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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 177 Bewertungen
Bewertung vom 02.05.2023
Gewalt
Frank, Jo

Gewalt


ausgezeichnet

»Es gibt eine Gewalt, die sich in ihrem Schweigen erhält.« | |87

Wow, was ist das? Jo Frank hat mit »Gewalt« ein essayistisches Langgedicht geschrieben, einen lyrisch-prosaischen Essay, eine essaistisch-lyrische Prosa über das Suchen und Finden einer Sprache von Gewalt. »Gewalt« zieht hinein in persönlichste, konkrete, sich verkörpende Gewalt, die vergangen war und immer Jetzt bleibt, die Ich ist, die Du ist, aber niemals Wir. Gewalt, die von A in Richtung B, in Richtung C, D, E, F wirkt und wahrscheinlich weiter. C ist kein Kind und redet nicht über Gewalt, pschhht! D hat besonderes Denken, versteht Gewalt vielleicht nicht, versteht Angst. Doch mehr ist nicht zu sagen über Andere als B, für A, C, D, E und F kann und mag B keine Sprache finden.

»Gewalt« wiegt jede Formulierung auf. Wenn ein Wort oder ein Satz andere Formulierungen auslöst, finden sich Fußnoten, lange suchende Fußnoten, auch Fußnoten der Fußnoten. Im Grunde fürchterlich, diese Fußnoterei, die ich sonst nur in wissenschaftlichen Texten erdulde. Doch hier fügen sie sich stilistisch ein, finden eine neue Form, die das Lesen zu einem wiederkehrenden Vor- und Zurückblättern macht, die einen fließenden, rhythmischen Sound erzeugt, der unterstützt wird durch die sich durch »Gewalt« ziehenden Wiederholungen von Worten, Sätzen und Passagen. Die Form prägt den Sound von »Gewalt« und führt hin zu einer immer präzisieren und mit sich selbst ehrlicheren Sprachfindung, die ihre Unzulänglichkeiten zu akzeptieren versucht. Dass sich Frank mit Sprache, Theorien und Diskursen intensiv auseinandersetzt, fließt fast beilaufig in den Text. Er widersteht der Versuchung, darin ein Schutzschild zu finden, es zu benutzen zur Vereineindeutigung seiner Worte und Wahrnehmung.

Klingt abstrakt? Das ist es. Klingt schwer greifbar? Das ist es gar nicht. »Gewalt« ist direkt und pur. Selten habe ich einen so nahen, intimen, um Offenheit ringenden Text gelesen. »Gewalt« hat mich berührt, auch belastet, beim Lesen eine Öffnung in eigene nicht zur Sprache gefundene Anteile provoziert und gestärkt. Ich bin begeistert und mitgenommen.

Bewertung vom 01.05.2023
Paris · Rot
Gien, Anna

Paris · Rot


ausgezeichnet

»Man hat mir gesagt, dass die Welt sterben wird. Ich stehe neben dem Bett und sehe aus dem Fenster. Eben habe auch ich noch dort gelegen, wo sich jetzt sein Körper im Dunkeln bewegt. Ich weiß seinen Namen, aber er bedeutet mir nichts.« | 5

»Dies ist mein Traum. Mein Wald. Meine Stille. Dies ist die Nacht, in der Paris vor den Fenstern dieses Zimmers unterging.« | 6

Das Cover von »Paris Rot« ist in einem perfekten rot gehalten, satt, blutig, edel und schäbig zugleich. Dieses Rot scheint mächtig und schwer sexuell, wie der Inhalt des zweiten Romans von Anna Gien, der erst kürzlich im März Verlag erschien.
Mit »Paris Rot« steigt Gien ab in die Tiefen surrealer sexuell aufgeladener Träume eines abseitigen Mädchens, einer Frau, die viele Namen trägt und die in ihrer Gestalt Variationen von Unterwerfung und Machtergreifung inszeniert. »Paris Rot« erzählt mal ausbordend-schauerhaft über mehrere Seiten, dann knapp-schemenhaft in Miniaturen von der Entdeckung sexuell aufgeladener Macht. Im Hintergrund der jungen Frauenfiguren streifen ältere mächtige Männer in Mänteln ihre Körper. Diese Männer reden nicht, sie ejakuieren und bleiben schemenhaft in switschender Macht.

Im Sound lassen sich Referenzen finden zu Baudelaire, ich dachte an Rimbaud, in leichter Prise an De Sade. In der Aura ist »Paris Rot« p0rnographisch, doch ähnlich einem Groschenroman wird das Explizite voyeristisch gestreift und sich auf die Gefühle und Sehnsüchte der sich oft verkaufenden Figuren gestürzt. Dabei bricht der Text immer wieder elegant mit Klischees, streut zeitgenössische U-Bahn Szenen und halbwache Gedanken ein. »Paris Rot« ist zudem gespiekt mit Zitaten und Andichtungen aus Filmen, Opern, Geschichten, Songs und Figuren. Grell umkreist Gien das zum Konzept erkorene WHOREWOW und schafft mit den vielen Figuren, Geschichten, Zeitebenen und Soundanklängen ein harmonisches soghaftes Ganzes.

Bewertung vom 01.05.2023
Frei
Höftmann Ciobotaru, Katharina

Frei


gut

»Die Kinder hatten sie eingenommen wie ein Land, hatten von ihrem Leben Besitz ergriffen. Alles, was sie hatte, gehörte auf einmal auch ihren Söhnen. Ihr Körper, ihr Geist, ihre Zeit.« | 69

Ist Liebe einnehmend, Freiheit zerstörend, oder ist es umgekehrt?
Billies großer Sohn ist ruhig, genügsam und unsicher, der Kleine hingegen energiegeladen und eigensinnig wie sie selbst. Er soll frei sein, sich nicht wie sie begrenzt, ständig kritisiert und abhängig von Bestätigung fühlen. Billie merkt dabei nicht, wie einnehmend diese Art von Freiheit ist. Billie ist Musikerin. Sie ist intensiv, will viel und mehr Aufmerksamkeit, Liebe, Kinder, Männer. Ihre Eltern sind ihr Zuhause und die Platte in Rostock und die DDR. Doch die Welt dreht sich, für die außenorientierte Billie ist die Wende der Overkill, denn nicht nur Ostkunst befindet sich im freien Fall. Es ist erniedrigend, Mama und Papa um Geld zu bitten und auch sonst richtet die Freiheitssuchende Billie alles auf emotionalen Abhängigkeiten aus. Ihr Mann engt sie ein, mag keine freie Liebe, die Verantwortung für beide Söhne erschöpft und sie verbeißt sich in Enttäuschungen von ihrer angepassten, blassen, hart wirkenden und stichelnden Mutter, die sich wiederum nach ihrer Tochter sehnt, ihre Raumfordernde und einengende Art aber nicht akzeptieren mag.

Sympathie aufbauen mit den Figuren fiel schwer, doch Höftmann Ciobotaru hat schon mit Alef bewiesen, sie kann Atmosphäre schaffen und hat ein Gefühl für Themen. Freiheit und Liebe als Gegenspielpaar aufzubauen und auf die Spitze zu treiben im familiären Nahbereich ist klug. Denn ohne sie direkt zu kommentieren, erzählen diese zwei Pole sehr viel über die beiden Gesellschaftsmodelle, die sozialistische DDR mit ihrer einengenden geregelten Geborgenheit und den freien Kapitalismus der BRD, in dem alles möglich zu sein scheint, auch die Vereinnahmung und der Absturz.

Bewertung vom 01.05.2023
Mutters Stimmbruch
Mevissen, Katharina

Mutters Stimmbruch


ausgezeichnet

»Mutter kann neun Sprachen, aber redet mit niemandem mehr.
Manchmal spricht sie mit der Zentralheizung, den Bäumen und dem Brot, beschimpft ihre Zähne oder das Radio. Ansonsten schweigt Mutter. Sie hat zu wenig Stimme.« |5

Das Haus verfällt, das Dach ist undicht, die Rohre sind schwach wie Mutters Zähne. Mutter schweigt, sie hat das Radio, ihre Pflanzen, ihre Gedanken, den Garten und den Heizungskeller. Als die Heizung nicht mehr geht, die Rohre platzen, zieht sie weg, das Haus ist eh zu groß, sie liebte es nie. Dort wo sie nun ist, hat sie kein Telefon, keine Badewanne, die Telefonzelle und das öffentliche Schwimmbad gehen auch. Mutter treibt durchs Leben, einsam? Es scheint so nicht. Sie macht einfach und schert sich nur um sich.

»Mutters Stimmbruch« hat mir heitere und gehaltvolle Lesestunden beschert. Mit meinem Außenblick sah ich eine verwirrte alte Frau, die Handwerkern ihre Arbeit verunmöglicht, die stürzt, die Telefonstreiche macht, sich im Schwimmbad entblößt, die sich manchmal auch unheimlich und obszön geriert. Luftig und melodiös las sich »Mutters Stimmbruch« und ließ mich lächelnd auf das Thema Altern von Angehörigen und mir selbst blicken, was guttat angesichts des ganzen Dunstes der Schwere, die das Thema Altern und Pflegebedürftigkeit umgibt. Daher leg ich es besonders jenen Menschen ans Herz, die dieses Thema derzeit umgibt, aber auch Menschen, die schräge Figuren, das Absurde und eine klingend-beschwingte Sprache lieben.

Bewertung vom 09.04.2023
Hier ist alles sicher
Offel, Anneleen Van

Hier ist alles sicher


ausgezeichnet

»Komm nach Israel, Mama. Welch Ironie, dass ich nach all den Jahren Funkstille nur vier Wörter gebraucht habe, um wieder Kontakt zu dir aufzunehmen oder hat sogar ein einziges Wort genügt?« |130

Als Lydia Immanuels Ruf nach Israel folgt, ist es zu spät. Ihr Ziehsohn, der zehn Jahre zuvor mit seinem Vater ins jüdische "Mutterland" ging, ist tot. Immanuel war 22, Soldat und verlor den Halt. Hatte seine Rolle als Besatzer etwas damit zu tun? Wäre es ihm möglich gewesen, keine Schuld auf sich zu laden? Oder zogen sich die Konfliktlinien zwischen Halt und Verlust, zwischen Vereinnahmung und Selbstbestimmung durch sein Leben?
Was genau passierte, wer seinen Lebensweg mit zu verantworten hat, welche Risse und Schmerzen dem vorausgegangen sind und folgen werden, dem geht der Roman in der Perspektive von Lydia nach.

»Hier ist alles sicher« gehört für mich neben »Siegerin« von Yishai Sarid und »Eine Nebensache« von Adania Shibli zu einem der besten zeitgenössischen Romanen, die in Israel | Palästina spielen.
Für mich las sich diese ambivalente Mutter-Sohngeschichte als Spiegel für diasporische jüdische Identitäten in Europa und der konflikthaften "Wiederkehr" nach Israel. Das Terrain ist glitschig, eine Liebe unter Druck, die besteht und scheitert, die sich einmischt und loslässt. Die Belgierin entgeht dabei der Anmaßung, sich als Israelerklärerin aufzuspielen. Sie zeichnet vielmehr bis ins Persönlichste reichenden Konfliktlinien nach und wendet sich dabei universellen Fragen zu. Sprachlich ist der Roman nicht virtuos und die Figuren sind alles andere als zugänglich und sympathisch. Lydia wirkt beschränkt auf eine egozentrische Art, Joachim hart und verschlossen und auch Immanuel ungerecht, grenzüberschreitend und unzugänglich. Doch selten habe ich Figuren, Beziehungen und Konflikte gelesen, die
so psychologisch komplex und mit solch einem politischen Feingefühl ausgearbeitet wurden. »Hier ist alles sicher« braucht Geduld, denn die Geschichte, ihre Komplexität und Positionen erschließen sich nicht sofort. Erst gegen Ende und im Nachgang steigerte sich meine Begeisterung. Große Empfehlung.

Bewertung vom 09.04.2023
Der perfekte Schuss
Enard, Mathias

Der perfekte Schuss


ausgezeichnet

Wer es nicht aushalten möchte, in die hässlichen Seiten von Kriegen und in tiefste menschliche Abgründe zu schauen ohne die Hilfe einer moralischen Instanz, sollte einen Bogen um »Der perfekte Schuss« machen, die Liste der Triggerwarnungen wäre lang. Vor 20 Jahren erschien dieses provokante Debüt des Prix Goncourt Preisträgers Mathias Énard in Frankreich und ist erst jetzt ins Deutsche übersetzt worden. Waren 2003 die Kriege im Irak und die Aufarbeitung der Jugoslawienkriege im Fokus der Diskussionen, so sind es heute die Ukraine, Syrien, Iran.

Nüchtern, fast klinisch-distanziert erzählt Énard aus der Sicht eines Snipers, eines fähigen Soldaten, der gut im Töten ist. Wir kommen näher als uns lieb sein kann. Eine Zumutung, denn seine Ruhe und Professionalität sind eine Hülle, unter der eine anwachsende Gewalt und Zerstörung pulsiert, die ins Private überschwappt.
Seine Mutter ist dement, ihre schreiende Panik wird mit Tabletten gedämpft und es kommt vor, dass er auf sie einschlägt. Seine schüchtern-begehrende Seite spürt er bei einer 15jährigen Kriegswaisin, die seine Mutter betreut. Doch ihre passive Angst kränkt ihn, schlägt um in Scham und Gewalt.

Als Szenerie wählt Énard einen Bürgerkrieg mit Barrikaden, Fluchtbewegungen und umkämpften Dörfern. Dabei ist nicht zu erkennen, um welchen Krieg es sich handelt. Eine Einordnung durch den Kontext erfolgt auch nicht. Die Geschichte, die Geopolitik und die Frage, welche Kriegspartei auf der "richtigen Seite" steht, bleiben aus. Vom Standpunkt des Snipers her ist es auch nicht wichtig, er fügt sich in die Notwendigkeit des Krieges, der Leute braucht, die ihn führen. Énard nimmt damit eine wesentliche Instanz weg, die in aktuellen Diskussionen im Mittelpunkt steht und richtet abseits von allen politischen Linien den Blick auf den Schaden, den Kriege anrichten bei allen Beteiligten, auch den Tätern. Ohne sie explizit zu verhandeln, stößt uns »Der perfekte Schuss« auf eine schwierige Frage: Was passiert mit diesen Menschen, wenn der Krieg vorbei ist, wie leben sie weiter mit der eingeschrieben Angst, der Aggression, der Schuld und der Scham?

Bewertung vom 11.03.2023
Einzeller
Klemm, Gertraud

Einzeller


ausgezeichnet

Klemm ist eine Verführerin. Witzig, fast plaudernd führt sie zu schmerzhaften Facetten der Entsolidarisierung von Frauen. Es scheint gerade in der Luft zu liegen, die literarische Verarbeitung vermeintlich unversönlicher Differenzen und die Suche nach Gemeinsamkeiten in entzweienden Debatten. Wenn wir uns nicht betroffen fühlen wollen, liest sich »Einzeller« wie für Dennis Scheck, als eine große Kunst, Polemik, eine soziale Komödie mit intellektuellem Upgrade.

Für Simone, pensionierte Lehrerin, Gesicht der zweiten Welle des Feminismus, verwässern aktuelle Diskurse den femistischen Kampf. Je privater wir sie kennenlernen, desto mehr scheinen ihre Ambivalenzen durch. Sie ist dominant, hört Anderen wenig zu. Die ihr ergebene Eleonora darf ihr Befriedigung verschaffen und ausgerechnet der Finanzminister der Konservativen ist ihr Liebhaber. Auf der ersten Blick steht Lilly, eine attraktive junge Frau aus konservativen, priveligierten Verhältnissen stammend, für all das, was eine Simone wütend macht und resigniert. Denn Lilly arrangiert sich und sie möchte alles richtig machen, doch eins scheint klar, sie wird im Schoß der Kleinfamilie verschluckt werden.

Verwoben sind diese beiden Figuren in einen unterhaltsamen Plot, der viel Raum bereitstellt für pointierte Alltagsbeobachtungen, Widersprüche und Fragen. Lilly und Simone sind Teil eines feministischen Wohnprojekts, in dem noch drei weitere Frauen leben, deren Positionen und Gedanken leider nur in Andeutungen hervorscheinen. Da Simone prominent ist, stolpert die WG in ein Reality-TV-Format, das darauf angelegt ist, Differenzen komödiantisch zu schüren. Die politischen Verhältnisse, den Backlash in Abtreibungsdebatte, Familien- und Kinderpolitik, strukturelle und konkrete Gewalt gegen Frauen, spielt Klemm an entscheidenden Stellen ein und verunmöglicht damit eigentlich eine Schecksche Lesart.

Bewertung vom 05.03.2023
Aleksandra
Weeda, Lisa

Aleksandra


ausgezeichnet

Wie kann der Beitrag von Literatur mitten im Krieg sein? Kann sie schnell reagieren auf die Ereignisse? Muss sie reagieren? Was ist ihr Mehrwert gegenüber Nachrichten, Reportagen, Interviews, Gesprächen, Aktionen? Oder ist es gerade die Stärke von Literatur, dass sie sich löst vom Tagesaktuellen, den Bogen weiter spannt, Verbindungen zieht, Geschichte einbezieht und Geschichten erzählt? Wie geht es, dabei verengte Kriegslogiken beiseite zu schieben, die Literatur überprüfen, die schauen, auf welcher Seite stehen Autor:in und Text und wie sind Romane in der aktuellen Situationen überhaupt literarisch zu bewerten?

»Aleksandra« zeigt, wie es gehen kann, auch wenn einige Fragen sich erst mit mehr zeitlichem Abstand befriedigend beantworten lassen.
Der Krieg in der Ukraine bewegt viele Menschen auf ganz unterschiedliche und oft stark emotionale Weise. In der deutschen Übersetzung ist Weedas Debüt am 24.02.2023 im Kanonverlag erschienen, ein Jahr nach der Russischen Invasion in die Ukraine, mitten im Krieg. In den Niederlanden erschien »Aleksandra« bereits 2021, ein Jahr vor der Invasion. Zehn bis acht Jahre hat die niederländisch-ukrainische Autorin an »Aleksandra« geschrieben, der Krieg war seit 2014 schon da und trotzdem konnte Weeda nicht klar sein, was 2022 passieren würde.
»Aleksandra« bezieht sich auf genau das, was viele jetzt suchen oder dankbar annehmen, mit Literatur den Blick weiten als Ergänzung zu Nachrichten, Reportagen, Berichten und Interviews, die sich um neueste Geschehnisse drehen. »Aleksandra« erzählt eine Familiengeschichte aus dem Donbass, aus der feudalen Vorzeit, den Einbruch und der konflikthaften Nachzeit der Sowjetunion. Im Mittelpunkt stehen Aleksandra, die im zweiten Weltkrieg nach Deutschland deportiert wurde, danach in die Niederlande ging und ihre Enkelin Lisa, die die weit verästelten Familienbande, die weder Sprache, noch politische Einschätzung oder Ort eint, versucht zusammenzuhalten.

Weeda verarbeitet die Enteignung, die Euphorie, den Holodomor, den zweiten Weltkrieg, die Armut, die Kriege und bezieht sie auch auf die Gegenwart, indem sie immer wieder in die sog. Volksrepublik Luhansk von 2014 bis 2015 springt.
Weeda fordert die Lesenden heraus mit einer komplexen historischen Verortung und einer nicht linearen Erzählstruktur. Es gibt zwar einen Stammbaum, der sehr hilfreich ist, doch springt der Text in Orten, Zeiten und erzählenden Personen, in drei Generationen finden wir Nikolaj. Eine weitere Ebene sind surreale Phantasiewelten, mit Bedeutung aufgeladen ein Tuch, Hirsche, ein Palast und es kann vorkommen, dass Verstorbene zu jüngeren Generationen sprechen.
Weeda entgeht bewusst der Verführung, Komplexitäten so zu vereinfachen, dass sie für ein westliches Lesepublikum konsumabel sind und geht damit das Risiko ein, es zu verlieren. Wie gut erinnere ich mich an eine ähnliche Gratwanderung, als es ums ehemalige Jugoslawien ging. Gelingt eine Verständigung, schmeckt mir die Botschaft aber sehr, es ist kompliziert, erfordert Anstrengung und trotzdem ist es möglich, notwendig und lohnenswert, sich mit dem Thema und den Menschen in ihrer Komplexität zu beschäftigen. Ja, es war kompliziert, lohnenswert und ein großer Mehrwert in Ergänzung zu Tagesaktuellem »Aleksandra« zu lesen.

Bewertung vom 03.03.2023
Schrödingers Grrrl
Hobrack, Marlen

Schrödingers Grrrl


sehr gut

»MARA WOLF, wir freuen uns sehr, dass Sie heute auf unserem Sofa Platz genommen haben. Und Sie haben uns etwas mitgebracht. Ich halte hier ihr erstes Buch in der Hand.« | 219

Wer ist Mara Wolf? Sie ist Anfang 20, arm, hat die Schule abgebrochen, lebt in Dresden. Instagram, Fast Fashion, etwas Dating, lose Freundschaften und Besuche bei ihrer Mutter füllen ihr Leben. Ihre Hartz IV-Sachbearbeiterin ist nett, doch sie braucht Mitarbeit, wenigstens eine Diagnose. Mara Wolf ist nicht dumm, hübsch und die ideale Fläche für Hanno, PR-Agent aus Berlin, der sie überredet, Autorin zu spielen für einen autofiktionalen Roman. Der eigentliche Autor ist ein alter Weißer Mann, der sich frustriert auf dem Abstellgleis des Literaturbetriebs wähnt. Mara wird zum hübschen Hartz-IV-Mädchen aus der Ostplatte, arbeitslos, arm aber sexy, Shootingstar der Literaturszene, doch wird das gut gehen? Für Mara ist wiederum Paul die ideale Fläche, ein melancholischer Musiker aus Liverpool, den sie einmal sah und beschloss, der soll es sein. Eine virtuelle Liebesnichtliebesgeschichte beginnt, aber wird das gut gehen?

»Schrödingers Grrrl« leichte Unterhaltung zu nennen, griffe zu kurz. Hobracks im letzten Jahr erschienenes autobiographisches Sachbuch »Klassenbeste« scheint in Szenerie, Figuren und Perspektiven durch. Wo der Literaturbetrieb vorkommt, greift sie überzeugend einerseits spezifisches, andererseits universelles auf. Sie zeigt mittelalte und alte Weiße selbstsichere Männer, die die Dinge gern lenken, sich mit jungen Frauen umgeben und sich, wenn die Dinge schief gehen, galant aus der Affäre ziehen. Sie entwirft ernüchternde Berliner Partyszenen, erfolglose Fotografen, Networking und Lesungen, die "geschützte Räume" vorgaukeln, persönliche Angriffe dann aber "interessant" finden, bestechend und unterhaltsam. Im Vergleich dazu wirkte das Verrennen in Paul blass, Vielleicht mehr ausgearbeitet in einen nächsten Roman? Denn »Schrödingers Grrrl« ist ein sehr gelungenes zeitgenössisches satirisches Romandebüt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.02.2023
Mütter, Väter und Täter
Hustvedt, Siri

Mütter, Väter und Täter


sehr gut

»Lesen heißt, sich jemand anderem zu überlassen, das eigene Bewusstsein eine Zeit lang mit einem erzählenden anderen oder mehreren anderen zu teilen... Lesen bringt einen Selbstverlust im anderen mit sich, ein sich aufgeben und gehen lassen.« |176

Mit »Mütter, Väter und Täter« habe ich mich dieser anderen überlassen, mich selbst verlassen und für eine Weile in die Welt geschaut mit Hustvedts wachen Augen. Ich war in der Perspektive einer gut gealterten gebildeten Weißen mächtigen Frau, Autorin, Amerikanerin, Feministin, Tochter, Mutter, Intellektuelle und so vieles mehr. Es ist wohltuend und bereichernd, mit Hustvedt zu denken, viele Dinge in ihrem Licht zu sehen, sie mit ihrem Wissen zu verstehen, gemeinsam mit ihr zur gleichen Zeit optimistisch und in Grenzen gehalten auf diese Welt zu blicken, dabei die hinterfragende und erweiternde Kraft der Kunst, der Bildung und der Literatur zu spüren.

Hustvedt zeigt nicht immer neue, aber fast immer aufschlussreiche Perspektiven. Fast altmodisch anmutend bezieht sie sich auf die Psychoanalyse, die Neurologie und Biologie, auf die begrenzende Dualität von Körper und Geist, die aktuelle feministische Diskurse nicht sehr in den Fokus nehmen. Dadurch, dass Hustvedt sich, ihre Familien- und Bildungsgeschichte stets verortet, ihre Privilegien thematisiert, sich trotz ihrer reichen Erfahrungen eine neugierig fragende Haltung bewahrt, gelingt ihr eine Offenheit, die Intersektionalität mitdenkt.

»Mütter, Väter und Täter« heißt es in der deutschen Übersetzung. Ein Fragezeichen musste ich hinzudenken, denn Täter:innen im Sinne von Menschen, die anderen ganz bewusst, sadistisch und direkt schaden, kommen nur im letzten Essay vor. Auch hier vermeidet sie extrojierte Täterzuweisungen. Viele der anderen Essays kommen ebenfalls bei der Frage an, wie Menschen die Schädigung anderer mit dem Bild über sich selbst in Einklang bringen, wie stark dabei sanktionierende Begrenzungen der Geschlechterrollenerwartungen und die zerstörerische Kraft einer abgewehrten Scham wirken.