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hamburger.lesemaus
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Bargfeld-Stegen

Bewertungen

Insgesamt 386 Bewertungen
Bewertung vom 20.05.2024
Heimkehren
Gyasi, Yaa

Heimkehren


ausgezeichnet

HEIMKEHREN
Yaa Gyasi

Goldküste:
In den 1760er-Jahren bekommt Maame zwei Mädchen von unterschiedlichen Männern. Die Halbschwestern Effia und Esi haben sich nicht kennengelernt.
Esi wird als Sklavin nach Amerika verschifft und wächst in Armut auf, während Effia die Frau eines britischen Offiziers und Sklavenhändlers wird und im Reichtum lebt.
Ihre Lebenswege werden sich nicht kreuzen.

Heimkehren ist die Geschichte ihrer Nachkommen. Wir lernen sieben Generationen auf zwei Kontinenten kennen und begleiten diese bei diversen historischen Ereignissen bis ins 20. Jahrhundert.
Dabei stehen die Sklaverei und die Rassengesetze Amerikas im Vordergrund.

„Es gibt in Fante-Land eine Festung an der Küste, sie heißt Cape Coast Castle. Dort wurden die Sklaven gefangen gehalten, bevor sie mit den Schiffen weggebracht wurden nach Aburokyire: Amerika, Jamaika. Asante-Händler brachten ihre Gefangenen dorthin. Fante-, Ewe- oder Ga-Zwischenhändler hielten sie fest, bevor sie sie an die Briten verkauften oder an die Holländer, wer immer gerade am meisten bezahlte. Alle haben mitgemacht. Wir waren verantwortlich … sind es noch.“ (S. 200)

Mir war nicht bewusst, dass die afrikanischen Stämme sich gegenseitig bekriegt haben und das diese ihre Gefangenen als Sklaven an die Briten verkauft haben.

Ein großartiges Buch, das ich in nur zwei Tagen verschlungen habe. Allerdings hat mir der Stammbaum hinten im Buch geholfen, mich zurechtzufinden, ansonsten wäre ich verloren gewesen.
Ich möchte euch das Buch, solltet ihr es noch nicht kennen, unbedingt ans Herz legen.
Große Leseempfehlung von mir.
5/ 5

Bewertung vom 17.05.2024
Martha und die Ihren
Hartmann, Lukas

Martha und die Ihren


sehr gut

MARTHA UND DIE IHREN
Lukas Hartmann


Martha und ihre fünf Geschwister, die alle vor dem Ersten Weltkrieg geboren wurden, wachsen in armen Verhältnissen auf. Als dann ihr Vater einen schweren Unfall hat, erst bettlägerig wird und kurz darauf stirbt, kann die Mutter ihre sechs Kinder nicht mehr ernähren. Die sozialen Zuschüsse in der Schweiz wären nicht genug, selbst wenn die Mutter einen Job als Büglerin annähme.
Die Verwaltung lässt nicht lange auf sich warten und nimmt der Mutter alle Kinder weg - sie werden zu sogenannten „Verdingkinder", was nichts anderes bedeutet, als das sie bei fremden Familien aufwachsen, fremderzogen und ihren Lebensunterhalt selbst erarbeiten müssen. Martha wird ihre Mutter nur drei weitere Male in ihrem Leben treffen und ihre Geschwister nie wieder sehen.
Doch das weiß sie zu diesem Zeitpunkt nicht.
Martha, die zweitjüngste, kommt zu einer gläubigen Familie mit vielen Kindern. Für die Arbeiten, die keiner machen möchte, ist sie zukünftig verantwortlich. Am Tisch ist die Schale mit Essen meist leer, bevor sie bei Martha ankommt. Liebe oder ein freundliches Wort erfährt sie nicht.
Obwohl sie Klassenbeste ist, wird ihr die höhere Schule verwehrt, doch Martha ist zäh und mit Fleiß und Ehrgeiz schafft sie es später zu einem bescheidenen Wohlstand.
Martha hat es nie gelernt, Gefühle oder Schwächen zu zeigen. Umarmungen, Lob oder Liebkosungen waren ihr ganzes Leben Fremdwörter und so prägt diese soziale Inkompetenz nicht nur ihr Leben, sondern auch das ihrer zwei Söhne …

Die Verdingkinder sind ein schwarzer Fleck in der Schweizer Geschichte.
Oft wurden Kinder zu Unrecht den Eltern weggenommen. Scheidungen oder Arbeitslosigkeit reichte aus, dass Eltern ihr Kinder nie wieder sahen.
Die Kinder wurden als billige Arbeitskraft ausgebeutet, oft seelisch und körperlich missbraucht. Bis in die späten 1960er-Jahre gab es in der Schweiz Verdingkinder.

Ich habe das Buch gerne gelesen. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass Marthas Zeit als Verdingkind ausführlicher beschrieben gewesen wäre. Ihren Part fand ich besonders berührend, während mich der narzisstische und pedantische Sohn eher auf die Palme trieb.
Der Schreibstil war eher sachlich kühl, was durchaus zum Inhalt passt. Herzlichen Dank Lukas Hartmann für einen tiefen Einblick in seine Familienchronik mit Großmutter Martha.
3½ / 5

Bewertung vom 15.05.2024
Von guten Eltern
Russo, Richard

Von guten Eltern


sehr gut

VON GUTEN ELTERN
Richard Russo

Wir sind zurück in North Bath, welches gerade von seinem langjährigen ewigen Konkurrenten Schuyler Springs eingemeindet wurde. Wobei „eingemeindet" eine schöne Beschreibung ist, denn eigentlich fühlt es sich so an, als hätte Schuyler North Bath förmlich verschluckt: Die Verwaltung, wie das Rathaus, die Müllabfuhr und auch die Polizei wurden in North Bath schlicht abgeschafft - was wiederum in der bereits seit Jahren kränkelnden Kleinstadt einen Anstieg der Arbeitslosigkeit zur Folge hat.
Einige Lehrer und Polizisten durften sich in Schuyler bewerben und so kam es dazu, das unsere alte Bekannte Charice aus North Bath den Posten des Chiefs in Schuyler erhalten hat. Die alteingesessenen Polizisten aus Schuyler sind dementsprechend wenig begeistert - sie fühlen sich übergangen und eine schwarze Frau als Vorgesetzten wollten sie schon gar nicht.
Und genau in dieser unruhigen Zeit findet man in dem verkommenen alten Hotel, was seit Jahren leer steht, eine verweste Leiche.

Peter Sullivan sieht sich nach dem Tod seines Vaters für gewisse Leute in Bath verantwortlich. Und als wenn das noch nicht genug Beschäftigung wäre, taucht auch noch sein Sohn Thomas in Bath auf. Ihn hatte Peter seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen und was sich zu Beginn als ganz harmlos anfühlt, wächst schnell zu einem riesen Problem heran.
Aber natürlich treffen wir auch unsere alten, etwas skurrilen Bekannten aus der kleinen Stadt wieder. Ich könnte euch jetzt berichten, wie es diesen Personen in der Zwischenzeit ergangen ist, außerdem könnte ich noch etwas über Rassismus und Polizeigewalt erzählen, aber lest das Buch doch einfach am besten selbst.

Da ist er: Der dritte Band, der uns erneut in das Upstate New York schickt.
Ich denke, dass man dieses Buch auch lesen kann, ohne die vorherigen zwei Bücher gelesen zu haben - vieles wird zu Beginn wiederholt - dennoch empfehle ich euch natürlich die chronologische Reihenfolge einzuhalten (die Bücher sind einfach zu gut, um weggelassen zu werden).
Auch wenn dieses Buch kleinere Längen hat, habe ich es gerne gelesen. Leider muss ich aber sagen, dass ich Sully mit seinem trockenen und leicht zynischen Humor schmerzlich vermisst habe.
Insgesamt bleibt dieser Band hinter seinen Vorgängern, ich hätte es aber auch nicht missen wollen.
4 -/ 5

Bewertung vom 15.05.2024
Windstärke 17
Wahl, Caroline

Windstärke 17


ausgezeichnet

WINDSTÄRKE 17
Caroline Wahl

Wir sind zurück in der Welt von Tilda und Ida, die wir bereits in Caroline Wahls Debüt „22 Bahnen“ kennenlernen durften.
Dieses Mal steht die junge Erwachsene Ida, die kleine Schwester Tildas, im Vordergrund:

Ida macht sich große Vorwürfe, an dem Tod ihrer Mutter schuld zu sein.
Ihre Mutter war seit langem Alkoholikerin, doch in der letzten Zeit ging es ihr bedeutend schlechter. Statt Trost zu spenden, reiste Ida mit ihrer Freundin nach Prag. Als sie nach Hause kam, lag ihre Mutter tot im Bett. Sie hatte sich mit einer Überdosis umgebracht.
Ihr war es nicht möglich, Tilda auf Mutters Beerdigung zu begleiten und alleine der Gedanke daran, dass sie keinen Abschied von ihrer Mutter nahm und keine Stärke zeigte, macht jetzt alles nur noch schlimmer.

Ida packt ihren kleinen Hartschalenkoffer und verlässt die Wohnung - für immer. Tilda hat ihr ein Zugticket nach Hamburg geschickt, wo sie selbst mit Viktor und den Zwillingen seit einigen Jahren lebt. Aber Ida kann es nicht - Tilda sehen, ihr gestehen, dass sie einfach die Wohnung gekündigt hat, dass sie ihr Studium nicht fortsetzen wird - sie kann den vielen Fragen Tildas nicht standhalten.
Also sucht sie einen Zug heraus, der am weitesten fährt und landet mit ihrem Klumpen voll Wut und Trauer im Bauch auf der Insel Rügen. Als sie nach einigen Tagen einen Job in der Kneipe „Robbe“ antritt, lernt sie den freundlichen Wirt und dessen Frau Marianne kennen, die Ida bei sich aufnehmen und sich rührend um sie kümmern. Und dann verliebt sie sich auch noch in Leif, den coolen DJ aus Hamburg. Alles könnte jetzt ganz toll werden, wenn ihr doch nur nicht das ganz normale Leben über den Weg laufen würde, welches gerne mal ein paar Haken schlägt und Rückschläge parat hat …

Wow, wow, wow, was für ein tolles Buch! Ich habe mit Ida geweint und gelacht und das Buch mit einer Gänsehaut zugeklappt - das passiert mir nicht oft.
Ich mochte bereits "22 Bahnen" von der Autorin sehr, aber dieses Buch hat mich von der ersten Seite an begeistert und ich habe es förmlich weginhaliert.
Dieser außergewöhnlich fantastische Schreibstil von Caroline Wahl ist einfach beeindruckend und hat einen hohen Wiedererkennungswert.
Jetzt muss nur noch die Geschichte der Mutter erzählt werden!

Fazit:
Ein Buch voller Emotionen. Jahreshighlight! Riesen Leseempfehlung von mir!
5+/ 5

Bewertung vom 07.05.2024
Ein einfaches Leben
Lee, Min Jin

Ein einfaches Leben


ausgezeichnet

EIN EINFACHES LEBEN
Min Jin Lee

1910:
Sunja ist die Tochter eines einfachen Fischers und dessen Frau im von Japan annektierten Korea. Als diese korrupten neuen Herrscher wieder einmal die Pachten und die Steuern erhöhten, nahmen die Eheleute Logiergäste auf, um die zusätzlichen Abgaben zu leisten. Drei Männer, die am Tage schliefen und nachts arbeiteten und drei weitere, die dann arbeiteten, wenn die anderen schliefen. Die Eltern arbeiteten hart und waren fleißig.
Als der Vater starb, gab es nur noch Sunja und ihre Mutter. So gut es ging, versuchten sie die Lücke, die ihr Vater gerissen hatte, zu stopfen.

Eines Tages wurde Sunja auf dem Markt von vier jungen Japanern bedrängt. Wenn ihr nicht der angesehene Händler Hansu zur Hilfe gekommen wäre, hätte dieser Marktbesuch für sie ein schlechtes Ende genommen.
Sunja und Hansu kommen sich näher und verlieben sich ineinander. Erst als Sunja ihm glücklich eröffnet, dass sie ein Kind von ihm erwartet, erfährt sie, dass Hansu bereits eine japanische Frau und drei Töchter in Osaka hat. Hanus Angebot, seine koreanische Geliebte zu werden, ihr ein Haus zu kaufen und für alle Kosten aufzukommen, lehnt sie ab - lieber nimmt sie die Schande in Kauf, zukünftig im Dorf ignoriert zu werden.

Der Zufall kommt ihr zu Hilfe, indem ein weiterer Logiergast namens Pastor Isak, der sich auf dem Wege nach Osaka befindet, um Unterkunft bittet. Dieser Mann erkrankt in der ersten Nacht an Typhus. Aufopferungsvoll pflegen Sunja und ihre Mutter ihn gesund.
Als dieser wieder genesen ist, bittet er um Sunjas Hand. Nach der Hochzeit reisen sie gemeinsam nach Osaka, wo es nicht so wird, wie sie es sich erhofft haben.

Min Jin Lee schickt uns nach Japan, wo wir Zeuge werden, wie koreanische Einwanderer behandelt werden:

„Niemand vermietet gern an Koreaner. Als Pastor haben sie Gelegenheit, zu sehen, wie die Koreaner hier leben. Es ist unvorstellbar: zwölf in einem Raum, der für zwei geeignet ist, Männer und Familien, die schichtweise schlafen. Schweine und Hühner im Haus. Kein fließend Wasser. Keine Heizung. Die Japaner halten die Koreaner für schmutzig, aber die Koreaner können nicht anders, als im Schmutz leben. Ich habe Adlige aus Seoul gesehen, die nichts mehr hatten, kein Geld für die Badeanstalt, nur in Lumpen gekleidet und barfuß, und sie bekommen nicht einmal Arbeit als Träger auf dem Markt. Sie haben keine Möglichkeiten, Unterkunft zu finden. Selbst diejenigen, die Arbeit und Geld haben, finden keine Wohnung.“ (S. 146)

Wir begleiten fünf Generationen, die mit Ausgrenzung und Diskriminierung zu tun haben, und das, obwohl sie in Japan geboren wurden und seit mehreren Jahrzehnten dort leben.
Wunderbar ist auch beschrieben, wie sich die Rolle der Frau - vermeintlich das schwächste Glied der Familie, jedoch am Ende der Fels in der Brandung - verändert hat, während die Rolle des Mannes bis heute stagniert.

Nachdem ich „Gratisessen für Millionäre" von Min Jin Lee im letzten Jahr verschlungen habe, wollte ich unbedingt ein weiteres Buch von ihr lesen.
Diese Geschichte hat die Autorin fast dreißig Jahre begleitet, wurde diverse Male umgeschrieben und erschien erstmals auf Deutsch 2018 im dtv-Verlag.
Für mich ist dieses Buch eine ganz besondere Perle und wird in meine Highlights einziehen. Ein Buch, das man trotz des Tiefgangs einfach so weg liest, dabei einen tiefen Eindruck in die Familienaufstellung der Koreaner erhält und zusätzlich einen umfangreichen historischen Einblick erfährt.

Fazit:
Grandios, eindringlich, einfach toll!
5+/ 5

Bewertung vom 03.05.2024
Ein Mann der Tat
Russo, Richard

Ein Mann der Tat


ausgezeichnet

EIN MANN DER TAT
Richard Russo

Wie auch im letzten Buch „Ein grundzufriedener Mann“ schickt uns Richard Russo nach North Bath, Upstate New York, wo wir erneut die „etwas speziellen“ Einwohner der Kleinstadt treffen.

10 Jahre ist es her, dass Sully seine 3er Wette gewonnen hat. Erst dachte er, dass es ein einmaliger warmer Regen sei, doch dann hielt die Glückssträhne an und bescherte weitere Geldregen.

Eine Glückssträhne zu besitzen kann in Bath jedoch nicht jeder von sich behaupten:
Carls Firma ist mittlerweile bankrott, seine Frau ist ihm davongelaufen und gerade hat er eine Prostata Operation hinter sich, die ihm wiederum sein bestes Stück "außer Gefecht“ gesetzt hat.
Derweil beschäftigt sich Chief Raymer mit ganz anderen Dingen: Er trägt stets einen Garagenöffner mit sich herum - immer in der Hoffnung, die dazu passende Garage zu finden, die sich mit diesem öffnen lässt. Erst dann weiß er, mit wem ihn seine Ehefrau betrogen hat.
Janeys gewalttätiger Ex ist aus dem Gefängnis entlassen und will nicht begreifen, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben will.
Ach, ich könnte euch jetzt noch etwas von Schlangen, Grabschändung, Ehebruch, Blitzeinschlägen, Scheidungen und einem abgerissenen Ohr erzählen, aber liest dieses Buch doch am besten selbst!

Russo ist ein Meister der Erzählkunst.
Mit leicht sarkastischen Humor und unglaublich detailverliebt beschreibt er das Leben in einer Kleinstadt.
Ich habe mich ein weiteres Mal bestens unterhalten gefühlt und kann es kaum erwarten, bis der neue Russo „Von guten Eltern“ am 15. Mai erscheint, in dem ich hoffentlich Sully und Co in North Bath erneut treffen werde.

Große Leseempfehlung für diejenigen, die große Erzählkunst schätzen.

Bewertung vom 29.04.2024
Bevor ich es vergesse (MP3-Download)
Pauly, Anne

Bevor ich es vergesse (MP3-Download)


sehr gut

BEVOR ICH ES VERGESSE
Anne Pauly

Anne steht mit ihrem Bruder am Krankenhausbett und packt die wenigen Sachen ihres gerade verstorbenen Vaters zusammen.
Dabei gehen ihr Tausende Fragen im Kopf herum. Hätte sie sich öfter oder intensiver um ihn kümmern müssen?

Ihr Vater war ihr nah. Sie empfand ihn als gerecht, sensibel, als einen nachdenklichen und schweigsamen Mann. Man konnte sich bei ihm sicher fühlen - zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als sich die Gewalt und der Alkohol bei ihm einschlichen.
Andere sagen, dass sie sich ihren Vater schön redet, dass er es im Leben übertrieben hätte, dass er nicht immer gut war. Ja, das stimmt, aber zwischen seinen Besäufnissen nahm er sie in den Arm.

Anne organisiert die Beerdigung und versucht das Haus ihres verstorbenen Vaters auszuräumen, dabei muss sie sich ihren Gefühlen stellen. Viele Dinge, die sie bereits vergessen glaubte, kommen zurück in ihr Bewusstsein.
Schöne Lebenssituation, aber auch Begebenheiten, die besser verborgen geblieben wären.

Es ist eine Geschichte über Trauer und deren Bewältigung.

Ich durfte das Buch lesen und hören und möchte direkt vorab die ganz wunderbare und passende Stimme von Wiebke Puls erwähnen.
Der Schreibstil der Autorin gefiel mir sehr, nur selten war er mir zu minutiös.

Ich hatte mit Rückblicken in das Leben ihres Vaters gerechnet - einem Potpourri aus bunten Geschichten und Erinnerungen.
Das ich mit Anne gemeinsam eine Beerdigung organisieren, an dem ausführlichen Gottesdienst für ihren Vater teilnehmen und im Anschluss mit ihr ein ganzes Haus entrümpeln würde, war mir vorher nicht bewusst.
Mein Fehler - vielleicht sollte ich endlich beginnen, mehr als nur die ersten zwei Sätze der Buchbeschreibung zu lesen.

Doch nur weil ich falsche Erwartungen hatte und der Inhalt des Buches nicht zu einhundert Prozent meins war, heißt es nicht, dass dies ein schlechtes Buch ist und deshalb gebe ich gerne eine Leseempfehlung für alle, die Trauergeschichten mögen.

Bewertung vom 26.04.2024
Close to Home
Magee, Michael

Close to Home


ausgezeichnet

CLOSE TO HOME
Michael Magee

Obwohl der 22-jährige Sean einen Bachelor in englischer Literatur hat, findet er keine Arbeit. Er wäre schon mit einem Job in einem Café zufrieden, doch der Arbeitsmarkt in Nordirland ist tot. Und so hängt er ab - wohnt in einer verschimmelten Wohnung, die eh bald zwangsgeräumt wird, zieht sich Koks-Linien rein und besäuft sich mit seinen Kumpels fast täglich.
Das ganze eskaliert, als er einen jungen Mann bewusstlos und krankenhausreif prügelt und vor Gericht kommt.

Die Nachwirkungen des Nordirlandkonflikts sind in Belfast allgegenwärtig: Väter und Mütter sind seit Jahren arbeitslos, die häusliche Gewalt und der Alkoholmissbrauch sind enorm. Selbst die junge Generation, die den Konflikt wenn überhaupt nur am Rande miterlebt hat, ist ohne Perspektive. Schlecht bezahlte Aushilfsjobs ohne Krankenversicherung und Urlaubsanspruch, Drogenexzesse und Kneipeneskalationen sind an der Tagesordnung.

„Ich hatte es selbst gesehen, aber ich hätte niemals vor irgendwem ein Wort darüber verloren, selbst wenn er es wüsste oder genauso gesehen hätte. Denn wenn man über die Ma oder den Da von jemanden redet und von den Nöten, die sie oder er mit sich rumträgt, dann redet man über sie alle, und meistens auch über die eigenen, und schlimmer, als den Da von irgendwem an der Ecke vor dem Schnapsladen rumlungern zu sehen, wo er auf jemanden wartet, der für ihn reingeht, weil er Hausverbot hat, oder die Ma von jemanden um drei Uhr nachmittags hinten in einen aufgemotzten Supra steigen und ein paar Stunden später so wiederkommen zu sehen, dass sie kaum noch stehen kann, ist nur, es als das zu hinzunehmen, was es ist, und nicht als etwas, was man hin und wieder aus dem Augenwinkel sieht und ignoriert, so gut es geht“. (S. 195)

Es geht um das trostlose Leben in Nordirland, wo nicht nur Arm und Reich die Gesellschaft spalten, sondern auch die Nachwirkung mit all seinen Traumata, die die IRA mit dem Nordirlandkonflikt hinterlassen hat, und um den Weg, den man finden muss, um dort herauszukommen.

Ob Sean den Weg findet, müsst ihr selbst herausfinden.

Wow, was für ein weiteres großartiges Buch aus dem Hause Eichborn. Ich muss es ja zugeben, aber das Cover hat mich abgeschreckt. Niemals hätte ich vermutet, dass sich ein Highlight hinter diesem Gebiss verbirgt.
Michael Magee hat ein erschütterndes und eindringliches Debüt geschrieben. Dabei hat er die Charaktere und das Set so gnadenlos ehrlich gezeichnet, dass ich gefühlt auf jeder Party dabei war.
Für mich hätte das Buch noch gerne 500 Seiten mehr haben dürfen, zu gerne hätte ich Sean weiter begleitet.

Supergroße Leseempfehlung von mir! Und alle, die Shuggie Bain geliebt haben, werden dieses Buch verschlingen.
5+/ 5

Bewertung vom 24.04.2024
Tiere, vor denen man Angst haben muss
Herbing, Alina

Tiere, vor denen man Angst haben muss


sehr gut

TIERE VOR DENEN MAN ANGST HABEN MUSS
Alina Herbig


Madeleine zog als 6-Jährige mit ihrer Familie von Lübeck in die mecklenburgische Provinz. Die Mauer war gerade gefallen und ihre Mutter wollte vor dem westlichen Kapitalismus fliehen.
Ihr Vater, einst Grüne-Vorsitzender in Lübeck, hatte nichts dagegen, war aber auch nicht dafür.
Sie kauften einen baufälligen Hof ohne fließend Wasser. Die Küche bestand aus einem alten Ofen und im Garten gab es ein Plumpsklo.
Für eine Renovierung fehlte das Geld, doch das störte nicht, denn Mutter fand die vier Kinder eh zu verwöhnt. Regenwasser könne man ja auch abkochen und trinken.
Ein Jahr später verschwand erst der Vater, dann die Brüder - zurück blieben nur sie, Mutter und ihre jüngere Schwester Ronja ...

Heute hatte sich die Wohnsituation nicht verändert, außer dass im Laufe der Jahre Tiere eingezogen waren. Im „Katzenzimmer“ leben Wildkatzen und die alte Auslegware stinkt unerträglich nach Urin. Diverse Hunde findet man im ganzen Haus - auf dem Tisch, im Bett der Mutter oder auf der Fensterbank, wo sie die Scheiben zerkratzen. Außerdem gibt es Ziegen, Wildschweine, Ratten und Hunderte von Mäusen, die die Holzbalken der Scheune anknabbern.
Während das vernachlässigte Haus nicht beheizt wird, die Mädchen frieren und nichts zu Essen haben, kümmert sich die Mutter liebevoll und aufopferungsvoll um alle Tiere. Wegen ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit bei einer Tierorganisation ist sie selten zu Hause und überlässt die Mädchen sich selbst.
Doch statt sich aufzulehnen und sich über die Vernachlässigung zu beschweren, halten die Mädchen zusammen und übernehmen Verantwortung.

Ganz wunderbar hat es Alina Herbig verstanden, Charaktere und einen Lebensumstand zu beschreiben, bei dem sich mir die Nackenhaare aufstellen. Ich hatte das Gefühl, vor Ort zu sein. Sah den Hof direkt vor mir, konnte den Katzenurin förmlich riechen. Die Kälte war so eindringlich beschrieben, dass ich mir hier im 36 Grad warmen Thailand fast eine Wärmflasche gemacht hätte. Ganz wunderbar.
Außerdem habe ich den lieben Ton zwischen den Geschwistern geschätzt. Nur das Ende hätte ich mir anders gewünscht.

Fazit:
Ein Buch, das zum Nachdenken anregt und ich sehr gerne gelesen habe.
4/ 5

Bewertung vom 22.04.2024
Allmen und Herr Weynfeldt / Johann Friedrich Allmen Bd.7
Suter, Martin

Allmen und Herr Weynfeldt / Johann Friedrich Allmen Bd.7


sehr gut

ALLMEN UND HERR WEYNFELDT
Martin Suter

Johann Friedrich von Allmen, kurz Allmen genannt, ist ein charmanter Lebemann, der einst ein Vermögen besaß, eine Villa bewohnte und nie auf Geld achtete.
Zu Allmens Leidwesen ist von seinem Vermögen nichts geblieben - alles ist verbraucht - was ihm im übrigen nicht daran hindert, das mittlerweile geliehene Geld mit vollen Händen auszugeben - da kann eine Flasche Wein schon einmal 1000 Franken kosten …
Zum Glück darf er in Restaurants anschreiben und ihm fallen einige Tricks ein, wie man Leute dazu bringt, ihn einzuladen. Der sympathische Allmen ist so gewandt, dass zu guter Letzt immer ein warmer Regen kommt, der ihm Geld in die Taschen spült.
In diesem Roman lernt er Herrn Adrian Weynfeldt kennen. Ein aparter Herr, der die gleichen Dinge wertschätzt, wie er selbst und zum Glück steinreich ist.
Einige Tage später, nach einer Dinnerparty, wird Herrn Weynfeldt ein Gemälde eines großen Meisters gestohlen. Da trifft es sich hervorragend, dass Allmen mit seinen Latino-Hausangestellten Maria und Ehemann Carlos eine Firma betreibt, die sich "Allmen Int. Inquiries" nennt.
Gerne nimmt Allmen die Untersuchung auf, um das gestohlene Gemälde zu finden, doch leider steht der engste Freundeskreis von Herrn Weynfeldt im Fokus seiner Ermittlungen, was wiederum Herr Weynfeldt nicht besonders wertschätzt ...

Wenn Martin Suter einen Krimi schreibt, kann dieser nur elegant, charmant und sehr fein sein.
Das ganze Buch lebt von dem geschmeidigen Charakter Allmens, der sich so gar nicht um seine Finanzen und seine veränderte Lebenssituation kümmert. Ein Genussmensch durch und durch, der einen eloquenten Geschmack für einen guten Tropfen besitzt und das macht ihn in meinen Augen noch sympathischer.
Wer allerdings Spannung sucht, der ist hier falsch. Einen Spannungsbogen gab es nicht und für meinen Geschmack kam auch das Ende ein wenig zu schnell.
Dennoch feinste Kriminalliteratur.
4/ 5