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YukBook
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München

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Insgesamt 278 Bewertungen
Bewertung vom 08.06.2022
1922
Hummelt, Norbert

1922


sehr gut

Dieses Buch hat mich an eines von Florian Illies erinnert. Diesmal wird jedoch nicht das Jahr 1913, sondern 1922 porträtiert. Der Untertitel macht neugierig. Warum ist es für Norbert Hummelt ein „Wunderjahr der Worte“?

Die Frage beantwortet er uns in zahlreichen Geschichten und Anekdoten, die vor allem um die Entstehung der zwei Werke „Ulysses“ von James Joyce und „The Waste Land" von T.S. Eliot kreisen, aber auch um den Schaffensrausch und Schaffenskrisen weiterer Literaten wie Rainer Maria Rilke, Virginia Woolf, Ezra Pound oder Katherine Mansfield.

Die Lektüre ist sehr kontrastreich: Alltagsrituale, körperliche Leiden, zufällige Begegnungen und Rivalitäten zwischen den Schriftstellern wechseln sich ab mit einschneidenden politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Schlaglichtern. Eine ungewöhnliche Teemischung, die sich Rilke aufgießt, findet ebenso Erwähnung wie eine Vortragsreihe von Albert Einstein im Fernen Osten.

Bei den vielen Sprüngen und Ortswechseln kann einem schon ein wenig schwindlig werden. Zum Glück lockert Norbert Hummelt mit seinem Humor und Plauderton die Informationsfülle auf und machte mir begreiflich, warum 1922 ein Schlüsseljahr der modernen Literatur war.

Bewertung vom 01.06.2022
Klänge einer neuen Zeit / Die Radioschwestern Bd.1
Wagendorfer, Eva

Klänge einer neuen Zeit / Die Radioschwestern Bd.1


ausgezeichnet

Geschichten, die in den 1920er Jahren spielen, haben mit ihrer Aufbruchs- und Pionierstimmung auf mich eine besondere Anziehungskraft. In diesem Roman gilt die Begeisterung dem Radio, das 1927 in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckte.

Die drei Protagonistinnen wollen sich das Medium auf unterschiedliche Weise zunutze machen, um ihre hochfliegenden Träume zu verwirklichen: Gesa als Hörspielsprecherin, Margot als Cellistin im Rundfunkorchester und Inge als Solosängerin. Ihr beruflicher Alltag beim Südwestdeutschen Rundfunkdienst und die vielen Stolpersteine, die ihnen einige Männer in den Weg legen, zeigten mir zur Abwechslung einmal nicht die Partyszene und den Glamour der Goldenen Zwanziger, sondern drei junge Frauen, die sich mit knappem Einkommen ein unabhängiges Leben in einer Großstadt aufbauen wollen.

Als interessanten Ausgleich empfand ich, dass die Geschichte auch aus einer männlichen Perspektive erzählt wird: Der Intendant Albert Bronnen sprüht nur so vor innovativen Ideen für den Sender und lässt sich von Befindlichkeiten schwieriger Mitarbeiter nicht beirren. Kein Wunder, dass die Figuren so authentisch wirken: Im sehr informativen Glossar erläutert die Autorin, welche realen Personen hinter ihnen stecken.

Eva Wagendorfer lässt in ihrem rundum geglückten Roman fortschrittliche Visionen auf traditionelle Rollenbilder prallen, gibt Einblick in Hörspielaufnahmen und Außenreportagen und vermittelt viel Zeit- und Lokalkolorit aus dem damaligen Frankfurt.

Bewertung vom 21.05.2022
Meisterklasse
George, Elizabeth

Meisterklasse


sehr gut

„Gott schütze dieses Haus“ war das erste Buch, das ich von Elizabeth George gelesen habe. Mittlerweile ist bereits ihr 21. Inspektor-Lynley-Roman erschienen. Dass die Krimiautorin lange Jahre Kreatives Schreiben unterrichtete, war mir neu. In diesem Buch verrät sie, wie sie ihren eigenen Schreibprozess entwickelte.

Die Zutaten eines guten Romans wie genaue Ortsbeschreibungen, mehrdimensionale Figuren oder Wendepunkte kennt man auch aus anderen Schreibratgebern. Statt verschiedene Beispiele zu zitieren, beschränkt sich Elizabeth George jedoch auf einen einzigen Roman, um uns das Handwerkszeug zu vermitteln. Jedes Thema erläutert sie anhand von Textpassagen aus ihrem eigenen Krimi „Doch die Sünde ist scharlachrot“, die für meinen Geschmack zu lang geraten sind.

Am besten gefiel mir der Abschnitt über die Recherche vor Ort. Ich hatte das Gefühl, selbst dabei zu sein, als sie die Klippen von Cornwall erkundete, auf der Suche nach dem idealen Tatort, und die Stimmung und Witterung auf sich wirken ließ. Sie beschreibt anschaulich, wie sie sich von interessanten Entdeckungen und Gesprächen mit einheimischen Surfern und Klippenkletterern zu Romanfiguren und Handlungselementen inspirieren ließ.

Auch die Kapitel über Dialoge und Szenenaufbau zeigen, wie strukturiert Elizabeth George vorgeht, um eine schlüssige Geschichte zu liefern und sich dabei genügend Spielraum für plötzliche Eingebungen und Wendungen während des Schreibens gibt. Viele Fotos, Charakteranalysen und Übungsaufgaben liefern angehenden Schriftstellern eine nützliche Hilfestellung und Krimifans einen tiefen Einblick in die Werkstatt einer Lady of Crime.

Bewertung vom 14.05.2022
Die Sammlerin der verlorenen Wörter
Williams, Pip

Die Sammlerin der verlorenen Wörter


ausgezeichnet

Ich kann mich noch genau erinnern, wie er aussah: der Oxford Advanced Learner’s Dictionary – das Standardwerk für jeden Englischschüler im analogen Zeitalter. Die australische Schriftstellerin Pip Williams interessierte sich nicht nur für seine Entstehungsgeschichte zwischen 1886 und 1928, sondern vor allem welche Rolle die Frauen dabei spielten und verarbeitete das Ergebnis ihrer Recherchen in diesem Roman.

Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht von Esme Nicoll, der Tochter eines wissenschaftlichen Mitarbeiters, die die mühsame Erstellung des Lexikons im von Männern dominierten Skriptorium hautnah mitbekommt. Sie arbeitet sich im wahrsten Sinne des Wortes hoch: als Kind sammelt sie unter dem Arbeitstisch aussortierte Wörter; mit der Zeit darf sie immer mehr Verantwortung übernehmen, sortiert Belegzettel und überprüft die Bedeutung von Wörtern in der Bodleian Library.

Die Vorgehensweise der Lexikographen allein ist schon für einen Sprachliebhaber wie mich unheimlich interessant, doch der besondere Reiz des Buches liegt in den vielfältigen Frauenfiguren, die Esmes Weg kreuzen. Die Alltagssprache einer Marktfrau, einer Schauspielerin und Suffragette oder des Dienstpersonals schaffen es nicht ins Wörterbuch, weil sie nicht vornehm genug oder nirgendwo niedergeschrieben sind - zu Unrecht findet Esme und unternimmt etwas dagegen.

Pip Williams hat in einer gelungenen Mischung aus Fakten und Fiktion eine warmherzige Hommage an die Frauen dieser Zeit verfasst: sowohl an die weiblichen Mitarbeiterinnen des Wörterbuchs, die einen wichtigen Beitrag leisteten, als auch an die Frauenrechtlerinnen, die für das Frauenwahlrecht kämpften.

Bewertung vom 10.05.2022
Der Morgenstern / Der Morgenstern-Zyklus Bd.1
Knausgard, Karl Ove

Der Morgenstern / Der Morgenstern-Zyklus Bd.1


sehr gut

Die Länge des Romans hat mich kaum überrascht, ist Karl Ove Knausgård doch vor allem durch sein umfangreiches autobiografisches Projekt bekannt geworden. Diesmal steht jedoch nicht er selbst oder seine Familie im Mittelpunkt, sondern neun fiktive Ich-Erzähler, die in der norwegischen Küstenstadt Bergen leben.

Diese könnten unterschiedlicher nicht sein: eine Pastorin, ein Journalist, eine Krankenschwester … Mühelos wechselt der Autor zwischen den Figuren, gibt jedem einzelnen so klare Konturen und eine eigene Stimme, dass ihre Geschichten einen eigenen Roman füllen würden. Doch Knausgård hat sie alle in ein Buch gepackt, und man fragt sich warum. Eine Gemeinsamkeit haben sie immerhin: Sie beobachten unheimliche Naturphänomene und erleben unerklärliche Dinge, die mir so manches Mal einen Schauer über den Rücken jagten. Einiges erinnerte mich an seine Essaysammlung "Im Winter", in der es auch um das Unbegreifliche des Daseins ging.

Zum Ende hin verdichten sich die Gedanken über die großen existenziellen Themen wie Freiheit, Religion und ein Leben nach dem Tod, die mir viel Konzentration abverlangten. Die Mühe hat sich jedoch gelohnt, auch wenn die einzelnen Geschichten viele Fragen offen ließen. Der Autor beschreibt in dieser Dystopie sehr eindringlich, auf was für eine Welt wir zusteuern, wenn wir aktuelle Krisen ignorieren und immer weitermachen wie bisher.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.05.2022
Offene Fragen
Gornick, Vivian

Offene Fragen


sehr gut

Im Prolog ihres Buches spricht mir Vivian Gornick aus der Seele. Sie fühlt sich so, als sei sie „lesend auf die Welt gekommen“ und sieht in Büchern unverzichtbare Lebensbegleiter. Die Romane, die sie nachhaltig geprägt haben, decken sich allerdings nicht mit meinen; zugegebenermaßen habe ich viele von den genannten Titeln noch nicht gelesen wie „La Vagabonde“ von Colette oder „In der Hitze des Tages“ von Elizabeth Bowen und werde dies sicher nachholen.

Die feministische Schriftstellerin, die sich durch Essays für Zeitungen wie die New York Times, Village Voice und zahlreiche Sachbücher einen Namen gemacht hat, legt uns vor allem ans Herz, Bücher mehrmals zu lesen und verrät auch warum. So hat sie sich bei der Lektüre von „Söhne und Liebhaber“ von D.H. Lawrence je nach ihrer Lebensphase jedes Mal mit einer anderen Figur identifiziert. Durch ihre Betrachtungen von bestimmten Charakteren und ihrem Verhalten im gesellschaftlichen Kontext bringt sie uns ihre eigenen Gefühle, Selbsterkenntnisse und wie sich diese mit der Zeit gewandelt haben näher.

Manche Charakterstudien waren mir etwas zu detailliert, die Zitate aus Romanen zu zahlreich. Ihre komplexe Sprache brachte auch meinen Lesefluss öfters ins Stocken. Trotzdem war es eine interessante Erfahrung, eine mir noch unbekannte bedeutende Essayistin und den Zeitgeist anhand ihrer literarischen Abenteuer und Vorbilder kennenzulernen.

Bewertung vom 26.04.2022
Die hundert Jahre von Lenni und Margot
Cronin, Marianne

Die hundert Jahre von Lenni und Margot


sehr gut

In manchen Büchern haben schon die ersten Sätze eine Sogwirkung. So ging es mir mit diesem Roman, in dem die 17-jährige Ich-Erzählerin feststellt, dass „terminal“ für sie nichts mehr mit Flughäfen zu tun hat, sondern Endstation bedeutet. Was könnte das Leben der todkranken 17-Jährigen in der verbleibenden Zeit in einem Glasgower Krankenhaus noch bereichern? Es sind Geschichten aus dem Leben der 83-jährigen Margot, die sie in einem Malkurs kennenlernt und mit der sie gemeinsam jedes Lebensjahr in einem Bild festhält.

Marianne Cronin hat zwei unverwechselbare Charaktere geschaffen: auf der einen Seite die tapfere, schlagfertige Lenni, die keinen Hehl aus ihrer Angst vor dem Tod macht und den Krankenhauspastor mit philosophischen Fragen löchert; auf der anderen Seite Margot, die trotz schwerer Verluste auf ein reiches Leben zurückblicken kann. Auch die Nebenfiguren sind gut gezeichnet, so dass der Alltag im Krankenhaus greifbar wird. Während Margots Lebensstationen detailliert beschrieben werden, kam Lennis Vergangenheit für mich etwas zu kurz. Auch die tiefe Freundschaft, die sich zwischen den beiden entwickelt, wurde von den langen Gesprächen zwischen Lenni und dem Pastor ein wenig verdrängt. Obwohl es um ein tragisches und ernstes Thema geht, ließ mich die Geschichte mit vielen heiteren Momenten und klugen Gedanken mit einem lebensbejahenden Gefühl zurück.

Bewertung vom 22.04.2022
Greiner, Margret

"Mutig und stark alles erwarten"


ausgezeichnet

Wäre August Macke womöglich kein berühmter expressionistischer Maler, sondern Bühnendekorateur geworden, wenn ihn Elisabeth Gerhardt nicht davon abgehalten hätte? Welchen bedeutenden Einfluss die Tochter einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie auf ihren künftigen Ehemann hatte, schildert Margret Greiner in dieser Romanbiografie.

Ganz gleich, ob in ihrem leidenschaftlichen Briefwechsel zwischen Bonn und Düsseldorf, ihren gemeinsamen Reisen nach Paris und Murnau oder ihrem Familienleben am Tegernsee und in Bonn, bereichert durch viele Künstlerfreunde und gesellige Treffen – die bilderreiche Sprache der Autorin macht die sprühende Lebensfreude und die Liebe zur Natur, Kunst und Musik des Paares in jeder Zeile spürbar.

Für mich als Fan impressionistischer und expressionistischer Malerei war es ein großer Genuss, Mackes Durchbruch, seine Bemühungen als Kurator und seinen Schaffensrausch nach einer Tunis-Reise aus der Sicht seiner Ehefrau zu verfolgen. Elisabeth schrieb sich nicht nur als Modell und mit ihrem fachmännischen Urteil in Mackes Werke ein, sondern war selbst künstlerisch begabt und kreativ, schrieb, spielte Klavier, stickte und malte, wie man im farbigen Mittelteil des Buches sehen kann. Wie schon in ihren vergangenen Frauenporträts konnte mir Margret Greiner in dieser detailliert recherchierten Biografie eine sehr interessante mutige und starke Persönlichkeit näher bringen.

Bewertung vom 18.04.2022
Der große Fehler
Lee, Jonathan

Der große Fehler


sehr gut

Dass in einer Geschichte Gegenwarts- und Vergangenheitsebene aufeinander zulaufen, ist nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist, wenn die Hauptfigur gleich zu Beginn auf mysteriöse Weise erschossen wird wie in diesem Roman. Dabei handelt es sich um keinen Geringeren als Andrew Haswell Green, einem visionären Stadtplaner, dem so berühmte Bauten wie die Brooklyn Bridge, der Central Park und die New York Public Library zu verdanken sind.

Welche Qualen, Rückschläge und Verluste der Farmerssohn erleiden musste, um seinen amerikanischen Traum zu verwirklichen, erzählt Jonathan Lee in seinem ganz eigenen Stil. Besonders in der Anfangszeit, als sich der junge Andrew unter miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen allein in New York durchschlägt, litt ich mit ihm und bewunderte sein Durchhaltevermögen. Nebenbei erfuhr ich interessante Details wie die Entstehung von „Greater New York“ und was es mit dem Romantitel auf sich hat.

Die Gewichtung verschiedener Erzählstränge war für mich nicht immer nachvollziehbar. So hätte ich statt der Ermittlungen eines unsympathischen und überforderten Inspektors lieber mehr über Andrews Engagement für die Stadtentwicklung und sozialpolitischen Verbesserungen gelesen. Bei meiner nächsten New-York-Reise werde ich mich sicher an seine bemerkenswerte Lebensgeschichte erinnern und die Stadt mit anderen Augen sehen.

Bewertung vom 14.04.2022
Eine perfekte Familie
Moriarty, Liane

Eine perfekte Familie


sehr gut

Dieser Roman trägt die typische Handschrift von Liane Moriarty. Wie schon in „Big Little Lies“ geht es auch hier um Geheimnisse, häusliche Gewalt und eine Ermittlung, die diesmal nicht vier Freundinnen, sondern eine sechsköpfige Familie betrifft.

Den Spannungsbogen bildet das Verschwinden der Mutter Joy Delaney, was die erwachsenen Töchter und Söhne auf den Plan ruft. Diese am Anfang wie Voyeure aus der Sicht eines Uber-Fahrers oder einer Kosmetikerin einzuführen, fand ich originell. Die Handlung springt immer wieder ein halbes Jahr zurück, als eine fremde junge Frau in das Leben von Joy und ihrem Ehemann trat und die Leere in ihrem Rentnerdasein füllte. Hat sie etwas mit Joys Verschwinden zu tun?

Familien bieten bekanntlich guten Stoff für spannende Geschichten, doch wie Liane Moriarty die Delaneys seziert und jedes Detail auslotet, ist kaum zu toppen! Das Verhältnis und die Dynamik zwischen den Geschwistern sowohl untereinander als auch zu den Eltern, die vom Tennis besessen sind, die unerfüllten Erwartungen, Anschuldigungen und gescheiterten Lebensträume werden genauestens unter die Lupe genommen – stellenweise sehr ausschweifend, aber aufschlussreich. Es ist ein packender Pageturner mit feinsinnigem Humor und überraschenden Wendungen, in dem scheinbar nebensächliche Details zum Schluss einen Sinn ergeben.