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Juma

Bewertungen

Insgesamt 123 Bewertungen
Bewertung vom 22.07.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


sehr gut

Tiefe, schmerzliche Einblicke in ein fremdes Leben

Doris Knecht kenne ich von ihren Romanen Die Nachricht und Gruber geht, gerade las ich, dass ihr Roman Wald verfilmt wurde, also eine nicht ganz unbekannte österreichische Autorin in Norddeutschland, deren neuer Roman jetzt im Sommer 2023 herausgebracht wird. Mich hat nicht nur ihr Name, sondern auch der Titel angezogen, ich war gespannt, was eine Frau so alles vergessen kann.
Ja, die Protagonistin dieses Romans vergisst viel über die Jahre, aber eigentlich ist es das Viele, an das sie sich fortwährend erinnert fühlt. Sie ist Mitte 50, die beiden Kinder (Zwillinge, Max und Mila) ziehen aus und sie macht aus der Not eine Tugend und zieht in ihre kleine, ehemalige sogenannte (Schreib-)Werkstatt. Dass sie aus der Tochter Luzi kurzerhand einen Max macht, weil Luzi nicht im Buch auftauchen will, ist ein sehr gekonnter Kunstgriff. Max lässt sich als der sensible Junge offensichtlich besser beschreiben als eine widerspenstige Tochter.
Ich will hier nicht aufzählen, was man als Frau im Laufe der Zeit so alles vergessen kann, aber einige Ideen sind schon zum Lachen, Sonnenbrillen, die gleich mehrfach verloren gehen, ebenso wie die Farbe der Teppiche oder die echten Erinnerungen an die Kinder, als sie klein waren. Doris Knecht beschreibt also nicht nur ihre materiellen, sondern auch ihre ideellen Verluste, bisweilen für meinen Geschmack etwas zu ausführlich, aber sie fängt sich immer wieder selbst ein. Beginnt mit einer neuen Überschrift einen neuen Gedanken.
Eine der schönsten Szenen spielt im Kapitel Spinnweben, die alten Eltern (die aufgebrezelte Mutter würde hier wohl das Jugendrennen gewinnen) besuchen die neue Miniwohnung und versuchen sich am Auseinandernehmen der Backofentür, in der die Mutter Spinnweben entdeckt. Wunderbar, weil so vollkommen realistisch. Trotzdem liebevoll.
Wenn Max und Mila zu Besuch sind, ist da immer etwas Hintergründiges, ich glaube, Max trifft den Seelenzustand seiner Mutter genau, als er meint, sie könne wenigstens verbergen, dass sie sich freut, wenn sie wieder allein ist und ihre Ruhe hat.
Ja, dann ist da auch noch ein Hund, an dem die beiden Kinder wohl noch mehr hängen als an der Mutter. Der fährt nicht gerne Auto. aber das ist schon wieder eine andere Story.
Mit hat dieser Roman trotzdem nur teilweise sehr gut gefallen, was mich etwas gestört hat, waren die unzähligen Jammersätze, dass die große Wohnung zu teuer wäre und nun keine schöne, neue, bezahlbare mehr zu finden sei. Da spürte ich plötzlich, dass Österreich doch gar nicht so weit weg von Deutschland ist, zumindest mental, wenn man so dem ÖRR da wie dort zuhört, wo solche Jammerorgien an der Tagesordnung sind. Immerhin hat ja die jammernde Hauptperson noch ein Häuschen, das sie nun mit dem Hund im Schlepptau anpeilen kann.
Fazit: Eine Lebensgeschichte, die dem Leser eine Frau nahebringt, die nicht mehr jung, noch nicht alt, alleinstehend, und doch nicht allein ist. Sie hat ihre Kinder in der Nähe, sie hat einen Hund, sie hat Arbeit, sie hat Freunde, sie hat sich selbst, ihre Erinnerungen und alles das, was sie meinte, vergessen zu haben, das hat sie auch noch. Kein Grund zum Traurigsein, auch wenn man mitunter ein bisschen Mitleid mit ihr verspürt.

Bewertung vom 19.07.2023
Die Uckermark ist ausverkauft
Heintze, Birgit von

Die Uckermark ist ausverkauft


gut

Letztendlich geht es immer wieder um Anerkennung

Meine Überschrift ist ein Zitat aus dem Buch, sie hätte auch heißen können „Fürs Leben lernen“, das ist auf jedem Fall, am Ende des Buches angelangt, mein letzter Gedanke.
Das im Berliner Prenzlauer Berg wohnende Ehepaar Rosa und Richard hat nach dem Auszug der nun studierenden Töchter das Bedürfnis nach Entspannung, nach Grün, nach Abgeschiedenheit, sie denken zurück an ihre ersten Jahre in Schleswig-Holstein und suchen nach dem perfekten Wochenendglück.
Dass die Uckermark, eine idyllische Gegend nordöstlich von Berlin, ausverkauft ist, hindert die beiden nicht, gerade dort ihr Glück zu versuchen. Ein ominöser Herr Petterson verkauft ihnen ein noch ominöseres Grundstück an einem See, bebaut mit einem Forsthaus, das ich als marode Ruine bezeichnen würde. Das Idyllische der Umgebung bleibt zwar erhalten, aber es kommt so dick, dass man auf jeder Seite erwartet, dass entweder die Ehe zerbricht oder das Haus.
Diplomatisches Geschick mag zwar gefragt sein beim Umgang mit Bürokraten, Architekten und Handwerkern, aber aus meiner Sicht hat alles seine Grenzen. Rosa aber ist zäh, Richard bisweilen angepestet, die Handwerker aus Nah und Fern verhalten sich zwischen renitent und kooperativ, die Nachbarn (2 Kilometer Luftlinie) sind auch gewöhnungsbedürftig. So kommt es, das Rosa häufig bei ihrem besten Freund Olaf landet, der zum Glück anderweitig orientiert ist, und dort jede Menge Tränen und Jammer ablässt. Den ausgefallenen Designwünschen für die Innenausstattung, die Rosa trotz der Frustrationen immer weiter durchboxt, hat Ehemann Richard wenig entgegenzusetzen, kein Wunder, dass er der Baustelle und seiner Frau ab und zu den Rücken kehrt.
Dieses Buch beweist es ganz deutlich, Murphys verfluchtes Gesetz ist real. Als sich dann nach zwei Jahren endlich Licht am Horizont zeigt, sind es die Holzböcke, die dem Gesetz huldigen. Ob und wie das Ganze ausgeht, will ich hier nicht schreiben, jeder Leser kann sich selbst ein Urteil bilden.
Das Buch ist ein Roman, basiert aber wohl auf ganz handfesten Erlebnissen, die Figuren sind Kunstfiguren, aber sehr lebensnah. Manchmal hat man den Eindruck, ein privates Tagebuch zu lesen, manchmal fühlt es sich eher wie ein Tatsachenroman an. Zwischendurch muss man als Leser schon recht geduldig sein, vieles wird sehr ausführlich geschildert.
Jeder, der eine Wohnung oder ein Haus mietet oder kauft, erlebt Schäden, Schädlinge oder andere Katastrophen, kommt früher oder später in den Genuss von Handwerkern. Dieses Buch dürfte den einen oder anderen von großen Experimenten abhalten. Ohne jede Menge Geld, Geduld und möglichst eigenes handwerkliches Geschick ist der Durchschnittsmensch aufgeschmissen. Deshalb empfehle ich dieses Buch als eine Art Lebenshilfe möglichst präventiv zu genießen.
Mein Fazit ist wieder ein Zitat: „Wer das nicht schafft, muss lernen, mit unschönen Kompromissen zu leben.“ Wie wahr, das ganze Leben besteht aus Kompromissen.

Bewertung vom 15.07.2023
Tobis Städtetrip
Kämmerer, Tobi;Wurster, Tina

Tobis Städtetrip


ausgezeichnet

Solche Städtetrips und Städtetipps kann es gar nicht genug geben

Mir gefällt dieses Buch ganz außerordentlich. Es ist nicht zu groß, die Schrift ist gut lesbar, die Typografie locker und ansprechend. Die Fotos sind lustig und lockern den Text gut auf. Die Fadenbindung verbessert die Haltbarkeit um ein Vielfaches, denn dieses Buch will geblättert und gebogen werden, es will ja mit auf die Reisen!

Ich kenne einige Orte bereits und habe trotzdem jede Menge unbekannte Ecken entdeckt. Beispiel Eltville, ich will sofort zum Weinhaus Krone, wenn ich dort ankomme.

Alle Ausflugs- und Einkehrtipps sind so gut beschrieben, da wäre es wohl egal, wohin man zuerst fährt. Übrigens gefällt mir das Buch fast noch besser als die Städtetrips im Fernsehen. Wer nimmt schon die Filme mit, wenn er durch die Orte spaziert. Mit dem kleinen Büchlein ist man jedenfalls vor Ort bestens informiert - und gut unterhalten, solange man zu Hause auf dem Sofa sitzt und Reisen plant.

Bewertung vom 11.07.2023
Agentenfieber
Kerwien, Bettina

Agentenfieber


sehr gut

Geheimnisvolle Postkarten sind nur die Spitze vom Eisberg

Obwohl sehr heftig fabuliert wird in diesem Krimi, hat er mir doch Spaß gemacht. Das Hintergrundwissen über Westberlin, Stasi, BND, KGB. LKA und sonstige geheimdienstliche Erkenntnisse sollte man tunlichst nicht mit der Krimiwirklichkeit vergleichen. Wer sich auf die Story um ein nicht ganz koscheres Fabergé-Ei, merkwürdige Damen aus Ost und West, durchgeknallte sowjetische Generäle und liebenswerte Charaktere wie Peter Kappe, Landsberger und Kommissarin Rosi einlässt, der wird nicht enttäuscht. Dass Autorin Bettina Kerwien das Agentenfieber mit viel Fantasie um Bond und Bomben ordentlich anheizt, ist zwar manchmal ein bisschen übertrieben, bleibt aber bis zum Schluss lesens- und liebenswert. Und das Rätsel der nebulösen Postkarten wird am Ende auch noch aufgelöst. Was will man mehr.

Ich freue mich schon auf 1984, ob da der Autorin etwas zu George Orwell im Sinn ist?

Bewertung vom 09.07.2023
Mords-Partie
Nebl, Monika

Mords-Partie


sehr gut

Unterhaltsamer Krimi mit bayerischem Flair
Wer bereits die ersten vier Wasserburg-am-Inn-Regionalkrimis von Monika Nebl gelesen hat, braucht keine Eingewöhnungszeit in die bayrische Landschaft und Sprache, bei mir als Norddeutscher hat es aber auch nicht lange gedauert und ich war drin im Geschehen.
Arminia, kurz Minnie genannt, lebt von Töpferkunst (mit Vorliebe für kleine Monsterfische) und Liebe (hier erscheint Freund und Bänker Alex). Dass sie offensichtlich auch eine kriminalistische Ader hat, wird schnell klar. Leider ist der Auslöser dieses neuen Krimis eine Leiche, Corinna, eine Zugezogene und Ehefrau vom Simon, genannt Simmerl, wird in ihrem Himmelbett tot aufgefunden. Dass sie durch fremde Hand starb, ist auch gleich klar. Wer der Mörder ist, das ist bei Weitem schwerer herauszufinden. Das Angebot an Verdächtigen ist recht groß, wenn auch eher regional. Die Minnie hat so einen Riecher, ihre Anspielungen erregen aber nicht bei jedem Freudengeschrei.
Die Autorin lässt den Leser aber nicht nur teilhaben an der Mördersuche, sie bringt auch jede Menge Abwechslung durch menschliche und zwischenmenschliche Beziehungen ins Spiel. Etwas ausführlich gerät dabei die Vorbereitung des Junggesellinnenabschieds ihrer besten Freundin Toni, die jederzeit Gefahr läuft, dass ihr kleiner Zwack lieber auf Erden als im Mutterleib herumzappeln möchte. Ob die Abschiedspartie gelingt, verrate ich nicht.
Die Figuren im Krimispiel lässt Monika Nebl nach Belieben tanzen, es ist lustig, manchmal abenteuerlich, aber eigentlich nie langweilig. Angefangen bei Mutter Traudl, die schon eine recht spezielle Person ist, weiter bei ihrem Lebenspartner Gustl, der nicht nur Rücken sondern auch Bein hat, lernt man jede Menge skurrile Typen kennen. Ja, die Angler aller Couleur nicht zu vergessen... und eine grüne Gießkanne bekommt auch noch eine Rolle im kriminalistischen Alltag.
Dass Monika Nebl auch unter verschiedenen Pseudonymen Fantasie- und Romantikromane schreibt, weiß vielleicht nicht jeder Leser, ab und an blitzen im Krimi ein paar Ideen auf, die offensichtlich aus dieser Richtung kommen.
Wer gerne mal nach Bayern fahren möchte, hätte mit dem Krimi auch schon einen kleinen Reise-, Berg und Wanderführer zur Hand. Das Regionale bindet die Autorin sehr gekonnt in die Handlung ein.
Wer sich mit dem Bairischen nicht so gut auskennt, der bekommen am Ende des Buches ein wunderbares Wörterbuch geliefert, das könnte man gleich noch extra verlegen für Urlauber und andere Fremde, die nur Bahnhof verstehen. Ich habe es vorneweg gelesen, dann habe ich es nicht mehr gebraucht, im Text ist trotz der „Fremdwörter“ alles selbsterklärend.
Dass am Ende auch der böse Mörder gefunden wird, versteht sich fast von selbst. Das Buch bietet dem Leser einen wirklich gekonnten Showdown.
Fazit: Dieses Buch macht Spaß, ist gut gegen Langeweile und hat mein Leserherz erfreut.

Bewertung vom 05.07.2023
Lost & Dark Places Sachsen
Lohs, Cornelia

Lost & Dark Places Sachsen


ausgezeichnet

Lost Places sind nicht nur ein Magnet für Abenteurer und „Grufties“, auch Wanderer, Urlauber, Ahnenforscher oder Geschichtsliebhaber machen sich heutzutage auf den Weg zu dunklen Gefilden. Cornelia Lohs legt mit ihrem Buch über 33 vergessene, verlassene und unheimliche Orte einen kleinen Wegweiser für Sachsen vor, der es in sich hat. Die Autorin kann nicht nur fantastisch fotografieren, sie hat auch – es muss schon eine Weile gedauert haben, die Menge an Material zusammenzutragen und zu einem Buch zu verdichten – zu jedem der verwunschenen Orte die Geschichte beschrieben sowie sich dem heutigen Zustand gewidmet. Ihre Informationen gehen von der Anschrift bis zu GPS-Koordinaten und soweit möglich, Öffnungszeiten oder Zutrittsmöglichkeiten. Einfach bewundernswert, diese Arbeit, die Liebe und die Akribie, die sie in jeden einzelnen Beitrag gesteckt hat.
Abgerundet wird alles mit einer Übersichtskarte innen auf der 2. Umschlagseite/Klappe, auf der man die Objekte der Begierde per Kapitelnummer sofort findet. Wer also irgendwo in Sachsen unterwegs ist, sollte dieses Buch im Gepäck haben und schauen, ob er einen der beschriebenen Orte findet. Sehr schade, ich war bereits zwei Mal in den letzten Jahren in Görlitz, aber nichts von den sechs Lost Places habe ich bei meinen Stippvisiten gesehen. Nach Görlitz muss ich also noch einmal mit diesem Buch reisen.
Für mich der überraschendste Fund in diesem Buch war die Beschreibung des Alten Israelitischen Friedhofs in Leipzig. Einige meiner Verwandten wurden wahrscheinlich dort Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts beerdigt. Für mich war völlig neu, dass dieser Friedhof noch so existiert.
Die typografische Gestaltung hat der BRUCKMANN Verlag in offenbar bewährte und goldene Hände gelegt, auch Lektorat, Korrektor etc. arbeiteten auf höchstem Niveau. Mich freut so etwas ganz besonders, ich komme aus der Buchbranche.
Auf der 3. Umschlagseite bzw. der Umschlagklappe hat der Verlag eine ansehnliche Anzahl Lost & Dark Places-Bücher vorgestellt, ich werde mir als nächstes das Ruhrgebiet vornehmen, Geburtsort meines Vaters.
Ich empfehle dieses Buch sehr, es bietet mehr als nur Lost Places, es bietet Einblicke in eine vergangene Welt und lässt mit Fantasie vielleicht etwas Neues entstehen. Danke, liebe Cornelia Lohs. Fünf Sterne plus!

Bewertung vom 12.06.2023
Die Affäre Alaska Sanders
Dicker, Joël

Die Affäre Alaska Sanders


sehr gut

Es ist ein langer Weg bis zur Lösung des Falles, aber er lohnt sich
Wer den Schriftsteller Joël Dicker kennt, ahnt bereits, es wird wieder ein langes Hörbuch resp. ein dickes Buch! Im Hinterkopf tauchen Harry Quebert, die Baltimors oder Stephanie Mailer auf, ja, in Andeutungen und interessanten Begegnungen wird man ihnen auch in dem neuen Roman begegnen. Da die anderen Romane bereits eine Weile zurückliegen, ist es auch angebracht, ab und zu an Ereignisse erinnert zu werden.
Der Fall der ermordeten Alaska Sanders bringt den Ich-Erzähler Schriftsteller Marcus Goldman und seinen Freund und Gegenspieler Sergeant Perry Gahalowood an ihre Grenzen. Jede ermittelte Spur führt zur nächsten, nichts ist wie es scheint. Joël Dicker amüsiert sich wahrscheinlich heimlich über seine irregeführten Leser. Ich werde hier über die Handlung nichts schreiben, jeder Leser sollte die Kriminalfälle, die hier miteinander verknüpft werden, selbst mit ermitteln, sonst würde es langweilig werden.
Der Autor schafft es über die lange Strecke, den Leser bei der Stange zu halten, im Hörbuch, dass ich bei Dicker generell bevorzuge, gibt Torben Kessler sein Bestes. Mir haben die 18 Stunden ein wirkliches Hörvergnügen bereitet. Und das Ende war natürlich überraschend.

Bewertung vom 11.06.2023
Kriegspropaganda und Medienmanipulation
Hardinghaus, Christian

Kriegspropaganda und Medienmanipulation


ausgezeichnet

Propaganda und Manipulation erkennen, verstehen und widerstehen
Bisher habe ich mich mehr mit den Büchern von Christian Hardinghaus beschäftigt, die Themen zum Zweiten Weltkrieg behandelten, nun ist ein Sachbuch erschienen, dass ich fast schon als Lehrbuch bezeichnen würde. Hardinghaus nimmt sich der tagtäglichen Propaganda und der Medienmanipulation an, die jeden (be-)trifft, der Nachrichten hört oder sieht, die Zeitung liest, Internetnews konsumiert usw. Hat man dieses Buch gründlich bis zu Ende gelesen, wird man wahrscheinlich noch öfter über die vielen, unterschwelligen oder laut tönenden Indoktrinationsversuche stolpern als bisher.
Nachdem die Ursprünge und die historische Entwicklung der heutigen Propaganda erklärt wurden, zeigt der Autor auf, dass die Propaganda, die uns heute begegnet, allumfassend und sehr subtil bis sehr aggressiv auf uns wirkt. Die ersten beiden Kapitel heißen „Propaganda erkennen“ und „Propaganda verstehen“, die das perfekt beleuchten.
Das dritte Kapitel ist mit „Propaganda entlarven“ wie ein Lehrbuch aufgebaut und erklärt die Begriffe und Methoden, („Über 75 Formen und Techniken in praktischer Anwendung“). Hier sollte man sich vielleicht auch im Buch Notizen machen, wenn einem die eine oder andere Propagandamethode live begegnet. Die Propagandamethoden, die angesprochen werden, kannte ich mit ihrem wissenschaftlichen Namen nicht alle, aber Propaganda zu erkennen, ist für aufmerksame Leser und Hörer nicht ganz so schwer, wie gedacht. Die Einteilung in die sieben Grundformen der Propaganda fand ich sehr hilfreich, zum Glück reicht mein Englisch für die einführenden Originalworte aus. Aber es wird natürlich danach ausführlich erklärt. Für mich eine wahre Fundgrube waren die „Appelle“ und etwas Latein (hatte ich in der Schule nicht) lernte ich gleich noch mit. Oftmals beim Lesen der einzelnen Begriffserklärungen und Methoden hatte ich das Gefühl, ich lese hier über den Umgang der Medien mit der Corona-Pandemie, der „Klimakrise“, dem maroden Gesundheitswesen, den grünen Allmachts- und Heizphantasien. Propaganda kommt in vielen Verkleidungen daher! Medienmanipulation geht mit ihr Hand in Hand. Corona war ein Höhepunkt, der dann durch den Ukrainekrieg abgelöst wurde, aber die obrigkeitsergebene Masse wurde sofort in einem Atemzug auf den „richtigen Weg“ bei Strom, Gas, Heizen, AKW-Abschaltung, Waffenliefern etc. gebracht.
Kapitel vier befasst sich mit der Kriegspropaganda und erklärt sie anhand von Beispielen aus den Weltkriegen wie auch aus aktuellen Kriegen der letzten 70 Jahre, alles mit Details untermauert, die immer wieder erstaunen. Sehr interessant fand ich im Kapitel die "Erfindung" der professionellen Propaganda in Amerika und Großbritannien, damit habe ich mich bisher wenig beschäftigt und eine Menge Interessantes auf kurzem Wege gelernt. Der Kosovo-Krieg wiederum erinnert mich in vielem an die heutige Lage in der Ukraine und an die Propaganda rundherum. Die Kosovaren sind die „Guten“ gewesen, die Serben die „Bösen“ – die Propagandatrommel wurde auch in Deutschland kräftig geschlagen.
Im Kapitel fünf wird die Propaganda um den Ukrainekrieg beschrieben, die wir ja seit fast eineinhalb Jahren hautnah zu spüren bekommen.
Dem schließt sich das an, was ich als Medienkritik bezeichnen würde und von der ich hoffe, dass Journalisten, Zeitungsmacher, TV-Redakteure usw. sich so manchen Satz zu Herzen nehmen würden. Gerade die russische Kriegspropaganda, die um den ganzen Globus geht und sehr differenziert ihre Ziele sucht, wird sehr anschaulich beschrieben. Mein Problem ist aber, man wird zwar in den Medien und im ÖRR vollgetextet, aber die russische Seite wird mehr oder weniger ignoriert. Was man nicht veröffentlicht, braucht man ja auch nicht zu kommentieren oder zu analysieren. Das wäre aber für die Bevölkerung nicht schlecht. Dazu passt dieses Zitat von Seite 211: „Wenn aber weiter die Devise vorherrscht, dass das Verdrängen unangenehmer Inhalte sicherer wäre, als sich diesen zu stellen, geschieht gar nichts.“
Der Abschnitt zur ukrainischen Kriegspropaganda hat mir nicht ganz so gut gefallen, vielleicht hätten ein oder zwei Zwischenüberschriften das noch ein wenig strukturieren können. Und: Die Ukraine verspielt aus meiner Sicht viele Sympathien durch ihr aggressives, forderndes, beschuldigendes Propagandaverhalten gegenüber der westlichen Welt, aber insbesondere auch hier in Deutschland.
„Propaganda als Methode ausschließlich politischer Manipulation“ zu bezeichnen, das trifft aus meiner Sicht zu 100 Prozent zu. Sich davor zu schützen, das obliegt dem Menschen selbst. Dafür muss er sie erkennen, ich denke, dass dieses Ziel mit Hilfe von Christian Hardinghaus erreicht wird. Ich fühle mich sensibilisiert und werde auch in Zukunft das Buch als ein Nachschlagewerk für den „Propagandaalltag“ verwenden.
Das Buch ist gut lesbar, ja sogar unterhaltsam geschrieben, die Lehrbuchatmosphäre wird in den Hintergrund rückt. Ich freue mich immer wieder an Hardinghaus‘ Schreibstil, modern und unprätentiös.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.06.2023
Mann vom Meer
Weidermann, Volker

Mann vom Meer


gut

Mehr Meer war selten um Thomas Mann

Volker Weidermann ist ein Autorenname, der mich seit Jahren magisch anzieht. Zuletzt das wunderbare Buch über Anna Seghers in Mexico, unvergessen die Gespräche der Literaten 1936 in Ostende. Nun also der Titan Thomas Mann, der ganz sicher, und immer wieder Beachtung verdient. Was Weidermann in diesem Buch vereint, sind Familien-, Lebens-, Literatur- und Liebesgeschichte(n). Ein weit ausholender biographischer, philosophischer und tiefenpsychologischer Blick auf T. M. Ein Zitat: „Die Seeluft solle ihn stärken und erfrischen, einen Mann vom Meer aus ihm machen.“
Weidermann schmückt diesen Blick mit diversen Zitaten und mit dem Meer. Wobei das Meer in seiner Endlosigkeit bei mir zu einer gewissen Langeweile beitrug. Sind die Erzählungen über Großeltern, Eltern, Verwandte und Angehimmelte im ersten Teil des Buches noch unterhaltsam zu lesen, empfand ich Späteres als zäh und langatmig.
Wer bereits verschiedene Bücher über T. M. und die Seinen, auch über Heinrich Mann gelesen hat, wird biographische Details sicher kennen. Das Literaturverzeichnis ist übrigens umfang- und hilfreich.
Was die lange Zeit der Emigration in den USA betrifft, war mir das Kapitel etwas knapp gehalten. Meer gab es dort ja auch jede Menge und kluge Gedanken und tiefe Gefühle auch.
Die Lieblingstochter hat sich „ernst wie ein Junge“ als pragmatische Utopistin ihr ganzes Leben mit Meeresbiologie beschäftigt. Ob das nach des Vaters Sinn war, da bin ich mir nicht sicher. Ihr und ihren Gedanken gibt Weidermann im Nachwort viel Raum. Elisabeth Mann Borgese ist eine bemerkenswerte Frau gewesen, eine Frau vom Meer eben, aber mein Geschmack ist ihr Utopismus nicht.
Und so schließt sich der Kreis. Weidermann jedenfalls verbindet alles zu einer gewaltigen Welle, der Leser kann sich mitreißen lassen oder darin ertrinken.
Dass der Autor mir am Ende noch einen gehörigen Stich versetzt, muss ich leider erwähnen. Der studierte Germanist wendet sich in seinem Dank an die “Kommentator*innen der Frankfurter Thomas-Mann-Ausgabe“ ebenso wie an die „Wissenschaftler*innen auf der »Elisabeth-Mann-Borgese«“. Ein ganzes Buch voller wunderbarer Formulierungen, Zitate von Mann und Gedichte, die einem das Herz weich machen, und dann Gendersternchen. Schade. Auch für den Verlag. (Hinweis: wer No-Gender in Chrome o. ä. eingeschaltet hat, sieht die * natürlich nicht.)

0 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.05.2023
Ein Garten voller Bücher
Donati, Alba

Ein Garten voller Bücher


gut

Verliebt in Bücher und verzettelt

Buchhandlungen und Buchläden aller Art, an den bekanntesten oder absolut versteckten Orten sind seit Jahren beliebtes Thema verschiedener Literaten und Literaturliebhaber. Alba Donati reiht sich ein in eine Autorenliste, auf der u. a. Penelope Fitzgerald, Liv O'Malley, Satoshi Yagisawa, nicht zu vergessen Shaun Bythell ihren Platz haben. Die Liste wäre beliebig fortzusetzen, die Namen tauchen natürlich als Ideengeber auch in Alba Donatis Buch auf.
Alba Donati ist Jahrgang 1961, ist wahnsinnig belesen und beim Aufbau der Buchhandlung im Hinterland der Toskana, im kleinen Ort Lucignana, macht sie ihren Lebenstraum wahr: ein Leben im himmlischsten Büchergarten der Welt. Der Starttermin ist fast gleichzeitig der Beginn der Covid-Pandemie, dass dann auch noch ein Brand der gerade eröffneten Dorfbuchhandlung, die hier und da auch Gegenstimmen auf den Plan rief, beinahe zum vorzeitigen Ende der Idee führte, ist Schicksal. Sie trotzt dem Schicksal mit Hilfe von Dorfbewohnern, Crowd Funding, Freunden und plötzlich auftauchenden Sponsoren. Die Neueröffnung gelingt mit viel Glück und Gottvertrauen.
Die Autorin erzählt all das und noch viel mehr rückblickend in einem Tagebuch, das sie im Januar 2021 beginnt und das sechs Monate später endet. Den Leser erwartet ein wahres Feuerwerk aus Buchempfehlungen, Lebens- und Dorfgeschichten, Familienverwicklungen, glücklichen Momenten und traurigen Ereignissen. Was mich im Januar und Februar noch fesselte, wurde mir mit jedem folgenden Monat doch zu viel des Guten. Lichtblicke waren die täglichen und überschaubaren Buchbestellungen, die abgearbeitet worden waren. Zu meinem Glück waren unter den erwähnten Autoren dann tatsächlich auch einige, die ich kenne und sogar gelesen habe. Aber das waren wenige. So kam es des Öfteren vor, dass ich das Handy zur Hand nahm und mir Unbekanntes googelte. Je mehr Namen auftauchten, um so seltener googelte ich. Unterdessen hatte ich aber Emily Dickinson kennengelernt und Penelope Fitzgerald auch, ich weiß nun, was ein Adirondack-Gartenstuhl ist, wo sich das Dorf befindet und wie es in der Buchhandlung aussieht.
Einzelne Sätze und Episoden sind erfrischend und ironisch, wunderbar der 8. März mit dem Auftritt der Dorfschönheiten im Netz. Albas Mutter versehen mit dem Beruf Hundertjährige. Und dann bezeichnet sie sich selbst ein paar Tage später als lebende Tote. So kann es gehen mit Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung. Dass es für die Mutter immer schwieriger wird, den Alltag, die Stufen und Wege zu meistern, ist traurig und es wird auch für Alba und ihren Bruder nach einem Unfall sehr schwer, die Mutter in ständige Pflege zu geben. Ich kenne diese Probleme aus eigener Erfahrung und kann mich gut hineinversetzten in diese seelischen Qualen.
Bei der Bearbeitung der Buch- und Autorenauswahl durch das Lektorat im Berlin-Verlag wurde sicher viel Mühe aufgebracht, an welcher Stelle und wie etwas verändert wurde, konnte ich nicht herausfinden. Insgesamt finde ich die Idee, das Buch ins Deutsche zu übertragen, sehr lobenswert, ich bin aber etwas traurig, dass ich nicht ein E-Book gewonnen habe. Auf dem iPad zu lesen, wäre für mich viel besser gewesen. Einerseits liest sich die Bodoni für mich als Brillenträger nicht so besonders gut, die feinen Serifen werden vom Papier teilweise verschluckt, es ist kein kontrastreiches Schriftbild, es wirkt beinahe dunkelgrau auf dem gelblichen Papier. Außerdem wäre das direkte Nachschlagen von italienischen Buchtiteln, unbekannten Autoren etc. praktischer.
Die Gestaltung des Buches gefällt mir aber insgesamt sehr gut, das Hardcover macht einen wertigen Eindruck, es passt zum teilweise sehr romantischen Beschreiben der Landschaft und der vielen Bücher. Dass sich die negative, orange Schrift auf der Rückseite fast gar nicht vom Fond abhebt, ist etwas störend. Der Titel vorn in Versalien ist natürlich in dieser Farbe gut lesbar, weil die Schrift viel größer ist. Der graue Rücken sieht schick aus, aber nachdem ich nun das Buch ganz intensiv gelesen habe, sind die Kanten leider schon abgestoßen und leuchten weiß.
Warum die Tagebucheintragungen keine Jahresangabe haben, ist mir eigentlich unverständlich. Das ist eher für Tagebuch-Romane üblich, die ohne Jahresangaben im Raum schweben, weil das Jahr nicht wichtig ist oder nie genannt wird.

Fazit: Alba Donatis Tagebuchgeschichte ihres Gartens der Bücher hat mir sehr viele Ideen beschert, mich in das toskanische Dorfleben eingeführt und einiges über die romantischen, aber auch bodenständigen Beziehungen zu Menschen, Autoren und Bücher und Pflanzen gelehrt. Die schiere Fülle aber und die oft hin- und herspringenden Gedanken und Ereignisse haben mich bisweilen irritiert. Schwer nachvollziehen kann ich, dass Bücher weiblicher Autoren von Alba Donati oftmals als Nonplusultra und die "wertvollere" Literatur eingestuft werden. Für mich sind in erster Linie die Bücher wichtig, nicht die Geschlechtszugehörigkeit der Autoren.