Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Havers
Buchflüsterer: 

Bewertungen

Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2023
Das Wunder von Bahnsteig 5
Pooley, Clare

Das Wunder von Bahnsteig 5


ausgezeichnet

Was eignet sich besser als eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn man gerne Menschen betrachtet, die der Zufall an einem Ort zusammenführt? Man kann Vermutungen anstellen, über interessante Eigenschaften oder tragische Schicksale fantasieren, was natürlich besonders gut gelingt, wenn man sich immer wieder begegnet. Genau das ist die Ausgangssituation in Clare Pooleys neuem Roman „Das Wunder von Bahnsteig 5“:

Die Zugfahrt von dem Londoner Vorort Surbiton nach Waterloo dauert knapp vierzig Minuten, immer an Bord Iona Iverson auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz. Die exzentrische Ratgeberkolumnistin ist immer in Begleitung ihres Schoßhündchens, und dass sie täglich den gleichen Platz besetzt, haben sämtliche Mitreisende mittlerweile zähneknirschend akzeptiert. Mit Argusaugen beobachtet sie alles, was um sie herum vor sich geht, und so ist sie auch die Erste, die den Ernst der Situation erfasst. Ein Mitreisender schnappt nach Luft, droht zu ersticken, wird aber durch das beherzte Eingreifen eines jungen Krankenpflegers gerettet. In den darauffolgenden Tagen kommt man miteinander ins Gespräch, lernt sich allmählich kennen und damit nimmt die Handlung an Fahrt auf, und aus Fremden werden Freunde, die sich umeinander kümmern.

Die Autorin konzentriert sich auf sechs Personen, von denen jede ihr Päckchen zu tragen hat, was sich allerdings erst im Verlauf der Handlung herausstellt. Dabei gelingt es ihr, die üblichen romantisierenden Fallstricke und Happy Ends zu vermeiden, die man üblicherweise in diesem Genre erwartet. Stattdessen thematisiert sie Altersdiskriminierung, Jobverlust, Einsamkeit, toxische Beziehungen, Krankheit und Cybermobbing.

Clare Pooley ist mit „Das Wunder von Bahnsteig 5“ ein unterhaltsamer Feelgood-Roman gelungen, den ich gerne empfehle, da er sich mit seinen ernsten Untertönen wohltuend von all dem abhebt, das man üblicherweise in diesem Genre erwartet.

Bewertung vom 30.12.2022
Das College
Ware, Ruth

Das College


weniger gut

Oxford, fiktives College. Eine Freundesclique. Zwei Zimmergenossinnen unterschiedlicher Herkunft: Hannah, die aufgrund ihrer schulischen Leistungen ein Stipendium erhalten hat und April, das It-Girl aus der wohlhabenden Familie, die ermordet wird. Ihr verurteilte Mörder, ein übergriffiger Pförtner, der aufgrund von Hannahs Aussagen des Mordes beschuldigt, angeklagt und verurteilt wird.

Zehn Jahre später: Ein Journalist, der nach dessen Tod im Gefängnis Hannah kontaktiert, sie verunsichert und Zweifel an der Schuld des Verurteilten in ihr weckt, sie dazu bringt, ihre damaligen Beobachtungen zu hinterfragen.

Der Handlung des Romans wird auf zwei Zeitebenen, Davor und Danach, aus Hannahs Sicht erzählt. Diese lebt mittlerweile in Edinburgh, erwartet ihr erstes Kind und ist mit Aprils ehemaligem College-Sweetheart Will verheiratet ist.

Beworben wird „Das College“ als Thriller, wobei die charakteristischen Thrillerelemente allerdings rar gesät sind. Der Roman ist eher das Psychogramm einer zutiefst unsicheren, traumatisierten Frau, die zwar ständig alles und jedes reflektiert, dabei aber keinen Schritt weiterkommt. Und das ist auch das zentrale Problem, das ich mit diesem Buch hatte. Die alternierenden Kapitel sind viel zu lang, ausführlich und sich inhaltlich wiederholend, als dass sie Tempo, geschweige denn Spannung erzeugen könnten.

Die Personen sind höchst oberflächlich und klischeehaft charakterisiert. Natürlich ist Opfer April vermögend und extrem attraktiv. Nicht zu vergessen natürlich auch intelligent, selbst wenn sie in all ihrer Oberflächlichkeit das gut zu verbergen weiß. Den Gegenpol dazu verkörpert Hannah, aus einfachen Verhältnissen, verhuscht und naiv, die sich noch nicht einmal traut, den übergriffigen Pförtner bei der Verwaltung zu melden. Sorry, Mrs Ware - hat man in England noch nichts von #Me Too gehört?

Last, but not least, spielen auch Oxford und das akademische Milieu eine höchst unglaubwürdige Nebenrolle. Eine vergebene Chance, denn gerade hier wären durchaus Möglichkeiten für interessantere Verwicklungen als die angebotenen möglich gewesen.

Bewertung vom 28.12.2022
Glasgow Girls
Goga, Susanne

Glasgow Girls


gut

Susanne Goga nimmt uns in ihrem neuen historischen Roman „Glasgow Girls“ mit an die 1845 gegründete Glasgow School of Art, bis heute eine renommierte Adresse, wenn es um künstlerische Innovationen in Design, Gebrauchskunst, Architektur und Malerei geht. Im Zeitraum von 1892 – 1898 begleiten wir Olivia MacLeod (fiktiv), die ihr künstlerisches Talent von ihrem früh verstorbenen Vater geerbt hat und sich dort mit Hilfe einer wohlmeinenden Mäzenin ihren Traum Realität werden lässt.

Die Autorin hat gründlich recherchiert, was die Literaturliste im Anhang beweist. In dem Roman selbst spielen über weite Strecken reale Personen aus der Kunstszene, eine Rolle: der herausragenden Jugendstil-Architekt Charles Rennie Mackintosh oder die Newberys, die MacDonald Schwestern und De Courcy Dewar. Aber auch Olivias Arbeitgeberin und Unterstützerin Kate Cranston, die maßgeblichen Einfluss auf die schottische Teestubenkultur hatte, ist vertreten.

Die Beschreibung des Kunstbetriebs fand ich durchaus informativ und gelungen, aber ich hadere mit den fiktiven Charakteren aus dem persönlichen Umfeld der Protagonistin und den daraus resultierenden Dramen. Offenbar kommt kein historischer Roman ohne Love Story aus, und hier bekommen wir sie gleich im Doppelpack aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln serviert. Einmal in Form von Allie, dem Jugendfreund Olivias, dessen unerfüllte Liebe nicht vergeht, und später dann ihre Beziehung zu Gabriel, dem Londoner Maler, in der die Erfüllung findet. Klischee in Reinform.

Vernachlässigt wird dafür ein anderer wichtiger Punkt, der zwar in Ansätzen thematisiert, aber nicht hinreichend ausgeführt wird. Herkunft ist kein Thema, und nur das künstlerische Talent zählt? Ist es wohl, denn nur, wer sich die Studiengebühren leisten kann oder wie Olivia Unterstützung findet, wird aufgenommen. Und ja, es gibt sie, die Klassengegensätze. Und Olivia, aufgewachsen in einem Arbeiterviertel in ärmlichen Verhältnissen, findet sich problemlos in ihrer neuen Welt zurecht, muss sich nicht mit Geringschätzung und Vorurteilen auseinandersetzen, in der sie von Menschen umgeben ist, die mit einem silbernen Löffel im Mund geboren wurden. Im Gegenteil. Alle in ihrem Umfeld reichen ihr helfend die Hand, wenn es nötig ist. Das scheint mir dann doch reichlich unrealistisch zu sein und kratzt damit an dem guten Eindruck, den die historisch belegten Fakten hinterlassen haben.

Bewertung vom 22.12.2022
Der Teufel von Dundee / Frey & McGray Bd.7
Muriel, Oscar de

Der Teufel von Dundee / Frey & McGray Bd.7


ausgezeichnet

Im viktorianischen Edinburgh hat der Handel mit Leichen Hochkonjunktur werden immer wieder auf dem Greyfriars Kirkyard die kürzlich bestatteten Leichname bei Nacht und Nebel ausgegraben und verhökert. Adolphus „Nine Nails“ McGray soll diesem Spuk ein Ende bereiten und legt sich deshalb auf die Lauer. Er kann zwar die Leichenfledderer nicht dingfest machen, aber sie lassen bei ihrer Flucht ihre Beute zurück, an der ein schockierendes Detail ins Auge fällt. Im Gesicht des weiblichen Leichnams prangt das Zeichen des Teufels. Kurz darauf wird in der Königlichen Irrenanstalt ein Insasse ermordet und zeitgleich wird dort an einer Wand das mit Blut gemalte Zeichen des Teufels entdeckt. Hauptverdächtige in dem Mordfall ist Nine-Nails Schwester Pansy, die seit Jahren in dieser Anstalt verwahrt wird. Als der mittlerweile nach Gloucestershire zurückgekehrte Ian Frey von seinem ehemaligen Kollegen um Hilfe bei den Ermittlungen gebeten wird, ist er zwar nicht begeistert, möchte ihn aber nicht hängen lassen, gilt es doch, Pansys Unschuld zu beweisen und das Rätsel um das Zeichen des Satans zu lösen.

In den vergangenen Jahren war das Erscheinungsdatum der Frey & McGray Neuerscheinung einer meiner Fixpunkte im Lesejahr. Aber manchmal muss man sich leider von liebgewonnenen Gewohnheiten verabschieden. So auch jetzt, denn „Der Teufel von Dundee“ schließt diese Reihe ab. Und bei allem Bedauern muss ich eingestehen, dass dies ohne Frage ein würdiger Abschluss ist, denn neben einer eigenständigen Story in gewohnter Qualität wird auch der Bogen zu den vorherigen Bänden geschlagen. Fragen, die im Verlauf der Vorgänger am Rande auftauchten und unbeantwortet blieben, obwohl sie der Klärung bedurft hätten, werden hier zufriedenstellend beantwortet. Mission accomplished, und zwar nicht nur höchst spannend und unterhaltsam, sondern auch absolut zufriedenstellend.

Bewertung vom 20.12.2022
Buch der Tage
Smith, Patti

Buch der Tage


ausgezeichnet

Patti Smith. Godmother of Punk. Hat schon seine Berechtigung, aber beschreibt nicht einmal in Ansätzen die vielfältigen Talente dieser Ausnahmekünstlerin, die über die Jahre bewiesen hat, dass sie neben Singer-Songwriterin auch noch Lyrikerin, Malerin und Fotografin ist.

In den vergangenen Jahren hat sie uns immer wieder in Form von Fotos und/oder Texten an ihren Erinnerungen teilhaben lassen, wobei leider deutscher Übersetzung lediglich Just Kids, Traumsammlerin, M Train, Hingabe sowie Im Jahr dessen Affen erhältlich sind. Neu hinzugekommen ist kürzlich „Buch der Tage“, eine Sammlung von 366 alten und neuen Fotos aus dem Privatarchiv der Künstlerin samt Text. Auf jeder Seite ein Bild für jeden Tag des Jahres (plus eines zusätzlich für das Schaltjahr), versehen mit reduzierten Bildunterschriften, die oft beschreiben, aber auch erinnern und damit zugleich intim, manchmal humorvoll, aber immer zutiefst menschlich sind. Eine gelungene Mischung aus alltäglichen und außergewöhnlichen Motiven, immer mit dem ihr eigenen Blick für die Details. Gleichzeitig ist diese persönliche Sammlung auch ein kulturelles Zeitzeugnis der vergangenen Jahrzehnte, getragen von Erinnerungen an Weggefährten und Verstorbene, nicht nur aus dem persönlichen Umfeld, sondern auch solche, die Patti Smith zeit ihres Lebens inspiriert haben.

Ergänzt wird dieses immerwährende Kalendarium im Anhang durch eine Leseliste, auf der neben vielen Werken der Weltliteratur auch Gerhard Richters „The daily practice of painting“ und überraschenderweise auch Mankells „Wallander-Romane“ zu finden sind.

In der Einleitung schreibt Smith „Einträge und Bilder sind Schlüssel, um die eigenen Gedanken freizuschalten.“ Dieser Aussage kann ich vorbehaltlos zustimmen, denn dieser großartige, ungewöhnliche Text- und Fotoband, der vollgepackt mit klugen Gedanken ist, lädt zum Innehalten und Nachdenken ein und wird im kommenden Jahr mein täglicher Begleiter sein.

Bewertung vom 18.12.2022
Das Reich der Mitte
Rutherfurd, Edward

Das Reich der Mitte


ausgezeichnet

Dass er ein Vielschreiber ist, kann man dem studierten Historiker Edward Rutherfurd wirklich nicht vorwerfen, denn seit der Publikation seines ersten Romans „Sarum“, in dem er tief in die Geschichte seiner Heimatstadt Salisbury eintaucht, sind mittlerweile 35 Jahre vergangen. Nun also „Das Reich der Mitte“, der 2021 im Original erschienene China-Roman, der die Zahl seiner Werke auf neun Bücher ansteigen lässt, von denen jedes einzelne ein Fest für jeden historisch interessierten Leser ist. Dank akribischer Recherche taucht er tief in die Geschichte einer Stadt oder eines Landes ein, versorgt uns mit belegten Fakten, verbindet diese mit individuellen Schicksalen, stellt Bezüge zur Gegenwart her und hilft damit, aktuelle politische Entwicklungen besser zu verstehen.

Ausgangspunkt ist das Jahr 1839. Auf der einen Seite China, ein stolzes Reich, das auf Jahrhunderte alte Traditionen zurückblicken kann. Auf der anderen Seite die Briten unter der Regentschaft von Queen Victoria, die um jeden Preis ihre Handelsbeziehungen, im Wesentlichen die Teeimporte, mit China aufrechterhalten wollen, auch wenn sie nicht in der Lage sind, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Eine erfolgversprechende Möglichkeit, dieses Dilemma zu umgehen, ist der Tauschhandel. Tee gegen Opium. Das illegale Rauschmittel, das im Auftrag der East India Company von skrupellosen Mittelsmännern ins Land gebracht wird und schlussendlich zu den Opiumkriegen führt, Auftakt einer Reihe von Demütigungen Chinas durch den Westen, allen voran die Briten, was bis heute Nachwirkungen zeigt.

Aber es sind nicht nur die großen historischen Ereignisse, auf die Rutherfurd unseren Blick richtet. Über individuelle Schicksale macht er uns bekannt mit starren Traditionen, lässt uns eintauchen in philosophische und religiöse Weltanschauungen, nimmt uns mit in das Private von chinesischen, britischen und amerikanischen Familien und zeigt uns so im Kleinen die Auswirkungen dieser wechselhaften Epoche.

„Das Reich der Mitte“ ist ein unterhaltsamer, farbenprächtiger aber auch äußerst informativer historischer Roman, der Ursachenforschung betreibt und das Verhältnis des Westens zu China hinterfragt. Und das orientiert an Fakten und ohne Wertung oder ideologischer Brille. Wer die Gegenwart verstehen will, sollte einen Blick in die Vergangenheit werfen Und dabei helfen Rutherfurds Romane.

Nachdrückliche Empfehlung, nicht nur für historisch interessierte Leser!

Bewertung vom 13.12.2022
Kant und der Schachspieler / Kommissar Kant Bd.2
Häußler, Marcel

Kant und der Schachspieler / Kommissar Kant Bd.2


sehr gut

Eine stillgelegte Farbenfabrik, ein Toter mit einer Schachfigur in der Hand, ein verschwundenes Schachgenie, ein vorbestrafter Boxer, ein dubioser Grundstücksverkauf, ein zweiter Toter. Mehr Fragen als Antworten in dem neuen Fall für KHK Kant und sein Team von der Münchner Mordkommission, wobei sich allerdings die Verortung glücklicherweise dezent im Hintergrund hält.

Beharrlich und fokussiert gehen Kant und seine Mitarbeiter den Fall an. Das wird aber nicht langatmig und trocken geschildert, sondern häppchenweise durch Informationen zum Leben der Teammitglieder ergänzt, die in die jeweiligen Ermittlungsschritte involviert sind: Kants Sorgen um seine halbwüchsige Tochter, die an spektakulären Aktionen von Fridays for Future teilnimmt. Rademacher, dem gesundheitliche Probleme eine Heidenangst einjagen. Dörfner, der aus prekären Verhältnissen stammt und froh ist, sich daraus befreit zu haben. Lammers, die Engagierte, die eher distanziert unterwegs ist. Und Hanna, die Neue, die Quereinsteigerin mit den diversen Zwangsneurosen. Allesamt angenehm unaufdringlich und feinfühlig porträtiert, so dass zu keinem Zeitpunkt der Fall durch das Privatleben der Ermittler überlagert wird.

Marcel Häußlers „Kant und der Schachspieler“ ist erfrischend anders, ein Polizeikrimi im klassischen Sinn, der weniger Wert auf die Beschreibung möglichst grausamer und abstruser Mordmethoden als vielmehr auf die präzise Beschreibung der Ermittlungsarbeit legt und daraus seine Spannung generiert. Eine Reihe, die ich definitiv im Blick behalten werde.

Bewertung vom 12.12.2022
Der Mordclub von Shaftesbury - Eine Tote bleibt selten allein / Penelope St. James ermittelt Bd.1
Winston, Emily

Der Mordclub von Shaftesbury - Eine Tote bleibt selten allein / Penelope St. James ermittelt Bd.1


weniger gut

Penelope St. James wird von ihrem Boss auf‘s Land versetzt. In Shaftesbury soll sie eine Zweigstelle der Londoner Partnervermittlungsagentur aufbauen. Dass dieses Vorhaben unerwartete Komplikationen in vielerlei Hinsicht mit sich bringt, darf man voraussetzen. Glücklicherweise findet sie Unterstützung bei ihren Nachbarn, einem verwitweten Tierarzt und seiner aufgeweckten Tochter. Das tödlich verletzte Unfallopfer, das sie bei ihrer Jogging-Runde per Zufall entdeckt, wird da eher zur Nebensache.

„Ein charmanter Krimi voller England-Flair“, mit dieser Aussage wird „Der Mordclub von Shaftesbury“, offensichtlich als Reihenauftakt geplant, beworben. Bereits der Titel erinnert, gewollt oder ungewollt, an die Donnerstagsmordclub-Krimis des englischen Autors Richard Osman. Und auch die Protagonistin weist verblüffende Ähnlichkeiten mit M.C. Beatons Agatha Raisin auf.

Kommen wir zu dem England-Flair. Das erschöpft sich im Wesentlichen in der Erwähnung eines Herrenhauses samt dazugehörigem Earl, einer Teestube und den skurrilen älteren Damen des Buchclubs, wobei der englische Humor sich leider auch hier nicht offenbart. Die Ortsangaben? Geschenkt, zeugen sie auch nicht von besonderer Ortskenntnis. Shaftesbury wird in Cornwall verortet, gehört aber zu North Dorset und ist kein Weiler mit einer Handvoll Häusern sondern eine Kleinstadt. Und Middlesbourgh liegt ca. 5 Stunden Fahrtzeit entfernt in North Yorkshire. Unglaubwürdig, wenn Penelope lediglich für einen kurzen Einkaufsbummel unterwegs ist.

Was die Zuordnung dieses Buches zum Cozy Crime-Genre angeht, bin ich leider auch nicht überzeugt. Schon kurz nach Beginn ist klar, dass es zwischen Protagonistin und dem smarten Tierarzt knistert, nach fünfzig Seiten sind sie in Liebe entflammt, was sich durch den gesamten Roman zieht und den halbherzig konstruierten Mordfall überlagert, der erst gegen Ende wieder in den Fokus rückt und ruckzuck den Bösewicht entlarvt.

Sorry, aber das war entäuschend. Ein England-Urlaub und das entsprechende Pseudonym reichen leider nicht aus, um einen charmanten Krimi voller England-Flair zu schreiben.

Bewertung vom 09.12.2022
Neue Bekenntnisse eines Buchhändlers
Bythell, Shaun

Neue Bekenntnisse eines Buchhändlers


ausgezeichnet

Wigtown ist ein ehemaliges Fischerstädtchen im Council Galloway im Süden Schottlands. 17 Buchhandlungen bei gerade mal knapp 1000 Einwohnern, Veranstaltungsort des alljährlichen Wigtown Bookfestivals und seit 1998 offiziell mit dem Titel „Booktown“ geadelt. Dort betreibt Shaun Bythell seit 2001 „The Bookshop“, das größte Antiquariat des Landes, das die Association of Wigtown Booksellers folgendermaßen beschreibt: „Nine well organised rooms, all full of books resting on nearly a mile of shelving“. Wahrscheinlich würde Bythell dieser Aussage nur bedingt zustimmen, türmen sich doch üblicherweise auch auf dem Fußboden noch jede Menge Bücherstapel. Und auch der Zustand der Regale macht ihn nur bedingt glücklich, denn es gibt immer wieder Situationen, speziell bei der Bearbeitung von Online-Bestellungen, dass Bücher sich nicht dort befinden, wo sie eigentlich sein sollten. Aber ich greife vor…

In „Neue Bekenntnisse eines Buchhändlers“ nimmt uns Shaun Bythell wie bereits in dem Vorgänger „Tagebuch eines Buchhändlers“ in seinen Alltag mit, listet akribisch in diesem Tagebuch das Jahr 2015 auf und verschafft so einen Eindruck, mit welchen Problemen nicht nur der Buchhandel allgemein, sondern auch seine Buchhandlung im Speziellen seit einigen Jahren zu kämpfen hat. Die Einträge geben Auskunft über die Anzahl der Online-Bestellungen (wobei leider nicht jede ausgeführt werden kann, da das Buch nicht auffindbar ist), über die Zahl der Kunden, die sich im Laden aufgehalten haben und über den täglichen Umsatz, den diese getätigt haben. Wir begleiten ihn auf seinen oft wenig erfolgreichen Ankaufstouren, freuen uns umso mehr mit ihm über wertvolle Zufallsfunde, lernen seine Stammkunden kennen und bekommen ein Gefühl für den Zusammenhalt und die Gemeinschaft in diesem Städtchen.

Und natürlich treffen wir auch alte Bekannte wieder. Captain, der Bookshop-Kater, genauso griesgrämig wie sein Besitzer, Flo, die depressive Aushilfe, und Nicky, die Teilzeitkraft, die regelmäßig in den Tonnen bei Morrisons containert und ihre Beute am Foodie-Freitag großzügig auch Shaun anbietet. Beide bekannt für ihren kreativen Umgang mit dem Gedruckten. Speziell, was die thematische Zuordnung betrifft. Eine liebenswerte und unterhaltsame Ergänzung ist Emanuela, die exzentrische Italienerin mit dem großen Appetit, bald nur noch wegen ihrer diversen Malaisen „Oma“ genannt, die ab Mitte des Jahres das Team verstärkt.

Bythell beschreibt äußerst unterhaltsam und mit jeder Menge trockenem Humor seine mehr als schrägen Kunden und seine schrulligen Mitarbeiter. Aber es gibt auch immer wieder Passagen, in denen nachdenkliche und melancholische Untertöne über die Herausforderungen und Schwierigkeiten darüber mitschwingen, wie man eine Buchhandlung in Zeiten von ebooks und Online-Konkurrenz auch zukünftig einigermaßen profitabel führen kann. Ein Rezept dafür hat er allerdings nicht.

Große Leseempfehlung und das ideale Weihnachtsgeschenk für alle Buchverrückten!

Bewertung vom 06.12.2022
Blutmond / Harry Hole Bd.13
Nesbø, Jo

Blutmond / Harry Hole Bd.13


ausgezeichnet

Harry Hole ist hat den Kanal voll. Hat genug von dem Leben ohne Rakel, ertränkt seine Trauer im Alkohol. Will vergessen, sich zuschütten, bis das Geld ausgeht oder bis er stirbt. Im Idealfall. Aber so billig kommt er nicht davon. Noch gibt es etwas zu tun.

„Blutmond“, Band 13 in Jo Nesbøs Harry Hole-Reihe, eröffnet mit einer Szene am Tresen einer Bar in Los Angeles. Dem Ort, den der Antiheld für seine letzte Mission auserkoren hat. Aber manchmal kommt dem Todeswunsch dann doch das Leben dazwischen.

In diesem Fall ist es der Ruf aus der Heimat. Zwei junge Frauen wurden ermordet und seine ehemalige Kollegin und jetzige Kommissarin Katrine Bratt hätte ihn gerne in ihrem Team gehabt, bekommt dafür aber kein Okay von ihrem Vorgesetzten. Unter Mordverdacht steht ein vermögender Immobilienhai. Dieser möchte seine Unschuld beweisen und bietet Harry dafür ein Vermögen. Das Geld spielt für Harry keine Rolle, torpediert eher seinen Todeswunsch. Aber eine Freundin aus LA steht bei einem mexikanischen Kartell mit einem hohen Geldbetrag in der Kreide, kann diesen aber nicht zurückzahlen und wird deshalb massiv bedroht. Und Freunde lässt man nicht hängen. Vielleicht kann er ihr mit dem Geld helfen. Also macht er sich auf den Weg zurück nach Oslo.

Vor Ort stellt sich Harry „Privatermittler“ ein illustres Team zusammen, das aus dem mittlerweile todkranken Ståle Aune, dem Dealer Øystein Eikeland, beides alte Freunde, plus dem korrupten Polizisten Trune besteht. Und dann macht er mit deren Unterstützung das, was er am besten kann, nämlich den Mörder aufspüren und dingfest machen. Harry ist wieder fokussiert und in der Spur. Zumindest vorerst.

Wir kennen das bereits aus dem Vorgänger, Nesbø braucht oft etwas länger als in diesem Genre üblich, bis sich die Komplexität seiner Storys entfaltet. So auch hier, aber es lohnt sich, denn spätestens ab Harrys Ermittlungen erhöht sich nicht nur das Tempo, auch die Spannungskurve steigt deutlich an, was unter anderem auch durch die unterschiedlichen Perspektiven inklusive Tätersicht sowie durch zahlreiche unerwartete Wendungen forciert wird.

Eine Warnung zum Schluss: Wie immer ist Nesbø nicht zimperlich, wenn es um die Beschreibung von Gewaltverbrechen und Grausamkeiten geht. Wer damit ein Problem hat, sollte die Finger von diesem Buch lassen. Allen anderen, vor allem den Fans der Reihe, kann ich nur raten „Greift zu, es lohnt sich!“