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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 09.04.2023
Hier ist alles sicher
Offel, Anneleen Van

Hier ist alles sicher


ausgezeichnet

»Komm nach Israel, Mama. Welch Ironie, dass ich nach all den Jahren Funkstille nur vier Wörter gebraucht habe, um wieder Kontakt zu dir aufzunehmen oder hat sogar ein einziges Wort genügt?« |130

Als Lydia Immanuels Ruf nach Israel folgt, ist es zu spät. Ihr Ziehsohn, der zehn Jahre zuvor mit seinem Vater ins jüdische "Mutterland" ging, ist tot. Immanuel war 22, Soldat und verlor den Halt. Hatte seine Rolle als Besatzer etwas damit zu tun? Wäre es ihm möglich gewesen, keine Schuld auf sich zu laden? Oder zogen sich die Konfliktlinien zwischen Halt und Verlust, zwischen Vereinnahmung und Selbstbestimmung durch sein Leben?
Was genau passierte, wer seinen Lebensweg mit zu verantworten hat, welche Risse und Schmerzen dem vorausgegangen sind und folgen werden, dem geht der Roman in der Perspektive von Lydia nach.

»Hier ist alles sicher« gehört für mich neben »Siegerin« von Yishai Sarid und »Eine Nebensache« von Adania Shibli zu einem der besten zeitgenössischen Romanen, die in Israel | Palästina spielen.
Für mich las sich diese ambivalente Mutter-Sohngeschichte als Spiegel für diasporische jüdische Identitäten in Europa und der konflikthaften "Wiederkehr" nach Israel. Das Terrain ist glitschig, eine Liebe unter Druck, die besteht und scheitert, die sich einmischt und loslässt. Die Belgierin entgeht dabei der Anmaßung, sich als Israelerklärerin aufzuspielen. Sie zeichnet vielmehr bis ins Persönlichste reichenden Konfliktlinien nach und wendet sich dabei universellen Fragen zu. Sprachlich ist der Roman nicht virtuos und die Figuren sind alles andere als zugänglich und sympathisch. Lydia wirkt beschränkt auf eine egozentrische Art, Joachim hart und verschlossen und auch Immanuel ungerecht, grenzüberschreitend und unzugänglich. Doch selten habe ich Figuren, Beziehungen und Konflikte gelesen, die
so psychologisch komplex und mit solch einem politischen Feingefühl ausgearbeitet wurden. »Hier ist alles sicher« braucht Geduld, denn die Geschichte, ihre Komplexität und Positionen erschließen sich nicht sofort. Erst gegen Ende und im Nachgang steigerte sich meine Begeisterung. Große Empfehlung.

Bewertung vom 09.04.2023
Der perfekte Schuss
Enard, Mathias

Der perfekte Schuss


ausgezeichnet

Wer es nicht aushalten möchte, in die hässlichen Seiten von Kriegen und in tiefste menschliche Abgründe zu schauen ohne die Hilfe einer moralischen Instanz, sollte einen Bogen um »Der perfekte Schuss« machen, die Liste der Triggerwarnungen wäre lang. Vor 20 Jahren erschien dieses provokante Debüt des Prix Goncourt Preisträgers Mathias Énard in Frankreich und ist erst jetzt ins Deutsche übersetzt worden. Waren 2003 die Kriege im Irak und die Aufarbeitung der Jugoslawienkriege im Fokus der Diskussionen, so sind es heute die Ukraine, Syrien, Iran.

Nüchtern, fast klinisch-distanziert erzählt Énard aus der Sicht eines Snipers, eines fähigen Soldaten, der gut im Töten ist. Wir kommen näher als uns lieb sein kann. Eine Zumutung, denn seine Ruhe und Professionalität sind eine Hülle, unter der eine anwachsende Gewalt und Zerstörung pulsiert, die ins Private überschwappt.
Seine Mutter ist dement, ihre schreiende Panik wird mit Tabletten gedämpft und es kommt vor, dass er auf sie einschlägt. Seine schüchtern-begehrende Seite spürt er bei einer 15jährigen Kriegswaisin, die seine Mutter betreut. Doch ihre passive Angst kränkt ihn, schlägt um in Scham und Gewalt.

Als Szenerie wählt Énard einen Bürgerkrieg mit Barrikaden, Fluchtbewegungen und umkämpften Dörfern. Dabei ist nicht zu erkennen, um welchen Krieg es sich handelt. Eine Einordnung durch den Kontext erfolgt auch nicht. Die Geschichte, die Geopolitik und die Frage, welche Kriegspartei auf der "richtigen Seite" steht, bleiben aus. Vom Standpunkt des Snipers her ist es auch nicht wichtig, er fügt sich in die Notwendigkeit des Krieges, der Leute braucht, die ihn führen. Énard nimmt damit eine wesentliche Instanz weg, die in aktuellen Diskussionen im Mittelpunkt steht und richtet abseits von allen politischen Linien den Blick auf den Schaden, den Kriege anrichten bei allen Beteiligten, auch den Tätern. Ohne sie explizit zu verhandeln, stößt uns »Der perfekte Schuss« auf eine schwierige Frage: Was passiert mit diesen Menschen, wenn der Krieg vorbei ist, wie leben sie weiter mit der eingeschrieben Angst, der Aggression, der Schuld und der Scham?

Bewertung vom 11.03.2023
Einzeller
Klemm, Gertraud

Einzeller


ausgezeichnet

Klemm ist eine Verführerin. Witzig, fast plaudernd führt sie zu schmerzhaften Facetten der Entsolidarisierung von Frauen. Es scheint gerade in der Luft zu liegen, die literarische Verarbeitung vermeintlich unversönlicher Differenzen und die Suche nach Gemeinsamkeiten in entzweienden Debatten. Wenn wir uns nicht betroffen fühlen wollen, liest sich »Einzeller« wie für Dennis Scheck, als eine große Kunst, Polemik, eine soziale Komödie mit intellektuellem Upgrade.

Für Simone, pensionierte Lehrerin, Gesicht der zweiten Welle des Feminismus, verwässern aktuelle Diskurse den femistischen Kampf. Je privater wir sie kennenlernen, desto mehr scheinen ihre Ambivalenzen durch. Sie ist dominant, hört Anderen wenig zu. Die ihr ergebene Eleonora darf ihr Befriedigung verschaffen und ausgerechnet der Finanzminister der Konservativen ist ihr Liebhaber. Auf der ersten Blick steht Lilly, eine attraktive junge Frau aus konservativen, priveligierten Verhältnissen stammend, für all das, was eine Simone wütend macht und resigniert. Denn Lilly arrangiert sich und sie möchte alles richtig machen, doch eins scheint klar, sie wird im Schoß der Kleinfamilie verschluckt werden.

Verwoben sind diese beiden Figuren in einen unterhaltsamen Plot, der viel Raum bereitstellt für pointierte Alltagsbeobachtungen, Widersprüche und Fragen. Lilly und Simone sind Teil eines feministischen Wohnprojekts, in dem noch drei weitere Frauen leben, deren Positionen und Gedanken leider nur in Andeutungen hervorscheinen. Da Simone prominent ist, stolpert die WG in ein Reality-TV-Format, das darauf angelegt ist, Differenzen komödiantisch zu schüren. Die politischen Verhältnisse, den Backlash in Abtreibungsdebatte, Familien- und Kinderpolitik, strukturelle und konkrete Gewalt gegen Frauen, spielt Klemm an entscheidenden Stellen ein und verunmöglicht damit eigentlich eine Schecksche Lesart.

Bewertung vom 05.03.2023
Aleksandra
Weeda, Lisa

Aleksandra


ausgezeichnet

Wie kann der Beitrag von Literatur mitten im Krieg sein? Kann sie schnell reagieren auf die Ereignisse? Muss sie reagieren? Was ist ihr Mehrwert gegenüber Nachrichten, Reportagen, Interviews, Gesprächen, Aktionen? Oder ist es gerade die Stärke von Literatur, dass sie sich löst vom Tagesaktuellen, den Bogen weiter spannt, Verbindungen zieht, Geschichte einbezieht und Geschichten erzählt? Wie geht es, dabei verengte Kriegslogiken beiseite zu schieben, die Literatur überprüfen, die schauen, auf welcher Seite stehen Autor:in und Text und wie sind Romane in der aktuellen Situationen überhaupt literarisch zu bewerten?

»Aleksandra« zeigt, wie es gehen kann, auch wenn einige Fragen sich erst mit mehr zeitlichem Abstand befriedigend beantworten lassen.
Der Krieg in der Ukraine bewegt viele Menschen auf ganz unterschiedliche und oft stark emotionale Weise. In der deutschen Übersetzung ist Weedas Debüt am 24.02.2023 im Kanonverlag erschienen, ein Jahr nach der Russischen Invasion in die Ukraine, mitten im Krieg. In den Niederlanden erschien »Aleksandra« bereits 2021, ein Jahr vor der Invasion. Zehn bis acht Jahre hat die niederländisch-ukrainische Autorin an »Aleksandra« geschrieben, der Krieg war seit 2014 schon da und trotzdem konnte Weeda nicht klar sein, was 2022 passieren würde.
»Aleksandra« bezieht sich auf genau das, was viele jetzt suchen oder dankbar annehmen, mit Literatur den Blick weiten als Ergänzung zu Nachrichten, Reportagen, Berichten und Interviews, die sich um neueste Geschehnisse drehen. »Aleksandra« erzählt eine Familiengeschichte aus dem Donbass, aus der feudalen Vorzeit, den Einbruch und der konflikthaften Nachzeit der Sowjetunion. Im Mittelpunkt stehen Aleksandra, die im zweiten Weltkrieg nach Deutschland deportiert wurde, danach in die Niederlande ging und ihre Enkelin Lisa, die die weit verästelten Familienbande, die weder Sprache, noch politische Einschätzung oder Ort eint, versucht zusammenzuhalten.

Weeda verarbeitet die Enteignung, die Euphorie, den Holodomor, den zweiten Weltkrieg, die Armut, die Kriege und bezieht sie auch auf die Gegenwart, indem sie immer wieder in die sog. Volksrepublik Luhansk von 2014 bis 2015 springt.
Weeda fordert die Lesenden heraus mit einer komplexen historischen Verortung und einer nicht linearen Erzählstruktur. Es gibt zwar einen Stammbaum, der sehr hilfreich ist, doch springt der Text in Orten, Zeiten und erzählenden Personen, in drei Generationen finden wir Nikolaj. Eine weitere Ebene sind surreale Phantasiewelten, mit Bedeutung aufgeladen ein Tuch, Hirsche, ein Palast und es kann vorkommen, dass Verstorbene zu jüngeren Generationen sprechen.
Weeda entgeht bewusst der Verführung, Komplexitäten so zu vereinfachen, dass sie für ein westliches Lesepublikum konsumabel sind und geht damit das Risiko ein, es zu verlieren. Wie gut erinnere ich mich an eine ähnliche Gratwanderung, als es ums ehemalige Jugoslawien ging. Gelingt eine Verständigung, schmeckt mir die Botschaft aber sehr, es ist kompliziert, erfordert Anstrengung und trotzdem ist es möglich, notwendig und lohnenswert, sich mit dem Thema und den Menschen in ihrer Komplexität zu beschäftigen. Ja, es war kompliziert, lohnenswert und ein großer Mehrwert in Ergänzung zu Tagesaktuellem »Aleksandra« zu lesen.

Bewertung vom 03.03.2023
Schrödingers Grrrl
Hobrack, Marlen

Schrödingers Grrrl


sehr gut

»MARA WOLF, wir freuen uns sehr, dass Sie heute auf unserem Sofa Platz genommen haben. Und Sie haben uns etwas mitgebracht. Ich halte hier ihr erstes Buch in der Hand.« | 219

Wer ist Mara Wolf? Sie ist Anfang 20, arm, hat die Schule abgebrochen, lebt in Dresden. Instagram, Fast Fashion, etwas Dating, lose Freundschaften und Besuche bei ihrer Mutter füllen ihr Leben. Ihre Hartz IV-Sachbearbeiterin ist nett, doch sie braucht Mitarbeit, wenigstens eine Diagnose. Mara Wolf ist nicht dumm, hübsch und die ideale Fläche für Hanno, PR-Agent aus Berlin, der sie überredet, Autorin zu spielen für einen autofiktionalen Roman. Der eigentliche Autor ist ein alter Weißer Mann, der sich frustriert auf dem Abstellgleis des Literaturbetriebs wähnt. Mara wird zum hübschen Hartz-IV-Mädchen aus der Ostplatte, arbeitslos, arm aber sexy, Shootingstar der Literaturszene, doch wird das gut gehen? Für Mara ist wiederum Paul die ideale Fläche, ein melancholischer Musiker aus Liverpool, den sie einmal sah und beschloss, der soll es sein. Eine virtuelle Liebesnichtliebesgeschichte beginnt, aber wird das gut gehen?

»Schrödingers Grrrl« leichte Unterhaltung zu nennen, griffe zu kurz. Hobracks im letzten Jahr erschienenes autobiographisches Sachbuch »Klassenbeste« scheint in Szenerie, Figuren und Perspektiven durch. Wo der Literaturbetrieb vorkommt, greift sie überzeugend einerseits spezifisches, andererseits universelles auf. Sie zeigt mittelalte und alte Weiße selbstsichere Männer, die die Dinge gern lenken, sich mit jungen Frauen umgeben und sich, wenn die Dinge schief gehen, galant aus der Affäre ziehen. Sie entwirft ernüchternde Berliner Partyszenen, erfolglose Fotografen, Networking und Lesungen, die "geschützte Räume" vorgaukeln, persönliche Angriffe dann aber "interessant" finden, bestechend und unterhaltsam. Im Vergleich dazu wirkte das Verrennen in Paul blass, Vielleicht mehr ausgearbeitet in einen nächsten Roman? Denn »Schrödingers Grrrl« ist ein sehr gelungenes zeitgenössisches satirisches Romandebüt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.02.2023
Mütter, Väter und Täter
Hustvedt, Siri

Mütter, Väter und Täter


sehr gut

»Lesen heißt, sich jemand anderem zu überlassen, das eigene Bewusstsein eine Zeit lang mit einem erzählenden anderen oder mehreren anderen zu teilen... Lesen bringt einen Selbstverlust im anderen mit sich, ein sich aufgeben und gehen lassen.« |176

Mit »Mütter, Väter und Täter« habe ich mich dieser anderen überlassen, mich selbst verlassen und für eine Weile in die Welt geschaut mit Hustvedts wachen Augen. Ich war in der Perspektive einer gut gealterten gebildeten Weißen mächtigen Frau, Autorin, Amerikanerin, Feministin, Tochter, Mutter, Intellektuelle und so vieles mehr. Es ist wohltuend und bereichernd, mit Hustvedt zu denken, viele Dinge in ihrem Licht zu sehen, sie mit ihrem Wissen zu verstehen, gemeinsam mit ihr zur gleichen Zeit optimistisch und in Grenzen gehalten auf diese Welt zu blicken, dabei die hinterfragende und erweiternde Kraft der Kunst, der Bildung und der Literatur zu spüren.

Hustvedt zeigt nicht immer neue, aber fast immer aufschlussreiche Perspektiven. Fast altmodisch anmutend bezieht sie sich auf die Psychoanalyse, die Neurologie und Biologie, auf die begrenzende Dualität von Körper und Geist, die aktuelle feministische Diskurse nicht sehr in den Fokus nehmen. Dadurch, dass Hustvedt sich, ihre Familien- und Bildungsgeschichte stets verortet, ihre Privilegien thematisiert, sich trotz ihrer reichen Erfahrungen eine neugierig fragende Haltung bewahrt, gelingt ihr eine Offenheit, die Intersektionalität mitdenkt.

»Mütter, Väter und Täter« heißt es in der deutschen Übersetzung. Ein Fragezeichen musste ich hinzudenken, denn Täter:innen im Sinne von Menschen, die anderen ganz bewusst, sadistisch und direkt schaden, kommen nur im letzten Essay vor. Auch hier vermeidet sie extrojierte Täterzuweisungen. Viele der anderen Essays kommen ebenfalls bei der Frage an, wie Menschen die Schädigung anderer mit dem Bild über sich selbst in Einklang bringen, wie stark dabei sanktionierende Begrenzungen der Geschlechterrollenerwartungen und die zerstörerische Kraft einer abgewehrten Scham wirken.

Bewertung vom 25.02.2023
Mann im Mond
Bastasic, Lana

Mann im Mond


sehr gut

Abgründige Kindheitsperspektiven sind der Kern von Lana Bastašićs Erzählungen. Die erzählenden Kinder sind unschuldig-naiv, wütend, sie schlängeln sich durch und die Welt, die sie vorfinden, sie ist nicht schön. Angenehme Lektüre ist Mann im Mond nicht und die Schwere brechender Humor ist kaum zu finden.

Bastašić entromantisiert die Kindheit als ein heiler Ort. Sie zeichnet in ihren zwölf Kurzgeschichten ein beklemmendes Bild, dessen Hintergründe für die Kinder sowie uns Leser:innen nur in Andeutungen vorkommen. Genauso wie sie, verstehen wir nicht, warum die Erwachsenen in den Geschichten so stumpf sind, so mit sich beschäftigt, dass sie gar nicht merken, wie sie mit ihren Kindern umgehen, was sie ihnen weitergeben und was für Spuren das hinterlassen kann. Die Erwachsenen sind eine wütende Gefahr, sie schämen sich, sie kritisieren, sie überschreiten Grenzen, sie sind gestorben, sie werden sterben oder sie sehen die Kinder einfach nicht. Wir müssen uns hinzudenken, was mit den Erwachsenen los ist, was mit ihnen mal war. Und wir müssen es aushalten, dass ihre Macht nicht in allen Geschichten zu schrumpfen beginnt. Erst die letzte Geschichte macht explizit, was meines Erachtens wesentlich ist. Die Geschichten spielen in Bosnien, viele sind von den Kriegen und der Nachkriegszeit geprägt, auch wenn die beschriebenen Kindheitsperspektiven universeller sind, als uns lieb ist.

Bewertung vom 25.02.2023
Liebes Arschloch
Despentes, Virginie

Liebes Arschloch


sehr gut

Liebes, Arschloch ist wie mit einer heißen Nadel geschrieben, hitzig, spitz, temporeich und kurzweilig. Viele zeitgenössische Themen greift die französische mit ihrer provokativen Literatur etablierte Autorin Despentes auf, komponiert sie zu einem eingängigen Stück Popliteratur, ohne dabei Pop zu sein. Sie wählt den Social Media Briefroman als Form, verarbeitet #metoo, die Pandemie, Geschlechterrollen und Altern, Vatersein, Drogen, Abstinenz und wählt die Buch- und Filmbranche als Szenerie.

Der Einstieg ist giftig, ein alternder Weißer Mann, der Autor Oscar pöbelt auf Instagram die alternde Schauspielerin Rebecca an. In einer PN schiebt er Bewunderung und eine Entschuldigung hinterher. Rebecca blockiert ihn nicht, sie antwortet wortgewandt. Aus einem Schlagabtausch entsteht eine immer persönlichere Konversation. Oscar sieht sich als Opfer von Zoé, die Pressereferentin war, in die er sich verguckte, der er nachstellte, die gekündigt wurde und nie wieder einen Job in der Verlagsbranche erhielt, die nun auf ihrem gut laufenden feministischen Blog einen Shitstorm auslöste. Oscar jammert, Rebecca entgegnet und klagt über ihre eigene Situation. Ziemlich schnell offenbart sich ihr gemeinsames Ventil, die Drogen, polytox, die Erhabenheit des Konsums, die Illusion, alles im Griff zu haben und nun die Ahnung der zerstörenden Kraft von Nähe zu sich selbst und zu anderen. Im Zuge der Pandemie und ihrer persönlichen Krisen beschreiten sie gemeinsam den Weg der Abstinenz.

Schlau sind die Figuren gewählt. Ihre durch Substanzen, ihre Positionen und ihr Bewusstes getrübte Wahrnehmung wird mit der Außensicht der anderen Figuren kontrastiert und lässt den Lesenden genug Raum für eigene Schlussfolgerungen. Für meinen Geschmack war es zu viel Oscar. Seine Bemühungen ein guter Vater zu sein, waren mir zu konventionell erzählt und ich hätte seine Selbsterkenntnisse in dieser Auserzähltheit nicht gebraucht, aber ich bin kein heterosexueller Mann. Wie erwartet war »Liebes Arschloch« beste Unterhaltung, soghaft, toxisch, zart und es interessierte mich weit mehr als der brandenburgisch-Hamburger Debattenroman.

Bewertung vom 25.02.2023
Virtuoso
Moskovich, Yelena

Virtuoso


sehr gut

𝐽𝑢𝑑𝑔𝑒 𝑎 𝑏𝑜𝑜𝑘 𝑏𝑦 𝑖𝑡𝑠 𝑐𝑜𝑣𝑒𝑟
Dieses Cover musste ich nur einmal sehen, und es klemmte sich fest in mein Hirn. Ein pures, schönes Gesicht, in dessen Blick viel liegt, was auch »Virtuoso« ausmacht, Direktheit, Provokation, Begehren, Schmerz, Einsamkeit. Nach der Lektüre bin ich fast sicher, das ist Zorka, für mich ist sie es.

𝐽𝑢𝑑𝑔𝑒 𝑎 𝑏𝑜𝑜𝑘 𝑏𝑦 𝑖𝑡𝑠 𝑐𝑜𝑛𝑡𝑒𝑛𝑡
»Virtuoso« inszeniert sechs Figuren, drei Paare, Outcasts, Mädchen und Frauen, die Frauen begehren. Eine Frau zieht, die andere stürzt sich hinein und bleibt verloren zurück.
In einer krimiartigen Szene steigt »Virtuoso« mit Aimée und Dominique in Portugal ein, springt dann zur unscheinbaren Jana in Paris, gleitet in ihre Plattenbaukindheit in der Tschecheslowakei mit der rebellischen Zorka, die plötzlich verschwindet, findet sich verloren-treibend mit Zorka an einer amerikanischen Highschool wieder und taucht in einen interkontinentalen Sexchat zwischen Amy und Domenika. Dabei springt »Virtuoso« in Zeiten, Orten, Perspektiven und Realitäten.
Im Zentrum bleiben Jana und Zorka, das Kollabieren der sozialistischen Welt und ihre kosmopolitische, an die kapitalistischen Ränder gedrängte Situation.

𝐽𝑢𝑑𝑔𝑒 𝑎 𝑏𝑜𝑜𝑘 𝑏𝑦 𝑖𝑡𝑠 𝑠𝑜𝑢𝑛𝑑
Dämpfende Wolken umgeben Figuren, Netzphantasien und Clubs dröhnen, Kindheitserinnerungen faden aus, angekettete Liebste warten, beatmete Patientinnen und Leichen liegen stumm da. Wenn sich eine surreale, bedrohliche Atmosphäre durch einen Roman zieht, eine sexuell aufgeladene Stimmung, die auch abgründig ist, eine düstere und zugleich vertraute Nostalgie, bei der wir nicht sicher sind, ob sie uns behagt, bemühen wir David Lynch.
Eine »Reminiszenz an David Lynch« wird der Guardian im Klappentext zitiert und ja, ich meine den David-Lynch-Sound zu erkennen. Dabei ist »Virtuoso« queer und international, mit »Ostblock-Linguistik«, wie eine Nebenfigur die Vielsprachigkeit, Vielortigkeit und Erfahrung von Sozialismus und Kapitalismus benennt, die sich durch »Virtuoso« zieht.

Bewertung vom 25.02.2023
Monde vor der Landung
Setz, Clemens J.

Monde vor der Landung


sehr gut

Ganz entgegen dem Trend der Autofiktion und dem gegenwärtigen Gegenwartsbezug der Gegenwartsliteratur, zieht Clemenz J. Setz uns in die eigensinnige Welt des Peter Bender, eines Utopisten und Querdenkers, der vor hundert Jahren in Rheinhessen lebte. »Monde vor der Landung« ist ein akribisch recherchierter Historienroman, eine Biographie in auktorialer Erzählform, die stets einen Spalt offen lässt, was der Bender sich eigentlich selber glaubt, wenn er die Hohlwelt-Theorie predigt, laut derer die Menschen auf der Innenseite der Erde leben und die Planeten in der Erdmitte sind, wenn er darüber sinniert, ob der Mond aus Eis ist und die Wahrhaftigkeit der offenen Liebe predigt.

Fast opernhaft-verworren baut Setz Benders Gedankengebäude, die Jonglage mit den Frauen, seine Erfahrungen im Krieg, der Inflation und dann dem Nationalsozialismus zusammen. Flirtet der Roman im ersten Teil mit einem ereignisreichen Schelmenroman, so verpufft die Energie im zweiten. Bender ist in Haft, in "Nervenheilanstalten". Neben seinen alternativen Gedanken hat er epileptische Anfälle, die nur schwer zu verbergen sind. Seine Frau Charlotte lässt ihn Schriftsteller sein, kämpft, lauscht geduldig seinen Gedankengerüsten, unterstützt seine Korrespondenzen bis in die USA und hält die Familie zusammen. Doch sie ist Jüdin, schnell wird aus subtiler Ausgrenzung Verfolgung, Bedrohung und Tod.

Der Roman hält uns Lesende so nahe an der ambivalenten Figur Bender, dass er fast sympathisch wird und das Bedürfnis nach Abgrenzung zu den eigenartigsten Theorien und Ideen schwindet. Finden wir etwas mehr Distanz zum Text, drängen sich Fragen auf. Welche Realitäten und Theorien sind eigentlich wahnhaft und verquer, seine oder die domonanten seiner Zeit? Wie kann eine Gesellschaft und auch wir selbst mit Menschen umgehen, die anders denken, die quere alternative Gedanken verbreiten? Setz' »Monde vor der Landung« landen damit mitten in wichtigen Fragen unserer Gegenwart.