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Bewertungen
Insgesamt 384 BewertungenBewertung vom 16.10.2023 | ||
Crazy. Absolut crazy. Ich habe schon lange keinen ähnlich erschreckend-faszinierenden Roman gelesen, wie Jenifer Beckers "Zeiten der Langeweile". Eine wahre 'Heldinnenreise', wie es die Autorin ihre Protagonistin Mila, Gen Y, über sich denken lässt. Mila startet einen zunächst einmal recht harmlos wirkenden Versuch, nämlich sich aus der digitalen Welt herauszulösen; über viele Seiten hinweg erfahren wir Lesenden Banalitäten mit Schwergewicht - wie Mila ihre Spuren im Netz verfolgt, wie sie sich von apps, accounts uvm trennt, wie sie versucht, sämtliche digitalen Spuren, die sie jemals hinterlassen hat, zu löschen. Wie sie damit aber auch gleichzeitig die gewohnten 'Lebensadern' kappt, den Kontakt zu Freund:innen verliert und einen neuen Bezug zur Welt entdecken muss; dabei aber in eine gewaltige psychische Krise mit fast schon paranoiden Zügen gerät. Wie Mila ihren Weg hinaus aus der totalen Digitalität nicht nur als 'Auslöschung' sondern auch als ein 'Herauskippen aus der Welt' erlebt. Mila sucht dabei nicht bewusst den Weg in die Einsamkeit und in die Kontemplation, um zu einem 'höheren Selbst' zu finden, ihr 'digital detox-Projekt' entfernt sie immer mehr von sich selbst; erschreckend festzustellen, dass u.U. kaum etwas übrig bleibt, quasi nur der Körper, wenn man sich von seinem digitalen Ich befreit... Aber die neue Freiheit ist vielleicht erstmal nur eine große Leere, die neu gefüllt werden muss. Wichtiges Buch! Unbedingt lesen!!! |
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Bewertung vom 16.10.2023 | ||
Schöne Idee. Die 1974 geborene japanische Autorin Sanaka Hiiragi hat in sehr netter und anschaulicher Weise ein Thema literarisch umgesetzt, welches immer wieder einmal berichtet wird, wenn es um Nahtod-Erfahrungen geht; so geben einige Menschen in ihren Berichten an, dass das ganze eigene Leben quasi wie in Zeitlupe an ihnen vorübergezogen sei, bevor sie dann in ein weißes Licht eintauchten... Und genau diesem Zwischenstadium, dem Übergang vom Leben zum Tod, hat die Autorin sich in "Die Erinnerungsfotografen" auf 176 Seiten gewidmet. Da ist Herr Hirasaka, der die Gestorbenen in seinem 'Fotostudio' empfängt, um sie für jedes einzelne Jahr des gelebten Lebens ein Foto auswählen zu lassen; die ausgewählten Fotografien bilden dann den 'Film des Lebens' der am Ende abläuft. Und das Besondere: Jeder Gestorbene hat noch einmal die Chance zu einem Moment seines Lebens zurückzukehren und ein vielleicht verblasstes Foto zu erneuern, sich eine wichtige Phase seines Lebens noch einmal zu vergegenwärtigen. Dieser 'literarische Kniff' dient dazu, die Geschichte der drei Menschen aufzublättern, die Herrn Hirasakas Fotostudio betreten. Und: Herr Hirasaka selbst hat keine einzige Erinnerung an sein eigenes Leben, weiß nicht, wie er an die Aufgabe des 'Übergangsmanagers in den Tod' gekommen ist, bis dann doch ein Foto auftaucht, auf dem er abgebildet ist... Eine anrührende Geschichte, die an keiner Stelle in irgendeiner Weise kitschig anmutet. |
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Bewertung vom 16.10.2023 | ||
Geflasht. Das war ich, nachdem ich die letzte Seite von Necati Öziris autofiktionalem Roman "Vatermal" verschlungen hatte. Und ich dachte - dieses Buch hat es vollkommen zurecht und absolut verdient auf die Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises geschafft! Öziri beschreibt eine Welt, die dem typischen gutbürgerlich-wohlsituierten Bundesdeutschen weitgehend verborgen ist, ihm im Höchstfall 'am Bahnhof', 'im Vorbeigehen' in Person von herumlungernden, südländisch wirkenden Jugendlichen begegnet, um die man dann doch lieber einen möglichst großen Bogen macht, um nicht 'angepöbelt' zu werden. Aber das ist nur ein Momentum dieses Buches. Sein Protagonist liegt mit Organversagen im Krankenhaus und erzählt dem abwesenden Vater (Metin), der mehr der linken Gruppierung DevSol als seiner Familie zugehört hat, die Geschichte seiner Familie, wie es ihnen allen ergangen ist, seit sie in Deutschland sind. Berührende Einblicke. "Ich wünschte, Metin, man könnte Erinnerungen einfangen. Wie Insekten, die ein Eigenleben haben, einen eingebauten Instinkt, der sie leitet. Ich würde sie in runden Einweggläsern aufbewahren, die Deckel fest zugeschraubt. So stehen sie dann nebeneinander aufgereiht in einem Wandschrank im Keller..." Und nach und nach werden die 'Einweggläser 'aufgeschraubt, die Erinnerungen 'aus dem Keller' geholt... Und das ganz Besondere dieses Romans: Eine Sprache, die einen regelrecht umhaut: "Aber wenn es eine Sache gibt, die ich... begriffen habe, dann, dass wir alle auf dieser Welt nur beschissene Gastarbeiter sind, und das Einzige, was du tun kannst, ist, aufstehen und das Leben suchen, solange du noch kannst. Ich atme ein und aus. Unbedingte Leseempfehlung!!! |
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Bewertung vom 15.10.2023 | ||
Mäßig. Nach den 500 Seiten habe ich mich gefragt, was mir die Geschichte jetzt eigentlich sagen will... OK, die Story ist gut und flüssig geschrieben - Coco Mellors hat bestimmt ihre 'creative writing'- Kurse alle mit bravour absolviert und sich sehr engagiert an ihren ersten Roman "Cleopatra und Frankenstein" gesetzt. Aber wo sind ihre eigenen Ideen? Großstadtromanze in New York, junge britische Kunststudentin ohne Kohle trifft auf älteren Chef einer Werbeagentur, Amerikaner mit Alkoholproblem ohne Geldsorgen, sie verlieben sich, es wird viel gefeiert und es werden Drogen eingeworfen, es gibt andere mehr oder weniger hippe Gestalten im Umfeld, in deren Leben ebenso ein Einblick gegeben wird, ohne dass immer alles zwangsläufig bis ins letzte mit der eigentlichen Geschichte zu tun hätte; die Liebe ist - was sich recht schnell nach der Hochzeit von Cleo und Frank herausstellt - zum Scheitern verurteilt, wohl weil 'Liebe auf den ersten Blick' im Kern eher eine Projektion eigener Wunschvorstellungen ist und gerade deshalb dem 'zweiten Blick' nicht standhält. Und wenn Frank an einer Stelle sinngemäß sagt, dass wenn sie ihrer beider dunkle Seite zusammentun würden, es am Ende zu Licht würde... dann war das wohl ein Irrtum. Ganz am Ende finden aber beide ihren Weg - ohne einander. Irgendwie vergleichbar mit dem vorzeitigen Ende einer Netflixserie mit beständig sinkender Zahl an Zuschauer:innen. |
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Bewertung vom 28.09.2023 | ||
Poesie und Lebensgeschichte. Ein Buch, welches man kaum nacherzählen kann, wirkt doch jede einzelne Zeile wichtig, jeder einzelne Satz notwendig, jede Beschreibung, jede Geschichte in der Geschichte als ein Teil eines großen Ganzen und unbedingt und genau so zwischen die Buchdeckel gehörig, um die wunderbare Verknüpfung von Poesie und Lebensgeschichte herzustellen, wie sie Valery Tscheplanowa in ihrem ersten Roman "Das Pferd im Brunnen" gelungen ist. "Unsere Haut ist eine Geschichte" sagt die Autorin gegen Ende des Romans und lässt ihre Protagonistin Walja auf den letzten Seiten in den Spiegel blicken und die Großmutter im eigenen Gesicht entdecken. So ist der Tod der Großmutter Nina für Walja der Impuls für eine Spurensuche. 'Glück ist eine Tätigkeit' (und kein Zustand) - das ist eine von Ninas Weisheiten; Nina mit ihrem harten und dennoch nicht freudlosen Leben, die sich selbst ins Krankenhaus einweist, weil sie ihr Ende nahen spürt, die noch einmal ihr 'verschmitztes Goldzahnlächeln' lächelt, sich im Krankenbett noch Spiegel, Kamm und Lippenstift kommen lässt, um in Würde zu gehen... Atmosphärisch ungeheuer dicht... und eine Ermutigung, nachdem das Buch zuende gelesen ist, sich selbst auf die Suche zu begeben und Spuren des Lebens der Vorgängergenerationen im eigenen Leben zu entdecken. |
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Bewertung vom 24.09.2023 | ||
Ein wunderbares Buch. Man ahnt es schon fast, liest man den Titel von Andreas Izquierdos neuem Roman "Kein guter Mann" - das ist nur die Oberflächenbeschreibung einer komplexen Figur, in der sich dem Leser spätestens am Ende der Geschichte 'ein guter Mann' offenbart. Und wer das eine oder andere Werk des Autors kennt wird wissen, dass die knapp 400 Seiten nicht nur eine hochemotionale Geschichte enthält, sondern auch eine Botschaft an die Lesenden, nämlich den Menschen immer auch auf dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte zu betrachten, weil das nämlich hilft, sein aktuelles Verhalten zu verstehen und einordnen zu können. So ahnt man schon auf den ersten Seiten, dass der gealterte Postbote Walter nicht einfach nur ein unangenehmer Zeitgenosse ist, sondern dass irgendwann in dessen Leben irgendetwas dazu geführt hat, ihn so werden zu lassen: Von den meisten ungeliebt und wegen seines unangemessenen Verhaltens gegenüber 'Kunden' vom Postverteiler in der vorweihnachtlichen Zeit strafversetzt nach Engelskirchen, wo Walter die dort eintreffenden Briefe ans Christkind beantworten soll. Nach anfänglichem Unmut entsteht für Walter genau dort eine Aufgabe, die sein Leben verändern wird - Walter beginnt einen Briefwechsel mit dem Jungen Ben, der nicht ans Christkind geschrieben hat sondern dessen Briefe stets beginnen mit "Lieber Gott..." - was wiederum Walter anspricht, der sich in seinen Antwortschreiben unvermittelt in der Rolle von Gott sieht. Und schnell ist Walter klar, dass er Ben helfen muss. Wir erfahren dann auch Walters eigene Geschichte und verstehen nach und nach immer mehr die Hintergründe seines Soseins... und wie vielleicht das Schicksal (oder auch Gott) ihn mit Ben zusammengebracht hat, damit er eine alte Schuld begleichen kann und zumindest für sich selbst Frieden findet. Ein hochemotionales und keinesfalls kitschiges Buch für die Vorweihnachtszeit! |
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Bewertung vom 23.09.2023 | ||
"Keine Ahnung, ich meine..." Diese und ähnlichlautende Formulierungen durchziehen zu Hauf Nora Haddadas Erstling "Nichts in den Pflanzen". Eine lahme Geschichte, in der recht wenig passiert. Nun gut: Eine Katze findet den Tod durch Ertränktwerden, die Ich-Erzählerin versucht ein Drehbuch zu schreiben; es gibt die zu erwartende Schreibblockade, mittelmäßige therapeutische Interventionen bei Schreibblockade haben wenig Erfolg; die Konkurrenz hinter der Pseudonettigkeit der Kunstschaffenden, die Oberflächlichkeit auf Partys, die ohne Alkohol nicht funktionieren würden; ein wenig Sex; doppelte Namen (der Leon und der Andere Leon); flache Dialoge mit oft nur angefangenen Sätzen, Sätzen, die nur andeuten, sprunghafte Gedanken; und zwischendurch immer wieder die Überlegungen der Protagonistin, die als Kolumnen sicher recht amüsant und auch treffsicher in ihrer (Gesellschafts-) Analyse sind, die Geschichte selbst aber nicht sonderlich bereichern. Und: Das wievielte Werk ist das eigentlich, in dem eine Autorin / ein Autor die Lesenden damit quält, an ihrer Schreibblockade teilhaben zu müssen... das gehört ins Tagebuch, aber da muss man nichts Gedrucktes draus machen. Auch die Figuren bleiben flach. Und von Beginn an durchziehen lästige Fliegen die Geschichte und nerven die Protagonistin - und da ist "nichts in den Pflanzen", die Fliegen müssen woanders herkommen. Aus dem Schreibwerkzeug (Computer) der Ich-Erzählerin Leila? Eine düstere Atmosphäre erschaffen sie, die nicht totzukriegenden Fliegen, bis ganz zuletzt... und eigentlich halten sich Fliegen ja bekanntlich ganz besonders gerne an Orten der Verwesung auf... Sorry - kein Lesevergnügen. |
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Bewertung vom 23.09.2023 | ||
Near future. Mit "Der Wald - er tötet leise" ist Tibor Rode ein ungeheuer spannender Roman gelungen, der unsere existierende Wirklichkeit auf dem Paneten Erde mit denkbaren, durchaus möglichen Szenarien und einem guten Stück kreativer Autorenfreiheit kombiniert. Nach einem eher harmlosen Beginn - ein Haufen Menschen in der ganzen Welt erhalten scheinbar harmlose Päckchen mit Saatgut von einem unbekannten Absender zugeschickt- nimmt die Geschichte einen fulminanten Verlauf mit einem an keiner Stelle abbrechenden Spannungsbogen. Und das Rätsel der den Samen entwachsenden, gefährlichen und sich extrem schnell ausbreitenden Pflanze löst sich nicht so schnell auf; es geht um ganz altes Wissen über eine extrem gefährliche 'Urpflanze', die zum Schutz der Menscheit 'in Bernstein gefangen' an einem unerwarteten Ort aufgehoben wird, es geht um eine verschworene Gemeinschaft, die die Welt vor sich selbst schützen möchte, auch Goethe und sein Verhältnis zu China spielt eine Rolle; und wie gefährlich es sein kann, eine KI zu beauftragen, den Wald vor den Menschen zu schützen... und am Ende scheint die Menschheit einen 'Reset' gerade noch in letzter Sekunde abgewendet zu haben, jedoch... Unbedingte Leseempfehlung für ein verregnetes Wochenende!!! |
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Bewertung vom 17.09.2023 | ||
Nett erzählt. Durchaus. Aber schon zwei Tage nachdem ich die letzten Seiten von Anika Landsteiners neuem Roman "Nachts erzähle ich dir alles" gelesen habe, verblasst die Erinnerung schon ziemlich; was ich bedauerlich finde, zumal mir der Vorgängerroman "So wie du mich kennst" recht gut gefallen hat. Ich suche noch nach einer Erklärung für das soeben beschriebene Phänomen. War es die Geschichte, die zu wenig 'drive' hatte? Ja, da ist was dran! Waren es die Personen, die mir in ihren Konflikten zu wenig ausgeleuchtet waren? Ja, da ist auch was dran! Waren es die Themen? Nein - die hatten Potenzial: Nach der Trennung von ihrer Partnerin befindet sich Léa in einer unklaren Lebenssituation und beschließt, ihr Berliner Café für den anstehenden Sommer zurückzulassen und sich erst einmal in das 'Familienanwesen' an der südfranzösischen Mittelmeerküste zurückzuziehen. Wie zu erwarten, wird sie mit Ereignissen konfrontiert, die ihr einen neuen Blick auf ihr Leben ermöglichen. Am Abend ihrer Ankunft trifft sie auf ein junges Mädchen, was noch in derselben Nacht zu Tode kommt; Émile, der Bruder des Mädchens und populärer Podcaster in Frankreich will mehr über seine verstorbene, jüngere Schwester erfahren; Émile und Léa kommen sich näher, aber es bleibt alles etwas vage und unsicher, als wenn es da eine Angst vor dem Leben gäbe; und von Claire, die das Haus an der Küste in Ordnung hält, erfährt Léa einiges über die Vergangenheit ihrer Mutter und auch über sich. Ob Léa für sich in diesem Sommer einen neuen Weg gefunden hat? Vielleicht ist die Geschichte aber einfach nur ein ganz simpler Ausschnitt aus irgendeinem Leben, ein Ausschnitt der auch ein wenig einen Wendepunkt darstellt. Und wahrscheinlich gibt es im Leben auch nicht immer unbedingt die ganz radikale Wende, viel wahrscheinlicher eine allmähliche - und genau das können wir in "Nachts erzähle ich dir alles" miterleben. |
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Bewertung vom 09.09.2023 | ||
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe Patchwork. Viele kleine Puzzlesteinchen, die ein Leben ausmachen. Das Leben in seiner Gesamtheit kann sowieso nicht erzählt werden und zudem ist eine Lebenserzählung immer auch Spiegelbild der gegenwärtigen Befindlichkeit, die sich förmlich wie ein 'Stimmungsschleier' über Auswahl und Bewertung von Lebensepisoden legt. In kurzen Kapiteln erinnert und resümiert Doris Knecht in ihrem aktuellen Roman (?) "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" Episoden aus ihrem Leben - die kleinen und die größeren Dinge... der Hund, die Sonnenbrille, die familiäre Situation, ddie Kinder, die Eltern. Anlass für Besinnung und Rückbesinnung ist der anstehende Auszug der Kinder und die Notwendigkeit, eine neue Wohnung zu beziehen. Eine nicht untypische Krise innerhalb des Familienzyklus - die Krise des 'empty nest'. Doris Knecht nutzt den Anlass für eine Rückbesinnung und Bilanz; auch das Vergessene wird erzählt, weil erst die Lücken den Erinnerungsbausteinen ihre Kontur verleihen und sie fassbar, begreifbar machen. Und am Ende, nach einigem Hadern, kann die Autorin das Gewesene akzeptieren und nach forne schauen. Krisen können wandeln. Und Doris Knecht lässt uns Zeugen dieses Prozesses sein. Ich hatte zunächst ein wenig Mühe, mich einzulassen, bin am Ende aber zu einem dankbaren Zeugen geworden. |
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