krise abzulenken, während Astrid versucht, die einstige Vertrautheit mit ihrer Nachbarin wiederherzustellen.

Viel passiert in diesem Roman nicht, doch die scharfen Beobachtungen der Autorin und ihre einnehmende Sprache zogen mich immer mehr in den Bann. Aktuelle Themen wie der Selbstinszenierungswahn auf Instagram oder die Plastikflut fügen sich mühelos in die Handlung. Der Fokus liegt aber vor allem auf dem Wunsch der Frauen nach Nähe und Verbundenheit einerseits und privaten Rückzug andererseits und der schwierigen Gratwanderung, am Leben anderer teilzuhaben ohne sich zu sehr einzumischen. Nach „Die Glücklichen“ und „Eine Liebe, in Gedanken“ hat mich auch der dritte Roman von Kristine Bilkau begeistert und hallt lange nach.

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