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amara5

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Insgesamt 118 Bewertungen
Bewertung vom 19.07.2021
In diesen Sommern
Hecht, Janina

In diesen Sommern


sehr gut

Schichten aus Transparentpapier

Episodenhaft und assoziativ verknüpft mit Gedankenstützen wie Wasser, Holz, Besuch oder Pfade versucht sich Ich-Erzählerin Teresa ein zusammenhängendes Erinnerungsbild ihres Vaters, aber auch ihres Lebens zu rekonstruieren. Auf der einen Seite in fragilen und selteneren Momenten fürsorglicher Familienvater, auf der anderen alkoholkrank und gewalttätig. Auf Zehenspitzen müssen Teresa, ihr Bruder Manuel und die Mutter den Launen und Zornesausbrüchen ausweichen und wenn dies nicht möglich ist, geraten sie mit Schlägen und verbalen Angriffen frontal in die Schusslinie.

Zart, feinfühlig und melancholisch dringt die Autorin Janina Hecht tief in Teresas Erinnerungen, Ängste und Selbstzweifel – neben schönen Erlebnissen in den Familienurlauben am Meer oder auf dem Bauernhof, folgt die Tyrannei des Vaters. Eindringlich und tief empathisch beleuchtet Hecht neben der zerrütteten Familie die tiefe innere Zerrissenheit der Protagonistin: an welches Bild des Vaters sie glauben darf, wenn doch immer wieder alles zerstört wird.

„Manchmal würde ich gerne einer Vision meines Vaters vertrauen. Eine Antwort haben auf die Frage, wer er war. Ich lege die Ereignisse wie Schichten aus Transparentpapier übereinander und versuche zu erkennen, was durchscheint.“ S. 12

Teils poetisch und immer präzise die Außenwelt beobachtend, folgt der Leser den Stationen von Teresa: Kindheit, Schule und später die Jugend und Pubertät, das schwierige Abnabeln, erste Freunde und das Studium. Wie in einem Kaleidoskop blickt sie auf die wichtigsten Stationen ihres Lebens und der Befreiung der Familie, alles überlagert von einer tiefen Verunsicherung, die der Vater hinterlassen hat – bis über seinen Tod hinaus. Dabei drängt sich die in schöner Prosa erzählte Geschichte nie auf. Sie entfaltet sich ganz subtil und behutsam zwischen den Zeilen – die Assoziationen in den Kapitelüberschriften fließen klug komponiert in die Erinnerungen und Episoden mitein. So wie Teresa immer gelernt hat, ihren Vater und seine Stimmungsschwankungen zu beobachten, so detailreich und außergewöhnlich verknüpft nimmt sie auch ihre gesamte Umwelt wahr.

Ein bemerkenswertes und starkes Debüt über die Möglichkeiten des Erinnerns und das Nebulöse und Furchthafte daran – und eine Geschichte über den Mut des Reflektierens, Neusortierens und vom Aufbruch.

„Ich bewahre verschiedene Erzählungen nebeneinander und wähle eine passende aus. Immer begleitet von zwei Kräften, der Furcht davor, ihn zu vergessen, und der Notwendigkeit, nicht zu viel an ihn zu denken.“ S. 167

Bewertung vom 16.07.2021
Die Wütenden und die Schuldigen
Düffel, John

Die Wütenden und die Schuldigen


sehr gut

Den Schmerz betäuben

John von Düffel zeigt in „Die Wütenden und die Schuldigen“ anhand einer gespaltenen Familie, was die Corona-Pandemie im Lockdown 2020 für zwischenmenschliche Auswirkungen hatte – drastisch, lakonisch und mit einem sezierenden Blick auf die unschöneren Gefühle.

Der ehemalige Pfarrer Richard hat Krebs im Endstadium – zurückgezogen gibt er sich im Pfarrhaus in der ländlichen Ueckermark seinen traumatischen Erinnerungen und Schuldgefühlen hin, bis ihn Enkelin Selma zusammen mit der Freundin der Mutter besucht. Diese ist Kathi und Palliativmedizinerin – mit im Gepäck hat sie Fentanyl, ein sehr starkes Schmerz- und Betäubungsmittel, das Richard in fieberhafte Tagträume versetzt.

„Er dachte an den Speicher, die Enge, das unentwegte Sich-Stoßen an allen Dingen, bei jedem Gedanken. Er brauchte nichts gegen die Schmerzen, sondern etwas gegen die Erinnerung.“

Richard ist Witwer – seine Frau kam vor Jahren bei der Geburt des Sohnes um. Dieser Schmerz sitzt tief, brodelt unter der Oberfläche sowie seine Schuldgefühle zum Sohn, den er nie richtig Liebe zeigen konnte: Holger sitzt seit einem Suizidversuch in der Psychiatrie, der Kontakt ist zu allen Familienmitgliedern sehr spärlich bis abgebrochen, doch gedanklich beschäftigen sie sich alle mit dem fehlenden Familienmitglied. Derweil hat Selma innerlich auch zu kämpfen, mit dem Gefühl, immer die auffangende Wolke in der Familie zu sein, aber auch mit einer unbändigen Wut – diese verspürt auch die perspektivlose Dorfjugend im leergefegten Dorf. Die Parteien geraten gewaltvoll und mit harten Szenen aneinander. Einzig und alleine der schwarze Kater Morpheus bringt neben der Aberglauben-Mystik etwas Wärme ins Pfarrerhaus, ist aber schwerkrank und muss operiert werden.

Zuhause bekommt Mutter Maria, Anästhesistin in der Charité, die Quarantäne- und Abstandsregeln mit voller Wucht zu spüren – da sie dem frisch wieder eingezogenen Sohn und ziellosen Kunststudenten Jakob aus dem Weg gehen möchte, quartiert sie sich zufällig in die Wohnung darüber bei einem älteren Rabbi ein. Die tiefsinnigen Gespräche mit ihm, wühlen auch bei Maria alte Gefühle von Schuld auf, zeigen ihr aber auch einen neuen Weg, ihre ältere Familiengeschichte aufzuarbeiten. Währendessen erlebt Jakob Drogen- und Beziehungskrisen.

In drei Teilen nimmt John von Düffel die Gesellschaft und ihre Schwachstellen in Zeiten der Krise zwischen Nähe und Distanz anhand dieser deformierten und distanzierten Familie auseinander. Klug komponiert und präzise beobachtet laufen viele Gedanken und Ereignisse ineinander über – an manchen Stellen humorvoll, an anderen brutal und manchmal poetisch mit bildgewaltigen Landschaftszenen. Die Assoziationen zum Sterben und zum Tod während Corona, das Aufplatzen unterdrückter Gefühle wie Schuld, Wut und Scham, wenn sich körperlicher und seelischer Schmerz nicht mehr betäuben lässt, nimmt der Autor detailreich und scharfsinnig unter die Lupe. Denn am Ende gibt es für Kathi nur zwei Sorten von Sterbenden: die Wütenden und die Schuldigen. Brillant und unterhaltsam geschrieben, mitunter nicht leicht verdaulich, aber am Zahn dieser schwierigen Zeit.

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Bewertung vom 13.07.2021
Raumfahrer
Rietzschel, Lukas

Raumfahrer


sehr gut

Kopfüber in der Zwischenwelt
Schweigen und Sprachlosigkeit dominierten Jans Zuhause in der Lausitz – seine Eltern kamen ihm vor wie Raumfahrer, die in einer Zwischenwelt schwebend gefangen sind. Die alkoholkranke Mutter mittlerweile verstorben, wohnt Jan mit dem in sich gekehrten Vater im Schatten der (ehemaligen) Plattenbauen in Kamenz, schiebt im bald schließenden und von Wildtieren heimgesuchten Krankenhaus Patienten zu den Untersuchungen. Ein mysteriöser Patient namens „Der Alte“ sucht immer wieder Kontakt zu ihm, erzählt von einer Verbindung zum berühmten Deutschbaselitzer Künstler Hans-Georg Kern – alias Georg Baselitz. Zögerlich nimmt Jan eine Dokumentenkiste des Alten entgegen, wühlt sich durch verdrängte Erinnerungen und Zeitgeschichte, durch transgenerationale Traumata und Verschwiegenes, durch Stasi-Vergangenheit und Kunstgeschichte. Langsam kommt er der Verwobenheit seiner Familie mit der Familie Kern auf die Spur und muss sich einem schmerzhaften Familiengeheimnis stellen, dass beiderseits Brüche und über lange Zeit hinweg verletzte Seelen hinterlassen hat.

Lukas Rietzschel spannt in „Raumfahrer“ episodenhaft einen großen Bogen durch die Zeitgeschichte, von der Nachkriegszeit bis zur Nachwendezeit und verknüpft mit vielen zeitlich unsortierten Rückblenden die schicksalhafte Verbindung zweier Familien mit der Malerei von Georg Baselitz, der in den Westen auswanderte. Bekannt wurde der berühmte Gegenwartskünstler durch seine Figuren auf dem Kopf, gezeichnet von Krieg und falschen Ideologien. Rietzschel erzählt in nüchterner, knapper und auf den Punkt gebrachter Sprache in zwei parallelen Erzählebenen und beleuchtet bewegend wie in „Mit der Faust in die Wand schlagen“ zerrissene Menschen nach den Umbrüchen der Wende, die in der Leere der Gegenwart keinen Halt finden. Arbeitslosigkeit, Tristesse, Landflucht, Leerstand, Haltlosigkeit – wie Baselitz’ Figuren schweben auch diese Menschen kopfüber in einem Vakuum ohne Boden unter den Füßen.

Sehr atmosphärisch und skizzenhaft entrollt Rietzschel ein feinfühliges und bewegendes Stück Erinnerungskultur und Aufarbeitung, das neben der präzisen Beschreibungen von Baselitz’ Kunst zwei auseinandergerissene Familien porträtiert und dabei sowie DDR- und Kriegsschrecken miteinbezieht. Manchen Zeitsprüngen im fiktiven Roman fällt es schwer ad hoc zu folgen und doch entwickelt sich Stück für Stück ein vielschichtiges, größeres und eindringliches Bild über Zugehörigkeit, Vergangenheitsbewältigung und alten, unausgesprochenen Wunden, die bis ins Heute wirken – eingebettet in präzise eingefangener Zeitgeschichte.

„Ein untergegangener Staat, eine gescheiterte Idee, deren Anhänger er ja zwangsläufig gewesen war, qua Geburt. Darüber war sich die Welt einig. Der Westen. Also versuchte Vater, seine Spuren zu verwischen. Manchmal zog er einen Reisigbesen hinter sich her, manchmal einen Bulldozer.“ S. 181

Bewertung vom 12.07.2021
Willkommen beim Sommerfest!

Willkommen beim Sommerfest!


sehr gut

Kulinarisches & Kreatives für die Grillparty
Sommer, Garten, Party – jeder kennt die freudige Aufregung vor einer Grillparty im Freien, aber wurde auch an alles gedacht? Das Wetter hat man als Freiluftparty-Geber leider nicht im Griff, dafür aber die kulinarischen Gaumenfreuden der geladenen Gäste. „Willkommen beim Sommerfest!“ liefert auf 160 Seiten eine optisch sehr ansprechende sowie inhaltlich klar gegliederte Rezeptesammlung für das Grillen und Schlemmen an der freien Luft. Und obendrein gibt es noch Tipps und kreative Anregungen rund ums Draußen-Feiern und Essen – besonders schön ist hier die Anleitung für eine Biergarten-Garnitur mit Serviettentechnik, aber auch die praktischen Tipps sind hilfreich und nehmen nur einen sehr kleinen Einleitungsteil des Sachbuchs ein.

Der Hauptteil besteht aus leckeren, meist unkomplizierten und raffinierten Rezepten aus den Bereichen Fingerfood & Snacks, Salate, Gegrilltes, Gebäck & erfrischende Desserts sowie Getränke – mit und ohne Alkohol. Gelungen ist die facettenreiche Mischung aus traditionellen und exotischen sowie Fleisch- und vegetarischen Gerichten. Diese Bandbreite bringt kreativen Schwung in jede Grillparty – denn neben dem klassischen Kartoffelsalat steht dann ein Brokkolisalat asiatischer Art oder neben den Spareribs die Tofu-Mango-Spießchen. Die Rezepte sind sehr verständlich und praxisnah beschrieben, haben alle anschaulich auf zwei Seiten Platz und regen hochwertig bebildert sofort den Appetit an. Einen kleinen Kritikpunkt habe ich bei der Verwendung der Alufolie beim Caprese vom Grill oder den Jakobsmuscheln – vielleicht gäbe es da eine alternative Möglichkeit? Als gelungenes, kulinarisches I-Tüpfelchen werden aromatische Marinaden, Soßen und Gewürzmischungen beschrieben, die jede Grillspeise exzellent aufpeppen.

Fazit: Ein kompaktes, variantenreiches und optisch schön gestaltetes Kochbuch, mit dem jede Gartenparty und jedes Sommerfest kulinarisch bestens gelingen sollte. Jetzt muss es nur noch aufhören zu regnen.

Bewertung vom 19.06.2021
Im Reich der Schuhe
Wise, Spencer

Im Reich der Schuhe


sehr gut

Visionen und Revolutionen
Ein Sohn übernimmt die florierende Firma des tonangebenden Vaters im Ausland – da sind Konflikte und Reibereien vorprogrammiert. Noch explosiver wird es, wenn es eine Schuhfabrik in Südchina ist, in denen Wanderarbeiter ausgebeutet werden, um die Maschinerie des großen Gewinns laufen zu lassen. So geschieht es in Spencer Wise’ Debütroman „Im Reich der Schuhe“ – der junge Bostoner Jude Alex Cohen unterzeichnet die Nachfolge für seinen Vater, stolpert aber von einem Gewissenskonflikt in den nächsten, je tiefer er in die Strukturen und prekären Arbeitsbedingungen der Fabrik blickt. Er verliebt sich Hals über Kopf in Ivy, eine kluge Arbeiterin in der Fabrik, die aber mysteriös in geheime revolutionäre Pläne verwickelt zu sein scheint. Durch ihre Augen nimmt Alex Chinas Kultur und Politik ganz anders wahr, lernt viel über sich, über das Land, aber auch über Globalisierung und Kapitalismus dazu. Als eine Arbeiterin aus Verzweiflung Selbstmord begeht, muss sich Alex zwischen Loyalität und Moral entscheiden: Gibt es visionäre, neue Wege, um Arbeiter in China mehr zu schützen und den Output trotzdem gewinnträchtig zu halten? Wird er seinen Vater in Bredouille bringen müssen? Und wie weit geht er für Ivy, die vor Jahren das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens miterlebt hat?

Spencer Wise hat ausgiebig sowie präzise recherchiert und bringt eigene Erfahrungen aus einer Schuhmacher-Familie mit – das merkt man seinem gesellschaftskritischen Debüt beim Lesen an: Es braucht ein bisschen Durchhaltevermögen, bis die episch, nüchtern und detailreich erzählte Geschichte spannend wird und sich feinfühlig entfaltet – in Dialogen und auch in der Weiterentwicklung des Protagonisten. Dafür kommt Chinas Kultur und mordernes Leben in allen Facetten szenisch und atmosphärisch zum Vorschein und auch die sehr deprimierenden Aspekte von Ausbeute, Korruption und Unterdrückung werden nicht ausgespart. Es ist eine lehrreiche, hochwertig und schwarzhumorig geschriebene Geschichte, die länger nachhallt und über das nächste Paar Schuhe und dessen Produktion in Billiglöhnländern nachdenken lässt.

Es ist aber auch eine bissig formulierte und eindringliche Geschichte über Mut, Idealismus, Visionen zur Veränderung, Liebe und einem Vater-Sohn-Konflikt, das Aufeinanderprallen von Tradition und Moderne, sozialer Widerstand sowie das Ausbrechen aus Konventionen. Und bei allem schwingt ab der Hälfte diese subtil eingebaute Spannung mit, wer Ivy wirklich ist. Sehr gute und eloquente Unterhaltung mit ernsten Themen, die durch den scharfen Witz des Autors und einem optimistisch gestimmten Ende aufgelockert werden.

„Selbst wenn ich eine Rede hielt, würden die Arbeiter weiter leiden. Das war der globale Kapitalismus. Man konnte die Maschine nicht einfach abstellen. Sie lief seit hunderten von Jahren. Eine Notbremse gab es nicht.“ S. 301

Bewertung vom 18.05.2021
Die Geschichte von Kat und Easy
Pásztor, Susann

Die Geschichte von Kat und Easy


sehr gut

Alte Wunden und Freundschaften
Kat und Easy waren in ihren Teenagerjahren in der Provinz-Kleinstadt Laustedt beste Freundinnen, ein Herz und eine Seele in den spannendsten Jahren des Heranwachsens. Dann kam es durch eine Liebe zum gleichen Mann Fripp und einem schmerzhaften Ereignis zum Freundschaftsbruch. Jahrzehnte haben sie nichts voneinander gehört, dann schlägt Easy ein Treffen auf Kreta in ihrem verfallenen Haus mit Blick aufs Meer vor. Ich-Erzählerin Kat, mittlerweile bekannte Lebensberatungs-Bloggerin stimmt widerwillig zu – die Frauen sind mittlerweile knapp über 60: Kann man eine alte Freundschaft trotz vergangener Verletzungen wieder aufleben lassen? Auf der griechischen Insel kommen sich Kat und Easy nach vorherigem Beäugen und Ausfragen mit viel Wein und Drogen wieder näher.

Die Autorin Susann Pásztor baut ihren Roman dabei geschickt komponiert in zwei Zeitebenen auf: das Jahr 1973 katapultiert den Leser atmosphärisch und authentisch in Kat und Easys formende Teenagerzeit: erste Lieben, Besuche im Jugendzentrum, Schwärmereien und Kämpfe für den gleichen Mann, der später bei einem Unfall tragisch ums Leben kam. Die Gegenwart gibt mit viel griechischem Flair die Sicht auf zwei Frauen im gleichen Haus frei, die sich in Gesprächen fragen, warum die Freundschaft damals zerbrach – alte, schmerzhafte Wunden und Neid tun sich auf, aber auch der Wunsch nach Nähe. Der raffinierte Clou an der Erzählung: unter dem Nickname Ich-wills-wissen schreibt Easy längere Nachrichten an Kat alias Mockingbird auf ihrem Blog, Unaussprechliches lässt sich in dieser Kommunikationsart leichter ins Rollen bringen und so wurde auch das Treffen auf Kreta angeleiert. Männerschwarm Easy beichtet im Mailwechsel, dass sie sich nie wahrhaftig auf Männer einlassen konnte – Kat gibt kluge Ratschläge zur Vergangenheitsbewältigung und alle Blogeinträge fließen in den Roman mitein.

„Easy hatte offenbar beschlossen, diese Angelegenheit auf meinem Blog auszutragen. Sie war gewissermaßen in mein Haus eingedrungen, und es war gut zu wissen, dass ich sie jederzeit rauswerfen konnte. Interessanterweise befand ich mich gleichzeitig in ihrem. (…)“ S. 77

Wie sich die Frauen einander umkreisen, ihre Vergangenheit, gewohnte Muster und Lebenswege reflektieren, bis sie an den unausgesprochenen Kern der Verletzung gelangen, ist bewegend und präzise mit viel menschlichem Gespür für fragile Innenwelten und unterschiedliche Wahrnehmungen eingefangen. Die Rückblenden in die 1970er-Jahre sind voller bunten Szenen mit Rockmusik, Drogen, Sehnsüchten und Herzschmerz. Die Gefühle der Mädchen und der Flair dieser Zeit in einer Kleinstadt sind wunderbar transportiert.

Dass sich die Frauen nach fast 50 Jahren wieder versöhnen und über ihre quälenden Schuldgefühle reden können und einen Punkt für einen vertrauensvollen Neuanfang finden, ist zwar etwas märchenhaft und teils ohne psychologische Tiefe, aber sehr feinfühlig, unterhaltsam, humorvoll und berührend zugleich erzählt, ohne in den Kitsch abzurutschen. Ein kluges Buch mit originellen und liebenswerten Protagonistinnen über menschliche Beziehungen und Freundschaften sowie ihre Brüche und Neuanfänge.

Bewertung vom 02.05.2021
Drei Kameradinnen
Bazyar, Shida

Drei Kameradinnen


sehr gut

Die Brände in uns
Die drei Kameradinnen aus Shida Bazyars neuem Roman stehen immer zueinander und das müssen sie auch, um in einer Welt, die sie ausgrenzt und mit verletzenden Vorurteilen, Blicken und Kommentaren belegt, durchzuhalten. Aufgewachsen in einer Hochhaus-Siedlung am Rande einer Stadt, die jede sein könnte, sind sie junge Frauen mit Migrationshintergrund. Woher ihre Familie stammen oder geflüchtet sind, wird nicht bekannt gegeben und das steht universell für die bewegende und eindringliche Geschichte, die zwischen Fiktion und täglichen Realitäten wie Alltagsrassismus und Stigmatisierung pendelt.

Ich-Erzählerin Kasih schreibt und erzählt sich alles achronologisch sowie stürmisch aus dem Kopf und spricht ihr lesendes Publikum immer wieder ungehemmt bis zornig an, bis es sich in mancher stereotyper Denklage ertappt fühlt. Somit wird das Lesen dieser Geschichte, die sich titelgebend auf Remarques „Drei Kameraden“ sowie inhaltlich auf die NSU-Prozesse bezieht, nicht bequem. Sie resümiert über Abwertung, Verachtung und dem rechten Terror und wie sich Freundin Saya ständig in Alarmbereitschaft befindet, sie alles tief in sich hineingräbt, sie Chat-Protokolle von Nationalsozialisten analysiert und selbst mitmischt, bis sie sich „radikalisiert“ hat. Es geht um die Stilisierung der NSU-Opfer als Verdächtige und um die vergangenen Tage der Freundinnen Saya, Hani und Kasih vor der Brandkatastrophe mit vielen Toten, für die Saya als Terroristin verantwortlich gemacht wird. Und die Frage, ob letzteres anhand einer noch tieferen Freundschaft zu verhindern gewesen wäre.

Das Wort „Kamerad“ ist nicht nur bei der Feuerwehr, in Vereinen und in rechtsextremen Kreisen sehr beliebt, es ist auch stärker als Freundschaft. Und die drei jungen Frauen sind immer füreinander da, wenn Beziehungen auseinander gehen, herabwürdigende Jobcenter-Besuche anstehen, sich Wutausbrüche entladen. Da alle drei grundverschiedene Charaktereigenschaften haben, ergänzen sie sich symbios und leidenschaftlich, wenn es darum geht, seelische Nöte zu kitten.

„Drei Kameradinnen“ ist ein aufwühlender, anklagender und bewegender Roman über Freundschaft, aber auch explizit über Gegenwartsgeschichte in Deutschland, der zum weiteren Fragestellen und Reflektieren anregt sowie der Gesellschaft einen unbehaglichen Spiegel vorhält. Bazyar ist eine präzise Beobachterin ihrer Umgebung und Menschen – Milieus werden detailliert ausgeleuchtet, eingerichtete Gewissheiten mit Fakten und Fiktion durcheinander gewirbelt, verlässliche Anker ausgehebelt und das Innenleben der Frauen ernst-humorvoll ausgeleuchtet. Der Erzählstil ist klug, gewitzt, eloquent und hält so einige Tricks parat – Kasihs Sprechen mit uns eine literarisch schöne und raffinierte Perspektive, die mit Unzuverlässigkeit spielt. Denn welches Erzählen über andere ist schon wahr?

Thematisch hochaktuell und spannend bis zum Schluss zeigt uns die Autorin auf brillante Weise, welche Schwelbrände in unserer Gesellschaft herrschen und was es heißt, aufgrund von der Herkunft immer wieder angezweifelt zu werden.

Bewertung vom 23.04.2021
Wenn Haie leuchten
Schnetzer, Julia

Wenn Haie leuchten


ausgezeichnet

Magische & bizarre Ozean-Wesen
Vor vielen Jahren hat sich die Meeresbiologin Dr. Julia Schnetzer verliebt – in die Ozeane und ihre geheimnisvollen Wesen. In ihrem lesenswerten Sachbuch „Wenn Haie leuchten“ nimmt sie uns mit auf eine Entdeckungsreise voller kurioser, ernster und schöner Fakten rund um die Tiefseewelt, denn das Meer steckt trotz zahlreicher Entdeckungen immer noch voller Rätsel.

In übersichtlichen und mit einigen Zeichnungen angereicherten Kapiteln macht Schnetzer Wissenschaft verständlich und sogar lustig. Denn die kurios-humorvollen Fakten, dass Haie leuchten, manche Grönlandwale und Islandmuscheln mit bis zu 500 Jahren uralte Geschöpfe sind, es solarbetriebene Meeresschnecken gibt, Delfine sogar Selbstmord begehen können und sich Haie in Meeres-Cafés treffen, waren für mich alle neu. Bekannt und umso trauriger ist das riesige Plastikmüll-Problem in den Ozeanen. Diese Verschmutzung erläutert Schnetzer sehr ausführlich und bewegend, denn das Thema Plastik liegt ihr seit Jahren am Herzen. Daneben ist die marine Mikrobiologie Schnetzers Steckenpferd und so klärt sie auch über die immense Bakterien- und Virenvielfalt im Ökosystem der Meere auf. Insgesamt variieren die Themen sehr vielfältig und ausgewogen.

Der Autorin ist die Liebe zum Meer und zu ihrem Beruf leidenschaftlich anzumerken – und auch der Faible für Science Slams und andere Formate, denn literarisch wurden die wissenschaftliche Fakten klar, strukturiert und sehr flüssig in ein unterhaltsames Sachbuch umgesetzt. Gespickt mit den humorvollen Einlagen rund um fluoreszierende und andere skurrile Meeresbewohner, ist die maritime Entdeckungsreise sehr kurzweilig. Das sehr umfangreiche Quellenverzeichnis am Ende macht Schnetzers wissenschaftliche Herangehensweise sehr transparent und seriös. Eine beeindruckende Art, über die Geheimnisse der Ozeane zu erzählen und gleichzeitig für den Erhalt dieser einzigartigen Welt und Arten einzutreten – 50 Cent jedes verkauften Buches gehen an eine NGO. So sollte gelungene Wissenschaftskommunikation aussehen! Und für Schnetzer ist klar: Es gibt noch unheimlich viel in den Ozeanen zu entdecken.

Bewertung vom 23.04.2021
Mado
Franßen, Wolfgang

Mado


gut

Rebellion einer Außenseiterin
Die junge Mado Kaaris flieht aus Paris zurück in ihren Heimatort in der Bretagne, nachdem sie ihren gewalttätigen Ex-Freund erschlagen hat. Doch auch im Maison Blanche, der alten Bauernkneipe ihrer Mutter Laure, findet sie keine Ruhe vor ihrer Vergangenheit und ihren inneren Dämonen. Gewalt, Ausgrenzung und frauenfeindliche Männer durchziehen die Lebenslinien der Frauen in der Familie Kaaris. Halt findet Mado nur bei ihrer berüchtigten und renitenten Großmutter Rosa. Sie wird ihr auch unerbittlich zur Seite stehen, als ihr rachsüchtiger Ex-Freund Mados Spur verfolgt und erste Opfer fordert. Ihre jüngere Schwester Verelle wird bald auch Bekanntschaft mit einem Mann machen, der es nicht ernst mit ihr meint. Die Enttäuschung der Schwester zusammen mit einem Familiengeheimnis rund um den Vater lassen Mados Zorn auf Männer ins Unermessliche wachsen. Kann sie sich dem eigenwilligen Bann ihrer Familie entziehen und ein eigenes Leben jenseits der Gewalt aufbauen? Oder ist sie den familiären Verstrickungen und Erblasten hilflos ausgeliefert? Mado muss sich entscheiden, bevor die nächste Situation eskaliert.

„Mado“ ist der Debütroman des Theaterregisseurs Wolfgang Franßen und schildert mit einer schnörkellosen, rasanten und manchmal auch derben Sprache ein Milieu am Rande der Gesellschaft, aus dem sich die Menschen nur schwer befreien können. Die Protagonistin Mado ist rebellisch, stur und zornig – Menschen zu lieben, hat sie nie gelernt. Sie jobt gelegentlich, tanzt sich ihre Wut nachts vom Leib, trinkt, nimmt Drogen und kämpft für ihre Freiheit. Niemand schreibt ihr vor, wie sie zu leben hat.

Eindringlich und detailliert beschreibt Franßen Mados Außenseiter-Welt und zerrütteten Familienverhältnisse und zeichnet einen Abschnitt aus ihrem Leben, das nach Aufbegehren lechzt. Trotzdem blieb mir Mado etwas auf Distanz – auch den Leser lässt sie nicht in ihr zerbrechliches Innenleben schauen, purer Zorn und Aversion gegen Konventionen halten alle Menschen von ihr fern.

Diese starken aggressiven Gefühle ziehen sich durch ihre gesamte Geschichte und bilden sogar ihren Kern, überlagern für mich aber auch einen aussagekräftigen Handlungsstrang. Dieser verliert sich meiner Meinung nach in zu vielen Details und Beschreibungen außenrum und in Mados unsteten und ruhelosen Charakter. Auch die Erzähl-Perspektive ihres Exfreundes und Boxers Marcel gaben dem Plot zwar eine Abwechslung, konnten mich aber nicht wirklich überzeugen. Auf der anderen Seite ist Franßen ein unkonventioneller Milieu-Roman gelungen, der authentischen Einblick in eine Welt der Ausgegrenzten zulässt, ohne eine Einordnung mit erhobenen Zeigefinger zu wollen. Der Leser folgt der rebellischen und störrischen Mado für eine kurze Zeit – und lässt sie weiterziehen: hoffentlich in die Freiheit und Selbstbestimmtheit und erlöst von den weitervererbten Familiendämonen.

„Was für ein trauriges Leben, in das sie da hineingeboren worden war. Ein trauriges Leben war das beschissenste überhaupt. Durch keinen Trost zu retten. (…) Plötzlich musste sie lachen, schüttelte den Kopf und schlug mit den Händen ineinander, als klatsche sie ihrer Familie Beifall.“ S. 246

Bewertung vom 12.04.2021
Weiter Himmel / Jackson Brodie Bd.5
Atkinson, Kate

Weiter Himmel / Jackson Brodie Bd.5


sehr gut

All die schönen, dunklen Dinge
Die Küste von Yorkshire scheint eine pure Idylle zu sein, doch es passieren perfide, kriminelle Dinge hinter einer scheinbar perfekten Fassade, wie sie sich auch die Männer- und Golffreunde Tommy, Andy und Steve aufgebaut haben. Alles gerät ins Wanken, als die Bekannte Wendy tot aufgefunden wird und immer mehr geheimnisvolle Fäden und Verbindungen zusammenlaufen. Neben dem schlagfertigen Ermittlerduo Reggie Chase und Ronnie Dibicki, die die zahlreichen Verflechtungen aufdecken wollen, kommt hier auch der melancholische Privatermittler Jackson Brodie ins Spiel, der noch von einer On-/Off-Beziehung und den Launen seines Sohnes angeschlagen ist. Es ist sein fünfter Fall, aber „Weiter Himmel“ lässt sich auch wunderbar lesen, wenn die Vorgänger nicht bekannt sind.

Ganz langsam und fein lässt Kate Atkinson ihren Kriminalroman mit einer mystisch-düsteren Atmosphäre anfangen: Sie lotet Milieus, menschliche Charaktere samt Bio-Vegan-Spleen und gesellschaftliche Schichten aus – manchmal braucht sie dafür nur zwei treffsichere Sätze. Mehrere Perspektiven (auch die Eitelkeiten und Familienverhältnisse der Übeltäter) und schnell wechselnde Szenen werden opulent und mit sprachlicher Finesse und vielen Details geschildert – Atkinson liebt es, diverse Gedankengänge weiterzuspinnen und der Leser sollte sich gut konzentrieren und die wunderbare Prosa genießen, bevor die spannende Handlung rund um den widerwärtigen und gewalttätigen Mädchenhandel und dem perfiden „Magischen Kreis“ beginnt und die Vorstadt-Idylle mächtig ins Wanken kommt.

Voller scharfem und schwarzem Humor nimmt Atkinson nicht nur die Protagonisten, Eigenarten oder gesellschaftliche Themen treffend und versiert auf die Schippe – sogar das Krimigenre an sich wird an manchen Stellen witzig und klug besprochen. Besonders lakonisch und schlagkräftig sind die Galgenhumor-Dialoge zwischen dem Ermittlerduo Reggie und Ronnie gelungen, aber auch Brodies zurückhaltender Charakter, der über tote Familienangehörige sinniert, Country-Musik liebt und auf gewisse Weise ein trauriger Schelm ist, ist wunderbar eingefangen.

Kate Atkinson gelingt es bravourös, in „Weiter Himmel“ neben dem widerwärtigen Eliten-Pädophilenring auch alltägliche Absurditäten ironisch und nonchalant auszuhebeln – gekonnt spielt sie mit vielen Zufällen, Situationskomik und alten Geheimnissen und eröffnet ein Panoptikum an plastischen Charakteren mit ein paar mutigen Außenseitern. Und hinter all den schönen Dingen steckt ganz schön viel Böswilliges, Dunkles und Abgründiges. Dass einer Autorin eine so klug-trockene Lakonie und eine unbeschwerte Sprache trotz des ernsten und aktuellen Themas fulminant gelingt, ist große und eher seltene Erzählkunst.