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Rezensentin aus BW

Bewertungen

Insgesamt 217 Bewertungen
Bewertung vom 15.02.2021
Die Jahre ohne uns
Norris, Barney

Die Jahre ohne uns


sehr gut

Wir erfahren in diesem wunderschönen und überraschenden Roman, wie eine Begegnung in einer Hotelbar in einer kleinen englischen Stadt das Leben zweier Menschen aufwühlen und verändern kann.

Es geht um eine Frau und einen Mann, beide sind bereits in ihren Sechzigern.
Sie erzählen sich ihre Lebensgeschichten.

Äußerst originell ist der erste Teil, in dem wir vom recht eintönigen Leben einer enttäuschten und einsamen Frau, einer Musik- und Gartenliebhaberin, lesen.
Sie assoziiert zu Schlagwörtern und Begriffen und bringt uns so die verschiedenen Phasen, Tief- und Höhepunkte ihres Lebens näher.
Wir erfahren von Enttäuschungen, weil der Vater sie in jungen Jahren verließ und weil ihre Abschlussarbeit abgelehnt wurde und wir lesen von verpassten Möglichkeiten und unerfüllten Träumen.

Vom wenig tiefgründigen und erfüllenden Leben des haltlosen Mannes, eines ehemaligen Schauspielers, erfahren wir auf eine ganz andere Art und Weise. Er springt nicht, sondern erzählt chronologisch und geradlinig von Erlebnissen, Erfahrungen und falschen Entscheidungen.
Seine Geschichte wird fast schon poetisch erzählt, ist lebendig wie das Leben und hat gleichzeitig etwas surreales oder alptraumhaftes.

Nach den beiden ersten Teilen, in denen wir diese zwei Fremden kennenlernen, erwartet uns im dritten Teil die Auflösung des Rätsels als Finale.
Es geht dabei um die Erkenntnisse der beiden und um deren Umgang damit. Es zeigt sich, dass es Hoffnung und Zukunft gibt.

Der 1987 geborene Autor Barney Norris hat mit „Die Jahre ohne uns“ einen feinfühligen, berührenden und packenden Roman geschrieben, der wunderbar unterhält und zum Nachdenken anregt.

Der Roman entpuppte sich dabei als etwas ganz anderes als das, womit ich nach der Lektüre des Klappentextes gerechnet hatte. Ich war aber positiv überrascht.

Ich empfehle dieses außergewöhnliche Buch, durch dessen Seiten ich flog und das ich an nur einem Tag ausgelesen habe, sehr gerne weiter.

Bewertung vom 13.02.2021
Die Chance ihres Lebens
Desarthe, Agnès

Die Chance ihres Lebens


sehr gut

Das alternde Ehepaar Hector, ein Professor der Philosophie und seine Frau Sylvie, eine Hausfrau, lebt mit seinem 14-jähriger Sohn Lester in Paris.
Seit dem islamistisch motivierten Terroranschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015 fühlen sie sich dort nicht mehr so wirklich wohl.

Als Hector das Angebot erhält, eine zeitlang als Gastprofessor an einer amerikanischen Universität tätig zu sein, greifen sie zu. Ihr Leben verändert sich nun radikal.

Im Verlauf lernen wir v. a. Sylvies Innenleben besonders gut kennen. Sie ist m. E. der eigentliche Mittelpunkt der Geschichte.
Obwohl sie voller Gedanken ist, fühlt sie sich leer. Sie beginnt, sich und ihr Leben zu hinterfragen.

Der pubertierende Sohnemann macht eine eigenartige und befremdliche Entwicklung durch und gibt sich einen anderen Namen. Er nennt sich plötzlich Absalom-Absalom, verirrt sich in religiösem Wahn und wird eine Art Sektenführer auf der High School.

Im Gegensatz zu den beiden hat der an sich eher zurückhaltende und unscheinbare Hector keine großen Probleme mit dem Ortswechsel.
Er lebt sich in der Universität schnell ein, findet seinen Platz und wird sogar von Frauen umgarnt und bewundert.
Seine ungewohnte Popularität, Sylvies Schwierigkeiten, sich zurechtfinden und Lesters Entwicklung machen die Auslandsreise zu einem kritischen Abenteuer.

Was so vielversprechend begonnen hat, gipfelt in Haltlosigkeit. Wie es wohl endet? Ich flog durch die Seiten, weil ich es wissen wollte!

Die 1966 geborene französische Schriftstellerin Agnès Desarthe erzählt unaufgeregt, feinfühlig, psychologisch stimmig und authentisch vom Neuanfang dreier Menschen.
Gewürzt ist der Roman mit Ironie und originellen Alltagsszenen.
Wohin dieser Neuanfang führt, lohnt sich unbedingt gut zu lesen!

Bewertung vom 11.02.2021
1984
Orwell, George

1984


ausgezeichnet

Das berühmte Zitat „Big brother is watching you“ war mir zwar bekannt, aber ich habe den bereits im Juni 1949 erstmals erschienenen Roman noch nie gelesen und war entsprechend neugierig.
Und ich muss sagen: die Lektüre hat sich gelohnt!
Dieser satirische, bedrückende, knallharte, verstörende und aufwühlende Roman, der vor bösartigem Humor und hoffnungsloser Schwermut strotzt, wird zu Recht in die Liste der Klassiker eingereiht.

Winston Smith, der Protagonist, lebt ziemlich isoliert in einer schmuddeligem Wohnsiedlung im Weltreich Ozeanien.
Ozeanien ist ein totalitärer Überwachungsstaat, der seinen Einwohnern nicht die geringste Autonomie zugesteht.
Winston ist ein heimlicher Revolutionär und arbeitet im Ministerium der Wahrheit.
In dieser Institution soll die Vergangenheit im Sinne der Regierung umgeschrieben werden.

Winston hat dabei die Aufgabe, die Artikel in alten Zeitungen an die aktuelle Parteilinie anzugleichen und das Alte mit dem Neuen in Einklang zu bringen.
Ob dieser Einklang auf der Wahrheit basiert ist absurderweise gleichgültig.

Alles soll exakt nach dem Plan der Partei ablaufen. Eine Abweichung wird nicht geduldet.
Sogar eine neue Sprache wird eingeführt: Neusprech.
In dem Maße, wie Vokabular und Grammatik minimiert werden, soll das Denken und Fühlen verkümmern.

Ungünstigerweise verliebt Winston sich in seine Kollegin Julia und verbotenerweise beginnen die beiden eine Beziehung.
Riskantes Verhalten schleicht sich ein und gefährliche Gedanken machen sich breit: Ist eine Rebellion gegen das totalitäre Regime möglich?
Wohl kaum, denn geistige Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit, Privatsphäre, und Individualität sind zu Fremdwörtern mutiert.

Teleschirme überwachen jegliche Bewegung und die erschütternde Krönung ist, dass sogar Kinder dazu gebracht werden, ihre Eltern zu überwachen und zu denunzieren.
Auf diese Weise schwindet jeglicher Ort der Geborgenheit und des Vertrauens.
Habachtstellung, Misstrauen und Angst regieren stattdessen den Alltag, der von der gnadenlosen und allgegenwärtigen Staatsgewalt kontrolliert und reglementiert wird.

Brutale Folterszenen raubten mir beim Lesen den Atem und auch viele andere Schilderungen, sowie die Vorstellung von Fake-News, allgegenwärtiger Unterdrückung, Gewalt und ausgeklügelten Bespitzelungen lasen sich wie ein Alptraum.

Verlogenheit auf allen Ebenen!
Schon die irreführenden Namen der Ministerien, die Ministerien für Frieden, Überfluss, Liebe und Wahrheit, lassen einem die Haare zu Berge stehen.

Ich empfehle diesen beklemmenden, düsteren und nachdenklich stimmenden Roman über eine Diktatur, in dem der einzelne Mensch wertlos und nur nur noch eine leicht ersetzbare Marionette ist, sehr gerne weiter.

George Orwell hat mit „1984“ eine warnende und abschreckende Dystopie ersonnen, die man, so meine ich, gelesen haben muss!

Bewertung vom 05.02.2021
Nächtliche Erklärungen
Awumey, Edem

Nächtliche Erklärungen


ausgezeichnet

In seinen sprach- und bildgewaltigen „Nächtliche(n) Erklärungen“ schreibt Edem Awumey ergreifend und beeindruckend über die Gräueltaten und Schikanen eines diktatorischen, korrupten und gewalttätigen Unrechtsregimes, aber auch über die Schuld- und Schamgefühle des Überlebenden, über die tröstliche, haltgebende und erhellende Bedeutung der Literatur sowie über die heilsame Wirkung des Schreibens.

Der 45-jährige Afrikaner Ito ist sterbenskrank.
Er leidet an Leukämie.
Bevor er stirbt, möchte er sich seine schmerzhaften Erinnerungen, die er bis dato nur aushalten konnte, indem er sie in Alkohol ertränkte, von der Seele schreiben.

In den 80-er Jahren hat Ito in seinem afrikanischen Heimatland, das von einem diktatorischen Regime geführt wurde, Furchtbares durchgemacht.
Die Tortur begann mit einer für den damaligen Studenten harmlosen aber enthusiastischen Flugblattaktion und endete mit Unterdrückung, Gefangenenlager, Folter und Flucht.

Zu Beginn dieser aufwühlenden Geschichte sitzt Ito im Zug.
Er war auf einer Lesung in Québec und befindet sich auf dem Weg nach Hause in seine Souterrainwohnung bei Ottawa, wo er mit seiner drogenabhängigen Freundin Kimi lebt.
Auch Kimi, eine Frau mit indigenen Wurzeln, musste in ihrem Leben schon viel Leid ertragen.
Die beiden haben Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft und geben sich Halt und Geborgenheit, wichtige Voraussetzungen, um die quälenden Erinnerungen und schlimmen Erfahrungen zu verdauen, die sie beide erlebt haben.

Bei all dem Schrecklichen, das Ito durchgemacht hat, war Koli Lem, ein älterer, blinder und gebildeten Mann, den er im Straflager kennenlernte, ein Lichtblick.
Durch ihn lernte Ito die Welt der Bücher und die Kraft der Literatur kennen. Eine Welt, in die die beiden eintauchen und flüchten konnten. Eine Welt, die ihnen kurzzeitigen Rückzug vor all dem Elend ermöglichte.
Nachdem Ito nach dem politischen Zusammenbruch flüchten konnte, kehrte er kurz zu seinen Eltern zurück und begann danach in Kanada ein neues Leben.
Ein Leben mit Kimi und Schreiben.

Ich empfehle dieses zutiefst bewegende, erschütternde, derb, direkt und ungeschönt geschriebene Buch von Edem Awumey, der 1975 in Lomé, Togo geboren wurde und heute bei Ottawa lebt, sehr gerne weiter.

Es ist der vierte Roman des in Deutschland leider noch recht unbekannten Schriftstellers, dessen zweiter Roman „Les Pieds sales“ in Frankreich für den Prix Goncourt nominiert wurde.

„Nächtliche Erklärungen“ ist eine Wucht. Es ist ein erschütterndes Werk über Geschehnisse und Themen, vor denen man nicht die Augen verschließen sollte... Nervenstärke und emotionale Stabilität sind nötig, um sich diesem absolut lesenswerten Werk zu stellen.

Bewertung vom 04.02.2021
Wut
Martenstein, Harald

Wut


sehr gut

Die zunehmend demente Maria muss ins Pflegeheim.
Frank, ihr Sohn, hilft beim Umzug und besucht sie in ihrem neuen Domizil.
Erinnerungen ploppen auf.

Im Verlauf des Buchs lernen wir die beiden kennen und erfahren so Einiges aus ihren Lebensgeschichten.
Maria, im 2. Weltkrieg geboren, wuchs, nachdem sie von ihrer Mutter verstoßen wurde, im Heim und bei Verwandten auf, fand später Zuflucht im Bordell und besuchte eine Klosterschule.
Schlimme Erfahrungen, Enttäuschungen und unerfüllte Träume, z. B. der Traum zu studieren, schürten Wut und Verbitterung - Gefühle, die ihr weiteres kleinbürgerliches Leben überschatteten und zu Gewaltausbrüchen führten, unter denen Frank zu leiden hatte, weil seine unberechenbare Mutter ihm letztlich die Schuld an allem gab und er als wehrloses Gegenüber eine geeignete Zielscheibe für ihre Härte und Lieblosigkeit darstellte.

Auch in Frank, der eines Tages flüchtete, begann die Wut zu wuchern, aber nicht nur das: er entwickelte Schwierigkeiten, enge und stabile Beziehungen zu führen.

Dass der Leser die Hintergründe für Marias unermessliche Wut erfährt, soll und kann ihr Verhalten nicht entschuldigen. Es geht hier lediglich darum, nachvollziehen zu können, wie und warum sie so wurde wie sie war.
Erklärungen, keine Entschuldigung! Dies zu vermitteln, gelingt dem Autor gut.

Ich empfehle den Roman, der die Perspektiven und Entwicklungen beider Protagonisten beleuchtet, überraschende Wendungen im Leben Franks bereithält und mich trotz aller Schwere auch immer wieder schmunzeln ließ, gerne weiter.
„Wut“ ist eine kreative und außergewöhnliche, berührende, aufwühlende und intensive Lektüre, die fesselnd und authentisch geschrieben ist.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.02.2021
Hotel der Schlaflosen
Rothmann, Ralf

Hotel der Schlaflosen


ausgezeichnet

Angst, die beste Freundin des Menschen?
Dieser Gedanke, den Ralf Rothmann seinem Erzählband voranstellt hat und der das verbindende Motto seiner Geschichten ist, hat mich prompt neugierig gemacht und zum Assoziieren angeregt.
Angst kann einen beschützen, weil sie einen innehalten und skeptisch werden lässt, weil sie die Konzentration bündelt und einem den Weg weist und weil man so einer Gefahr entkommt. Sie kann einem, wie es in der Kurzbeschreibung steht, „aus der Not helfen“.
Aber sie kann, wenn sie keine reale Berechtigung hat, auch hemmen und lähmen. Dann ist sie kein offensichtlicher Freund.
Wenn diese Art von Angst aber als psychologischer Fingerzeig ernst genommen wird, dann kann sie eines Tages auch als Freund gesehen werden.
Nämlich dann, wenn sie einem im Rahmen einer psychoanalytischen Behandlung geholfen hat, innere Konflikte zu erkennen und zu überwinden...

Ralf Rothmann präsentiert uns 11 Erzählungen, in denen er besondere Augenblicke oder Phasen fokussiert. „Besonders“ in dem Sinn, als dass sie im Leben des Betroffenen eine Wende darstellen, weil eine Entscheidung gefordert wird.
Er schreibt über Erinnerungen, Chancen und Mut und zeigt immer wieder auf, dass man die Wahl hat und sein Leben oder zumindest etwas davon aktiv in die Hand nehmen kann.

Nun ein kurzes Brainstorming, um eine Ahnung zu vermitteln, um was es in dem Buch geht:
Eine todkranke Violinistin muss noch schnell zurück ins Hotel, um Ersatzsaiten zu holen.
Ein sowjetischer Offizier ist im Keller eines Hotels für Exekutionen zuständig.
Ein misshandeltes Kind wird zu einer misshandelnden, ihre Katze quälenden, Erwachsenen.
Ein Sohn identifiziert die mumifizierte Leiche seines Vaters.
Vater und Sohn spazieren zu einem Spielzeuggeschäft und werden von einem Mann im Bademantel mit einer Waffe bedroht.
Eine Frau nimmt Kontakt zu ihrer ehemaligen Kommilitonin und Mitbewohnerin auf, um wertvolle Informationen zu erhalten.

Der Autor entführt uns an die verschiedensten Orte:
Auf eine Baustelle, in die Wüste Mexikos, auf einen Pferdehof, zu Filmarbeiten ins West-Berlin des Jahres 1981 direkt an der Mauer...

Ralf Rothmann übersetzt Alltagsszenen, die von Traurigkeit, Wut und Ausweglosigkeit, aber auch von Nostalgie, Heiterkeit und Hoffnung durchzogen oder überschattet sind mit scheinbarer Leichtigkeit und voller Lebendigkeit in literarischen Hochgenuss und
beschreibt die Realität poetisch, ungeschönt und ohne Umschweife.

Es ist faszinierend, wie er den Leser in Windeseile in die inneren und äußeren Welten seiner sehr unterschiedlichen und in ihrer ganzen Komplexität gezeichneten Protagonisten hineinwirft.
Er bringt mit wenigen und wunderschönen, hieb- und stichfesten Worten auf den Punkt, was Bedeutung hat und wichtig ist und bringt mit seiner großen Bandbreite an unterschiedlichen Handlungsorten, Figuren, zeitlichen Kontexten und Themen Abwechslung und Schwung ins Buch.
Chapeau.

Ich empfehle diesen berührenden und eindringlichen, vor Ideen und Einfällen strotzenden Erzählband sehr gerne weiter.
Die überwiegend düsteren und beklemmenden, aber durchgehend fesselnden Erzählungen faszinierten mich und brachten mich zum Innehalten und Nachdenken.

Zu diesem höchst abwechslungsreichen und vielschichtigen Werk werde ich sicherlich immer wieder greifen.
Es bekommt einen bleibenden Platz in meinem Bücherregal.

Bewertung vom 30.01.2021
Das Mädchen mit der Leica
Janeczek, Helena

Das Mädchen mit der Leica


ausgezeichnet

Helena Janeczek bringt uns mit ihrem preisgekrönten biografischen Roman eine ganz außergewöhnliche, willensstarke und mutige Frau näher: die Kriegsfotografin Gerda Taro.

Gerda Taro war eine deutsche Fotografin, die zusammen mit ihrem Partner Robert Capa die Schrecken und Grausamkeiten des Spanischen Bürgerkrieges dokumentierte.
Sie war die erste Frau, die an einer Kriegsfront fotografierte.

Sie wurde 1910 in Stuttgart als Gerta Pohorylle geboren. Die Tochter jüdischer Eltern verbrachte den Großteil ihrer Kindheit und Jugend in ihrer Geburtsstadt.
Mit 19 Jahren zog die energiegeladene junge Frau mit ihrer Familie nach Leipzig, wo sie für den Sozialismus entbrannte.
Anfang der 1930-er Jahre flüchtete sie vor den Nationalsozialisten nach Paris, wo sie sich erst mit Schreibarbeiten über Wasser hielt und dann ihre Leidenschaft fürs Fotografieren entdeckte.
Schließlich lernte sie den ebenfalls jüdischen Flüchtling Endre Ernő Friedmann, einen ungarischen Fotografen, kennen- und lieben.
Die beiden lebten und arbeiteten fortan zusammen und legten sich die Pseudonyme Gerda Taro und Robert Capa zu, eine Marketingstrategie, die ihren Ruf und ihre Einkünfte aufmöbeln sollte.

Ihren Einsatz im Spanischen Bürgerkrieg überlebte Gerda nicht. Sie wurde auf der Flucht aus der Kampfregion von einem Panzer überrollt und verstarb 1937 an ihren Verletzungen.
Obwohl Zehntausende trauerten und obwohl es einen Trauerzug und ein Grabmal gab, wurde Gerda Taro danach über Jahrzehnte hinweg vergessen... bis 2007 in New York unzählige Negative, seltene und wertvolle historische Zeitzeugnisse, in einem Koffer gefunden wurden.

Die Autorin übersetzt die Biographie einer außergewöhnlichen, klugen, engagierten und starken Frau in ein berührendes, informatives und absolut lesenswertes literarisches Werk.

In drei Teilen und aus drei Perspektiven bringt sie uns das Schicksal dieser schönen Frau näher.
Willy, der Herzspezialist, Ruth, die Freundin und Georg, der Arzt und Revolutionär, kommen zu Wort.

Besonders abwechslungsreich und authentisch wird die Lektüre durch Rückblenden, Erinnerungen, eingestreute Fotografien und diese Erinnerungsfetzen von den o. g. alten Freunden.

Ich empfehle diesen berührenden, informativen und unterhaltsamen Roman der 1964 in München geborenen Schriftstellerin Helena Janeczek sehr gerne weiter.
Sie hat mit ihrem Werk, in dem sie gekonnt Fiktion mit historischen und biografischen Fakten verwebt, meinen Horizont erweitert und mir vergnügliche Lesestunden beschert. Ihre Sprache ist ein Hochgenuss, der über manche Aus- oder Abschweifung hinwegtröstet.

Bewertung vom 30.01.2021
Mädchen, Frau etc. - Booker Prize 2019
Evaristo, Bernardine

Mädchen, Frau etc. - Booker Prize 2019


ausgezeichnet

Was für ein interessantes, wichtiges und berührendes Buch!

Es spielt in Großbritannien und geht um farbige Einwanderinnen, ihre Töchter und Enkelinnen.

Bernardine Evaristo erzählt uns aus dem Leben verschiedener schwarzer Frauen aus London.
Sie verwebt deren Schicksale oder lässt sie überlappen.
Es sind individuelle Geschichten und doch stehen sie für universelle Themen.
Es geht darum, sich selbst und seinen Platz zu finden, sowie zu seiner Individualität und Andersartigkeit zu stehen und es geht um die Auseinandersetzung mit seiner Herkunft und darum, seinen persönlichen Weg zu entdecken.

Wir erfahren völlig unterschiedliche Lebensentwürfe, lesen von Diskriminierung, Rassismus, Feminismus, Beziehungen, Männern und Kindern sowie über Hausfrauendasein, Arbeitsleben und Karriere.

Äußerst originell finde ich die Idee, dass sich alle Frauen gleich zu Beginn des Buches bei der Theaterpremiere der schwarzen und lesbischen Regisseurin Amma Bonsu „treffen“.
Sie alle befinden sich ganz zufällig am gleichen Ort, sie sind einander aber nicht alle bekannt.
Mit Amma, die jahrzehntelang dafür kämpfte, dass schwarze Frauen ihre Daseinsberechtigung im Theater haben, beginnt und endet der Roman.
Ammas Geschichte ist wie eine Klammer, die alles dazwischen zusammenhält und schafft einen Rahmen, innerhalb dem sich alle „Kurzgeschichten“ bewegen.

Die Autorin erweckt ihre Protagonistinnen zum Leben. Sie haben Ecken und Kanten und werden in all ihrer Vielschichtigkeit gezeichnet.
Brillant arbeitet sie deren Charakterzüge, Eigenheiten und Beziehungen heraus.
Jede Figur und jede Situation bekommt ihren eigenen Ton.
Es ist beeindruckend, wie scheinbar leicht und locker sie zwischen ihnen hin- und verwechselt.

Bernardine Evaristo ist eine scharfsinnige Beobachterin, die flüssig, schwungvoll und lebendig von schmerzhaften oder auch humorvollen Begebenheiten erzählt.

Wenn man sich erstmal an ihren etwas eigenwilligen Stil gewöhnt hat - atemlos, ohne Punkt, aber mit Komma und Absätzen, und zeitweise fast lyrisch und poetisch -, dann kann man das Buch, ein Mosaik aus Lebensgeschichten, nicht mehr aus der Hand legen.
Dieser ungewöhnliche Stil beeindruckt mich, symbolisiert er doch die Dringlichkeit, mit der diese Geschichten erzählt werden müssen und die Forderung und Erwartung der Autorin, bei ihrer Erzählung nicht gebremst oder unterbrochen zu werden.
Sie will gehört werden.
Sie muss gehört werden!

Obwohl sich in dem Werk sehr viele Figuren tummeln und obwohl nicht wenige Themen behandelt werden, wirkt es nicht überfrachtet und wird man nicht überfordert oder verwirrt. Das halte ich für echte schriftstellerische Kunst!

Mädchen, Frau etc. ermutigt dazu, zu sich selbst zu stehen, sprüht vor Elan und ist ein eindrückliches, engagiertes und bewegendes Plädoyer für Toleranz, das mich äußerst gut unterhalten und bereichert hat.
Es regt zum Mit- und Nachdenken an und hallt nach.

Dass Bernardine Evaristo mit diesem Werk 2019 den Booker Prize gewonnen hat, verwundert mich nicht.

Bewertung vom 29.01.2021
Kindheit / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.1
Ditlevsen, Tove

Kindheit / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.1


ausgezeichnet

In „Kindheit“, dem ersten Band ihrer autofiktionalen Trilogie, erzählt die 1917 geborene dänische Autorin Tove Ditlevsen von ihrem Aufwachsen in einer Arbeiterfamilie in einem Vorstadtviertel von Kopenhagen in den 1920-er Jahren.

Wir begleiten sie bis zu ihrer Konfirmation, dem Ende ihrer Schulzeit mit knapp 14 Jahren und in ihre Jugend hinein, eine Lebensphase, über die die Autorin im zweiten Band schreibt.

Im vorliegenden Band erfahren wir von den erschwerten Bedingungen ihres Aufwachsens in ärmlichen Verhältnissen und komplexen, konservativen und schwierigen familiären Strukturen zusammen mit ihrem älteren Bruder Edvin, der ihr vorgezogen wurde.

Die Familie lebte in einer kleinen Wohnung in einem Hinterhaus.
Ihre eher unterkühlte und unnahbare Mutter gab ihr nicht die Liebe, die sie gebraucht hätte und ihr als Heizer zunächst vielbeschäftigter, dann arbeitsloser und wortkarger Vater konnte das nur sehr bedingt ausgleichen.
Sein Interesse galt der Politik und seine Liebe zu Büchern wurde zu einer Brücke, die ihn zaghaft und zeitweilig mit Tove verband.
Er teilte dieses Faible für Literatur mit seiner eher introvertierten, schüchternen, intelligenten und wissbegierigen Tochter Tove, die unter Gleichaltrigen eine Außenseiterin war.

Schon bald regte sich der Wunsch in ihr, Schriftstellerin zu werden, wofür ihre Mutter keinerlei Verständnis aufbrachte und was auch ihr Vater nicht unterstützte, weil aus einem Mädchen nunmal kein Dichter werden kann.
Ein Mädchen sollte in diesen Jahren eigentlich nur eins: heiraten und eine brave Haus- und Ehefrau sein.

Auch ihr Bruder nahm sie nicht ernst. Er belächelte ihre Gedichte.
Mit der Zeit begann Tove, eine Maske zu tragen.
Vordergründig passte sie sich an, aber in Wahrheit wollte sie sich den Konventionen der damaligen Zeit nicht unterwerfen.
Ihre wahren Interessen, Wünsche und Ziele verbarg sie.
Ihre Anpassung führte sie dabei kurzzeitig fast auf Abwege.

Wortgewaltig und dicht, klar, direkt und ohne Umschweife erzählt Tove Ditlevsen aus ihrer Kindheit und von ihren Gedanken, Gefühlen, inneren Konflikten und Sehnsüchten.
Es ist leicht, sich in Tove hineinzuversetzen und man spürt, dass sie sich nicht zugehörig, sondern andersartig fühlt.
Sie hat das Gefühl, nicht zu genügen und für alles verantwortlich, an allem schuld zu sein.
Außerdem vermittelt die Autorin en passant den Zeitgeist und das Lebensgefühl zwischen den beiden Weltkriegen und wir bekommen ein eindrückliches Bild von der damaligen dänischen Gesellschaft.

Manchmal wählt die dänische Autorin zarte und sanfte Worte, dann wiederum erzählt sie rigoros und messerscharf. Rührselig oder gar kitschig wird sie dabei nie, aber ihre Art zu erzählen ist durchgehend intensiv, schonungslos, präzise ehrlich und authentisch.

Ich empfehle die Lektüre dieses schmalen, beeindruckenden und fesselnden Bändchens, das die Schriftstellerin 1967 in einer Suchtklinik verfasste, sehr gerne weiter und freue mich sehr auf die beiden anderen Bücher der Trilogie von Tove Ditlevsen, die sich 1976, mit nur 58 Jahren, das Leben nahm.