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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

Bewertungen

Insgesamt 368 Bewertungen
Bewertung vom 23.04.2022
Red Traitor / Alexander Wassin Bd.2
Matthews, Owen

Red Traitor / Alexander Wassin Bd.2


ausgezeichnet

REZENSION – Noch nie war seit den Jahren der militärischen Abrüstung und des Friedens in Europa die Angst vor einem russischen Atomschlag so groß wie gerade jetzt im Ukraine-Krieg. Dadurch bekommt der bereits im Juli 2021 in Großbritannien und schon im Januar beim Lübbe Verlag veröffentlichte Spionage-Thriller „Red Traitor“ des britischen Schriftstellers Owen Matthews (51) eine unerwartete Aktualität. Denn auch dieser zweite Band der spannenden Politthrillerreihe um Alexander Wassin, Top-Agentenjäger des sowjetischen Geheimdienstes KGB zu Beginn der 1960er Jahre, handelt von der Angst vor einem Atomschlag der Sowjets und einem dritten Weltkrieg.
Der Roman behandelt die Kuba-Krise im Oktober 1962: Die Sowjets hatten auf Kuba, also in unmittelbarer Nähe der USA, atomar bestückte Mittelstreckenraketen stationiert. Die Streitkräfte der Nato, also auch die deutsche Bundeswehr, wurde in Alarmbereitschaft versetzt. Es fehlte nicht viel zum dritten Weltkrieg. In dieser heißen Phase setzt der Agententhriller „Red Traitor“ ein: KGB-Mann Alexander Wassin jagt einen hochrangigen Verräter in den eigenen Reihen. Bald hängt das Schicksal der Welt vom Erfolg seiner Mission ab - und von der Geduld und Umsicht des Befehlshabers einer sowjetischen U-Boot-Flotte, die ohne Kontakt zu Moskau dem Befehl folgt, die von den USA erlassene Seeblockade vor Kuba zu durchbrechen. Alle fünf Kapitäne haben zudem den Geheimbefehl, bei einem Angriff der USA ihre Atomraketen an Bord abzufeuern, deren Vorhandensein an Bord dieser U-Boot-Klasse den Vereinigten Staaten nicht bekannt ist.
Nicht nur die Kuba-Krise bildet den real-historischen Hintergrund dieses extrem spannenden Thrillers. Autor Owen Matthews, der selbst in den Jahren 2006 bis 2012 das Moskauer Auslandsbüro des US-Nachrichtenmagazins The Newsweek leitete, nutzte als versierter Journalist und Historiker auch inzwischen freigegebene Originalquellen beider Weltmächte, allen voran die 1965 in London veröffentlichten „Penkowski Papers“ von Oleg Penkowski (1919-1963), damals Oberst im sowjetischen Militärnachrichtendienst GRU. Als Doppelagent spionierte er sowohl für den britischen MI6 als auch für die amerikanische CIA, wurde am 22. Oktober 1962 vom KGB verhaftet und am 16. Mai 1963 wegen Landesverrats hingerichtet. Penkowskis Alter Ego im Roman ist eben jener hochrangige Verräter, den Agentenjäger Alexander Wassin zu entlarven sucht. Doch auch die meisten anderen Figuren des Romans – teils mit echten Namen genannt, teils mit Pseudonym – haben reale Personen als Vorbilder. Auch ihr von Owen Matthews im Roman geschildertes Handeln und Denken basiert auf Aussagen in Originalquellen und teilweise in eigenen Autobiografien. Die Verwendung dieses umfangreichen, in langer Liste dem Roman angehängten Quellenmaterials verarbeitet Owen Matthews in seinem Roman so perfekt, dass man sich als Leser schwer tut, Fiktionales von Realem zu unterscheiden.
Damals, im Oktober 1962, waren nicht nur Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy zur Umsicht gefordert, sondern vor allem der Befehlshaber der fünf sowjetischen U-Boote: Wassili A. Archipow (1926-1998), Stabschef der 69. U-Boot-Brigade der Nordmeerflotte, verweigerte am 27. Oktober 1962 seine Zustimmung zum Abschuss eines Atomtorpedos und verhinderte dadurch wahrscheinlich den dritten Weltkrieg, was erst 40 Jahre später öffentlich bekannt wurde. Heute ist ein Raum im Hauptquartier der CIA in Langley (Virginia) nach ihm benannt.
Der Politthriller „Red Traitor“ ist nicht nur ein historisch interessanter, spannungsgeladener und temporeicher Roman, den man ungern aus der Hand legt und der zur weiteren Beschäftigung mit der kuba-Krise anregt. Das Besondere ist auch, dass dieser Roman fast ausschließlich das Handeln und Denken der sowjetischen Seite beschreibt. „Red Traitor“ ist auch eine Würdigung des sowjetischen Marineoffiziers Archipow, vor allem aber die dringende Mahnung zu umsichtigen politischen Handeln – nicht nur jetzt, aber gerade jetzt in der aktuellen Kr

Bewertung vom 08.04.2022
Habichtland
Knöppler, Florian

Habichtland


ausgezeichnet

REZENSION – Mit seinem Roman „Kronsnest“ gelang Florian Knöppler (56) im vergangenen Jahr ein eindrucksvolles und viel beachtetes Debüt über das dörfliche Leben in der holsteinischen Elbmarsch in den 1920er Jahren zur Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus. Mit einem Zeitsprung ins Jahr 1941 setzt er nun in „Habichtland“, im Februar beim Pendragon Verlag erschienen, seine Erzählung um den inzwischen erwachsenen Kleinbauern Hannes, Ehefrau Lisa, seine Freundin Mara von Heesen und Stiefvater Walter fort. Obwohl die Protagonisten dieselben sind, hat sich nach 15 Jahren nicht zuletzt durch Umwälzung der politischen Gegebenheiten ihr Leben verändert, weshalb „Habichtland“ nicht zwingend als Fortsetzung, sondern durchaus als eigenständiger Roman mit anderem Themenschwerpunkt gelesen werden kann.
In „Habichtland“ lässt Knöppler seine Hauptpersonen nach „Möglichkeiten von Glück und Moral in einer Diktatur“ suchen. Hannes und Lisa gehen dabei gegensätzliche Wege: Der sensible, in sich gekehrte und wortkarge Kleinbauer Hannes sucht in Zeiten des Krieges und des Nazi-Regimes vor allem Ruhe und Frieden und schottet sich gegen alles Störende und Zerstörende ab. Bald fühlt er sich auf seinem ärmlichen Hof, der für ihn und seine Familie eine „Insel des Glücks“ bleiben und Sicherheit bieten sollte, wie ein gefangener Panther im Gitterkäfig. Es sind diese Verse des Gedichts „Der Panther“ des Lyrikers Rainer Maria Rilke, die sein Gefühl besser beschreiben, als Hannes es selbst ausdrücken könnte: „Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.“
Statt mit seiner Frau offen über seine Gefühle zu sprechen, die ihm durch ihr Handeln und Schweigen fremd geworden ist, gibt er ihr nur dieses Gedicht zu lesen. Denn auch Lisa ist in ihrer eigenen, wenn zunächst anderen Welt gefangen, um dem „ganzen Irrsinn da draußen“ zu entgehen. Sie kann nicht wie ihr Mann tatenlos wegschauen. Sie muss gegen die Nazis aktiv werden und schließt sich, anfangs ohne Wissen ihres Mannes, einer kommunistischen Untergrundzelle an. Damit bringt sie ihn und ihre Kinder in Gefahr. Ist aktiver Widerstand gegen das Regime ohne Rücksicht auf die Gefahr für die eigene Familie moralisch verantwortungsvoller als Hannes' Untätigkeit und Abschottung? Der Autor lässt diese Frage unbeantwortet. Wir Leser müssen sie für uns selbst entscheiden.
Wie schon „Kronsnest“ besticht auch „Habichtland“ durch atmosphärisch und in Einzelheiten gehende Schilderungen des dörflichen Lebens und der Bewohner der Elbmarsch. Sie scheinen nicht fiktiv zu sein, sondern lebende Vorbilder zu haben. Man spürt deutlich: Der Autor kennt diese Landschaft, kennt diese Menschen mit ihren Eigenarten und ihrer Sprache. Man hört das Vogelgezwitscher, sieht den Habicht auf sein Opfer hinabstürzen und riecht förmlich den Mist im Stall und die Jauche im Hof. Kein Wunder, lebt Knöppler doch selbst seit einigen Jahren in dieser holsteinischen Region um Elmshorn und bewirtschaftet dort seinen eigenen Hof. Seine klare, schnörkellose und unaufgeregte Erzählweise macht seinen Roman realistischer und dadurch noch wirkungsvoller. Wo andere viele Worte verlieren, reichen den Holsteinern zwei oder drei, Sätze sind abgehackt, kein Wort zu viel: „Und jetzt?“ „Verbuddeln.“ „Wann und wohin mit ihm?“ „Heut Nacht? In den Außendeich?“
Wie schon „Kronsnest“ ist auch „Habichtland“ trotz scheinbarer ländlicher Idylle wahrlich kein historischer Heimatroman, sondern gleicht eher einem Psycho-Roman, so tief dringen wir in die Seelen seiner Protagonisten ein. Knöppler hat sich mit seinen Figuren ein eigene kleine Welt um Hannes, Lisa und ihr Dorf geschaffen – eine Welt, die einem ans Herz geht. Wer „Kronsnest“ kennt, muss „Habichtland“ lesen. Wer den ersten Band noch nicht kennt, sollte beide kaufen!

Bewertung vom 01.04.2022
Der Hauptmann und der Mörder / Die 18/4-Serie Bd.1
Haohui, Zhou

Der Hauptmann und der Mörder / Die 18/4-Serie Bd.1


sehr gut

REZENSION – Zwölf Jahre hat es gedauert, bis die bereits 2009 bis 2011 im Original veröffentlichte und 2014 in der Volksrepublik China verfilmte Thriller-Trilogie des chinesischen Schriftstellers Zhou Haohui (44) um die Polizeieinheit 18/4 und Polizeihauptmann Pei Tao dank des Heyne-Verlags es endlich im Januar auf den deutschen Buchmarkt geschafft hat. Doch das Warten hat sich gelohnt: Gleich der erste Band ist ein Thriller der Spitzenklasse, der im literarischen Ansatz wohl nicht allein für den asiatischen, sondern gleich für den internationalen Markt bestimmt gewesen zu sein scheint. Denn obwohl die Handlung in der chinesischen Millionenstadt (Provinz Sichuan) angesiedelt ist, fehlt ein typischer Bezug zu China oder asiatischen Charakteristika. Stattdessen könnte der Thriller auch in jedem westlichen Land spielen. Lediglich der philosophische Ansatz des Yin und Yang mag typisch für China sein, die beiden einander entgegengesetzten und dennoch direkt aufeinander bezogenen, von einander abhängigen Kräfte des negativen Yin und des positiven Yang. Doch wird dies erst später im Thriller erkennbar.
Worum geht es? In der Metropole Chengdu im Südwesten Chinas treibt ein kaltblütiger Serienkiller sein Unwesen. Er nennt sich Eumenides und tötet Menschen, deren Verbrechen von der Polizei nie geahndet wurden. Doch obwohl Eumenides vor jedem Mord eine Todesanzeige seines nächsten Opfers veröffentlicht und seine Tat wie angekündigt ausführt, gelingt es der Polizei unter Hauptmann Han trotz größten Polizeiaufgebots nicht, den Mörder zu schnappen. Immer ist der geniale Killer der Polizei einen Schritt voraus. Hauptmann Pei Tao, der sich aus bestimmten, anfangs noch unbekannten Gründen der Einsatzgruppe 18/4 unter Hauptmann Han anschließt, erkennt schnell, dass auch seine eigenen Geheimnisse und Vergehen, deren er sich vor 18 Jahren als Polizeischüler schuldig gemacht hat, dem Killer bekannt sind. Gruppenleiter Han verdankt seine Karriere einem erfolgreichem Einsatz in den 1980er Jahren gegen Drogenbanden. Damals begann Chinas Wirtschaft nach den Reformen des Mao-Nachfolgers Deng Xiaoping zu wachsen und Chengdu wurde zum Drogen-Umschlagplatz.
„Der Hauptmann und der Mörder“ ist ein extrem spannender, temporeicher Kriminalroman mit starken, sehr differenziert beschriebenen Charakteren. Von Seite zu Seite wird die Handlung komplexer, die Protagonisten immer undurchsichtiger. Als Leser beginnt man zu zweifeln, ob die Polizisten wirklich für das positive Yang stehen oder nicht doch auch das negative Yin in sich tragen. Je weiter man im Roman kommt, umso mehr verdichten sich die Informationen über den fast 20 Jahre zurückliegenden Fall und dessen personelle Verbindungen der Hauptfiguren zum gegenwärtigen Fall. Immer stärker wird beim Leser die Ungewissheit, die Personen in Gut oder Böse einordnen zu können. Autor Zhou Haohui versteht es, mit überraschenden Wendungen in der Handlung, die aber im Nachhinein durchaus logisch nachvollziehbar sind, den Leser immer wieder zu verwirren und auf eine neue Spur zu setzen, so dass der Roman bis zum Schluss nichts an Spannung einbüßt.
Anfangs sind die transkribierten Personennamen für uns europäische Leser gewöhnungsbedürftig. Denn im Gegensatz zu den in chinesischer Aussprache und ihrer Optik besser unterscheidbaren chinesischen Schriftzeichen sind für uns die Namen Zheng und Zeng, Zhou und Zou oder Zheng Hua und Deng Hua leicht verwechselbar, doch lässt die Verwirrung im Laufe der Handlung nach. So dürfen wir auf die Fortsetzungen der Trilogie mit den Bänden „Der Pfad des Rächers“ im Mai und „Die blinde Tochter“ im September schon jetzt gespannt sein. Dass allerdings vom Heyne Verlag als Vorlage für seine deutschsprachigen Ausgaben nur die englische Übersetzung und nicht die chinesischen Originaltexte genutzt wurden, ist nicht zu verstehen.

Bewertung vom 22.03.2022
SØG. Schwarzer Himmel / Nina Portland Bd.2
Jensen, Jens Henrik

SØG. Schwarzer Himmel / Nina Portland Bd.2


sehr gut

REZENSION – Erst mit seiner vielfach übersetzten Thrillerreihe um den Kriegsveteranen Niels Oxen und seine Partnerin, die einbeinige Agentin des dänischen Sicherheitsdienstes Margrethe Franck, wurde der dänische Kriminalschriftsteller Jens Henrik Jensen (58) international und ab 2018 auch in Deutschland bekannt. Grund genug also für die dtv Verlagsgesellschaft, seine zuvor ab 2004 in Dänemark erschienene Thriller-Trilogie um die junge Agentin Nina Portland noch einmal in überarbeiteter Taschenbuchausgabe herauszubringen. Nach dem ersten Band „SØG. Dunkel liegt die See“ (Mai 2021), der bereits 2006 unter dem Titel „Das Axtschiff“ erschienen war, folgte nun im November „SØG. Schwarzer Himmel“, ursprünglich 2008 als „Der Kohlenmann“ veröffentlicht. Der noch nie übersetzte dritte Band soll dann im Juli unter dem Titel „SØG. Land ohne Licht“ erstmals auf Deutsch folgen. Die bislang fehlende Übersetzung des dritten Bandes mag ein Zeichen sein, dass diese frühere Trilogie des dänischen Autors vor zehn Jahren in Deutschland nicht erfolgreich war.
Der nun im November in Neubearbeitung erschienene zweite Band „SØG. Schwarzer Himmel“ beginnt mit dem Auffinden einer Leiche in Esbjerg. Der jungen Agentin Nina Portland und ihrem Team gelingt es nicht, die Identität dieses zuvor gefolterten Mannes mit südländischem Aussehen festzustellen, den die Medien nur den „Kohlenmann“ nennen. Eine bald aufgefundene zweite Leiche mit südländischem Aussehen weist ebenfalls Folterspuren auf. Nach Bekanntwerden des Namens dieses zweiten Opfers stellt sich heraus, dass beide Kurden waren. Später wird deutlich, dass der vermeintliche Unfall eines Kopenhagener Dokumentarfilmers in Istanbul ebenfalls ein Mord gewesen sein kann. Seinem Assistenten droht jetzt Todesgefahr von verschiedenen Seiten, da er im Besitz von Aufnahmen einer Massenhinrichtung in der Türkei ist. Nina Portland gerät nun unversehens in die Schusslinie geheimnisvoller Verfolger und der Thriller nimmt an Tempo zu.
Was mit zwei Mordfällen in Esbjerg wie ein Provinzkrimi beginnt, entwickelt sich im zweiten Teil des Buches zum internationalen Politthriller, in dem es um die damals aktuellen Beitrittsbemühungen der Türkei zur Europäischen Union geht, um gegensätzliche Bestrebungen westlich orientierter, progressiver und orthodoxer Kräfte im Land, aber auch um gegensätzliche Ansichten innerhalb der EU-Staaten zum Beitritt des Landes und nicht zuletzt um die Unterdrückung der kurdischen Minderheit in der Türkei.
Anfangs liest sich der Thriller noch recht zäh, die Handlung kommt nur schleppend voran. Erst im zweiten Teil kommt Spannung auf. Da konkurriert die Kripo von Esbjerg mit dem dänischen Geheimdienst PET und beide messen ihre Kräfte am türkischen Geheimdienst MIT. Agentin Portland bekommt Hilfe von einem pensionierten britischen MI6-Agenten und einem noch geheimnisvolleren Deutschen namens Axel, dessen Interessen bis zur überraschenden Aufklärung des Falles unklar bleiben. Liest man diesen Thriller kritisch, findet man Schwächen: Manche Entwicklung wirkt unlogisch, und Nina Portland hat einige überraschende Gedankenblitze, die sie dann plötzlich auf die richtige Spur bringen. Doch es ist gerade diese junge Agentin, die als ungewöhnliche Protagonistin eines Thrillers und interessanter Charakter überrascht: Als alleinerziehende Mutter eines Schuljungen muss sie ihr Leben zwischen Sohn und Arbeit teilen, fühlt sich oft überfordert und gestresst.
Es bedarf schon eines längeren Durchhaltevermögens, bis den Leser endlich die Spannung packt. Doch alles in allem ist dieser Thriller durchaus lesenswert und unterhaltend, obwohl er qualitativ noch nicht an Jensens nachfolgende Thrillerreihe um den traumatisierten Kriegsveteranen Niels Oxen heranreicht.

Bewertung vom 12.03.2022
Never - Die letzte Entscheidung
Follett, Ken

Never - Die letzte Entscheidung


ausgezeichnet

REZENSION - Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs ist die Lektüre des bereits im November im Lübbe Verlag erschienenen und ein Jahr zuvor verfassten Romans „Never. Die letzte Entscheidung“ von Ken Follett (72) plötzlich nicht nur erschreckend aktuell, sondern ungemein bedrückend und beängstigend, obwohl dessen Schauplätze ganz andere sind. Der britische Bestseller-Autor schildert anschaulich und äußerst spannend, wie viele kleine politische Krisen, verursacht durch unüberlegtes, selbstherrliches und machtbesessenes Handeln von Diktatoren und Autokraten, sich langsam summieren, durch politische Aktion und Reaktion schrittweise eskalieren und schließlich in eine globale Apokalypse münden.
„Deeskalation gehörte für gewöhnlich nicht zum Vokabular eines Tyrannen. Das ließ ihn nur schwach aussehen“, heißt es im Roman, den Follett in der Sahara beginnen lässt. Dort verfolgen die amerikanische Geheimdienstagentin Tamara und ihr französischer Kollege Tab an der Grenze zwischen dem von Ägypten unterstützten Sudan und dem Tschad, der von Frankreich gestützt wird, die Spur von Drogenschmugglern. Mit dem in Europa gemachten Drogengeld werden Terroristen einer zentralafrikanischen IS-Gruppe finanziert. Eines Tages wird am Grenzübergang von sudanesischer Seite aus ein US-Wachsoldat im Tschad erschossen. Die Amerikaner sind alarmiert, der Diktator des Tschad versteht dies als Angriff des Sudan und rächt sich mit einem militärischen Überfall. Ein weiterer Schauplatz ist China und dessen Verbündeter Nordkorea mit Diktator Kang. In China muss sich der junge Vizeminister Chang Kai mit kommunistischen Hardlinern auseinandersetzen. Auf der anderen Seite steht das mit den Amerikanern verbündete Südkorea, seit Jahrzehnten in ständiger Spannung mit Nordkorea lebend. In den USA versucht Präsidentin Pauline Green trotz Zunahme internationaler Spannungen, einen Krieg zu verhindern. Doch ein aggressiver Akt zieht den nächsten nach sich. Sie steht vor der letzten Entscheidung.
Folletts Roman ist wie seine früheren Bestseller wieder spannend geschrieben. Nach seinen historischen Romanen ist ihm mit „Never“ der Schritt ins Zeitgenössische gelungen. Trotz der vieler Protagonisten und über den Globus verteilter Schauplätze gelingt es ihm, die Handlungsfäden zusammenzuhalten. Allerdings hätte der Roman um etliche Seiten gekürzt werden können, ohne an Dramatik und Spannung zu verlieren. Andererseits lässt vielleicht gerade diese Ausführlichkeit die fast nebensächlich erscheinenden kleinen Schritte spürbar werden, die unmerklich in die Apokalypse führen.
„Jede Katastrophe beginnt mit einem kleinen Problem, das nicht gelöst wird“, weiß im Roman die US-Präsidentin, deren Ehe aus genau gleichem Grund dem Ende entgegen geht. Im Roman ist der von der übrigen Welt unbeachtete Tod eines US-Soldaten im Tschad ein solches „kleines Problem“. Dennoch stehen sich am Ende aufgrund der engen Verstrickungen unserer globalisierten Welt die Atommächte USA und China als Kriegsgegner gegenüber. Jetzt ist es nur noch ein kleiner Schritt zum Einsatz von Atomwaffen. „Wir alle wissen, dass ein dritter Weltkrieg im Bereich des Möglichen liegt“, wird Ken Follett in einem Interview zum Roman zitiert. „Wir alle hoffen, dass er nie stattfinden wird, aber 'nie' ist nur ein Wort. Ich habe immer wieder gedacht, dass das wirklich passieren könnte - aber wann?“
Im Januar dieses Jahres erklärten die fünf Atommächte im UN-Sicherheitsrat - USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien – noch in einer gemeinsamen Erklärung: „Ein Atomkrieg darf niemals geführt werden.“ Nur wenige Wochen später erhöhte Staatspräsident Wladimir Putin während des Ukraine-Kriegs die russische Atom-Alarmbereitschaft, womit er in der westlichen Öffentlichkeit Angst schürte. So lässt Ken Follets Roman „Never“ gerade jetzt seine Leser besonders nachdenklich zurück.

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Bewertung vom 23.02.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


ausgezeichnet

REZENSION – Spätestens seit seinem vielgerühmten vierten Roman „Kalman“ (2020) weiß man, dass der seit 2007 in Island lebende Schweizer Schriftsteller Joachim B. Schmidt (41) sich in der Charakterisierung ungewöhnlicher, skurriler Figuren versteht. Äußerst ungewöhnlich ist auch der Protagonist seines neuen Romans „Tell“, im Februar beim Diogenes Verlag erschienen, in dem Schmidt es wagt, den Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell von seinem Sockel zu holen und ihn in einer spannenden Handlung statt eines heldenhaften Widerstandskämpfers gegen den Habsburger Landvogt als einen einfachen, recht eigenbrötlerischen, schon in Kinderjahren vom Schicksal geprägten Bergbauern, Wilderer und Querulanten im Kanton Uri zu schildern. Schmidts Tell ist wahrlich kein legendärer Held, sondern ganz im Gegenteil ein Antiheld, der eigentlich nur seine Ruhe und für sich und die Familie ausreichend zu essen haben will.
Nun weiß man natürlich, dass Wilhelm Tell nur eine fiktive Figur ist, dessen im Jahr 1307 zur Zeit der Schweizer Habsburgerkriege verortete Geschichte vom Apfelschuss erstmals 1472 niedergeschrieben wurde. Das Motiv des Apfelschusses wurde sogar schon hundert Jahre vor Tell zu Beginn des 13. Jahrhunderts in der „Geschichte der Dänen“ von Saxo Grammaticus erwähnt. Dort ist es der prahlerische Schütze Toko, der einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schießen muss. Doch Schmidt lässt uns diese Fakten in seinem in 100 kurzen Kapiteln von 20 Personen temporeich erzählten Roman schnell vergessen und schafft es spielend, uns an eine tatsächliche Existenz Tells glauben zu lassen.
Analog zum dänischen Apfelschützen Toko, dessen Name sprachwissenschaftlich als „alberner Mann“ gedeutet wird, folgt Autor Schmidt in der Charakterisierung seines Protagonisten Tell auch dessen sprachwissenschaftlicher Bedeutung als „einfältigen Mann“ und charakterisiert Wilhelm Tell als wortkargen bis mürrischen, sturen und nur unwillig als Bergbauer weit abseits von Altdorf Vierwaldstättersee) am Fuß der Voralpen lebenden Kleinbauern. Dort lebt er in seiner Hütte in eheähnlichem Verhältnis mit der Witwe seines verunglückten jüngeren Bruders Peter, den drei Kindern Walter, Willi und Kleinkind Lotta sowie Mutter und Schwiegermutter. Tell hat sich schon in der Jugend von seinen Mitmenschen abgewandt, lässt jedes Mitgefühl anderen gegenüber, auch seiner eigenen Familie gegenüber, vermissen. Als er aus Gründen der Not eine Kuh auf dem Markt in Altdorf verkaufen will, versäumt er es, den auf dem Marktplatz auf einer Stange aufgestellten Hut des habsburgischen Landvogts Gessler untertänig zu grüßen – nicht etwa aus politischem Widerstand, sondern weil er einfach nicht auf den Hut geachtet und nichts von der Grußpflicht gewusst hatte. Der zufällig mit seinem brutalen Truppführer Harras anwesende Landvogt befiehlt ihm zur Strafe, mit der Armbrust aus weiter Entfernung einen Apfel vom Kopf seines Sohnes Walter zu schießen. Dies gelingt Tell zwar, dennoch wird er gefangen genommen, kann sich aber später selbst befreien und sich rächen.
Es ist nicht nur die episodenhafte, bis in kleinste Einzelheit authentisch wirkende Handlung, die uns von Tells Angehörigen, Nachbarn sowie von seinem Jugendfreund und Pfarrer Tauffer erzählt wird, oder die beeindruckende Charakterisierung jeder einzelnen Figur, die uns an ihrer Welt und ihrem erbärmlichen Leben teilhaben lassen, was uns an eine tatsächliche Existenz des erst durch Schillers Drama (1804) zum Nationalhelden gewordenen Wilhelm Tell glauben lässt. Sondern Schmidt verbindet seine Geschichte im Epilog auch geschickt mit Fakten: So wird Tells Tochter Lotta, inzwischen selbst schon Großmutter, vom Obwaldner Landschreiber Hans Schriber aufgesucht, um mehr über Tell zu erfahren. Tatsächlich ist diesem Landschreiber und Dichter – wenn auch erst 100 Jahre später – die erste, 1472 veröffentlichte Niederschrift der Tell'schen Geschichte zu verdanken. Lotta täuscht zudem in diesem Gespräch mit Schriber vor, nicht auf dem Tell-Hof, sondern a

Bewertung vom 11.02.2022
Morandus
Zimmer, Matthias

Morandus


ausgezeichnet

REZENSION – Mit seinem Roman „Morandus“, bereits 2021 in der Edition Faust erschienen, ist dem Autor Matthias Zimmer (60), der sich als Politikwissenschaftler, Hochschullehrer und langjähriger Bundestagsabgeordneter bislang auf politische Sachbücher beschränkt hatte, ein beeindruckendes erzählerisches Debüt gelungen. Dieses für ihn riskante Wagnis ging er nach eigener Aussage deshalb ein, „dass man manche Dinge erzählen muss, weil sie für eine wissenschaftliche Arbeit zu kompliziert sind“. Das Risiko hat sich gelohnt: Sein Roman, hauptsächlich die Schilderung eines Gesprächs zweier alt gewordener Freunde, gleicht einem ruhigen Kammerspiel. Doch obwohl die Handlung ohne Dramatik auskommt, baut sich in diesem klugen Gespräch und somit im Roman eine Spannung auf, die fasziniert und eine Unterbrechung der Lektüre fast verbietet.
Protagonist des Romans ist der 60-jährige deutsche Bauunternehmer Ernst Fuchs, der wenige Jahre nach Kriegsende aus dem heimatlichen Harz nach Kanada ausgewandert ist, um ein „neues Leben“ anzufangen. Im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie seines langjährigen Freundes Landau, der als Jude frühzeitig seine Heimatstadt Wien verlassen musste, erzählt Funk aus seinen Kinder- und Jugendjahren, über seinen vom Nationalsozialismus begeisterten Vater und seine katholische Mutter, seine nach anfänglicher Jungvolk-Begeisterung aufkommenden Zweifel, hervorgerufen durch seinen aus dem Elsass stammenden Priester Birrenbach, der Funk nach dem Heiligen seines Geburtstages „Morandus“ nennt und den Gymnasiasten in die französische Literatur und Sprache einführt. Als der 14-Jährige in den Sommerferien Birrenbachs französische Nichte Michelle kennenlernt und sich zwei Jahre später in sie verliebt, erkennt er den Unsinn der Nazi-Propaganda über den angeblichen Erzfeind Frankreich. Mit diesen Zweifeln wird Funk als 19-jähriger Abiturient zum Kriegsdienst eingezogen und in der Normandie, Michelles Heimat, eingesetzt, wo er sich häufig mit ihr trifft.
„Ob man vor seiner Vergangenheit fliehen kann? Konnte man ein anderer werden, sich neu definieren? Alles beiseite räumen und von vorne anfangen?“ Für Autor Matthias Zimmer ist Funks Auswanderung nach Kanada eine Flucht vor sich selbst, eine Verdrängung des Erlebten: „Es lebt sich einfacher in einer Lüge. Es lebt sich einfacher in Täuschung und Verdrängung.“ So scheint Funks Leben in Jugendjahren recht problemlos verlaufen zu sein, wie wir anfangs aus seinem Bericht hören. Erst später, nach intensiver Beschäftigung mit seinen Erinnerungen, kommt er zur Erkenntnis: „Ich muss mich auch diesem Teil meiner Geschichte stellen, sonst bleibt sie unvollständig.“ Jetzt erzählt Funk endlich, was er verdrängen und vergessen wollte, als könne er es dadurch ungeschehen machen. Auch Funks Freund Landau stellt als Historiker fest: „Ich bin meine Vergangenheit. Ich bestehe in und aus meiner Erinnerung.“ Erst nachdem Funk seine Erinnerungen akzeptiert, seine Vergangenheit im Gespräch mit Landau verarbeitet hat, ist es ihm möglich, noch einmal nach Deutschland und Frankreich zu reisen, um die Orte früheren Geschehens zu besuchen und seine Vergangenheit abzuschließen.
„Morandus“ ist ein lebendig und stilistisch hervorragend geschriebener, in gewisser Weise spannender Roman, der sich leicht lesen lässt. Dennoch behandelt das Buch ein ernstes Thema, das nicht ohne Grund vor allem die Jugend in den 1960er und 1970er Jahren zu teils heftigen Auseinandersetzungen mit Vätern und Großvätern trieb: Wo warst du damals? Hast du dich schuldig gemacht? Viele Väter haben damals geschwiegen – aus Scham, aus Verzweiflung, aus Hilfslosigkeit, um zu verdrängen, zu vergessen.
Autor Matthias Zimmer gelingt es mit seinem lesenswerten Romandebüt, diese nur scheinbar veralteten, doch für jeden Menschen wichtige Frage nach dem Umgang mit der eigenen Vergangenheit im Gespräch zweier alter Freunde auf beeindruckende Weise zeitgemäß und empathisch zu behandeln – mit der stets gültigen Erkenntnis: „Die Vergangenheit ver

Bewertung vom 10.02.2022
Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
Leo, Maxim

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße


ausgezeichnet

REZENSION – Was ist Wahrheit? Wo beginnt Lüge? Oder gibt es alternative Wahrheiten? Darum geht es im satirischen Roman „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ des in Ost-Berlin geborenen Schriftstellers Maxim Leo (52), im Februar beim Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Auch die deutsche Wiedervereinigung, Vorurteile und vermeintliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen und nicht zuletzt die Frage, wie historische Fakten interpretiert oder manipuliert werden können, werden angesprochen.
Maxim Leo erzählt vom erfolglosen Berliner Videotheken-Besitzer Michael Hartung, der gegen seinen Willen zum Helden gemacht und bald unverdient als Held deutscher Geschichte gefeiert wird. Im September 2019 besucht ihn der Hamburger Journalist Alexander Landmann in der Ost-Berliner Videothek. Bei Recherchen über eine spektakuläre Massenflucht aus der DDR im Sommer 1983 war Landmann in einer Stasi-Akte auf Hartung gestoßen. Dieser soll damals als Stellwerkmeister der DDR-Reichsbahn am Bahnhof Friedrichstraße eine Weiche so gestellt haben, dass ein S-Bahn-Zug mit 127 Fahrgästen über das Ferngleis nach West-Berlin fahren konnte. Hartung soll laut Akte zudem Kopf einer Fluchthelfer-Organisation gewesen sein, weshalb er ins Gefängnis kam, aber trotz dortiger „Sonderbehandlung“ seine Mittäter nicht verraten hat.
Hartung gibt zwar zu, dass er für die Fehlstellung der Weiche und die daraus folgende Umleitung des Zuges verantwortlich war. Doch allen anderen in der Stasi-Akte erwähnten „Fakten“ widerspricht er. Als Landmann ihm allerdings ein stattliches Honorar für seine Geschichte bietet, wird der finanziell klamme Hartung schwach und bestätigt alles, was der Journalist ihm vorhält oder von ihm hören will. Mit einigen schmückenden „Abweichungen“ macht Landmann in seiner Aufsehen erregenden Titelstory den bislang unbekannten Videotheken-Besitzer zum Helden, was nicht nur diesem, sondern auch ihm selbst als Journalisten Ruhm und Ehre einbringt. Anfangs nur widerwillig beginnt Hartung seinen unerwarteten Ruhm und das leicht verdiente Geld aus Interviews, Werbeverträgen und öffentlichen Auftritten zu genießen. Erst als er sich in Paula ernsthaft verliebt, die damals als Kind in jenem S-Bahnzug saß, will er aus seinem Lügengebilde ausbrechen.
Wie in alten Fabeln stehen sich auch in Leos Roman Gut und Böse gegenüber: Auf der guten Seite lernen wir Menschen wie Bernd, den Ladenbesitzer von gegenüber, und Nachbarin Bertha kennen sowie natürlich Hartung selbst, einen unbeholfenen, lebensuntüchtigen und von der Familie verlassenen Mann. Auf Seite der Bösen stehen Landmann und seine Kollegen der Sensationsmedien, die der Autor – früher selbst viele Jahre in Berlin als Journalist tätig – als „eine Jugendbande, die einem die Brieftasche klauen will“, beschreibt. Ebenfalls zu den Bösen rechnet Leo die Akteure des politischen Systems, die den willkommenen „Fluchthelfer“ ebenfalls für eigene Zwecke nutzen, wissentlich die von Landmann erfundenen „Abweichungen“ übersehen und sich die Wahrheit so zurechtbiegen, wie sie ihnen ins politisch-notwendige Bild passt: „Es gibt die kleine Wahrheit. Und es gibt die große Wahrheit. Die kleine Wahrheit mag … nicht ganz stimmen. Aber die große Wahrheit, die stimmt.“
Leo zitiert den französischen Philosophen Voltaire: „Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat.“ Demnach gibt es keine objektive Geschichtsschreibung, sondern nur die von einer Mehrheit aktuell für richtig befundene. Erst spät erkennt Hartung: „Wenn alle ein bisschen mehr zweifeln würden, dann hätten wir viele Probleme gar nicht mehr.“ Mit dieser Erkenntnis wird der unfreiwillige Held erst in einem befreienden Auftritt als Festredner anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls tatsächlich zum Helden, der endlich zur Wahrheit und persönlicher Wahrhaftigkeit zurückfindet.
„Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ ist eine kurzweilige, amüsante und im doppelten Wortsinn fabel-hafte Geschichte, die bei allem Humor mit ihren Kernaussagen denno

Bewertung vom 30.01.2022
Die Akte Klabautermann
Teutsch, Oliver

Die Akte Klabautermann


sehr gut

REZENSION – Vor 75 Jahren erschien die zensierte Erstausgabe des Romans „Jeder stirbt für sich allein“ - nur wenige Wochen nach dem frühen Tod seines Autors, des deutschen Schriftstellers Hans Fallada (1893-1947), der eigentlich Rudolf Ditzen hieß. In seiner unzensierten Originalfassung wurde Falladas letztes, inzwischen in 30 Sprachen übersetztes Werk erstmals 2011 im Aufbau Verlag veröffentlicht. Von der Wiederentdeckung dieses zwischen 1962 bis 2016 fünf Mal verfilmten Bestsellers war der Frankfurter Journalist Oliver Teutsch (52) nach eigener Aussage so fasziniert, dass er schon 2014 begann, über die „Entstehung eines Weltbestsellers“ zu recherchieren, wie der Untertitel seines im Januar beim Axel Dielmann Verlag veröffentlichten Debütromans „Die Akte Klabautermann“ heißt.
Eigentlich hatte Rudolf Ditzen alias Hans Fallada den Roman „Jeder stirbt für sich allein“ gar nicht schreiben wollen. Oliver Teutsch schildert in lockerem Sprachstil die Zwänge und Nöte der letzte Monate im Leben des alkoholkranken und morphiumsüchtigen Schriftstellers, der gerade zum zweiten Mal verheiratet mit seiner wesentlich jüngeren Ehefrau Ulla im September 1945 aus der Mecklenburgischen Provinz ins zerbombte Berlin umgezogen ist. Der Vorsitzende des neuen Kulturbundes, der kommunistische Lyriker Johannes R. Becher, umwirbt den bekannten Schriftsteller, obwohl andere dem in Deutschland gebliebenen Fallada der Nähe zum Nazi-Regime bezichtigen. Er besorgt ihm ausgerechnet in dem nur sowjetischen Offizieren und wenigen deutschen Funktionären vorbehaltenen „Städtchen“ ein Haus, verschafft ihm Lebensmittelkarten und für die Arbeit notwendiges Schreibpapier. Becher ist es schließlich auch, der Ditzen im November 1945 die Gestapo-Akte „Klabautermann“ über ein Berliner Ehepaar gibt, das gemeinsam zwischen 1940 und 1942 Postkarten mit Aufrufen gegen Hitler verteilte, dann aber denunziert und hingerichtet worden war. Ditzen solle daraus bis Januar einen Roman für den neuen Aufbau Verlag machen. „Es geht hier um den Alleingang zweier kleiner Individuen gegen das große System. … So was interessiert sie doch.“ Mit diesen Worten versucht man Ditzen zu ködern. Doch der Schriftsteller schiebt die Arbeit vor sich her, obwohl er das Honorar dringend benötigt: „Ich bin ein Menschensammler. Politik hingegen hat mich nie interessiert.“ Erst ein finanziell verlockenderer Vertrag mit der Filmgesellschaft DEFA gibt ihm den Anstoß.
In einem „Schaffensrausch“ schrieb Ditzen den Roman „Im Namen des Deutschen Volkes – Streng geheim“ in nur 24 Tagen nieder, änderte dann den Titel in „Jeder stirbt für sich allein“ und lieferte das Manuskript Ende November beim Aufbau-Verlag ab. Nur sechs Wochen später, am 13. Januar 1947, wurde er ins städtische Krankenhaus Pankow eingeliefert, wo er am 5. Februar 1947 „für sich allein“ im Einzelzimmer ganz am Ende eines Krankenhausflures starb.
Mit seinem Romandebüt „Die Akte Klabautermann“ ist Oliver Teutsch ein literaturhistorisch interessantes und durchaus lesenswertes Buch gelungen, um mehr über den Menschen Hans Fallada, den Teutsch im Buch konsequent nur Rudolf Ditzen nennt, zu erfahren, rollt doch Teutsch in Rückblicken und einzelnen Szenen dessen ganzes Leben auf. Für Teutsch ist es deshalb überaus bedauerlich, dass nur wenige Wochen zuvor ausgerechnet der Vorsitzende der Hans-Fallada-Gesellschaft, der Publizist Michael Töteberg, mit „Falladas letzte Liebe“ im November ein Buch über genau dasselbe Thema und Falladas letzten Lebensabschnitt in Berlin veröffentlicht hat. So bleibt es nicht aus, dass sich bestimmte Szenen und gelegentlich sogar Dialoge in beiden Büchern gleichen. Doch es gibt bei Teutsch auch manch eigene Szene wie das Gespräch über die Gründung der DEFA, die Fahrt Bechers mit Fallada nach Schwerin mit einem eindrucksvollen Gespräch über ihre Jugendjahre oder die höchst interessante Debatte im Hause Wilhelm Piecks über Unterschied und Wertigkeit innerer und äußerer Emigration deutscher Schriftsteller.
Kritisch m

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Bewertung vom 27.01.2022
Falladas letzte Liebe
Töteberg, Michael

Falladas letzte Liebe


ausgezeichnet

REZENSION – Wer Fallada liebt, muss Töteberg lesen; wer Fallada nicht kennt, erst recht. Auf den knapp 340 Seiten seiner im November im Aufbau Verlag erschienenen Romanbiografie „Falladas letzte Liebe“ über die knapp zwei letzten Lebensjahre des vor allem in der Weimarer Republik überaus erfolgreichen Autors fasst Michael Töteberg (71) unter Verwendung umfangreichen Archivmaterials alles zusammen, was Hans Fallada (1893-1947) in seinen Stärken und Schwächen als Mensch und vor allem als Schriftsteller so besonders macht.
Ausgehend von einem als Prolog vorgeschalteten Brief der damals 24-jährigen Literatur-Studentin Christa Wolf (1929-2011) an den langjährigen Präsidenten des Kulturbundes Johannes R. Becher zur Person Falladas, beantwortet nun 70 Jahre später Michael Töteberg in seinem Buch jene Fragen Wolfs, die Becher ihr sechs Jahre nach Falladas Tod verweigerte, „da ich Fallada erst 1945 kennengelernt habe“. Tatsächlich hatte Becher den berühmten Schriftsteller in dessen letzten Monaten sehr genau kennengelernt. Immerhin war er es, der Fallada ab Ende 1945 als Hausnachbar und Geschäftspartner zur Seite gestanden, ihn in seinem Kulturbund als „Aushängeschild“ aufgenommen und ihm die ersten Aufträge nach dem Krieg bis hin zum letzten Roman „Jeder stirbt für sich allein“ vermittelt hatte, dessen Erscheinungstermin sich jetzt zum 75. Mal jährt. Ausschließlich Becher mit seinen breit gestreuten Kontakten zu deutschen Kulturschaffenden im In- und Ausland hatte es Fallada zu verdanken, überhaupt eine Zuzugsgenehmigung nach Berlin und Lebensmittelkarten für sich und seine zweite Ehefrau Ulla zu bekommen. „Becher glaubte an den Autor Fallada. Mehr als dieser an sich selbst.“
Kaum jemand anderer als Michael Töteberg dürfte nach Jahren als Mitarbeiter des Rowohlt Verlags, in dem Falladas Romane vor dem Krieg erschienen waren, sowie nach Jahren intensiver Beschäftigung mit Falladas Gesamtwerk und als Herausgeber des Buches „Hans Fallada. Ewig auf der Rutschbahn. Briefwechsel mit dem Rowohlt Verlag“ besser berufen sein, über diesen an Alkohol und Morphium zugrunde gegangenen Schriftsteller zu schreiben. Als Vorsitzender der Hans-Fallada-Gesellschaft hat Töteberg zudem direkten Zugriff auf Archivmaterial jenseits der Romane Falladas, nämlich auf persönliche Aufzeichnungen und die Privatkorrespondenz des fleißigen Briefschreibers.
„Falladas letzte Liebe“ schildert keineswegs nur dessen letzte Lebensjahre 1945 und 1946 im zerstörten Berlin, wo Fallada mit Bechers Hilfe einen Neustart versucht, der ihm mit der Veröffentlichung neuer Kurzgeschichten in der „Täglichen Rundschau“ auch halbwegs gelingt. „Berlin, das war nach zwölf Jahren Carwitz noch einmal ein neues Leben gewesen. Ein Lebensabschnitt, sein letzter, das spürte Fallada.“ Von der Alkoholsucht befreit, ist der einst gefeierte Schriftsteller zu schwach, dem Morphium zu widerstehen, zumal er an Ehefrau Ulla, die selbst stark morphiumsüchtig ist, keinen Halt findet, wie er ihn früher bei Ehefrau Suse hatte, an die er voller Selbstmitleid und Selbsterkenntnis schreibt: „Ich bin wie ein Lahmer, der bisher geführt wurde, der aber jetzt nicht nur allein gehen muss, sondern auch einen Blinden führen muss.“
Fast wirkt Tötebergs „Falladas letzte Liebe“, als sei das Buch mit seiner umfassenden Sammlung von Rückblenden auf Falladas Leben, Erinnerungen an dessen Werke und vielen Zitaten aus Falladas Briefen ein Zusammenschnitt dessen Lebens, als liefe alles unweigerlich auf diese letzten zwei Jahre zu und fände mit dem frühen Tod des Schriftstellers den unvermeidbar tragischen Abschluss. Wer Fallada bisher nicht kannte, lernt diesen begnadeten Schriftsteller in Tötebergs Buch als tragische, zwiegespaltene Persönlichkeit kennen. „Es gab immer zwei Falladas. Der eine liebte das Familienleben. Der andere wollte allein sein, unbelästigt von aller Realität.“ Fallada erscheint wie eine Figur seiner eigenen Romane. Tatsächlich steckte ja auch in jedem Fallada-Roman ein Stück von ihm selbst, wie