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miss.mesmerized
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Bewertungen

Insgesamt 1245 Bewertungen
Bewertung vom 10.03.2022
Die Diplomatin
Fricke, Lucy

Die Diplomatin


ausgezeichnet

Friederike - Fred - Andermann hat sich im diplomatischen Dienst hochgearbeitet und wird als Konsulin nach Montevideo geschickt. Als sie gerade mit den Vorbereitungen zu den Feierlichkeiten des 3. Oktobers beschäftigt ist, platzt die Meldung über eine verschwundene Bloggerin herein. Seit 24 Stunden kein Post - für die Mutter ist klar, dass dem Kind etwas zugestoßen sein muss. Fred ordnet den Fall nicht ganz so dramatisch ein, kümmert sich dennoch, nicht ahnend, dass dies ihr größtes Scheitern werden wird. Zwei Jahre später findet sie sich in Istanbul wieder, die diplomatische Stimmung ist aufgeheizt und sie selbst gerät durch eine Affäre zwischen die Fronten.

Lucy Fricke konnte mich mit ihrem Roman „Töchter“ bereits vollends begeistern, die Lebendigkeit der Figuren, die ihren Vorgänger ausgezeichnete, findet sich auch in „Die Diplomatin“ wieder. Dem Roman gelingt die Balance zwischen der Schilderung des hochförmlichen diplomatischen Dienstes und der bisweilen fast zynischen Reaktion der Protagonistin auf diesen, was zu einem lockeren Ton mit zahlreichen Seitenhieben verschmilzt.

Auch wenn ich zunächst etwas unglücklich über die relativ kurze vorgeschaltete Episode in Uruguay war, da die Haupthandlung sich in der Türkei abspielt, ist diese doch ganz wesentlich für die Entscheidungen und das Handeln Freds. Folgt sie in Uruguay noch dem Protokoll, versteckt sich hinter dem Amt, das sie bekleidet, und überlässt die wichtigen Entscheidungen der Zentrale, so ist sie in Istanbul an einem ganz anderen Punkt angelangt. Sie hat erlebt, dass auch ihre Vorgesetzten nicht alles verhindern können und falsche Entscheidungen treffen. Das Protokoll mag Sicherheit geben, aber Intuition und Menschenverstand sind womöglich manchmal überlegen.

Die Vorgänge in der türkischen Großstadt greifen das auf, was einem aus Zeitungsmeldungen der vergangenen Jahre nur allzu bekannt ist. Verhaftungen ohne Anklage, fast absurde Anschuldigungen, Menschen, die einfach verschwinden, durchsuchte Wohnungen - die ganze Palette eines Staates im Ausnahmezustand und größter Erregung baut Fricke geschickt ein. Die Opfer der Repressalien - eine Künstlerin, ihr unbescholtener Sohn, ein Journalist - sind alledem machtlos ausgeliefert und auch Fred kann trotz ihrer Position wenig bis gar nichts ausrichten.

Die Grenzen der Diplomatie und was die Erfahrungen mit den oft handlungsunfähigen Menschen machen, fängt der Roman überzeugend ein. Von geradezu banalen repräsentativen Terminen bis zu jenen, die Contenance erfordern, die fast nicht aufbringbar ist und gegen die sich alles sträubt - man fragt sich, wie lange man so etwas aushalten kann. In der Figur Freds wird diese Zerrissenheit sehr deutlich und überzeugend dargestellt.

Ein kurzer und vor allem kurzweiliger Roman, der so gar nichts vom schönen Schein des Diplomatenlebens zeigt, dem Leser aber unterhaltsame bis nachdenkliche Einblicke erlaubt.

Bewertung vom 09.03.2022
Alice (eBook, ePUB)
Heer, Frank

Alice (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Obwohl die Trennung von seiner Jugendfreundin Alice schon einige Zeit zurückliegt, ist Max Rossmann noch nicht ganz über sie hinweg. Als er jedoch in einem Club eine noch unbekannte Sängerin sieht, ist er sofort fasziniert von ihr. Sie heißt ebenfalls Alice und er nutzt seinen Job als Lokaljournalist beim Der Anzeiger, um über sie zu berichten und sich ein Interview mit ihr zu sichern. Sie nähern sich an, dank seines Berichts kommt Alice auch zu ungeahnter Popularität, doch dann verschwindet sie plötzlich. Dafür taucht die andere Alice wieder auf und Max wird bei seinem Zeitungsjob gefordert: nicht nur scheint ihn ein mysteriöser Anrufer zu stalken, auch die Erkenntnis, dass er nicht einfach alles berichten kann, wie er möchte, setzt ihm zu.

Frank Heer teilt einige Charakteristika mit seinem jungen Protagonisten: der Journalist schreibt ebenfalls über Musik und Film und lebt in Zürich. „Alice“ schildert nicht nur die Kompliziertheit von jugendlicher Liebe, sondern auch das Erwachsenwerden und Ankommen in einer Welt, in die man nicht hineinpasst, in der andere Werte gelten als die, von denen man überzeugt ist, und die vor allem aus Kämpfen zwischen den Generationen zu bestehen scheint. Der Autor fängt dabei nicht nur das Gefühl der Jugend ein, sondern auch das der 70er Jahre, das zwischen politischen Aktivismus und drogeninduziertem Eskapismus vor den Gräuel der Realität oszilliert.

Auch wenn die beiden Frauen Namensgeberinnen des Romans sind, ist doch Max die zentrale Figur, an der Heer die Konflikte des Heranwachsens authentisch abarbeitet. Die Erwartungen seiner Eltern, den biederen Anwaltsweg zu gehen, kann und will er nicht erfüllen. Zeiten von Sinnsuche, die hohe Identifikation mit Musik, die es schafft, die Emotionen zum Ausdruck zu bringen, für die ihm die Worte fehlen. Bei seiner Arbeit für die Zeitung lernt er nicht nur das Schreiben, sondern auch Zwänge kennen, von denen er nichts ahnte. Ungerechtigkeiten, die er empfindet, gehen gegen die Interessen des Besitzers und können nicht veröffentlicht werden. Der der Jugend eigenen Kampf für die großen Werte wird für ihn zur Zerreißprobe und er muss sich entscheiden, auf welcher Seite er stehen will.

Die beiden Alice könnten kaum verschiedener sein und doch oder vielleicht auch gerade deshalb haben sie ihren Reiz. Unterschiedliche Lebensentwürfe, in denen Max sich spiegelt und die er als Reflexionsfläche benutzt. Die Handlung ist auf eine kurze Spanne beschränkt, die Max auf eine emotionale Achterbahn schicken und Entscheidungen fordern. Die ganze Bandbreite des Lebens bricht über ihn herein, überfordert bisweilen, lässt ihn jedoch auch wachsen und seinen Platz finden.

Ein dichter, aber restlos überzeugender Roman, dem es gelingt, mit passender Atmosphäre die Zeit der Unsicherheit und des Schwankens einzufangen.

Bewertung vom 07.03.2022
Terminus Leipzig
Leroy, Jérôme;Annas, Max

Terminus Leipzig


sehr gut

Nach einem Alleingang mit ihrem Team, bei dem ein Kollege tödlich getroffen wird, wird die DGSE Kommissarin Christine Steiner zunächst beurlaubt. Die Zeit soll sie auch nutzen, um den Selbstmord ihrer Mutter zu verarbeiten. Obwohl privat unterwegs bittet ihr Chef sie, bei einem Einsatz in Lyon zu unterstützen. Dort wurde ein älteres deutsches Ehepaar ermordet, ehemalige Mitglieder einer linksextremen Gruppierung, auf die ein deutsch-französisches rechtes Bündnis offenbar gerade Jagd macht. Als Christine den Tatort inspiziert, findet sie etwas, das sie völlig aus der Bahn wirft: ein Foto, auf dem ihre Mutter und sie als Kleinkind zu sehen sind. Ihre Mutter hatte nie darüber gesprochen, weshalb sie 1971 alle Brücken zu ihrer deutschen Heimat abgebrochen hat. Christine benötigt nicht viele Informationen, um sich schon kurz danach auf den Weg nach Leipzig zu machen und Rache zu nehmen.

Es gibt Autoren, zu deren Büchern man greift, ohne auch nur einen kurzen Blick auf den Klappentext zu werfen. Jérôme Leroy zählt für mich zu diesen, Max Annas konnte mich bislang gleichermaßen begeistern. Eine Kooperation von beiden ist daher etwas, das ich mir kaum entgehen lassen konnte. „Terminus Leipzig“ ist im Rahmen des Krimifestivals „Quais du Polar“ zwischen den beiden Autoren und ihren Verlagen Edition Nautilus aus Deutschland und Le Point aus Frankreich entstanden. Wie auch in ihren anderen Romanen wird die Handlung von gesellschaftspolitischen Ereignissen getragen, hier der gegenwärtige Terrorismus, der mit der linksextremen Gewalt in der Bundesrepublik der 1970er geschickt verbunden wird.

Als Leiterin einer Antiterroreinheit ist Christine unerschrocken und strategisch in ihrem Vorgehen. So akribisch sie sich über ihre Zielpersonen informiert, hat sie die fehlenden Informationen über ihre eigene deutsche Herkunft immer hingenommen und die Mutter nie genötigt, etwas über ihre Zeit vor dem Umzug in die französische Provinz zu berichten. Das Foto vom Tatort lässt jedoch kaum andere Schlüsse zu als dass die unauffällige Krankenschwester offenbar eine extremistische Vergangenheit hat. In Wolfgang Sonne, der ebenfalls zu sehen ist, glaubt Christine ihren Vater zu erkennen, weshalb sie sich auf den Weg zu ihm macht, um Antworten auf die bislang nie gestellten Fragen zu erhalten. Doch dafür bleibt kaum Zeit, denn gerade in Leipzig angekommen, geraten sie in das Feuer der Rächer, die Sonne ebenfalls ausfindig gemacht haben.

Ein rasanter Kurzkrimi, der sich nicht lange mit der Figurenentwicklung aufhält, sondern unmittelbar ins Geschehen einsteigt. Eine vielversprechende Zusammenarbeit der beiden Autoren, die für mein Empfinden noch stärker hätte ausgebaut werden können, denn sie reißen nur an, was sie eigentlich können. Auch die Handlung bietet noch Entwicklungsspielraum, womöglich ist dies ja in dem Cliffhanger am Ende angelegt, wünschen würde ich mir das jedenfalls.

Bewertung vom 03.03.2022
The Golden Couple
Hendricks, Greer; Pekkanen, Sarah

The Golden Couple


ausgezeichnet

When Marissa and Matthew Bishop contact Avery Chambers for counselling, she senses immediately that they are hiding something but believes that the couple is perfect for her ten-step-therapy programme. First, it all goes according to plan. Marissa confesses her affair with somebody from her gym and Matthew reacts as one would suppose. But then, the picture blurs and Marissa’s employee Polly appears on the scene, as well as Matthew’s ex, and the couple is more and more under stress. Avery gets stressed, too, since she has her own battles to fight while caring for her clients. When Avery’s private life suddenly mixes with the Bishop’s, it becomes obvious that there are a lot more secrets than you would ever have expected.

I have already enjoyed “The Wife between Us” and “You Are Not Alone” by the writing duo Greer Hendricks and Sarah Pekkanen and quite naturally was curious to see what their latest mystery “The Golden Couple” would come up with. I was not disappointed, a complex story which only slowly unfolds it whole potential and develops into a web of lies and secrets not easy to untangle.

The protagonist Avery is an interesting character. Admittedly, I’d say her professional approach might be questionable, but she is really concerned about the people she works with and puts a lot of effort in the counselling. Why she herself is always close to freaking out and on high alert only becomes obvious after some time, adding another aspect to her personality.

The couple at first seems to be rather average but then develops into a fascinating pair which oscillates between fighting together and fighting each other. The other characters at some point become highly suspect in the way they act, what they obviously hide and the links they have which are not apparent at first.

I thoroughly enjoyed reading the novel and I am eager to any further read of the duo.

Bewertung vom 28.02.2022
Mouth to Mouth
Wilson, Antoine

Mouth to Mouth


ausgezeichnet

The narrator, an unsuccessful writer, is on his way to Berlin when he coincidentally meets a former fellow student at JFK airport. Jeff, too, remembers him immediately even though they haven’t seen each other for two decades. As their flight is delayed, they decide to spend the waiting time together and update each other about what they have done in the last twenty years. Jeff’s life was marked by an incident on the beach, when he saw a man drowning. He could save him but not forget the occurrence. He starts enquiring about him and soon finds out that Francis Arsenault is a successful art dealer. Jeff becomes more and more fixated on the man, wondering if he remembers that he was his saviour. When he gets to work at Francis’ gallery, this is the beginning of a major change in his life – yet, will he ever get the chance to reveal what brought him there in the first place?

Antoine Wilson has chosen an interesting framework for his story which puts the reader in the same place as the writer who mainly just sits there and listens to Jeff’s account. You know that what he tells is highly subjective, only one side of the story is presented in a way that Jeff wants to put it, but nevertheless, quasi as a former friend, you are willing to believe him not knowing where all this is going to lead to. “Mouth to Mouth” is highly intriguing from the first page, due to a very clever foreshadowing, you are aware that there must be something behind Jeff’s need to tell his life story, but you keep wondering what that could be.

“’Who better than someone who was there at the beginning?’ – ‘You said that before. Only I’m not sure why it matters.’ ‘You knew me then. That I had a good heart.’“

Repeatedly, Jeff stresses that he has a good heart, that he only wanted the best for others, that he did do nothing wrong and just like the narrator, you wonder why he keeps on stressing that point. Saving somebody from downing is surely an admirable act, selfish and courageous. That he started following Francis then and slowing crept into his life is not that honest but he didn’t do no harm. So you keep on reading eager to figure out what will ultimately make Jeff appear in a totally different light.

“Just think, if I had somehow not saved Francis’s life, if instead he’d died on that beach, everything that came after would not have happened like it did.”

The novel raises the big question about what might have happened if just one incident of your life hadn’t happened, or had turned out differently. Many things of our everyday life do not have life changing consequences, but some do. And everybody knows this pondering about the “what if”. Connected to this is inevitably the question of necessary consequences, of a bigger plan behind it all.

In Francis’s case, he was granted more time on earth due to Jeff’s intervention, but did he use that time wisely? He is a reckless art dealer and the closer Jeff gets and the more he learns about him, the more he wonders how that man deals with the big gift he was given. At the same time, he gets insight into the shiny art’s business which is all but shiny behind the facade and which is, well, just a business where money is made.

A brilliantly plotted novel which is thought-provoking and play well with the reader’s expectations and emotions.

Bewertung vom 26.02.2022
Nine Lives
Swanson, Peter

Nine Lives


ausgezeichnet

Nine people, seemingly chosen at random, get the same letter: no sender or return address and in the envelope just a sheet of paper with nine names. One of them is theirs. They have no idea what this is supposed to mean and react quite differently to it. Some of them are worried, others just throw it away. But when the first person listed is murdered, mood shifts a bit. When the second body is discovered, they get nervous as it becomes more and more obvious: this is a kill list. And the strangers will all be dead just a short time after. FBI agent Jessica is among them and she is the first to discover a possible connection: the reason for the murderer lies in the past, many decades ago, there must have been an event that links them.

“Nine Lives” is only the second novel I read by Peter Swanson after “Before She Knew Him” which I also thoroughly enjoyed. His newest novel, too, keeps you long in the dark, just like the police, you wonder what the characters might have brought on the list, how nine – why nine and not ten? – people spread all over the country might be linked. What I liked especially and what came to my mind immediately after starting to read, was Agatha Christie’s crime mystery “And Then There Were None” which is referred to several times throughout the novel. A tricky puzzle where the pieces do not seem to fit for quite a long time and while you still ponder about the reason behind it all, you can only watch how one after the other is killed.

“It wasn’t simply revenge. It felt like something much more than that. Karma, maybe. I had the money, and I had the will, to do what the natural world would never do. I could set the world to rights, in one small way.”

What I appreciated most was how the people reacted to their death announcement. Swanson created quite diverse characters who cope with this challenging situation in very different ways. Ethan and Caroline’s way of bonding over the shared fate was for me the most loveable story as I could relate to this most - just having the feeling of not being alone in it, of having somebody to share the fears and thoughts with, and somehow accepting fate or whatever it is.

There are some noteworthy minor characters – a wannabe victim, a contract killer – whose motives and points of view bring some new spin to the plot, too. However, what is most remarkable is the personality of the character who is behind it all. Normally, you come to hate a serial killer who takes himself for God, emotionally, I found it not that easy here, which alone already makes it a great read since life is never just black and white, good or bad.

A very cleverly composed plot which is not totally nerve-wrecking but full of suspense and also thought-provoking: what would you do if you were on such a list?

Bewertung vom 26.02.2022
Hourglass
Goddard, Keiran

Hourglass


gut

An hourglass is an interesting piece to tell you the time. You can see how much time has passed and how much time is left. The past, the present and the future are shown at the same moment. Yet, you cannot know if the amount of sand that is still in the upper part will actually be there for you, maybe the hourglass is turned before it runs out and thus, the past comes back. The hourglass is concrete, on the one hand; on the other, it is the incorporation of time itself, never-ending and thus, volatile. For humans, life is a race against the clock. The sand is slowly tripping and just by looking in the mirror, we can see that another day, another week, another year has passed without us noticing.

In Kieran Goddard’s debut novel “Hourglass”, a man is pondering about love. The whole novel is a stream of consciousness addressed to the man he loved in the past and whom he will love forever. They only had a brief time together and their love has no future. It is like sand, that cannot be stopped from falling from one glass into the other, it is just running through the narrator’s fingers. He can feel it and yet not stop it from vanishing.

There is not real plot, it is a meditation on life, a yearning for love, the longing for bonding with other people which never works. A dense and focussed narration just like looking through a keyhole and observing an extract of life.

Despite the poetic language and strong dark emotion, the novel did not really touch me. Maybe it was the lack of actual plot that I missed, somehow the text seems to be more like an extended poem rather than a novella.

Bewertung vom 23.02.2022
Die Jagd
Filipenko, Sasha

Die Jagd


ausgezeichnet

Anton Quint ist Journalist in Moskau, kein einfacher Beruf, vor allem nicht dann, wenn man gegen Korruption und für das Aufdecken illegaler Machenschaften kämpft. Er weiß, dass sein Job gefährlich ist, schon vier seiner Kollegen sind ums Leben gekommen, auch die Geburt seiner Tochter und das eindringliche Bitten seiner Frau können ihn nicht aufhalten, denn er ist gerade einer großen Geschichte auf der Spur. Diese führt zu dem Oligarchen Slawin, der vorgeblich sein Vaterland liebt, was ihn aber nicht daran hindert, zig Immobilien im Ausland zu besitzen. Der Journalist ist ihm ein Dorn im Auge und so beauftragt er seinen Neffen Kalo und dessen Freund Lew, dafür zu sorgen, dass Quint das Land verlässt. Wie ist egal, ebenso die Kosten. Ein perfider Plan wird ausgeheckt und umgesetzt und Anton muss machtlos zusehen, wie sein Leben zerstört wird.

Bei gesellschaftskritischen oder politischen Romanen, drängt sich immer ein wenig die Frage auf, wie viel Meinung des Autors in dem Text steckt. Sasha Filipenko ist jenseits des Schreibens weißrussischer Aktivist – mit allen Gefahren, die dazugehören. Es mutet fast verwunderlich an, dass sein Roman „Die Jagd“ für die beiden größten russischen Literaturpreise nominiert war, wenn man sich die Brisanz des Inhalts anschaut. Es ist eine gnadenlose Abrechnung mit dem politischen System und der durch dieses gesteuerten Presse. Aber auch mit der Bevölkerung, die dies hinnimmt und sich eingerichtet hat.

„Ich bin unlogisch, und das gibt mir recht. Russland ist ein Land, in dem die Mehrheit nur Lügen glauben will.“

Lew hat als Kind in den 90ern den Abstieg seiner Familie miterlebt, von teuren Klamotten und Chauffeur und Privatschule ist nichts mehr geblieben. Er hat verstanden, dass er sich anpassen muss, wenn er in Russland überleben will. Das Angebot seines Schulfreunds für Onkel Wolodja, den Oligarchen, zu arbeiten, ist verlockend und bald schon füttert er das Internet mit Lügen und Erfindungen und hat sogar Spaß daran. Bis die große Aufgabe kommt, den unbequemen Journalisten zu vertreiben, die weitaus mehr erfordert.

Kalo und Lew wählen eine Strategie der Zermürbung. Seine Wohnung wird zum Kampfplatz, die „neuen Nachbarn“ tyrannisieren Anton und seine Familie. Daneben wird eine mediale Schmutzkampagne gestartet, die den vormals angesehenen Reporter schnell ins Abseits befördert, Freunde und Familie wenden sich von ihm ab, glauben das, was über ihn geschrieben wird, oder haben selbst so viel Angst vor Repressalien, dass sie sich schnell von ihm distanzieren.

„Vielleicht irre ich mich, aber mein erster Eindruck ist: Russland ist ein Land der Klischees. Die Leute sprechen mehrheitlich in den Parolen, die sie tags zuvor im Fernsehen aufgeschnappt haben. Es ist nicht üblich, Informationen zu verdauen.“

Filipenko schildert detailliert, wie einfach es ist, Anton zu diskreditieren und letztlich gesellschaftlich und beruflich zu töten. Noch dazu viel ungefährlicher, als ihn einfach zu töten, denn schnell springen andere mit auf den Zug auf und führen das fort, was Kalo und Lew initiiert haben. Besonders ironisch dabei eine Kurzgeschichte des Reporters, in der der fiktive TV Sender Execution-HD die Öffentlichkeit über vermeintliche Straftäter urteilen lässt. Hier: ein Blog-Beitrag ohne Inhalt. Die Empörung ist groß, man hat verstanden, was der Urheber damit sagen will und dafür gehört der Vaterlandsverräter hart bestraft. Was zu Beginn des Romans noch absurd amüsant anmutet, ist jedoch nur der Hinweis darauf, was Anton erwartet.

Man hat beim Lesen keine Zweifel, dass sich all dies genau so, wie es Filipenko schildert, zutragen könnte. Wer Geld hat und mit den richtigen Menschen befreundet ist, kann sich offenbar alles kaufen und alles erlauben. Kollateralschäden, wie Slawins eigener Sohn Alexander oder Antons Familie, werden billigend in Kauf genommen.

Man soll Literatur nicht zwingend als Abbild der Realität sehen, aber es fällt schwer, dies hier nach den Ereignissen in Russland un

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Bewertung vom 23.02.2022
Vertrauen
Mishani, Dror

Vertrauen


ausgezeichnet

Zwei ungewöhnliche Fälle beschäftigen Avi Avraham und seine Kollegin Esthi Wahabe: ein Schweizer Tourist hat sein Hotel verlassen und ist seither verschwunden und eine Frau hat ein Baby in einem Einkaufszentrum bei einem Krankenhaus ausgesetzt. Während Avi schnell herausfindet, dass Jacques Bartoldi eigentlich Raphael Chouchani heißt und Franzose marokkanischer Abstammung ist, sieht sich Esthi mit Liora einer Frau gegenüber, deren Geschichte mit jedem Verhör abenteuerlicher und verworrener wird. Die beiden Ermittler stecken fest, nichts scheint zusammenzupassen in ihren Fällen und sie werden das Gefühl nicht los, dass sie nur Marionetten sind, wobei sie nicht wissen, wer im Hintergrund die Fäden zieht.

Auch im vierten Fall für Kommissar Avi Avraham hat Dror Mishani wieder eine komplexe Geschichte gestrickt, die sich nicht so leicht durchschauen lässt. „Vertrauen“ besticht dabei vor allem mit der permanenten Ungewissheit, in der sich die Protagonisten ebenso wie der Leser befindet. Man spürt, dass etwas nicht stimmt, kann das lose Gewirr an Fäden jedoch nicht zu einem stimmigen Zusammenhang bringen.

Äußert Avi Avraham schon zu Beginn Zweifel an der Sinnhaftigkeit seines Berufs, stürzt ihn die Ermittlung völlig in die Sinnkrise.

„Leben retten und Grausamkeit, Gewalt und das Böse bekämpfen.“

Das war es, was er seiner inzwischen verstorbenen Chefin als Grund nannte, weshalb er sich für den Polizeidienst beworben hat. Ihre Erfahrung und Weitsicht hatten sie infrage stellen lassen, ob das in ihrer Position wirklich möglich sei. Und nun erkennt Avi, dass er eigentlich immer erst dann kommt, wenn das Verbrechen schon geschehen ist, wenn die Opfer schon zu beklagen sind und er nur noch hinterherräumen kann, aber keine Tat je verhindert. In dieser Stimmung kommt er zu dem Hotel, wo ein Gast vermisst wird, dort gibt man ihm zu verstehen, dass schon alles wieder erledigt, das Gepäck von Verwandten abgeholt und alles geklärt sei. Doch der Kommissar merkt, dass etwas faul ist und beginnt zu hinterfragen. Jeder Stein indes, den er umdreht, befördert neue Fragen hervor und die potenziellen Antworten lassen irgendwann nur den Schluss zu, dass der Geheimdienst involviert sein muss.

„Ich bin faktisch ihr Affe, wie beim organisierten Verbrechen, verstehst du? Ich bin der, der für sie die Wahrheit vertuscht, ohne es zu wissen, und ich kann nichts dagegen tun“

Sein Verdacht erhärtet sich und der geschickte Ermittler wird mehr als deutlich darauf hingewiesen, dass er seine Nachforschungen einstellen solle, da es nichts mehr zu ermitteln gäbe. Wie zu erwarten, spornt ihn das nur noch mehr an.

Seine Kollegin hat es zwar nicht mit dem Mossad, dafür aber mit einer durchtriebenen und undurchsichtigen Frau zu tun. Lioras Motiv wie auch die Entwicklung ihrer Geschichte um das Frühchen lassen Esthi nicht los. Sie will verstehen, was geschehen ist, wird aber aus der Mutter und ihrer 16-jährigen Tochter nicht schlau. Auch hier ist die Frage nach der Schuld nicht einfach zu beantworten, denn alle involvierten sind zugleich Täter und Opfer.

Zwei Handlungsstränge, die sich immer wieder auch kreuzen und deren Entwicklung gänzlich unvorhersehbar ist. Weniger noch lässt sich jedoch voraussagen, was die Fälle mit den beiden Ermittlern machen, denn diese lässt das Grauen, mit dem sie sich befassen müssen, ebenfalls nicht kalt. Dror Mishani bleibt sich treu, einmal mehr ein Krimi, der sich, genau wie auch „Die schwere Hand“ oder „Drei“ durch eine interessante und vielschichtige Figurenzeichnung auszeichnet und damit restlos überzeugt.

Bewertung vom 22.02.2022
Boom Town Blues
Dunne, Ellen

Boom Town Blues


ausgezeichnet

Eigentlich ist Patsy Logan für eine Auszeit nach Dublin gekommen, um sich dort bei ihrer Cousine zu erholen und nebenbei auch ein wenig in der Familiengeschichte nachzuforschen, denn dass beim Tod ihres Vaters alles so war, wie es die offiziellen Berichte darstellen, glaubt sie nicht wirklich. Doch dann wird bei einem Empfang in der österreichischen Botschaft eine junge Deutsche vergiftet und man bittet sie um Amtshilfe. Gemeinsam mit einem Mitarbeiter der Botschaft soll sie die irischen Kollegen bei den Ermittlungen unterstützen, was auf wenig Begeisterung stößt. So hatte sie sich ihren Aufenthalt nicht vorgestellt, doch die Kommissarin ist durch und durch Polizistin und überschreitet bald schon ihre Grenzen, um die Spuren zu verfolgen, die die Iren nicht sehen wollen.

Ellen Dunnes dritter Auftritt für die toughe Münchner Ermittlerin führt wieder die beiden Länder zusammen, die den Hintergrund der Protagonistin bilden. Auch wenn Patsy von privaten Sorgen geplagt wird, steht in „Boom Town Blues“ der Mord im Zentrum. Schnell schon zeigt sich, dass die Motive jedoch nicht in dem Opfer zu suchen sind, sondern in dem, was Irland in den letzten Jahren immer wieder in die Schlagzeilen gespült hat: der rasante Aufstieg vom einstigen europäischen Armenhaus zum boomenden Finanz- und Immobilienzentrum, das mit der Krise 2008 einen einzigartigen Absturz erlebt hat.

Das ungleiche Duo Patsy und Sam bringt die Untersuchungen recht flott voran, von den Unverschämtheiten ihrer Dubliner Kollegen lassen sie sich weder einschüchtern noch aufhalten und haben so bald schon richtigen Ansatz gefunden. Patsys Ausfälle aufgrund der Trennung von ihrem Mann motivieren ihr Verhalten und auch die Anwesenheit in der irischen Hauptstadt glaubwürdig. Sie ist als Figur interessant gezeichnet, ohne jedoch den Krimi zu sehr damit zu überlagern.

Sehr gut gelungen ist für mich die Verschmelzung von Mordfall und der gesellschaftlich wie politisch brisanten Finanzkrise. Immer wieder wird der zentrale Handlungsstrang durch Einschübe unterbrochen, die einfache Menschen zeigen und Einblick in das geben, wie es vielen Hausbesitzern ergangen ist. Es war keine Krise, die nur Banken betroffen hat, im Gegenteil, die kleinen Eigentümer, die während der Jahre des wirtschaftlichen Aufstiegs zu größeren Krediten verführt und gedrängt wurden, als sie bedienen konnten, sind diejenigen, die es wirklich schlimm getroffen hat und die die Folgen der Spekulationen zu tragen haben. Tragische Schicksale, die so manchen verzweifeln und zu grausamen Handlungen verleiten lassen.

Ein unterhaltsamer Krimi, dessen Ermittlungen zügig und stringent verfolgt werden, wobei der Fall überzeugend in die gegenwärtige Situation Irlands eingebettet ist und geschickt auch die Folgen der Krise verdeutlicht.