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Circlestonesbooks.blog
Über mich: 
Lesebegeisterte Literaturbloggerin, https://www.circlestonesbooks.blog/

Bewertungen

Insgesamt 411 Bewertungen
Bewertung vom 11.09.2022
Kangal
Schentke, Anna Yeliz

Kangal


ausgezeichnet

Kritisch und aktuell

„Wir mussten andere werden, um sagen zu können, war wir dachten. Lieber eine andere sein, als keine Stimme zu haben. Als Kangal wurde ich nicht als ich und nicht als Frau erkannt.“ (Zitat Pos. 106)

Inhalt
Dilek hat mit Freundin Sinai Geografie studiert. Als Sinais Freund Baran verhaftet wird, fürchtet Dilek, dass ihre Identität aufgedeckt wird, unter der sie kritische Artikel im Netz veröffentlicht. Heimlich fliegt sie nach Frankfurt, nicht einmal ihren Freund Tekin hat sie eingeweiht. Dileks Cousine Ayla lebt mit ihrer Familie in Frankfurt, doch nach einem Streit der beiden Mütter vor vielen Jahren wurde der Kontakt bewusst abgebrochen. Dilek meldet sich bei Ayla, doch sie ist misstrauisch geworden und weiß nicht, ob sie ihr trauen kann. In Istanbul ist Tekin immer noch überzeugt, dass sie vorsichtig genug waren, um nicht entdeckt zu werden, und dass Dilek es bereuen wird, nach Deutschland gegangen zu sein.

Thema und Genre
Ein Thema ist die politische Situation in der Türkei, denn die Politik der letzten Jahre wird auch in Deutschland beobachtet, und die Meinung dazu entzweit die Menschen dort wie hier bis in die Familien. Doch es geht vor allem um eine junge Generation, die nach ihrer Identität und Zukunft sucht, um mutige junge Frauen, die ihren eigenen Weg gehen wollen, notfalls über Umwege. Auch die Bedeutung der Familie und der Familienstrukturen zwischen traditionell und modern sind ein Thema.

Charaktere
Es sind drei Hauptfiguren, Dilek, Ayla und Tekin, die abwechselnd ihre Sicht der Dinge schildern. Ayla will einerseits die Erwartungen ihrer Eltern erfüllen, doch ihre eigenen Pläne für ihre Zukunft gibt sie nicht auf. Tekin ist im Netz gegen die Einschränkungen der persönlichen und der Meinungsfreiheit aktiv, er ist wachsam und vorsichtig, aber er unterscheidet zwischen Furcht und Angst und trifft keine voreiligen Entscheidungen. Dilek flieht nach Deutschland, weil sie Angst hat, verhaftet zu werden, doch sie fühlt sich auch in Deutschland nicht sicher und fragt sich, ob es richtig war, nach Frankfurt zu kommen. „Heute denke ich, ich hatte keine Wahl, morgen frage ich mich, ob ich nicht ein Feigling bin und es mir einfach mache, jetzt und hier.“ (Zitat Pos. 283)

Handlung und Schreibstil
„Seien sie sich bewusst, dass regierungskritische Äußerungen in sozialen Medien, auch wenn sie länger zurückliegen, aber auch das Teilen oder Liken eines fremden Beitrages Anlass für strafrechtliche Maßnahmen der türkischen Sicherheitsbehörden sein können.“ (Zitat Pos. 44) Diese Aussage bringt uns mitten in die Ereignisse. Die Handlung spielt in einem kurzen Zeitraum in der Gegenwart. Ergänzt wird sie durch Rückblicke, jede der Hauptfiguren erinnert sich an prägende persönliche Erfahrungen. Die Autorin erzählt die Geschichte in kurzen Kapiteln, im raschen Wechsel zwischen den drei Hauptfiguren. Die in der Überschrift des Kapitels genannte Figur wird im jeweiligen Kapitel zur Ich-Erzählerin, zum Ich-Erzähler. Ähnlich schnörkellos wie dieser straffe Aufbau ist auch die Sprache, während die Themen und Problematiken breit gefächert sind. Spannung entsteht durch die Entscheidungen und die vielen damit verbundenen Konflikte und Fragen.

Fazit
Kangal ist einerseits ein politischer Roman, es ist jedoch auch ein präziser Blick auf die aktuellen Themen unserer Gesellschaft, besonders die Situation der jungen Menschen zwischen Familientradition und Aufbruch, zwischen Türkei und Deutschland. In dieser Geschichte sind es vor allem die jungen Frauen, die selbstbewusst ihren eigenen Weg gehen wollen.

Bewertung vom 10.09.2022
Spitzweg
Nickel, Eckhart

Spitzweg


sehr gut

Philosophisch, Spät-Romantisch, zwischen real und surreal

„Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich gerne über einen Speicher in meinem Gehirn verfügen, der alle Momente versammelt, in denen ich Menschen, Orte und Dinge zum ersten Mal gesehen habe, die später im Leben für mich wichtig werden.“ (Zitat Pos. 473)

Inhalt
Bevor der jugendliche Ich-Erzähler Carl kennenlernt, den Neuen in der Klasse, der mit niemandem spricht, etwas abgehoben in seiner eigenen Welt zu leben scheint, konnte er mit Malerei nichts anfangen. Dann kommt der Tag, an dem die Kunstlehrerin in ihrer Unterrichtsstunde das Selbstporträt der sehr talentierten Schülerin Kristen mit einer rüden Bemerkung kritisiert. Carl überredet den zunächst zögernden Ich-Erzähler, der Zeichenlehrerin eine Lektion zu erteilen. Kirsten verschwindet, nur ein von ihr gezeichnetes Bild in Anlehnung an Millais Ophelia bleibt zurück. Doch anders als besprochen, verschwindet das Mädchen tatsächlich und die beiden Freude begeben sich auf die Suche.

Thema und Gene
In diesem Coming-of-Age Roman geht es um die Kunst, vor allem um die Ausdrucksformen der Malerei als Spiegel und Interpretation der Wirklichkeit, um Literatur, Psychologie, Freundschaft und die erste Liebe in dieser besonderen Zeit zwischen Kindheit und Erwachsenenleben, wo die Suche danach, wer man ist und wer man sein will, gerade erst beginnt.

Charaktere
Carl ist ein selbstbewusster junger Mann, er zelebriert sein Auftreten gleich einem modernen Romantiker unserer Zeit, beschäftigt sich intensiv mit der Malerei, besonders mit den Bildern des Malers Carl Spitzweg. Der junge Ich-Erzähler ist das genaue Gegenteil, er zieht sich zu Hause meistens sofort in sein Zimmer zurück, blickt aus dem Fenster und versinkt träumend in den Beobachtungen der Natur. Dies ändert sich durch seine Freundschaft mit Carl. „Ich litt unter der schmerzlichen Abwesenheit des Besonderen. Nur in der Kunst schien alles besonders, Carl konnte es sehen und erklären.“ (Zitat Pos. 2746)

Handlung und Schreibstil
Der junge Ich-Erzähler schildert die Ereignisse, die dieser besonderen Zeichenstunde folgen, im Kern chronologisch, doch mit vielen Unterbrechungen, psychologischen Betrachtungen, genauen Beobachtungen einer möglichen Realität. So ist der Ich-Erzähler ist ein unverlässlicher Erzähler, in den manchmal beinahe verzweifelten Versuchen, aus der empfundenen Langeweile seines Lebens auszubrechen, mit allen Unsicherheiten seiner jungen Jahre, führt er uns durch surreale, skurrile Schein- und Traumwelten. Die intensiven Gespräche mit seinem kunstbegeisterten Freund Carl, dessen an Monologe grenzenden Erklärungen über die Fähigkeit der Kunst, eine ästhetische, oft auch bei genauem Hinsehen kritische Variante der Realität anzubieten, umgeben und ergänzen facettenreich die Kernhandlung. Die Sprache bringt die poetischen bis ausufernden Satzgebilde der Romantik in die Gegenwart unserer Zeit.

Fazit
Ein trotz der surrealen Vielfältigkeit leiser, poetischer Roman über das Erwachsenwerden, die damit verbundenen verwirrenden Fragen mit der Suche nach philosophischen Antworten, und gleichzeitig ein intensiver Ausflug in die Malerei zwischen Biedermeier und Romantik.

Bewertung vom 09.09.2022
Der Diamanten-Coup
Burow, Patrick

Der Diamanten-Coup


ausgezeichnet

Spannende Unterhaltung

„Der Plan war riskant – und die Spannung in dem Audi mit Händen zu greifen. Die vier Männer würden an diesem 25. November 2019 den größten Kunstraub der Nachkriegsgeschichte begehen.“ (Zitat Seite 7)

Inhalt
Sie sind ein bewährtes Team und ihre Coups sind Auftragsarbeiten, genau wie in den frühen Morgenstunden an diesem 25. November 2019 in Dresden. Ihr Ziel ist das Grüne Gewölbe im Residenzschloss Dresden, das den größten barocken Juwelenschatz Europas beherbergt. Sie wissen, sie haben nur fünf Minuten Zeit, doch das genügt, um die wertvollsten Schmuckstücke einzupacken, darunter den berühmten Sächsischen Weißen Diamanten. Als die Polizei eintrifft, sind die Diebe längst spurlos verschwunden. Verschwinden muss auch der angesehene Professor für Kunstgeschichte und Kunstdetektiv Adrian Falke, denn für die Polizei ist der der Hauptverdächtige. Ausgerechnet die Direktorin des Museums, Julia Graf, rettet ihn davor, verhaftet zu werden. Einerseits ist ihr klar, wie absurd dieser Verdacht der Ermittler ist, vor allem jedoch braucht sie ihn in Freiheit, denn sie hofft, mit seiner Hilfe die geraubten Diamanten zu finden. Gemeinsam beginnt eine rasante Suche, doch immer sind die Diebe ihnen einen Schritt voraus.

Thema und Genre
Vom Verlag wird diese Geschichte dem Genre Thriller zugeordnet, für mich finden sich hier die typischen Charakteristika eines Kriminalromans. Themen sind berühmte Kunstdiebstähle, internationaler Diamantenhandel und weltweit agierende Verbrecherorganisationen.

Charaktere
Adrian und Julia sind sympathische Hauptfiguren, private Ermittler ohne die in diesem Genre aktuell sehr oft eingesetzten Traumata aus Scheidungen, verstorbenen Ehepartnern, Alkoholexzessen, für mich sehr positiv. Alle Personen dieser Geschichte sind fiktiv, aber nahe an echten Vorbildern, was sie realistisch und ihr Handeln nachvollziehbar macht.

Handlung und Schreibstil
Obwohl der Coup am Beginn der Geschichte auf tatsächlichen Fakten basiert, ist die nachfolgende Handlung, ebenso wie die Figuren, frei erfunden. Die rasante Handlung wird in kurzen Kapiteln erzählt, in deren Mittelpunkt abwechselnd die unterschiedlichen Gruppen der Hauptpersonen stehen. Als Überschrift trägt jedes Kapitel Ort, Datum, Uhrzeit, letzteres deshalb, weil es sich oft um Ereignisse handelt, die gleichzeitig an verschiedenen Orten stattfinden, und oft innerhalb von knappen Zeitspannen. Der knappe Zeitrahmen beträgt nur einen Monat und die Suche führt Adrian und Julia von Dresden über Hamburg, Paris, London, Antwerpen bis nach Dubai und zurück. Interessante Informationen über Diamanten und den Handel mit diesen wertvollen Steinen ergänzen die Handlung, ohne jedoch die Spannung zu nehmen.

Fazit
Ein True-Crime-Actionroman in Anlehnung an den Dresdner Jahrhunderdiebstahl am 25. November 2019, bei dem berühmte Diamanten von unermesslichem Wert erbeutet wurden, die bis heute verschwunden sind. Eine sehr gut recherchierte, spannende Geschichte, unterhaltsam zu lesen.

Bewertung vom 05.09.2022
Tage ohne Cecilia
Muñoz Molina, Antonio

Tage ohne Cecilia


ausgezeichnet

Komplex, eindringlich und rätselhaft

„Im Traum bin ich in New York, doch diese Gewissheit entspricht überhaupt nicht dem, was ich sehe. Ich bin irgendwo in Lissabon und weiß nicht, wie ich dorthin gelangt bin.“ (Zitat Seite 230)

Inhalt
Ein Mann ist gerade von New York nach Lissabon gezogen. Während seine Frau Cecilia, eine Forscherin, zwischen dem Abschluss ihrer wissenschaftlichen Arbeit in New York und Kongressen pendelt, hat er Zeit, die Umzugskartons auszupacken und die Wohnung einzurichten, denn er ist schon im Vor-Ruhestand. Begeistert erzählt er, dass man aus den Fenstern der Wohnung wieder auf einen Fluss blickt, früher war es der Hudson, jetzt ist es der Tejo. So entsteht in einem ruhigen Viertel von Lissabon ein schönes neues Zuhause. Während er wartet, leistet die Hündin Luria dem Mann Gesellschaft und beide warten voll Vorfreude auf die Ankunft von Cecilia. Die Tage vergehen …

Thema und Genre
Der Schwerpunkt in diesem Roman sind psychologische Fragen zu Kernthemen wie die eigene Erinnerung an in der Vergangenheit erlebte Situationen und die Unberechenbarkeit dieser Erinnerungen, Ängste, der schmale Grat zwischen Realität und Scheinwelt.

Charaktere
Der Ich-Erzähler fühlt sich in Lissabon wohl und ist froh, New York verlassen zu haben, freut sich auf die Ankunft seiner Frau. Doch je länger der Mann wartet, desto mehr verliert er das Gefühl für Raum und Zeit, seine Gedanken pendeln zwischen den vielen Erinnerungen an die Zeit in New York und seiner neuen täglichen Routine in Lissabon. „Das jetzt ist in die Ferne gerückt. Die damalige Vergangenheit ist von mächtigerer Beschaffenheit als die Gegenwart.“ (Zitat Seite 212)

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte kommt mit wenigen Personen aus. Im Mittelpunkt der Handlung steht der Mann, der nach einer Übersiedlung darauf wartet, dass seine Frau, eine erfolgreiche und vielbeschäftigte Wissenschaftlerin, in die neue gemeinsame Wohnung nachkommt. Er teilt mit uns seine Erinnerungen an die Zeit und Ereignisse in New York, aber auch die Bücher, die er gerade liest und denkt auch über aktuelle Themen nach. So breitet der Autor die an sich einfache Situation, ein Mann und seine Hündin warten auf seine Frau, weit aus, wie einen bunten Fächer, facettenreich, eindrücklich, beklemmend. Mit dem Mann warten wir auf Cecilia und mit jedem Detail fragen wir uns, ob die Geschichte, die er uns da erzählt, tatsächlich so ist, wie von ihm geschildert. Es sind die Gedanken und Zweifel, die diesem Roman die Spannung geben. Gleichzeitig nimmt sich der Autor Zeit für eindrückliche Schilderungen von Lissabon, des ruhigen Stadtteils, in dem die neue Wohnung liegt, aber auch für prägende Szenen in der turbulenten Stadt New York. Es ist mit die Sprache, die uns beim Lesen sofort in den Bann dieser Geschichte zieht.

Fazit
Eine intensive Geschichte mit vielen Facetten zwischen dem Lebensgefühl in der bunten Stadt Lissabon, aber auch den drängenden Themen und Problemen unserer Zeit, zwischen Liebe, Erinnerungen, Traum und Wirklichkeit.

Bewertung vom 02.09.2022
Ein Haus und geteilte Leben
Töllner, Christiane

Ein Haus und geteilte Leben


ausgezeichnet

Deutsche Zeitgeschichte, interessant und packend erzählt

„Aber als ein Haus ohne Gäste erreicht mich das Geschehen im Ort längst nicht mehr so wie früher. So geht diese Saison ziemlich an mir vorbei. Es fühlt sich an, als hätte es sich ausgesommert.“ (Zitat Seite 35)

Inhalt
Nach der „Aktion Rose“ am Beginn des Jahres 1953 sind Otto und Alma auf ihrer Flucht in Berlin angekommen und leben dort unter sehr bescheidenen Umständen. Das Haus vermisst sie sehr und sie vermissen ihre Heimat Rügen. Auch ihr Sohn Horst musste mit seiner Frau Rosi Greifswald verlassen, in den Westen fliehen. Er bewirbt sich um eine Stelle als Dozent auf Schloss Bieberstein in der Rhön, die er auch erhält. Immer mehr Freunde und Bekannte verlassen die DDR, das Haus beobachtet mit Sorge, wie es in Sellin leiser wird. Doch dann nimmt auch hier das Leben wieder Fahrt auf, wenn auch völlig anders als bisher. Das Haus wurde in kleine Wohneinheiten unterteilt und diese einzeln vermietet. Die Jahre vergehen, nun gibt es Radio und Fernsehen, und so ist auch das Haus über die aktuellen Ereignisse informiert, denkt darüber nach, es sind viele Themen: von der Politik, über das Tagesgeschehen, Kultur, bis zu den wichtigen Sportereignissen. Nach der Wende wartet das Haus sehnsüchtig auf Horst und Rosi, bis es im Jahr 1993 endlich so weit ist. Genau einhundert Jahre nach dem Bau des Hauses stehen sie nach mehr als vierzig Jahren zum ersten Mal wieder vor dem Haus und überlegen. Wird es ein neues Kapitel für das Haus „Helene“ geben?

Thema und Genre
Dieses Buch ist der zweite Teil der Geschichte des Hauses „Helene“ in Sellin auf Rügen und die damit verbundene Geschichte der Familie Töllner.

Charaktere
Der Erzähler ist das Haus 1903 erbaute Haus. Vor allem jedoch ist es die Geschichte der Menschen aus mehreren Generationen. Es sind Familienmitglieder, Freunde und Bekannte der Familie der Autorin.

Handlung und Schreibstil
Wie bereits im ersten Teil der Familiengeschichte ist es das Haus, das beobachtet, über die Beobachtungen und Informationen nachdenkt und diese erzählt. Es ist eine lebhafte, facettenreiche Mischung. Schilderungen des Alltags in der DDR, gleichzeitig auch in der Bundesrepublik, das Leben auf beiden Seiten der Mauer, werden mit der jeweils relevanten politischen und wirtschaftlichen Situation verknüpft. Auch über kulturelle Ereignisse berichtet das Haus und besondere Ereignise wie den Katastrophenwinter 1979 und so wird auch die Geschichte des Ostseebades Sellin und der Insel Rügen Teil der Handlung.
In der zweiten Hälfte des Buches geht es um das wiedervereinigte Deutschland, die Unsicherheiten in den Jahren danach und die Veränderungen. Ein architektonisch interessantes Kapitel zeigt Bilder des baulichen Zustandes der einzelnen bekannten Häuser nach der Wende und heute, nach umfassenden Erhaltungsarbeiten. Anekdoten, Briefausschnitte und viele Fotografien ergänzen den Text. Im Anhang am Buchende finden sich der Stammbaum, das Abbildungsverzeichnis und eine ausführliche Quellenangabe.

Fazit
Eine facettenreiche, packende Reise durch die letzten siebzig Jahre Zeitgeschichte Sellins, der Insel Rügen und Deutschlands, und gleichzeitig ein Streifzug durch die zeitlose, beeindruckende Schönheit der Natur dieser Insel. Wer diese wechselvollen Jahre erlebt hat, wird durch dieses Buch sicher auch in eigene Erinnerungen zurückgeführt. Für die jüngere Generation, die Urlaubsgäste aus allen Teilen Deutschlands und Europas, oder eine Wienerin auf Rügen wie mich, bietet dieses Buch eine Fülle von neuem Wissen, eindrücklich und persönlich berichtet, aus einer originellen Erzählperspektive geschildert, und mit unterhaltsamer Leichtigkeit zu lesen.

Bewertung vom 31.08.2022
Goyas Ungeheuer
González Harbour, Berna

Goyas Ungeheuer


ausgezeichnet

Spannend, interessant, facettenreich

„Eigentlich glaubte sie auch nicht an solche Verbrechen. Sie kamen in den Filmen von John Malkovich und Quentin Tarantino vor, aber passten überhaupt nicht nach Madrid, das mit einem Fuß in der Gegenwart und mit dem anderen in der Vergangenheit stand.“ (Zitat Seite 82)

Inhalt
Comisaria María Ruiz ist auf Grund von angeblichen Eigenmächtigkeiten bei der Aufklärung des letzten Falles suspendiert, ein Disziplinarverfahren läuft. Der neue Chef der Madrider Polizei wartet nur darauf, dass sie trotz der Suspendierung zu ermitteln beginnt, das wäre dann auch Gehorsamsverweigerung. Doch seine Drohungen können Comisaria Ruiz nicht daran hindern, genau dies zu tun, zu ermitteln. Denn in Madrid folgt auf grausame und nicht erklärbare Tiermorde nun der Mord an der Kunststudentin Sara, deren Spezialthema die persönlichen, nicht beauftragten Zeichnungen des berühmten Malers Francisco de Goya sind. Während dieser Mord trotz der eigenartigen Szene am Tatort vom neuen Chef der Comisaria und seinem Team sofort als Eifersuchtstat eingestuft wird, mit einem passenden Verdächtigen, erkennt die Comisaria den Bezug zu Goyas Werken, denn hier stellt jemand einzelne Bilder genau nach und es gibt noch viele ähnlich brisante Werke. Wird es der Comisaria mit ihrem kleinen, sehr speziellen Team von Menschen, die sie bei ihren Recherchen unterstützen, gelingen, diesen sehr verworrenen Fall aufzuklären und weitere Morde zu verhindern?

Themen und Genre
Dieser Kriminalroman spielt in Madrid und ist Teil einer Serie um die Comisaria María Ruiz. Es ist der erste Band, der in deutscher Sprache herausgegeben wird. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die zeitkritischen, persönlichen Zeichnungen des Malers Francesco de Goya und die Pinturas Negras, die schwarzen Gemälde seiner letzten Jahre.

Charaktere
Es ist eine aus sehr unterschiedlichen Charakteren zusammengesetzte Gruppe rund um die Comisaria, die an sich schon eine sehr vielschichtige Figur ist. María Ruiz hat Psychologie studiert, ist eine erfolgreiche, kompetente Ermittlerin, aktiv und taff im Beruf, aber durch ihre berufliche und persönliche Situation und Bindungen trägt sie einige Konflikte und ungelöste Probleme in sich. Luna, der ältere Journalist im Vorruhestand, lebt den klassischen Journalismus, er recherchiert, sucht Zusammenhänge und berichtet darüber. Im Gegensatz zu ihm nützt die die junge Journalistin Nora die modernen Medien und Kommunikationsmöglichkeiten. Wichtige Hinweise erhält die Comisaria auch vom Straßenjungen Eloy.

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte spielt in der aktuellen Zeit, innerhalb eines knappen Zeitrahmens. Da dies bereits der vierte Teil der Serie ist, fehlt das Hintergrundwissen zur aktuellen Situation und zu den Problemen der Comisaria. Viele Details ergeben sich jedoch aus Erinnerungen und Gesprächen. Neue Hinweise und Informationen erfahren wir beim Lesen gleichzeitig mit der Comisaria und den mit ihr befreundeten Journalisten Luna und Nora und können so eigene Überlegungen über Täter und Motive anstellen. Schilderungen der lebhaften Stadt Madrid mit ihren Sonnen- und Schattenseiten und das Leben zwischen Tradition und Moderne ergänzen die Handlung, ohne sie jedoch zu unterbrechen. Es ist eine sehr komplexe Geschichte, die mit vielen interessanten Fakten um das Werk von Francesco de Goya und dreizehn entsprechenden Abbildungen ergänzt wird.

Fazit
Eine packende, durch das Thema Goya sehr interessante Geschichte, ein sehr gelungener Streifzug durch Madrid. Es ist wesentlich mehr als "nur" ein Kriminalroman, denn neben dem Leben und Werk von Francesco de Goya nimmt die Autorin auch immer wieder Bezug auf das reale Leben in Spanien und die aktuellen sozialen und gesellschaftspolitischen Themen. Ein spannendes, facettenreiches Lesevergnügen und eine interessante Serie, von der ich gerne mehr lesen würde, vergangene und zukünftige Fälle der sympathischen Comisaria Ruiz und ihrer Gruppe.

Bewertung vom 24.08.2022
Bullet Train
Isaka, Kotaro

Bullet Train


ausgezeichnet

Rasant, originell, unterhaltsam

„Am Ausstieg wartete ein kleiner Mann mit Schiebermütze. Er sah aus wie ein Privatdetektiv aus dem Krimi. Der Zug stand, aber die Türen blieben zu.“ (Zitat Pos. 345)

Inhalt
Der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen ist auf dem Weg von Tokio nach Morioka, an Bord befinden sich einige sehr spezielle Fahrgäste. Die Zitrusfrüchte Tangerine und Lemon haben gerade Minegishi, den einzigen Sohn des mächtigen, skrupellosen Yoshio Minegishi, aus der Gewalt seiner Entführer befreit und sollen ihn zu seinem Vater zurückbringen, zusammen mit dem Koffer mit dem Lösegeld, den sie auftragsgemäß auch wieder mitgenommen haben. Denn der Auftrag lautete klar: „Sohn, Lösegeld, Täter“. Doch an Bord dieses Shinkansen sind auch noch ein Marienkäfer, ein Wolf und eine Wespe mit unterschiedlichen Aufträgen. Mittendrin ein Prinz, der sein eigenes Spiel spielt und jemand, dem genau dieses Spiel überhaupt nicht gefällt.

Thema und Genre
Ein moderner japanischer Thriller.

Charaktere
Diese Geschichte wird vor allem von den unterschiedlichen Figuren getragen, wobei es keine klassischen Guten und Bösen gibt, sondern interessante, skurrile Figuren in allen Grauschattierungen. Kaltblütige Killer, wenn es darauf ankommt, gleichzeitig aber mit liebenswerten Eigenheiten, teilweise tollpatschig, aber auch das perfide Böse, perfekt unter überzeugender Harmlosigkeit getarnt - hier finden wir sie alle.

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte spielt in den wenigen Stunden einer Fahrt in einem Hochgeschwindigkeitszug. Die aktuelle Handlung wird durch Details aus vergangenen Ereignissen ergänzt. Die Hauptfiguren stehen abwechselnd im Mittelpunkt einer Episode, das entsprechende Kapitel trägt den jeweiligen Namen als Überschrift. Es ist eine sehr ungewöhnliche Idee, die in dieser Geschichte umgesetzt wird, und man fragt sich in manchen sehr verwickelten, verworrenen Situationen und überraschenden Wendungen, wie der Autor diese vielen Knoten wieder entwirren und auflösen wird. Bleibt die Handlung innerhalb dieser von Grund auf schon skurrilen, originellen Geschichte dann noch klar und nachvollziehbar? Ja, dies ist dem Autor meiner Meinung nach gelungen. Wenn Killer mit unterschiedlichen Aufträgen und Interessen plötzlich aufeinandertreffen, dann geht es nicht ohne Verluste ab. Doch der Autor verliert sich nicht, wie oft in Actionthrillern, seitenlang in blutigen Details, sondern hier finden die Todesfälle leise und schnell statt. Für mich eine weitere Stärke dieses Autors.

Fazit
Ein moderner, sehr origineller japanischer Thriller. Der knappe Zeitrahmen sorgt für eine rasante Geschichte, deren Spannungsbogen manchmal durch sich im Kreis drehende Dialoge und psychologische Betrachtungen etwas abgeflacht wird. Gleichzeitig jedoch steigert dies die Neugierde auf das Ende dieser krassen Bahnreise. Ein schräges, unterhaltsames Lesevergnügen.

Bewertung vom 22.08.2022
Das letzte Grab / Carla Winter Bd.1
Erler, Lukas

Das letzte Grab / Carla Winter Bd.1


ausgezeichnet

Facettenreich und spannend

„Eine sanftmütige Schwester, ein verrückter Archäologe, eine rotzfreche Sekretärin und ein kurdischer Kriminelle. Dream Team!“ (Zitat Pos. 1293)

Inhalt
Im April 2003 wird in Bagdad von Aufständischen ein Museum geplündert. Im März 2019 erhält die Anwältin Carla Winter einen Anruf vom türkischen Generalkonsulat. Diesmal geht es jedoch um keine Strafverteidigung, sondern um Felix Winter, mit dem sie bis vor sieben Jahren verheiratet gewesen war. Er hatte in der Türkei einen tödlichen Autounfall. Als sie an diesem Tag nach Hause kommt, ist ihr Haus verwüstet und der Mann, mit dem sie die vorhergehende Nacht verbracht hatte, liegt ermordet im Schrank. Beim Begräbnis von Felix spricht sie ein angeblicher Freund ihres Ex-Mannes an und fragt nach einem Paket, das per Kurierdienst zu ihr gekommen sein müsste und dann wird auch Carla bedroht. Es geht um eine wertvolle antike Statue. Sie braucht dringend Antworten und die wird sie nur vor Ort in der Türkei finden.

Thema und Genre
In diesem Kriminalroman geht es um eine toughe Strafverteidigerin und das internationale, lukrative Geschäft mit geraubten antiken Kunstwerken.

Charaktere
Carla Winter ist eine erfahrene Strafverteidigerin und spezialisiert auf „how to get away with everything“-Fälle. Doch diesmal betreffen die Ereignisse sie auch persönlich und es wird sehr gefährlich. Dennoch gibt sie nicht auf, bis sie die Zusammenhänge herausgefunden hat.

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte beginnt mit einem kurzen Prolog im Jahr 2003. Die aktuelle Handlung beginnt im März 2019 in Frankfurt und führt uns chronologisch rasant weiter bis in den Oktober 2019. Handlungsorte sind Deutschland und die Türkei. Bald folgt ihr nicht nur ein Killer, sondern sie gerät zwischen die Fronten von internationalen Verbrecherorganisationen, doch auch die Polizei und Interpol verfolgen interessiert jeden ihrer Schritte. Als sie Hilfe sucht und auch findet, beginnen erst die Überraschungen und unvorhersehbaren Wendungen. Der Autor nimmt sich Zeit für die Entwicklung seiner Figuren, die dadurch authentisch handeln und auch interessante, lebhafte Schilderungen der Handlungsorte fehlen nicht. In Verbindung mit weiteren Details in Form von Rückblicken und Erinnerungen ergibt dies eine sehr spannende Geschichte, die überzeugt.

Fazit
Ein facettenreicher, packender Page-Turner mit einer sympathischen Hauptfigur und weiteren, interessanten Figuren. In Verbindung mit überraschenden Wendungen bis zur letzten Seite ergibt dies in der Summe ein sehr spannendes Lesevergnügen.

Bewertung vom 22.08.2022
Simón
Otero, Miqui

Simón


ausgezeichnet

Intensive Bilder einer Generation und einer Stadt

„Du kannst sein, wer immer du sein willst, aber vergiss nie, wer du bist.“ (Zitat Position 4524)

Inhalt
Rico, Simóns Cousin, ist zehn Jahre älter und wie ein Bruder für Simón, sein Beschützer und großes Vorbild, so lange er denken kann. Der beste Tag für den jungen Simón ist immer der Sonntag, denn an diesem Tag bringt ihm Rico ein Buch mit, das Simón suchen muss, bevor er sich in die spannenden Abenteuer von neuen Helden vertiefen kann. Bis Rico eines Tages im Sommer 1992 spurlos verschwindet und Simón nach Jahren des Suchens lernen muss, seinen eigenen Weg zu finden und dass die Abenteuer seiner edlen Romanhelden nicht immer den Weg in das wirkliche Leben finden. „Manchmal muss man fortgehen, um nach Hause zurückkehren zu können. Manchmal kann man vielleicht nicht an einen Ort zurückkehren, aber sehr wohl zu einem Menschen.“ (Zitat Pos. 4808)

Thema und Genre
In diesem Roman geht es um das Leben und Schicksal einer großen Familie in Barcelona, um das Aufwachsen am Stadtrand in bescheidenen Verhältnissen. Vor allem jedoch geht es um Träume, Hoffnungen, Freundschaft, Liebe und um die Kraft der Literatur. Ein wichtiges Thema sind auch die politisch wechselvollen Jahre der lebhaften Stadt Barcelona, die sich 1992 euphorisch als Austragungsort der olympischen Sommerspiele präsentiert, und mehr als zwanzig Jahre später heftige Krisenjahre durchlebt.

Charaktere
Die Hauptfigur in dieser Geschichte ist Simón, dessen Leben wir von seiner Kindheit bis in seine Erwachsenenjahre Mitte dreißig folgen. Er ist ein Träumer, der sich mit den Helden seiner Abenteuerromane identifiziert, sie ins eigene Leben holt. „Der Zufall bringt das Leben durcheinander, die Fiktion hingegen ordnet es“ (Zitat Pos. 5461) Genau solche Zufälle bringen auch Simóns Pläne und Leben öfter als nur ein Mal durcheinander, und es sind die Frauen, besonders seine Lebensfreundin Estela, die ihn erden. Es ist eine Geschichte von Helden, die auch manchmal scheitern dürfen, und von den starken Frauen an ihrer Seite.

Handlung und Schreibstil
Die Geschichte umfasst, ergänzt durch Rückblenden und Erinnerungen, die Jahre zwischen 1992 und 2018 und wird chronologisch erzählt. Die Handlung ist facettenreich und von der ersten Seite an packend. Der Autor wählt, was in modernen Romanen inzwischen eher selten geworden ist, die Erzählstimme eines allwissenden Erzählers, was mit die sprachliche Faszination dieses Buches ausmacht. Diese Erzählform unterstützt die poetische, bildintensive Sprache, erlaubt dem Autor, auch tief in die Gedanken und Gefühle seiner Figuren einzudringen und künftige Entwicklungen anzudeuten, was die Handlung manchmal in Magie hüllt, die dennoch in der Realität besteht.

Fazit
Ein wunderbar dichter, intensiver und auch magischer Roman, eine Mischung aus Coming-of-Age-Geschichte, Familienroman und Roman der Stadt Barcelona, in dem auch die Kraft der Literatur eine wichtige Rolle spielt.