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amara5

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Insgesamt 123 Bewertungen
Bewertung vom 18.08.2021
Harlem Shuffle
Whitehead, Colson

Harlem Shuffle


ausgezeichnet

Zwischen Strebern und Gaunern

Der zweifache Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead ist vor allem durch seine zwei vorherigen tiefernsten Romanen, die sich mit Sklaverei und Rassismus beschäftigen, berühmt. Auch in seinem neuen Werk „Harlem Shuffle“ spielt der Unterschied zwischen Weißen und Schwarzen eine Rolle, aber vor allem bedient Colson sich mit einer großartigen Prosa nebenbei noch den Genres spannender Ganovenkrimi und einer präzise Milieustudie von New Yorks Harlem der 60er-Jahre mitten in der Bürgerrechtsbewegung.

Möbelverkäufer Ray Carney möchte im Jahre 1959 rechtschaffend für seine Familie sorgen und hat sich in der 125. Straße sein kleines Königreich aufgebaut. Doch er verstrickt sich immer mehr in ein kriminelles Doppelleben, da er nebenbei noch Hehlerware seines ungeschickten Cousins Freddie vertickt, um besser über die Runden zu kommen. Ray selbst hatte eine schwierige, verwahrloste Kindheit mit einem stadtbekannten Gangster-Vater. Als Freddie beschließt, das historische Hotel Theresa auszurauben, gerät alles aus den Fugen und zahlreiche düster-gewaltvolle Gestalten aus der Unterwelt sowie zwielichtige Cops sind ihnen auf den Fersen. Carney muss sich nun in seinem Doppelleben entscheiden, wie viel Ganoven- oder Strebertum in ihm steckt, während er die wirklichen Drahtzieher in Harlem erkennt – es beginnt ein innerer Kampf. Ist in Harlem für einen Afroamerikaner ein sozialer Aufstieg ohne Kriminalität überhaupt möglich?

Scharf beobachtend, detailliert, lakonisch und sehr atmosphärisch lässt Colson Whitehead New Yorks berühmtestes Viertel Harlem wiederauferstehen – in den 60er-Jahren, der Zeit der Bürgerrechtsbewegung und der Kennedy-Ära. Die Sozial- und Milieustudie ist brillant und geht mit der spitzbübisch-kühnen Ganovengeschichte eine fesselnde Symbiose ein. In drei Teilen der Jahre 1959 bis 1964 tauchen allerhand eigenwillige und bunte Charaktere auf, eingetaucht in geschichtliche Details, literarische Bezüge und ein kunstvoll dicht komponiertes Harlem der 60er-Jahre, das sich erst in optimistischer Aufbruchsstimmung wähnt und dann in Unruhen versinkt.

Es wäre nicht verwunderlich, wenn Whitehead mit dieser hochwertigen und pointierten Gesellschaftsstudie über Rasse, Abhängigkeit und Macht sowie der Hommage an Harlem wieder renommierte Preise gewinnt!

„Vor ihm erstreckten sich keine neuen Ufer, endlos und üppig – das war etwas für Weiße – aber dieses neue Land war zumindest ein paar Blocks groß, und in Harlem waren ein paar Blocks alles. Ein paar Blocks waren der Unterschied zwischen Strebern und Gaunern, zwischen Gelegenheit und Herumgekrebse.“ S. 146

Bewertung vom 10.08.2021
Sag mir, wer ich bin
Ward, Felicity

Sag mir, wer ich bin


weniger gut

In ständiger Seelenqual

Als Teenager überlebt Sally nur knapp eine versuchte Vergewaltigung und gewaltvolle Entführung samt Körperverletzung in Paris. Da sie keine Hilfe bekommt und ihre Eltern nicht nur mit Verschwiegenheit, sondern wiederum mit Gewalt reagieren, wenn Sally von ihren Qualen spricht, versucht sie so gut wie es ihr möglich ist, das Trauma zu verdrängen. Doch das gelingt ihr ohne professionelle Therapie verständlicherweise nicht und so schleppt sie ihre inneren, seelischen Verletzungen sowie Ängste ein Leben oder ein Roman lang in „Sag mir, wer ich bin“ mit sich. Später wird sie ihren Patenonkel Carson heiraten, der ihr längere Zeit den Hof macht und unbedingt mit ihr schlafen möchte. Eingebettet in besseren Kreisen denkt Sally auf einer Feier, ihrem früheren Peiniger begegnet zu sein – Philippe. Jetzt beginnt das angekündigte „ Katz-und-Maus-Spiel“ , das die Autorin Felicity Ward so konstruiert, dass Sally angeblich die düster-gewaltvollen Elemente von Philippe provoziert. Sie gehen eine Sado-Maso-Beziehung ein, die in unerträglicher Gewalt und tödliche Gefahr umschlägt, solange Sally nicht die Wahrheit sagt. Dabei geht sie abermals seelisch zugrunde, scheint aber augenscheinlich ihre Sexualität zu befreien.

Nicht nur das konfuse Vorwort über Spaltungen zwischen englisch- und französischstämmigen Kanadiern in Montreal sowie über nicht verständliche Bezüge zwischen #MeToo, Völkermord und Opfer-Täter-Mentalität sind verwirrend und zweifelhaft – der gesamte Roman sowie die fragwürdigen Ansichten der Protagonisten sind es. Schlecht konstruiert in jede Menge nichtssagender Dialoge (teils auf Französisch), verliert sich die Handlung so wie Sally sich selbst. Dabei war der Beginn und Sallys Kampf nach dem Trauma um ein selbstständiges Leben trotz Ängsten, Panik sowie der zurückgewonnen Erinnerungen noch recht vielversprechend.

Im letzten Teil blitzt ein wenig Spannung auf, die schnell beim Lesen in Ärger umschlägt, da die Autorin am Ende das Opfer als Täterin dastehen lässt. Dieser Roman ist nicht empfehlenswert und ist so wie Sallys Innenleben eine Qual – ohne wichtige Kernaussage, im Gegenteil. Von der Autorin Felicity Ward ist nichts im Internet zu recherchieren – sie lässt die Leser mit ihrem fraglichen Roman verwirrt zurück.

Bewertung vom 05.08.2021
Wir für uns
Kunrath, Barbara

Wir für uns


sehr gut

Loslassen und Neubeginn
Zwei unterschiedliche Frauen treffen in dem fiktiven hessischen Ort Solbach aufeinander, als sie sich am meisten brauchen – zum Loslassen, Umsortieren und für einen Neustart. Sozialarbeiterin Josie ist von Bengt schwanger – doch es gibt zwei Haken: Bengt ist verheiratet mit einer anderen Frau und Josie ist schon 41. Doch sie will es nicht mehr nur ihrem langjährigen „Freund“ Bengt recht machen, der für eine Abtreibung ist – Josie möchte das Kind haben. Was folgt ist eine schmerzhafte Trennung und viele ernsthafte und klug aufgefangene Gedanken über die Möglichkeit einer Chromosomenstörung wie Trisomie 21. An diesem wichtigen Punkt in ihrem Leben trifft Josie auf Kathi – diese ist schon wesentlich älter und hat auch mit schmerzhaften Gefühlen zu kämpfen: Ihr Mann ist verstorben und zu ihrem Sohn hat sie den Kontakt verloren.

Berührend, authentisch, nachdenklich, aber auch mit einer Brise Humor und vor allem Lebensmut hat Barbara Kunrath in ihrem fünfteiligen Roman „Wir für uns“ eine warmherzige, einfühlsame und mutmachende Geschichte aus dem Leben geschrieben. Aus der Ich-Perspektive von Josie taucht der Leser tief ein in die ehrlichen und wichtigen Gedanken einer Spätgebärenden und die gelernt hat, ihre Wünsche ab nun vorne anzustellen. Es sind die feinfühligen Reflektionen, in denen Josie über ihre eigene Kindheit sinniert, über das eher distanzierte Verhältnis zur Mutter sowie zum verstorbenen Vater und was sie besser machen möchte bei ihrer Erziehung, die sehr bewegen. Josie und ihre Mutter werden zudem ein Traumata der Familie wieder ans Licht bringen, während Kathi auch an ein altes Geheimnis ihres Mannes herankommt.

Die ehrliche Freundschaft zwischen den Frauen, die sich durch Zufall treffen und gemeinsam lernen, sich zu stützen, loszulassen und neu zu beginnen, ist von Kunrath berührend und sympathisch komponiert und changiert zwischen Schmerz, Optimismus und Mut, ohne rührselig zu werden. Kleine Alltagsbeobachtungen, auch zu Grünem Leben und Klimawandel, fließen in Josies Reflektionen zum anstehenden Muttersein und seine tiefgreifenden Veränderungen. Ein Neubeginn für zwei Frauen aus unterschiedlichen Generationen, der zum Wohlfühlen und eigenem Wunschträumen einlädt – leichtfüßig, warm und lebensnah.

Bewertung vom 31.07.2021
Auszeit
Lühmann, Hannah

Auszeit


gut

Verästelte Gedanken

Henriette fühlt sich ihrem eigenen Leben nicht verbunden – die Mittdreißigerin hat schon immer mit Antriebsproblemen und Depressionen zu kämpfen, findet keinen für sie wünschenswerten Beruf und ihre Dissertation über die Kulturgeschichte des Werwolfes stagniert. Eine Abtreibung hat ihr derzeit den Rest gegeben und sie weiß nicht, wohin ihr Leben verlaufen soll, während für sie alle anderen ein geordnetes Dasein führen. Ihre enge Freundin Paula überredet sie für eine Auszeit in einer Hütte im Bayerischen Wald – umgeben von der Natur und mit Yogaübungen sowie Massagen möchte sie die Traumata und Wunden Henriettes heilen. Und die Umgebung in der Nähe von Wolfsgehegen sei prädestiniert für die Weiterführung ihrer Doktorarbeit. Die Tage ziehen neben Paulas gedanklichen Reflexionen mit alltäglichen Dingen wie Kochen, Reden, Wein trinken und Spazierengehen dahin, bis Paulas On-Off-Freund Tom auftaucht und das Zweierteam aufmischt.

„Der Moment direkt vor dem Augenaufschlag ist eine Millisekunde im Negativbereich des Bewusstseins vor dem Beginn der Zeitrechnung des Tages. Alles ist schon in ihm angelegt: die Trauer oder die Freude des Kommenden.“ S. 16

Feinfühling, zart, direkt und poetisch taucht der Leser tief in Henriettes verästelte Gedanken und Selbstzweifel ein – geplagt von Grübelattacken sucht sie einen Sinn im Leben, beobachtet dabei ihre Umgebung und ihren bisherigen Lebensweg präzise und kreist immer um sich selbst. Sie denkt schmerzhaft über die Abtreibung und dem dazugehörigen One-Night-Stand nach und ordnet immer wieder ihre Wahrnehmung und ihr Befinden ein. Dabei fließen Bezüge zur Werwolfs-Transformation und seine verschiedenen Ausführungen ein.

„Die Deutung, dass es sich bei der Verwandlung in einen Wolf um einen Ausbruch des Bösen im Menschen handelte, ist falsch. Ich glaube, der Werwolf rennt durch die Nacht wie ein Wahnsinniger, der leben will.“ S. 65

Hannah Lühmann zeigt ein bewegendes und ruhiges Bild einer depressiven jungen Frau, das sehr authentisch und intim zugleich ist. Dabei steht nicht eine ganze 30er-Generation, die sich voller Möglichkeiten in der Entscheidungsfindung verliert, sondern Henriette und ihre düsteren Gedankenspiralen im Vordergrund. Der Roman entwickelt sich leise, vieles ist zwischen den Zeilen zu finden. Am Ende wartet eine überraschende, fast schon traumartige Wendung, die Paula aus ihrer depressiven Phase holen wird. Dieses fällt etwas unrealistisch aus und die Werwolf-Bezüge sind insgesamt schwierig einzuordnen.

Mit einer dichten, sensiblen sowie klaren Sprache zeichnet Lühmann in „Auszeit“ präzise und eindringlich das Seelenleben einer jungen Frau nach, die vom eigenen Leben überfordert ist und einfach nur voller Energie leben möchte – bei der inhaltlichen Komposition ist noch Luft nach oben und es bleibt spannend, was von der Autorin in Zukunft erscheint.

Bewertung vom 20.07.2021
Was fehlt dir
Nunez, Sigrid

Was fehlt dir


sehr gut

Vom Leben und Sterben

Nach dem großen Erfolg von „Der Freund“ denkt Sigrid Nunez in ihrem neuen Roman „Was fehlt dir“ tiefgründig über das Sterben, das Leben und die Freundschaft nach: Intellektuell, assoziativ und in einem nüchtern-klugen Ton. Die Kerngeschichte ist die tödliche Krebserkrankung ihrer Freundin – die Ich-Erzählerin und Schriftstellerin wird diese beim Sterben begleiten, ihr sogar bei einer möglichen Sterbehilfe beistehen. Gemeinsam ziehen sie in ein schönes Gästehaus, reden und lachen, schauen Filme und philosophieren über ihr vergangenes Leben und kommen sich so nahe wie noch nie.

„In diesen Augenblicken fühlte ich, dass sie für mich ebenso ein Trost war, wie ich es für sie sein sollte. Hin und wieder drückte sie meine Hand, ohne etwas zu sagen – ohne etwas sagen zu müssen –, doch es war, als hätte sie mein Herz gedrückt.“ S. 182

Nebenschauplätze in diesem weisen und philosophischen Roman sind die vielen Anekdoten, Begegnungen und Gedanken der Erzählerin. So trifft sie bei einem Vortrag über die Hoffnungslosigkeit der Menschheit in Zeiten der Klimakrise auf ihren Ex-Freund, sie denkt über ihre ältere Nachbarin nach, die ständigen Betrüger-Anrufen ausgesetzt ist oder lässt eine Katze reden, die in einem Mülleimer gelandet ist, aber wieder ein Zuhause gefunden hat. Überall lässt Nunez literarische oder filmische Bezüge einfließen, seien es Klassiker, Krimi-Szenen oder Zitate wichtiger Denker und Schriftsteller. So stammt der Originaltitel „What are you going through“ von der französischen Philosophin Simone Weil.

Wie gehen wir im Angesicht des Todes mit unserem Leben um? Wer ist am Ende für uns da, hört zu und stellt empathische Fragen? Was zählt wirklich? Neben den Hauptthemen Sterben und erfülltes Leben, fließen auch teils humorvolle Überlegungen zum Älterwerden, Einsamkeit, Vergebung, Beziehungen, Freundschaften sowie am Ende auf der metafiktionalen Ebene über die Literatur und das Schreiben in den Roman mitein. Und stets fügen sich den eher schweren und melancholischen Themen zwischenmenschliche Begegnungen, präzise Beobachtungen oder kluge Reflektionen/Gespräche ein, die dem Ganzen eine ironisch-warme Leichtigkeit geben.

Es ist kein Roman mit großem Handlungsstrang und trotzdem passiert gedanklich sehr viel – die Intellektuelle und Susan-Sontag-Bekannte Sigrid Nunez regt mit „Was fehlt dir“ tief zum weiteren Sinnieren und Philosophieren über existentielle Themen an, auch wenn laut der Autorin keine Sprache gut genug sein kann, um die vergangene Realität präzise auszudrücken. Ein scharfsinniger Roman über die Freuden, Leiden und Endbarkeit des Lebens.

„Aber irgendjemand hat einmal gesagt, dass es zwei Sorten von Menschen gibt, die unterschiedlich auf das Leiden anderer reagieren: Die einen denken: Das kann mir auch passieren. Die anderen denken: So etwas wird mir nie passieren. Die einen helfen uns, durchzuhalten, die anderen machen uns das Leben zur Hölle.“ S. 146

Bewertung vom 19.07.2021
In diesen Sommern
Hecht, Janina

In diesen Sommern


sehr gut

Schichten aus Transparentpapier

Episodenhaft und assoziativ verknüpft mit Gedankenstützen wie Wasser, Holz, Besuch oder Pfade versucht sich Ich-Erzählerin Teresa ein zusammenhängendes Erinnerungsbild ihres Vaters, aber auch ihres Lebens zu rekonstruieren. Auf der einen Seite in fragilen und selteneren Momenten fürsorglicher Familienvater, auf der anderen alkoholkrank und gewalttätig. Auf Zehenspitzen müssen Teresa, ihr Bruder Manuel und die Mutter den Launen und Zornesausbrüchen ausweichen und wenn dies nicht möglich ist, geraten sie mit Schlägen und verbalen Angriffen frontal in die Schusslinie.

Zart, feinfühlig und melancholisch dringt die Autorin Janina Hecht tief in Teresas Erinnerungen, Ängste und Selbstzweifel – neben schönen Erlebnissen in den Familienurlauben am Meer oder auf dem Bauernhof, folgt die Tyrannei des Vaters. Eindringlich und tief empathisch beleuchtet Hecht neben der zerrütteten Familie die tiefe innere Zerrissenheit der Protagonistin: an welches Bild des Vaters sie glauben darf, wenn doch immer wieder alles zerstört wird.

„Manchmal würde ich gerne einer Vision meines Vaters vertrauen. Eine Antwort haben auf die Frage, wer er war. Ich lege die Ereignisse wie Schichten aus Transparentpapier übereinander und versuche zu erkennen, was durchscheint.“ S. 12

Teils poetisch und immer präzise die Außenwelt beobachtend, folgt der Leser den Stationen von Teresa: Kindheit, Schule und später die Jugend und Pubertät, das schwierige Abnabeln, erste Freunde und das Studium. Wie in einem Kaleidoskop blickt sie auf die wichtigsten Stationen ihres Lebens und der Befreiung der Familie, alles überlagert von einer tiefen Verunsicherung, die der Vater hinterlassen hat – bis über seinen Tod hinaus. Dabei drängt sich die in schöner Prosa erzählte Geschichte nie auf. Sie entfaltet sich ganz subtil und behutsam zwischen den Zeilen – die Assoziationen in den Kapitelüberschriften fließen klug komponiert in die Erinnerungen und Episoden mitein. So wie Teresa immer gelernt hat, ihren Vater und seine Stimmungsschwankungen zu beobachten, so detailreich und außergewöhnlich verknüpft nimmt sie auch ihre gesamte Umwelt wahr.

Ein bemerkenswertes und starkes Debüt über die Möglichkeiten des Erinnerns und das Nebulöse und Furchthafte daran – und eine Geschichte über den Mut des Reflektierens, Neusortierens und vom Aufbruch.

„Ich bewahre verschiedene Erzählungen nebeneinander und wähle eine passende aus. Immer begleitet von zwei Kräften, der Furcht davor, ihn zu vergessen, und der Notwendigkeit, nicht zu viel an ihn zu denken.“ S. 167

Bewertung vom 16.07.2021
Die Wütenden und die Schuldigen
Düffel, John

Die Wütenden und die Schuldigen


sehr gut

Den Schmerz betäuben

John von Düffel zeigt in „Die Wütenden und die Schuldigen“ anhand einer gespaltenen Familie, was die Corona-Pandemie im Lockdown 2020 für zwischenmenschliche Auswirkungen hatte – drastisch, lakonisch und mit einem sezierenden Blick auf die unschöneren Gefühle.

Der ehemalige Pfarrer Richard hat Krebs im Endstadium – zurückgezogen gibt er sich im Pfarrhaus in der ländlichen Ueckermark seinen traumatischen Erinnerungen und Schuldgefühlen hin, bis ihn Enkelin Selma zusammen mit der Freundin der Mutter besucht. Diese ist Kathi und Palliativmedizinerin – mit im Gepäck hat sie Fentanyl, ein sehr starkes Schmerz- und Betäubungsmittel, das Richard in fieberhafte Tagträume versetzt.

„Er dachte an den Speicher, die Enge, das unentwegte Sich-Stoßen an allen Dingen, bei jedem Gedanken. Er brauchte nichts gegen die Schmerzen, sondern etwas gegen die Erinnerung.“

Richard ist Witwer – seine Frau kam vor Jahren bei der Geburt des Sohnes um. Dieser Schmerz sitzt tief, brodelt unter der Oberfläche sowie seine Schuldgefühle zum Sohn, den er nie richtig Liebe zeigen konnte: Holger sitzt seit einem Suizidversuch in der Psychiatrie, der Kontakt ist zu allen Familienmitgliedern sehr spärlich bis abgebrochen, doch gedanklich beschäftigen sie sich alle mit dem fehlenden Familienmitglied. Derweil hat Selma innerlich auch zu kämpfen, mit dem Gefühl, immer die auffangende Wolke in der Familie zu sein, aber auch mit einer unbändigen Wut – diese verspürt auch die perspektivlose Dorfjugend im leergefegten Dorf. Die Parteien geraten gewaltvoll und mit harten Szenen aneinander. Einzig und alleine der schwarze Kater Morpheus bringt neben der Aberglauben-Mystik etwas Wärme ins Pfarrerhaus, ist aber schwerkrank und muss operiert werden.

Zuhause bekommt Mutter Maria, Anästhesistin in der Charité, die Quarantäne- und Abstandsregeln mit voller Wucht zu spüren – da sie dem frisch wieder eingezogenen Sohn und ziellosen Kunststudenten Jakob aus dem Weg gehen möchte, quartiert sie sich zufällig in die Wohnung darüber bei einem älteren Rabbi ein. Die tiefsinnigen Gespräche mit ihm, wühlen auch bei Maria alte Gefühle von Schuld auf, zeigen ihr aber auch einen neuen Weg, ihre ältere Familiengeschichte aufzuarbeiten. Währendessen erlebt Jakob Drogen- und Beziehungskrisen.

In drei Teilen nimmt John von Düffel die Gesellschaft und ihre Schwachstellen in Zeiten der Krise zwischen Nähe und Distanz anhand dieser deformierten und distanzierten Familie auseinander. Klug komponiert und präzise beobachtet laufen viele Gedanken und Ereignisse ineinander über – an manchen Stellen humorvoll, an anderen brutal und manchmal poetisch mit bildgewaltigen Landschaftszenen. Die Assoziationen zum Sterben und zum Tod während Corona, das Aufplatzen unterdrückter Gefühle wie Schuld, Wut und Scham, wenn sich körperlicher und seelischer Schmerz nicht mehr betäuben lässt, nimmt der Autor detailreich und scharfsinnig unter die Lupe. Denn am Ende gibt es für Kathi nur zwei Sorten von Sterbenden: die Wütenden und die Schuldigen. Brillant und unterhaltsam geschrieben, mitunter nicht leicht verdaulich, aber am Zahn dieser schwierigen Zeit.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.07.2021
Raumfahrer
Rietzschel, Lukas

Raumfahrer


sehr gut

Kopfüber in der Zwischenwelt
Schweigen und Sprachlosigkeit dominierten Jans Zuhause in der Lausitz – seine Eltern kamen ihm vor wie Raumfahrer, die in einer Zwischenwelt schwebend gefangen sind. Die alkoholkranke Mutter mittlerweile verstorben, wohnt Jan mit dem in sich gekehrten Vater im Schatten der (ehemaligen) Plattenbauen in Kamenz, schiebt im bald schließenden und von Wildtieren heimgesuchten Krankenhaus Patienten zu den Untersuchungen. Ein mysteriöser Patient namens „Der Alte“ sucht immer wieder Kontakt zu ihm, erzählt von einer Verbindung zum berühmten Deutschbaselitzer Künstler Hans-Georg Kern – alias Georg Baselitz. Zögerlich nimmt Jan eine Dokumentenkiste des Alten entgegen, wühlt sich durch verdrängte Erinnerungen und Zeitgeschichte, durch transgenerationale Traumata und Verschwiegenes, durch Stasi-Vergangenheit und Kunstgeschichte. Langsam kommt er der Verwobenheit seiner Familie mit der Familie Kern auf die Spur und muss sich einem schmerzhaften Familiengeheimnis stellen, dass beiderseits Brüche und über lange Zeit hinweg verletzte Seelen hinterlassen hat.

Lukas Rietzschel spannt in „Raumfahrer“ episodenhaft einen großen Bogen durch die Zeitgeschichte, von der Nachkriegszeit bis zur Nachwendezeit und verknüpft mit vielen zeitlich unsortierten Rückblenden die schicksalhafte Verbindung zweier Familien mit der Malerei von Georg Baselitz, der in den Westen auswanderte. Bekannt wurde der berühmte Gegenwartskünstler durch seine Figuren auf dem Kopf, gezeichnet von Krieg und falschen Ideologien. Rietzschel erzählt in nüchterner, knapper und auf den Punkt gebrachter Sprache in zwei parallelen Erzählebenen und beleuchtet bewegend wie in „Mit der Faust in die Wand schlagen“ zerrissene Menschen nach den Umbrüchen der Wende, die in der Leere der Gegenwart keinen Halt finden. Arbeitslosigkeit, Tristesse, Landflucht, Leerstand, Haltlosigkeit – wie Baselitz’ Figuren schweben auch diese Menschen kopfüber in einem Vakuum ohne Boden unter den Füßen.

Sehr atmosphärisch und skizzenhaft entrollt Rietzschel ein feinfühliges und bewegendes Stück Erinnerungskultur und Aufarbeitung, das neben der präzisen Beschreibungen von Baselitz’ Kunst zwei auseinandergerissene Familien porträtiert und dabei sowie DDR- und Kriegsschrecken miteinbezieht. Manchen Zeitsprüngen im fiktiven Roman fällt es schwer ad hoc zu folgen und doch entwickelt sich Stück für Stück ein vielschichtiges, größeres und eindringliches Bild über Zugehörigkeit, Vergangenheitsbewältigung und alten, unausgesprochenen Wunden, die bis ins Heute wirken – eingebettet in präzise eingefangener Zeitgeschichte.

„Ein untergegangener Staat, eine gescheiterte Idee, deren Anhänger er ja zwangsläufig gewesen war, qua Geburt. Darüber war sich die Welt einig. Der Westen. Also versuchte Vater, seine Spuren zu verwischen. Manchmal zog er einen Reisigbesen hinter sich her, manchmal einen Bulldozer.“ S. 181

Bewertung vom 12.07.2021
Willkommen beim Sommerfest!

Willkommen beim Sommerfest!


sehr gut

Kulinarisches & Kreatives für die Grillparty
Sommer, Garten, Party – jeder kennt die freudige Aufregung vor einer Grillparty im Freien, aber wurde auch an alles gedacht? Das Wetter hat man als Freiluftparty-Geber leider nicht im Griff, dafür aber die kulinarischen Gaumenfreuden der geladenen Gäste. „Willkommen beim Sommerfest!“ liefert auf 160 Seiten eine optisch sehr ansprechende sowie inhaltlich klar gegliederte Rezeptesammlung für das Grillen und Schlemmen an der freien Luft. Und obendrein gibt es noch Tipps und kreative Anregungen rund ums Draußen-Feiern und Essen – besonders schön ist hier die Anleitung für eine Biergarten-Garnitur mit Serviettentechnik, aber auch die praktischen Tipps sind hilfreich und nehmen nur einen sehr kleinen Einleitungsteil des Sachbuchs ein.

Der Hauptteil besteht aus leckeren, meist unkomplizierten und raffinierten Rezepten aus den Bereichen Fingerfood & Snacks, Salate, Gegrilltes, Gebäck & erfrischende Desserts sowie Getränke – mit und ohne Alkohol. Gelungen ist die facettenreiche Mischung aus traditionellen und exotischen sowie Fleisch- und vegetarischen Gerichten. Diese Bandbreite bringt kreativen Schwung in jede Grillparty – denn neben dem klassischen Kartoffelsalat steht dann ein Brokkolisalat asiatischer Art oder neben den Spareribs die Tofu-Mango-Spießchen. Die Rezepte sind sehr verständlich und praxisnah beschrieben, haben alle anschaulich auf zwei Seiten Platz und regen hochwertig bebildert sofort den Appetit an. Einen kleinen Kritikpunkt habe ich bei der Verwendung der Alufolie beim Caprese vom Grill oder den Jakobsmuscheln – vielleicht gäbe es da eine alternative Möglichkeit? Als gelungenes, kulinarisches I-Tüpfelchen werden aromatische Marinaden, Soßen und Gewürzmischungen beschrieben, die jede Grillspeise exzellent aufpeppen.

Fazit: Ein kompaktes, variantenreiches und optisch schön gestaltetes Kochbuch, mit dem jede Gartenparty und jedes Sommerfest kulinarisch bestens gelingen sollte. Jetzt muss es nur noch aufhören zu regnen.

Bewertung vom 19.06.2021
Im Reich der Schuhe
Wise, Spencer

Im Reich der Schuhe


sehr gut

Visionen und Revolutionen
Ein Sohn übernimmt die florierende Firma des tonangebenden Vaters im Ausland – da sind Konflikte und Reibereien vorprogrammiert. Noch explosiver wird es, wenn es eine Schuhfabrik in Südchina ist, in denen Wanderarbeiter ausgebeutet werden, um die Maschinerie des großen Gewinns laufen zu lassen. So geschieht es in Spencer Wise’ Debütroman „Im Reich der Schuhe“ – der junge Bostoner Jude Alex Cohen unterzeichnet die Nachfolge für seinen Vater, stolpert aber von einem Gewissenskonflikt in den nächsten, je tiefer er in die Strukturen und prekären Arbeitsbedingungen der Fabrik blickt. Er verliebt sich Hals über Kopf in Ivy, eine kluge Arbeiterin in der Fabrik, die aber mysteriös in geheime revolutionäre Pläne verwickelt zu sein scheint. Durch ihre Augen nimmt Alex Chinas Kultur und Politik ganz anders wahr, lernt viel über sich, über das Land, aber auch über Globalisierung und Kapitalismus dazu. Als eine Arbeiterin aus Verzweiflung Selbstmord begeht, muss sich Alex zwischen Loyalität und Moral entscheiden: Gibt es visionäre, neue Wege, um Arbeiter in China mehr zu schützen und den Output trotzdem gewinnträchtig zu halten? Wird er seinen Vater in Bredouille bringen müssen? Und wie weit geht er für Ivy, die vor Jahren das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens miterlebt hat?

Spencer Wise hat ausgiebig sowie präzise recherchiert und bringt eigene Erfahrungen aus einer Schuhmacher-Familie mit – das merkt man seinem gesellschaftskritischen Debüt beim Lesen an: Es braucht ein bisschen Durchhaltevermögen, bis die episch, nüchtern und detailreich erzählte Geschichte spannend wird und sich feinfühlig entfaltet – in Dialogen und auch in der Weiterentwicklung des Protagonisten. Dafür kommt Chinas Kultur und mordernes Leben in allen Facetten szenisch und atmosphärisch zum Vorschein und auch die sehr deprimierenden Aspekte von Ausbeute, Korruption und Unterdrückung werden nicht ausgespart. Es ist eine lehrreiche, hochwertig und schwarzhumorig geschriebene Geschichte, die länger nachhallt und über das nächste Paar Schuhe und dessen Produktion in Billiglöhnländern nachdenken lässt.

Es ist aber auch eine bissig formulierte und eindringliche Geschichte über Mut, Idealismus, Visionen zur Veränderung, Liebe und einem Vater-Sohn-Konflikt, das Aufeinanderprallen von Tradition und Moderne, sozialer Widerstand sowie das Ausbrechen aus Konventionen. Und bei allem schwingt ab der Hälfte diese subtil eingebaute Spannung mit, wer Ivy wirklich ist. Sehr gute und eloquente Unterhaltung mit ernsten Themen, die durch den scharfen Witz des Autors und einem optimistisch gestimmten Ende aufgelockert werden.

„Selbst wenn ich eine Rede hielt, würden die Arbeiter weiter leiden. Das war der globale Kapitalismus. Man konnte die Maschine nicht einfach abstellen. Sie lief seit hunderten von Jahren. Eine Notbremse gab es nicht.“ S. 301